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Zweiunddreißig

"Du musst mich verstehen, mein Junge, auch wenn du es nicht begreifen willst."

Die Stimme des Alten klang brüchig, heiser, wie von weit weg. Er hustete und atmete tief durch. Diese Pause benutzte sein Gegenüber, um einen Einwand vorzubringen:

"Aber Aristoteles war doch nicht dumm, ein großer Philosoph, an den gerade wir ehrfurchtsvoll zurückdenken. Er hat gesagt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und …" Der Alte hob die Hand.

"Es ehrt dich, dass du Aristoteles kennst", sagte er. "Aber du kannst das nicht zum Gesetz erheben, was er gesagt hat. Unsere Gesetze sind anders." Wieder hustete er, und sein junger Gesprächspartner wagte nicht, erneut zu widersprechen. Als der Alte wieder zu Atem gekommen war, blickte er irgendwie orientierungslos an seinem Gegenüber vorbei. Vielleicht war das auch Absicht. Er sprach eher vor sich hin, mit seiner rauen, unverwechselbaren Stimme:

"Sieh mal, mein Junge. Weißt du, wie früher ein Fußball hergestellt wurde? Fast so wie heute, nur dass man jetzt die Teile miteinander verklebt, anstatt sie zu vernähen. Für das, was ich dir erklären will, macht das nichts." Wieder holte er Luft, stützte den Kopf auf den Arm und blickte irgendwo hin. "Ein Fußball", fuhr er dann fort, "besteht aus genau zweiunddreißig Teilen, aus zwölf Fünfecken und zwanzig Sechsecken. Und was, mein Junge, würde passieren, wenn die zweiunddreißig Teile mehr ergeben würden, als eine runde Kugel? Man müsste das ganze verdammte Ding auf den Müll werfen, auch wenn nur ein Teil davon mehr wäre, als es sein sollte. Der Ball wäre nicht mehr rund, verstehst du?

Oder ein anderes Beispiel. Du kennst ja bestimmt Silviana Trepazza, die begnadete Schriftstellerin und Nicolo Ferrugio, den ebenso begnadeten Regisseur. Sie schienen sich gesucht und gefunden zu haben. Sie schreibt die Geschichten, und er macht oscarreife Filme daraus. Das war ihr Plan. Doch was ist passiert? Die Filme wurden samt und sonders Flops, weil die beiden sich nicht einigen konnten. Eins und eins sind drei? Nein, im Gegenteil! Hätte jeder seine Ambitionen etwas heruntergeschraubt, dann hätte es geklappt, dann wäre zwei daraus geworden. Dieses Aristoteleszitat ist falsch, es tut mir leid. Sogar die Ehe der beiden ist darüber kollabiert, wie du sicher weißt. Aber ich habe kein Mitleid mit ihnen. "

"Padre…" Der Alte hob wieder die Hand und unterbrach den Einspruch.

"Ich habe vorhin vom Fußball gesprochen, mein Junge. Was macht jemand, der aus zweiunddreißig Teilen einen Fußball zusammennäht, der dann eiert? Er wirft nicht den ganzen Ball weg. Er trennt ihn wieder auf und sucht das Teil, das zu groß ist. Und dann schneidet er es so zurecht, dass es zum Ganzen passt. Oder er schneidet gleich ein neues, exaktes Teil und wirft das unpassende weg. Oder … beides. Tut mir leid, mein Junge, ich habe kein Angebot für dich, das du ablehnen kannst. Nein, denn du bist tot!

Der Bildschirm wurde dunkel.

 

Der Anruf erreichte den Bochumer Kriminaldauerdienst um 06:47 Uhr. Um 07.11 Uhr waren die Beamten vom Polizeirevier Bochum West an der alten Halde Rheinelbe, direkt unterhalb der sogenannten Himmelstreppe. Dort hatte ein Downhill-Biker eine Leiche entdeckt.

Den Polizisten bot sich ein grausames Bild. Völlig offen lag der Körper eines etwa 32jährigen Mannes neben der Spur, den die sportlichen Freerider, Downhiller oder Dirt-Bike-Fahrer für ihre Zwecke benutzten. Das wäre ja nicht so schlimm gewesen, aber die Tatsache, dass sämtliche Zehen und Finger, die Nase und beide Ohren abgeschnitten waren und zusammen mit neun Zähnen als fast perfekter Kreis auf der Brust der Leiche drapiert waren, brachte einen Teil der Beamten dazu, ihre Mageninhalte unkontrolliert zu entleeren.

Der später eintreffende Forensiker sprach sofort von einer Demonstrativinszenierung.

Der Mann war offensichtlich an einem anderen Ort durch einen aufgesetzten Kopfschuss getötet worden, die Verstümmelungen fanden postmortal statt. Die grausige Drapierung der Leiche war ganz offensichtlich ein Warnzeichen für andere.

 

Ungewöhnlich schnell setzten sich die verschiedensten Polizeidienststellen in Bewegung. Die Fingerabdrücke waren registriert. Zollfahnder hatten das Opfer bereits im Visier gehabt, aber auch an verschiedenen Polizeistationen lagen Anzeigen und Meldungen wegen Schutzgelderpressung oder Drogenhandel vor.

Pietro Kitsikoudis, so hieß der Tote in Wirklichkeit, war zweiunddreißig Jahre alt, geboren in Catanzaro, aber seit vielen Jahren in Deutschland aktiv. Er war Mitglied des Mafiaclans Cariati-Anania in Reggio di Calabria, der auch Ableger Ruhrgebiet hat. Es bestand der Verdacht, dass er nicht nur für die ´Ndrangheta gearbeitet hatte, sondern auch massiv in die eigene Tasche. Und er hatte eine eigene Dealerorganisation aufgebaut. Das war ihm vermutlich zum Verhängnis geworden. Dafür sprach auch die Auffindungsposition.

Interpol wurde informiert, Daten abgeglichen, und fast zeitgleich kam die Information einer kaum bekannten europäischen Steuerfahndungsgruppe, dass sie den Computer des Mordopfers gehackt hätte. Per DLL-Hijacking hatten sie eine von Microsoft nicht gepatchte Sicherheitslücke ausgenutzt, und das war der Durchbruch. Die Duisburger Mordkommission konnte dadurch das letzte Skype-Gespräch rekonstruieren und an die Kollegen in Kalabrien weiterleiten. Und die schlugen sofort zu. Endlich hatten sie einen Beweis, um Carlo Diarapoulos, bekannt als 'der Alte', zu verhaften. Er war das Oberhaupt eines ursprünglich vor langer Zeit aus Griechenland eingewanderten Familienclans und stand schon seit längerem im Focus der Anti-Mafia-Ermittler.

Unmittelbar nach der Festsetzung des Paten rief der Kommissario seine Bochumer Kollegen an, bedankte sich und sagte dann noch:

"Das freut mich besonders, dass wir zusammen mehr waren, als jeder für sich alleine. Aristoteles hatte doch recht, und der Alte wird durch diese Tatsache für die Anstiftung zum Mord zur Rechenschaft gezogen! Ciao, cari colleghi, e mille grazie!"

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 18.02.2018

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