„Depressionen?“ Soll ich das so nennen? Ich überlege mir, wie ich meine Gefühle beschreiben soll. „Ausweglos? Hoffnungslos?“ Bessere Worte fallen mir nicht ein. „Sehnsucht?“ Ich lege meinen Bleistift weg und sehe in diesem Dreckstall aus dem Fenster hinaus.
Pures Leben, dort drüben. Unerreichbar für mich. San Francisco ist nur einen Moment entfernt und doch werde ich es nicht mehr betreten. Ich darf schauen, starre zum anderen Ufer hinüber, vernehme die Stimmen, das Lachen, das der Wind zu mir hinüber trägt. Ich bin gefangen.
Gefangen in einem Hexenkessel, in einem Drecksloch, gefangen in mir selbst. Ich habe den falschen Leuten vertraut, habe die Falle nicht gewittert. Jetzt sitze ich hier und mein Leben ist dahin. 3 x lebenslang.
„Hilflos, abhängig, aufgegeben!“ Wieder nehme ich meinen Stift. Wie gerne würde ich dir schreiben, dir sagen, was wirklich geschehen ist. Aber du schickst mir jeden Brief zurück. Du bist mit mir durch. Hast dich von mir innerlich verabschiedet, dich scheiden lassen. Warum? Ich hatte keine Schuld. Wie gerne würde ich es dir erklären? Wie gerne würde ich ein Bild von unserer Tochter sehen? Sie ist 10. Ich habe sie noch nie gesehen.
Ich bilde mir ein, dass es ihr Lachen ist, was zu mir herüberdringt.
„Man hat die Revision abgelehnt“ schreibe ich auf meinen Zettel, den wahrscheinlich niemals jemand lesen wird. Mein Anwalt hat mich längst aufgegeben und außer ihm habe ich schon lange keinen Menschen mehr, den mein Schicksal interessiert.
„Ich bin unschuldig“, füge ich noch hinzu. „Eine Intrige, ein ganz perfides Ränkespiel, dessen Abgründe ich nicht für möglich gehalten hätte. Das Bauernopfer für sie, für alle.“
Es gibt hier nichts, womit man seinem Leben ein Ende bereiten kann. Man muss es ertragen. Manche verlieren den Verstand. Ein Traum, zum Greifen nah und doch niemals erreichbar. „Lebenslänglich!“ Ich würde weinen, wenn ich noch Tränen hätte, aber alle die ich hatte, habe ich schon vor Jahren verbraucht.
The Rock, Devils Island!
Nicht umsonst ist Alcatraz das härteste Gefängnis der Welt. Das Gefängnis der Sehnsüchte. Das Gefängnis mit Aussicht auf die Golden Gate, die Oakland Bay, auf den Strand, auf die Menschen, die am Strand liegen und baden. Zwischen uns ein Meer. Man glaubt, man könnte es Durchschwimmen. Man denkt, das ist es doch wert.
Frank Morris und John und Clarence Anglin haben es im Juni versucht. Keiner soll Entkommen sein. Die Strömung ist zu hart, sie zieht dich gnadenlos ins offene Meer- oder in die Tiefe. Haie.
„Gnade!“, langsam füllt sich mein Zettel. „Kennt ihr keine Gnade? Ich ertrage es nicht mehr! Alles hat man mir genommen, mich ausgehöhlt, ausgeblutet. Man hat mir meinen Ruf genommen, meine Arbeit, meine Ehre, meine Familie. Und hier nehmt ihr einem die Würde, das letzte bisschen Menschsein. Das Eigene Ich.“
Ich sehe in den stumpfen Spiegel. Ich bin erst 36 und gleiche einem alten Mann. Meine Haare sind ergraut, ebenso meine Haut. Ich fühle nichts mehr, bin eine leere Hülle mit leeren Phrasen, die ich immer und immer wieder auf diese Zettel schreibe.
„Ich liebe dich“, füge ich hinzu. „Bitte, bitte schick mir doch ein Bild von unserer Tochter. Nur einmal will ich sie sehen.“ Ich unterschreibe und reiche meinen Brief beim Hofgang dem Aufseher. „Bitte“ stammel ich, wie jeden Tag. Er nickt stumm und steckt ihn ein. Stille. Devils Island ist ein Ort der Stille. Niemand spricht, darf sprechen. Umso besser kann man das Lachen vom Strand her hören.
Ich stelle mich auf meinen Platz und schaue mit starrem Blick hinüber. Es ist bereits November, 1962 so weit ich weiß. An diesem späten Nachmittag erhellen die Lichter das ruhige Meer. Die Brücke strahlt zu mir herüber. Die Lichter der Stadt treffen meine gebrochene Seele. „Heute wäre so ein Tag“, denke ich, „heute könnte man es schaffen. Ob Morris es geschafft hat?“ Mit Wucht laufe ich gegen diese hohen Mauern an und hoffe, dass die Witterung sie so zerfressen hat, dass sie eines Tages brechen ...
Ende
... im Jahr 1963 wird Alcatraz geschlossen.
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2018
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