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Die rote Socke

Niemals hätte ich gedacht, dass ich in solch eine Situation komme. Getrennt von Tisch und Bett ... und von der Waschmaschine. Vom Trockner ganz zu schweigen. Purer Luxus, den ich nicht zu schätzen wusste. Selbstverständlich eben. Wenn es einem gut geht ist das wohl so. Aber jetzt geht es mir nicht mehr gut ... und darum sitze ich hier im Waschsalon und starre auf das Bullauge und auf die Wäsche, die dahinter rundherum und hin und her wabert. Farbfernsehen für 2,50 Euro im Sparmodus plus Waschmittel. Eintönig bunt.

Ich betrachte meine rote Socke, die innen an der Scheibe klebt. Sie separiert sich von der restlichen Wäsche und dreht sich nun hochmütig um sich selbst ... allein. Hochinteressant und doch ziemlich stumpfsinnig. Ich verblöde sicherlich, wenn ich noch weiter dorthin stiere.

Wie ist das alles gekommen? Wir liebten uns doch irgendwann einmal. Karl-Heinz und ich. Oder nicht? Und warum besitzt er jetzt die Waschmaschine ... und nicht nur die, sondern alles was unser gemeinsames Leben ausmachte ... und ich hause in einem kleinen Zimmer - ohne Fernseher, mit einer tragbaren Kochplatte und einem Kühlschrank in der Größe eines Tiefkühlfaches? Ganz einfach. Ich bin ausgezogen - weg von Karl-Heinz, der Liebe meines Lebens. Geflohen vor einer Liebe, von der ich dachte, sie sei für die Ewigkeit. Doch auch die Ewigkeit ist nicht unendlich. Ich habe mich getäuscht ... in ihm und noch viel mehr in mir. Vorbei! Und deshalb marschiere ich einmal wöchentlich zum Waschsalon. Er raubt mir meine Zeit und irgendwann auch den Verstand.

 

So sitze ich da und glotze auf die Socke, die sich dreht und meine Augen drehen sich automatisch mit - immer rundherum. Eine unglaubliche Müdigkeit kriecht durch meine Knochen, lässt meinen Blick trüb werden, als mir plötzlich die Socke zuwinkt. Der Schreck fährt mir durch alle Glieder, reißt mich aus meiner Trance. Es ist gar keine Socke. Es ist ein Arm ... oder ein Bein? Auf jeden Fall winkt es. Hektisch springe ich auf.

 

 

Um Himmelswillen! Ein Kind! Es muss unbemerkt in die Waschmaschine geklettert sein. Sicherlich war ich zu sehr mit mir und meinem verkorksten Leben beschäftigt, um es zu bemerken. Anhalten! Sofort! Wild drücke

ich auf den Knöpfen herum. Endlich, die Trommel steht still. Sekunden ziehen sich ins Unerträgliche. Mit einem „Klack“ entsperrt die Automatik das Bullauge. Ein Wasserschwall kommt mir entgegen, ergießt sich über meine Schuhe und plätschert schaumig die weißen Fliesen entlang. Vorsichtig greife ich in das Innere, taste mich durch die nassen Wäscheklumpen. Da muss es irgendwo sein ... und tatsächlich fühle ich etwas Warmes, Weiches. Behutsam hebe ich es heraus. Vollkommene Fassungslosigkeit lässt mich auf den nassen Boden sinken. In meinen Armen liegt ein Kind. Seine Augen sind geschlossen. Schläft es? Ich starre auf seinen Brustkorb, halte das kleine Gesicht dicht an meine Wange, um seinen Atem zu spüren. Ein Arzt muss her! Sofort! Dankbar über diesen Geistesblitz schieße ich wieder in die Höhe, das Kind fest an mich gedrückt. Wo ist mein Handy? Während ich wild in meiner Tasche nach dem Smartphone krame, flehe ich das kleine Wesen inbrünstig an, doch endlich zu atmen.

Schmatzgeräusche unterbrechen mein unkontrolliertes Wühlen. Entgeistert schaue ich auf das blasse Kindergesicht. Eine Schaumblase bildet sich vor dem kleinen Mund. Sie wird größer und größer, bis sie sich als schillernde Seifenblase von seinen Lippen löst und durch den Waschsalon schwebt. Gebannt verfolgen meine Augen den schwerelosen Tanz. Die Seifenhaut wird dünner und dünner, die Farben blasser und blasser. Mit einem lautlosen "Plopp" zerplatzt sie.

Das Baby reißt die Augen auf. Ein glucksendes Lachen kullert durch den Raum, hallt quer durch meine Gehörgänge und versucht, meinen Verstand zu erreichen. Vergeblich. Bekümmert bleibt es zwischen Verstehen und Erleichterung stecken. Ja, und dann fühle ich sie, diese unendliche Erleichterung – mein Verstand liegt vergessen zwischen den Gehirnwindungen. Bedeutungslos geworden. Dümmlich lächelnd genieße ich, wie mich tiefblaue Augen fixieren, wie kleine Finger nach meinen braunen Locken greifen und irgendwann höre ich ein krächzendes

"Hallo!“

Es ist mein "Hallo". Es sind meine Stimmbänder, die unfähig sind, normale Töne zu erzeugen, weil sie noch immer unter Schock stehen - genauso wie ich.

Dem Kind ist es egal. Es strahlt mich an. Reißt den zahnlosen Mund auf und produziert erneut eine riesige Seifenblase.

 

"Wünsch dir was!“ Klar und deutlich springen mich die Worte an.

 

So ist es, wenn man den Verstand verliert. Ich habe es gewusst, dass das passieren würde - und zwar hier in diesem Waschsalon. Vorahnung nennt man das.

 

"Du musst dir etwas wünschen, bevor die Seifenblase zerplatzt", plappert es erneut in meine Gedanken.

 

Das Kind! Es spricht mit mir. Ein Baby kann nicht sprechen. Und doch höre ich die Worte, sehe wie sich seine Lippen bewegen.

 

"Mach schon, wünsch dir was...schnell!“ drängelt es.

 

Mir wird schwindelig. Der Boden schwankt, die Wände tanzen wild um mich herum. Krampfhaft umklammere ich den warmen Kinderkörper, suche vergeblich Halt an ihm.

 

"Einen Wunsch hast du schon ungenutzt davon schweben lassen“, mischt sich die Kinderstimme in mein Schwindelgefühl.

 

"Ich will, dass es aufhört“, jammere ich kläglich.

 

Mir ist fürchterlich übel. Augenblicklich steht alles still. Ich fühle irritiert in mich hinein. Der Schwindel ist vorbei, die Übelkeit verschwunden. Das kann nicht das Kind gemacht haben. Nein, niemals. Ich lasse mich nicht täuschen oder doch? Nein! Es hat einfach von alleine aufgehört. So verrückt bin ich nicht! Noch nicht!.

 

"Dieser Wunsch war langweilig, du musst dir etwas Schönes wünschen." Nörgelt das Kind auf meinem Arm und schaut mich vorwurfsvoll an.

 

Und wieder schickt es eine Seifenblase auf die Reise. Verzweifelt greife ich mir an den Kopf, schließe stöhnend die Augen.

 

"Ich wünsche mir...ich wünsche mir..." fieberhaft versuche ich, meine Gedanken zusammenzuhalten.

 

“Sag irgendetwas. Tu ihm den Gefallen." wispert es in meinem Kopf. "Ich wünsche mir...“ Was denn nur? Und so zerplatzt auch diese Seifenblase ungewünscht.

 

"Zu spät!" Genervt rollt das Kind mit den Augen.

"Du vergeudest alle deine Wünsche." Das stimmt wohl. Aber so auf die Schnelle und unter diesen Bedingungen fällt mir überhaupt nichts ein.

 

"Mach jetzt endlich – du bist schließlich der Wünscher und nicht ich. Das kann ich nicht auch noch für dich machen." ungeduldig zupft es mit seiner kleinen Hand an meinen Haaren.

 

Warum eigentlich nicht? Das ist eine prima Idee und ich nicke aufmunternd. Sicher wäre es dann ein Weilchen mit Überlegen beschäftigt.

 

"Ja, wünsch du dir etwas für mich, du hast mehr Erfahrung damit." Ich muss dem Kind die nassen Klamotten ausziehen, das ist wichtiger als über irgendwelche Wünsche nachzudenken. Am Ende wird es noch krank. Vielleicht sollte es sein Talent lieber für sich selber nutzen und sich trockene Sachen an den Leib zaubern. Behutsam lege ich es in meinen Wäschekorb. Mit zittrigen Fingern öffne ich die winzigen Perlmuttknöpfe seines roten Strampelanzugs. Als ich den kleinen Körper betrachte, fällt mir das Märchen von Schneewittchen ein..."eine Haut so weiß wie Schnee…“. Tja, ich bin sicher nicht in einem Märchen und dieses Kind hier ist nicht Schneewittchen.

Es ist einfach nur ein Kind, das durch einen mir unerklärlichen Umstand in die Waschmaschine geraten ist. Den Seifenblasenhokuspokus und das aufdringliche Wunsch-Geplapper blende ich einfach aus. Und jetzt friert es, so, wie jedes normale Kind. Märchenwesen frieren nicht – davon bin ich überzeugt. Schnell wickle ich das Baby in ein Handtuch, das ich zum Transport über meine Wäsche gelegt hatte. Zusammen mit den triefnassen Sachen aus der Waschmaschine stopfe ich den Strampler in den Trockner. Als ich das Kind wieder aus dem Korb hebe, bin ich ein wenig verwirrt. Täusche ich mich oder wirkt sein Gesicht plötzlich älter … irgendwie reifer.

 

"Uns bleibt nicht mehr viel Zeit." Unkt das Kind und macht mir ein schlechtes Gewissen. "Weißt du, du bist nett und ich will, dass du dir endlich etwas Schönes wünschst." Erwartungsvoll schaut es mich an „Egal was es ist, ich erfülle dir jeden Wunsch."

 

Was für ein putziges kleines Wesen, das seine Aufgabe darin sieht, mich unbedingt glücklich machen zu wollen. Warum hat Karl-Heinz so etwas nie zu mir gesagt? Dann säße ich nicht hier in diesem Waschsalon mit einem Kind im Arm, das sich für eine Wunschfee hält. Wie es aussieht, ist Geduld nicht seine große Stärke, denn schon wieder schwebt eine Seifenblase durch den Raum.

 

"Los, wünsch dir was."

Diese ganze Wünscherei geht mir langsam auf die Nerven. Es soll jetzt einfach mit dem Quatsch aufhören. So etwas gibt es nicht – Punkt um. Ich muss mir unbedingt überlegen, was jetzt mit dem Kind geschieht. Behalten kann ich es nicht. Schon gar nicht in meiner derzeitigen Situation. Außerdem muss es irgendjemandem gehören. Bleibt nur eins, ich bringe es zur Polizei! Oder ich rufe dort lieber an. Ja, das Letztere ist die bessere Variante. Da können sie gleich an Ort und Stelle alles in Augenschein nehmen. Ich will nur noch warten, bis seine Kleidung trocken ist, damit ich es ordentlich übergeben kann. Zufrieden über meine Entscheidung streichle ich die Wange des Babys … und erschrecke mich fürchterlich. Seine Haut hat all seine kindliche Zartheit verloren. Braun und runzlig ähnelt sie mehr einer verschrumpelten Kartoffel. Das Kind mutiert vor meinen Augen zum Greis. Vielleicht ist es doch so eine Art Schneewittchen, das einem Märchenbuch entstiegen ist, um mich um den Verstand zu bringen.

 

„Du musst dich beeilen, bald habe ich keine Kraft

mehr." Das Stimmchen klingt erschöpft.

