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Gewitter

Der Sommer ist nicht wirklich das, was langläufig als schön bezeichnet wird. Es gibt ein paar heiße Tage, viele schwüle Abende, viele Wolken, Gewitter.

 

Ich liebe Gewitter. Die Kraft der Natur entfaltet sich auf dramatische Weise. Der Regen füllt in Minutenschnelle die Rinnsteine. Blitze erhellen die Nacht, mit Gewalt fahren sie in den Boden und wenn sie sich zwischen den Wolken entladen, dann bieten sie ein nahezu himmlisches Schauspiel. Der Donner jagt mir jedes Mal einen Schrecken ein, obwohl ich ihn zwangsläufig nach dem Blitz erwarte. Ich zähle die Sekunden zwischen Blitz und Donner um die Entfernung des Gewitters einzuschätzen.

 

In meinem Leben wünsche ich mir auch hin und wieder ein kleines Gewitter. Nicht im Sinne von bedrohlichem Blitzeinschlag! Nein, ich wünsche mir eine spannungsgeladene Vorfreude auf kraftvolle Entladungen im Himmel der Emotionen.

 

Die Vorfreude liegt in meiner eigenen Fantasie. Ich male mir aus, wie sich dieser Sommerabend entwickeln soll. Über die Idee hinaus treffe ich Vorkehrungen. Kerzen, Wein, romantische Musik, ein hübsches Sommerkleid, das nicht zu offenherzig, aber schmeichelnd ist, und ein dezentes Makeup mit einem Hauch von Parfüm gehören zu meinem Arrangement. Ich schaue mich um, schaue in den Spiegel, lächle mich zufrieden an. Wenn ihm das nicht gefällt!

 

Die Küchenuhr zählt die Sekunden. Ich achte auf die Geräusche im Treppenhaus. Die Haustür hat schon ein paar Mal geklappt, aber sein schwerer Schritt fiel aus. Seit ich meine Arbeitszeit verlagert habe, bin ich eine Stunde vor Conrad zuhause, da ist mir dieses Geräusch vertraut geworden. Die Uhr kann man nicht nach ihm stellen. Es kommt schonmal vor, dass er noch etwas zu besorgen hat oder auch ein Feierabendbier den Heimweg verlängert. Warum ich davon ausgehe, dass Conrad heute geradewegs zu mir kommt, weiß ich nicht. Es ist meine Erwartung, die aus der Sehnsucht nach der Entladung dieser besonderen Gewitterstimmung gespeist wird.

 

Die Küchenuhr zählt die Minuten, die sich nun schon zu einer Stunde summiert haben. Eine Stunde, die ausreicht, mehrere Feierabendbiere zu bestellen. Wieder schaue ich in den Spiegel. Ich komme mir albern vor mit diesem Kleid, gehe ins Schlafzimmer und ziehe mich um. Wie immer zum Feierabend trage ich nun die bunten Leggins und ein übergroßes Shirt. Mein Spiegelbild schaut mich mit skeptischen Augen an. Ich sage zu mir: „Steffi, du bist einfältig. Woher soll Conrad wissen, was du vor hast? Du hättest ihm einen Wink geben müssen.“

 

Die Küchenuhr zählt die Stunden. Die Weingläser stehen schon längst wieder im Schrank. Die romantische Musik ist dem Fernsehprogram gewichen, die Kerzen sind weggeräumt. Meine spannungsgeladene Vorfreudenfantasie hat sich in eine grummelnde Ärgerstimmung verwandelt. Nichts erinnert an meine Idee von einer romantischen Verführung als mir das Geräusch im Türschloss ankündigt, dass Conrad den Weg nach Hause gefunden hat. Sein Weg führt ihn als Erstes in die Küche. Ich höre die Kühlschranktür knarren. Nach einigem Geklapper und Geschepper erscheint Conrad mit einem Teller voller Brot, Wurst, Käse und Gewürzgurken im Wohnzimmer. Er plumpst in seinen Sessel. Nach einem tiefen geräuschvollen Schnaufen beißt er gierig in ein Wurstbrot.

