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Wir sind ein Team

Vor vielen Jahren

 

“Das Gaaan-zee ist mee-ehr aals die Suuuuu-Mee seei-ner Tei-le!” Geschafft! Voller Stolz hebt das Mädchen seinen Kopf und sucht den Blick seines Vaters, der es gemütlich von der Couch aus beobachtet hat.

“Sehr gut, Sophie!” lächelt er seiner Tochter entgegen, stolz seinem kleinen Engel schon vor der Schulzeit das Lesen beibringen zu können. Bei ihm war es damals genauso, erinnert er sich. “Das war ein schwerer Satz. Der stammt von Aristoteles.”

Freudestrahlend springt Sophie auf, klettert auf die Couch und umarmt ihren Vater.

“Der Arito- Aristo- … Der  muss ein kluger Mann gewesen sein, wenn er so schwere Sätze kann.”

“Das war er, Sophie”, nickt der Vater. “Aristoteles war Philosoph und einer der klügsten Männer, die bisher gelebt haben. Deswegen kennen wir diesen Satz bis heute.”

“Wow!” entfährt es der Kleinen. “Bin ich dann jetzt auch schlau, wenn ich den Satz kann?”  Liebevoll tätschelt er seiner Tochter über den Kopf.

“Ganz so einfach ist das nicht”, lacht er ihr zu. “Weißt du, es reicht nicht, Sätze auswendig zu lernen. Wir müssen sie verstehen und daraus lernen, dann sind wir schlau.”

“Aha!” nickt Sophie nachdenklich und starrt gedankenversunken zurück zu dem Buch, das sie auf dem Boden hat liegen lassen. “Ich will auch schlau sein!” stellt sie schließlich fest. “So schlau wie du, Papa! Hilfst du mir dabei?” Worte, die sein Vaterherz höher schlagen lassen.

“Gerne. Wie kann ich dir helfen, Sophie?”

“Ich will es verstehen und daraus lernen”, erklärt sie und holt das Buch zu sich auf die Couch. “Hm”, überlegt sie. “Ich weiß was ‘ganz’ ist. Und ‘Teile’ kenn ich auch. Aber was ist eine Suuu-Me? Und was will der Aristotelele mir damit sagen?”

“Eine gute Frage. Eine Summe ist … Lass mich kurz überlegen, wie ich dir das am besten erklären kann. Hm. Also eine Summe hast du, wenn du zwei oder mehr Zahlen zusammenzählst oder wenn du alle Einzelteile zusammen nimmst.”

“Hä?” schaut ihn Sophie verständnislos an.

“Ok, ok. Nehmen wir zum Beispiel dein Puzzle da drüben auf dem Tisch.”

“Das hat 100 Teile und ich hab es schon fast fertig!” verkündet Sophie stolz.

“Nicht schlecht! Also wenn wir dein Puzzle nehmen, dann erhälst du die Summe, wenn du alle Teile zusammenzählst.”

“Du meinst 100, weil es 100 Teile sind?”

“Ganz genau.”

“Und das Ganze ist dann mehr …”, überlegt Sophie laut, “weil da der Karton noch dazu gehört. Da sind die Teile schließlich drin!”

“Das ist natürlich auch eine Interpretationsmöglichkeit”, erwidert der Vater und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. “Darauf wäre ich gar nicht gekommen. Das hast du gut durchdacht. Aber lass uns doch mal überlegen, was Aristoteles sonst noch gemeint haben könnte.”

“Na gut. Aber der kannte mein Puzzle doch gar nicht, der Aristotelele!”

“Vielleicht finden wir ja trotzdem raus, was Aristoteles zu deinem Puzzle sagen würde. Meinst du wir können es nochmal komplett in die Einzelteile zerlegen?”

“Ja klar! Das krieg ich schnell wieder hin.” Gemeinsam häufen sie die einzelnen Puzzleteile auf dem Tisch auf.

“Das sind jetzt alle Puzzleteile”, erklärt der Vater und deutet auf den Haufen. 100 Stück. Ein ziemliches Durcheinander, oder?” Sophie nickt zustimmend. “Und was haben wir über die Summe gesagt?”

“Die Summe der Teile ist 100.”

“Ganz genau. Aber obwohl wir das wissen, ist es immernoch einfach ein Haufen Puzzleteile. Jetzt fangen wir an, die Teile zu verbinden und das Puzzle zusammenzusetzen. Was erhalten wir dann am Ende?” Er sieht förmlich wie es bei seiner Tochter “Klick” macht.

“Ein Bild. Das Bild von der Schachtel. Das sieht man nicht, wenn es nur ein Haufen ist.”

“Und das ist doch viel mehr, als der Haufen, oder?”

“Wow!” nickt Sophie wieder.

“Und genauso ist es mit vielem anderem auch. Meistens ist das Ganze mehr, als die Summe der Teile, nur wie beim Puzzle sieht man das nicht immer so schnell. Erst wenn es fertig ist und funktioniert.” Sophie strahlt ihn an.

“Du bist bestimmt genauso schlau wie Aristotelele, Papa! Sag mir noch ein Beispiel, bitte!”

“Naja. