Sieglinde Böttner riss entnervt den wöchentlich erscheinenden Ammer-Kurier aus dem Briefkastenschlitz. Drei Aufkleber hatte sie angebracht:
-Bitte keine Werbung!
-Bitte keine kostenlosen Anzeigenblätter!
-KEINE Werbung, Wochenzeitungen und Anzeigenblätter einwerfen!!!
Dazu noch ein Piktogramm mit einem durchgestrichenen Zeitungssymbol. Es war vergeblich. Jeden Samstag steckte wieder dieses Käseblättchen im Kasten. Wenn sie nur einmal dieses Bürschchen von Zeitungsausträger erwischen würde! Dem würde sie den Marsch blasen, von wegen ob er blind sei oder Analphabet oder einfach nur ein Depp! Aber der Kerl war immer schon unterwegs, wenn sie noch den Schlaf der Gerechten schlief.
Seufzend stopfte sie das Wochenblättchen in die Altpapiertonne, aber dabei rutschten beigelegte Prospekte von diversen Discountern, Baumärkten und Möbelhäusern heraus und flatterten zu Boden. Als sie schimpfend Höffner, Bauhaus & Co. zusammenklaubte, fiel ihr ein Umschlag auf. Als Brief getarnte Werbung natürlich. Schon wollte sie ihn auch in die Tonne stopfen, als ihr Blick auf den Text fiel, der statt einer Adresse aufgedruckt war:
Viele einsame Frauen sind auf Betrüger hereingefallen.
Noch viel mehr stehen kurz davor.
Bevor Ihnen das passiert, kommen Sie zu uns.
Wir helfen Ihnen.
DIE ENT-TÄUSCHER
Sieglinde Böttner schüttelte den Kopf, schloss geistesabwesend den Deckel der Blauen Tonne, ging ins Haus zurück und setzte sich an den Küchentisch. Die Enttäuscher. Was für ein seltsamer Firmenname. Aber er hatte ihr Interesse geweckt. Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Thermoskanne ein, nahm den Brieföffner, den sie vor einer halben Ewigkeit in Sri Lanka gekauft hatte, schlitzte den Umschlag auf und nahm das innen liegende Blatt heraus.
NEIN!
stand da in fetten Lettern, und dann noch:
Wir danken Ihnen nicht dafür, dass Sie unseren Brief geöffnet haben. Bedanken Sie sich bei Ihnen selbst.
"Was für eine Frechheit", schimpfte Sieglinde und las trotzdem weiter.
-Wenn Sie ein Mann sind, werfen Sie den Brief einfach weg. Aber bitte in die Altpapiertonne.
-Wenn Sie ein Freak sind, gehen Sie bitte auf einschlägige Internetseiten und verfahren ansonsten wie oben.
-Wenn Sie eine Frau sind, die schon einmal auf einen Heiratsschwindler (= Synonym für alle Männer, die alleinstehende Frauen real oder online anbaggern und dann ausnehmen wie Weihnachtsgänse) hereingefallen sind, dann haben Sie vermutlich leider so viel Erfahrung damit, dass Sie unsere Hilfe nicht benötigen.
-Wenn Sie aber gerade jemanden kennengelernt haben, der Sie interessiert, weil er nett ist, höflich, zuvorkommend, blendend aussieht, gut situiert erscheint, aber von Frauen enttäuscht ist, weil sie nur hinter seinem Geld her sind – von Ihnen natürlich abgesehen – und der vor allem eines ist: einsam, so einsam, wie Sie selbst, wenn Sie also so einen Mann kennengelernt haben, sich aber heimlich fragen, ob Sie sich wirklich auf ihn einlassen sollen und dann trotzig sagen: 'Warum denn nicht?! Was soll schon sein?!' – dann brauchen Sie uns:
DIE ENT-TÄUSCHER.
Seltsamer Name? Das stimmt. Aber es könnte sein, dass Sie getäuscht werden. Es könnte sein, dass Sie einem Betrüger ins Netz gehen, einem Täuscher. Und wenn Sie dann auf ihn hereingefallen sind, werden Sie nicht nur frustriert sein, sondern auch um eine Menge Geld ärmer.