 

Wie bin ich froh, das romantische Ambiente zurückgeräumt zu haben. Ich spüre einen Druck in der Magengegend und eine feuchte Hitze in meinen Augen. Tausend Gedanken überschlagen sich in einer zehntel Sekunde in meinem Kopf. Sie sind getrieben von Wut, Enttäuschung, Zukunftsangst, Hass und Liebe. Dann Schnaufe ich auch durch, weniger tief und etwas leiser.

 

„Soll ich dir ein Bier holen, Conrad?“, bringe ich mit leicht zitternder Stimme heraus. Dieses Angebot müsste ihn verwundern, denn er kennt mich als Verfechterin der Gleichberechtigung. Dem Hausherrn die Pantoffeln und das Bier zu bringen, halte ich für völlig unangemessen. Natürlich kann man sich gegenseitig auch mal verwöhnen, aber nach seinem Kneipenbesuch war ich noch in der Stimmung dazu.

 

„Oh ja, dass wäre schön!“ Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet. Ich stehe mit unterdrückter Wut im Bauch auf, hole eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und stelle die geöffnete Flasche neben ihn. „Prost!“ „Hm!“

 

So hatte ich mir die Gewitterstimmung wirklich nicht vorgestellt. In meinem Inneren bauschen sich dunkle Wolken auf. Um Conrad scheint sich eine angenehme Sonnenuntergangsstimmung breit zu machen.

 

Was das Fernsehprogramm zu unserer Abendstimmung beizutragen hat, ist mir schleierhaft. Ich schalte sinnlos zwischen den Sendern herum, ohne dass Conrad auch nur die geringste Reaktion zeigt. Ich frage mich, was bloß mit ihm los ist. Seine Ignoranz ist himmelschreiend. Dieses Schweigen macht in mir einen Höllenlärm. Jetzt muss unbedingt etwas passieren. Ich lasse vor meinem inneren Auge verschiedene Szenarien ablaufen.

 

***

 

„Gute Nacht mein Schatz, ich bin müde.“ „Hm!“

 

„Ich gehe ins Bett. Bitte schalte den Fernseher nachher aus.“ „Hm!“

 

Am nächsten Morgen finde ich ihn schlafend auf der Couch. „Guten Morgen Conrad.“ „Hm!“

 

„Möchtest du bitte mal mit mir reden?“ „Hm!“

 

„Ich würde gerne mal wissen, was mit dir los ist.“ „Hm!“

 

„Na gut, ich gehe dann jetzt mal zur Arbeit und anschließend fahre ich zu meiner Mutter.“ „Hm!“

 

„Wenn dir etwas an mir liegt, dann musst du auf mich zugehen.“ „Hm!“

 

***

Ich schalte den Fernseher aus. Dann räume ich seine leere Bierflasche in die Küche. Auf dem Weg dorthin frage ich Conrad: „Möchtest du noch ein Bier?“ „Ja.“

 

„Dann hole dir doch einfach eins. Allerdings scheinst du mir schon ausreichend getrunken zu haben.“

 

„Weißt du, Steffi, das kannst du gar nicht einschätzen.“

 

„Ich sehe doch, wie du dich verhältst. Da kann ich das ganz gut einschätzen.

 

„Es war mein erstes Bier heute. Ich komme direkt von der Arbeit. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was da heute los war.“

 

Ich schaue Conrad erwartend an: „So wie du dich bis jetzt aufgeführt hast, muss etwas ganz Außergewöhnliches passiert sein. Du hast nicht angerufen, kommst wortlos nach Hause, starrst vor dich hin….“

 

„Es gab einen schweren Unfall im Betrieb. Dirk ist tot. Du weißt, der kleine Dicke, der immer so lustig ist….äh, war.“

 

„Das ist ja entsetzlich!“ Mir schießen die Tränen in die Augen. Es hätte auch Conrad treffen können. Zwar war Dirk nicht in der selben Abteilung mit ihm, aber er holte die Teile heran, die Conrad am Fließband in die Autos einbauen muss.