 

Das tiefe Blau der Augen hat sein Strahlen verloren. Es ist durchsichtig geworden und wirkt jetzt grau und verbraucht. Mir zittern die Knie und ich lasse mich einfach auf den Boden plumpsen. Noch immer liegt das Wesen, fest im Handtuch eingewickelt, in meinem Arm. Mein Blick hat sich an seinem Gesicht festgesaugt. Mit sprachloser Hilflosigkeit verfolge ich die Verwandlung. Das Kind verwelkt wie eine Blume. Mitleid und Trauer fluten mein Herz. Tränen tropfen auf das Handtuch. Meine Tränen. Schwer lehnt sein Köpfchen an meiner Brust.

 

"Du musst nicht um mich weinen. Du hättest dir lieber etwas wünschen sollen. Jetzt ist es zu spät." Schimpft es leise.

"schscht..." sacht lege ich meinen Finger auf seine spröden Lippen. “Es ist nicht wichtig." Versuche ich es zu beruhigen. Alles ist so unbegreiflich – so unwirklich und doch spüre ich seinen warmen Körper. Sanft wiege ich mein Wunschkind in den Armen und summe mit zittriger Stimme ein Lied...

 

"Geht es ihnen nicht gut?" Eine Hand berührt meine Schulter.

 

Ich zucke zusammen. Verwirrt schaue ich an mir herunter. Zusammengekauert hocke ich auf dem kalten Fliesenboden, auf meinem Schoß liegt mein Frotteetuch. Sonst nichts.

"Wo ist das Kind?" Eine heiße Schockwelle rast von den Haarspitzen bis zu den Zehen.

 

Hektisch blicke ich mich um. Es ist mir sicher aus den Armen gerutscht. Aber ich kann es nirgends entdecken. Vielleicht ist es wieder in eine Waschmaschine geklettert. Mühsam rapple ich mich hoch. Der junge Mann beobachtet mich skeptisch, wie ich von Waschmaschine zu Waschmaschine eile und meinen Kopf in jede Trommel stecke.

 

"Welches Kind denn? Hier ist kein Kind. Was machen sie da überhaupt?" dumpf dringt seine Stimme zu mir ins Maschineninnere.

Er hat kein Kind gesehen, dann hat es auch niemals ein Kind gegeben. Ich habe geträumt … einen sonderbaren Traum. Meine Gedanken versuchen mich zu beruhigen, sie zwingen mich, das Unglaubliche ins Banale zu denken.

"Ach, ich muss wohl eingeschlafen sein und hatte einen irren Traum. Es ist alles in Ordnung mit mir … ehrlich." Erkläre ich dem noch immer besorgt dreinschauenden Mann, als ich alle Maschinen und Trockner kontrolliert habe. Mein Lächeln misslingt, wird zur Fratze. Die ganze Ungeheuerlichkeit, die gerade noch Realität war, lässt sich nicht so leicht aus meiner Seele schütteln. Ich sehe es noch genau vor mir,

dieses Kind mit seiner schneeweißen Haut und sein jähes Dahinwelken. "Wünsch dir was!" hallt es unaufhörlich in meinen Ohren. Und ich wische mir mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht.

Warum kann ich den Traum nicht loslassen? Ich sollte ihn erzählen ... und dann laut darüber lachen. Er würde einfach zerplatzen wie die Seifenblasen. So, als hätte es ihn nie gegeben. Noch immer spüre ich Zweifel. Hinterhältig nagen sie an meinem Verstand, fressen Löcher in meinen mühsam errichteten Wall, der mich vor dem Wahnsinn schützen soll.

 

Ich muss weg hier – und zwar sofort. Unkontrolliert zerre ich meine Wäsche aus dem Trockner. Keine Minute länger als nötig will ich hier bleiben - in diesem Waschsalon, der mir eigenartige Träume beschert. Ja, es war nur ein Traum … ein schrecklicher, dummer Traum. Hastig knülle ich die Blusen, Pullover und Socken in meinen Wäschekorb, als mir etwas Rotes in die Hände fällt. Mir stockt der Atem. Es ist ein roter Strampelanzug mit winzigen Perlmuttknöpfen …

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.06.2018

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