Wir dagegen ent-täuschen den Täuscher im Vorfeld, bevor Sie enttäuscht werden! Aber es könnte auch anders sein, der Mann könnte genau der Richtige für Sie sein und Sie könnten ohne Angst und üble Gedanken mit ihm auf 'Wolke sieben' schweben. Das wäre doch herrlich für Sie, oder?
Kontaktieren Sie uns möglichst schnell unter www.die-ent-täuscher.com
Ein kompetenter und sehr erfahrener Ansprechpartner ist in Ihrer Nähe, der Sie sehr gerne beraten wird.
Sieglinde Böttner legte das Schreiben auf den Tisch und nahm einen Schluck Kaffee. Dann stand sie auf und ging zum Schrank. Sie brauchte jetzt etwas Stärkeres.
'Flüssiges Gold' stand auf dem Fläschchen der Kaffeerösterei Eilles. Darunter: Kaffeelikör.
Eine Freundin hatte es letzte Woche vorbei gebracht, als sie schlecht drauf gewesen war.
Alk. 12,3% , na ja. Sie goss sich ein Gläschen ein und trank. Roch nach Kaffee, schmeckte leicht nach Schokolade, süß, aber nicht zu süß, nicht schlecht. Gleich noch ein Stamperl hinterher, konnte ja nicht schaden.
Warum war sie nur schlecht drauf gewesen? Aus demselben Grund wie schon seit Tagen, aus gleichen Grund wie heute. Benno. Der Typ aus dem Internet, mit dem sie seit Wochen auf Zweisam.de chattete.
Sie überflog den Werbebrief noch einmal. Eigentlich gehörte sie ja zu der Kategorie Schon einmal hereingefallen. Eigentlich müsste sie immun sein. Denn sie hatte schon einmal bitter für ihre Dummheit bezahlen müssen. Gregor Thalkötter. So einen Namen kann man sich nicht ausdenken, hatte sie damals gedacht. Der muss echt sein. Über 100.000 Euro hatte sie ihm zukommen lassen, hatte ihm jede Lüge geglaubt. Gregor, die Täuschung und Enttäuschung in einer Person. Und nachdem ihr Bankkonto leer war, war der Kerl schwuppdiwupp! verschwunden.
Und jetzt Benno. War der vielleicht auch so ein Blender, Täuscher Betrüger? Misstrauen hatte sich in ihrem Herzen breit gemacht, ein Gefühl, das ihr eigentlich zutiefst zuwider war. Aber es entwickelte ein Eigenleben und war der Grund für ihre schlechte Laune.
www.die-ent-täuscher.com . Hm. Was kann es schaden, mal kurz auf diese Seite zu gehen? Nichts, verdammt noch mal!
Sieglinde setzte das Fläschchen 'Flüssiges Gold' an die Lippen, trank es halb leer und setzte sich an ihren Computer im Wohnzimmer.
Nach nur wenigen Klicks kippte sie fast aus dem Stuhl. Sie lehnte sich zurück, atmete einige Male tief durch und verfluchte dann den Kaffeelikör. Sie brauchte jetzt einen klaren Verstand.
Denn auf dem Gruppenbild, das unter der Schaltfläche 'über uns' aufgetaucht war, präsentierte sich in der Mitte der Crew unverbindlich lächelnd, pure Seriosität ausstrahlend als Geschäftsführer von Die Ent-Täuscher ein gewisser Jens Meier, und der war niemand anders, als – Gregor. Der Oberbetrüger, Oberabzocker, Oberarsch Gregor Thalkötter.
Langsam beruhigte sich ihr Puls, ihre Augen verengten sich und ein Plan begann in ihrem Gehirn Gestalt anzunehmen.
"Jetzt zieh dich warm an, Freundchen", murmelte sie und öffnete das Kontaktformular der Firma. Ab sofort würde sie sich mit den gleichen Waffen rächen, mit denen sie angegriffen worden war.
Mit Lügen, Betrug und Täuschung …
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2018
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