 

„Er hatte die Ladung auf seinem Gabelstapler nicht ordentlich gesichert. In der Kurve an der Lagerstraße hat er die Kontrolle über seinen Stapler verloren, und die schweren Teile sind auf ihn gestürzt. Da war nichts mehr zu machen. Er war gleich tot. Die Polizei hat uns alle verhört, als ob einer von uns etwas damit zu tun hat.“

 

***

Ich haue mit der flachen Hand auf den Tisch. Conrad erschrickt sich, schaut mit groß aufgerissenen ängstlichen Augen auf das Fernsehbild. Dann sinkt er lethargisch zusammen.

 

„Conrad, bitte sprich mit mir, was ist heute mit dir los?“

 

Ich schalte den Fernseher aus, was Conrads Blick nicht ändert. Nach wie vor starrt er auf den Bildschirm Als ich gerade auf ihn einreden will, dreht er sich zu mir und beginnt mit einer offenbar lange überlegten Ansprache.

 

„Ich liebe dich, Steffi. So ist es und so wird es immer sein. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Trotzdem kann ich dieses Leben mit dir so nicht weiterführen.“

 

Für mich fühlt es sich wie ein Blitz aus heitere Himmel an. Tausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Jetzt schaue ich ihn mit groß aufgerissenen ängstlichen Augen an. Sein Blick senkt sich, weicht mir aus.

 

„Es fällt mir wirklich nicht leicht, dir das mitzuteilen, aber so, wie es jetzt ist, geht es nicht weiter. Als wir vor zehn Jahren geheiratet haben, hatte ich das Verhältnis zu Corinna wirklich beendet. Es wäre alles kein Problem, wenn sie nicht von mir schwanger gewesen wäre.“

 

Der Blitz schlägt ein, mitten in die Magengrube. Ich denke, was das jetzt wohl wird?

 

"Ich habe es nicht gewusst, bis ich vor einigen Jahren bei der Einschulungsfeier von Ole, dem Sohn meines Kollegen, Corinna wiedersah. Ihre Tochter Melina sah so zuckersüß aus mit ihrem Blümchenkleid und der riesigen Zuckertüte. Ich fühlte mich sonderbar ergriffen. Erst dachte ich, die Sehnsucht nach einem Kind, das dir und mir verwehrt blieb, kam in mir hoch, aber dann fing ich zu rechnen an und stellte fest, dass dieses unschuldige Mädchen meine Tochter sein könnte.“

 

Conrad nahm einen langen Schluck Bier aus der Flasche. Ich saß erstarrt wie ein Eisblock, aber innerlich tobte ein Gewittersturm.

 

„Ich schämte mich, dass ich für Melina und Corinna nicht da gewesen war. Dann nahm ich mir vor, alles wieder gut zu machen. Es war ein zähes Ringen mit Corinna, bis ...“

 

„Du glaubst doch nicht, dass ich mir jetzt alle Details deiner Geschichte anhöre.“, poltere ich dazwischen. „Du willst, dass ich dir Verständnis entgegenbringe. Vielleicht soll ich auch noch dein Verantwortungsgefühl bestärken und bewundern? Hör bloß auf! Ich will davon nichts hören. Sag einfach, was jetzt passiert und dann ist gut!“

 

„Ich verlasse dich. Morgen hole ich meine Sachen. Die Wohnung kannst du behalten, auch das Auto.“

 

Ich beiße mir auf die Zunge, denn alles, was ich jetzt sagen würde, täte mir hinterher leid. Wie in einem kitschigen Film hole ich sein Bettzeug und werfe es ihm auf die Couch.

 

***

Wie sehr wünsche ich mir, dass das erste oder das zweite Szenario wahr wird, aber da habe ich mich getäuscht.

 

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Tag der Veröffentlichung: 04.06.2018

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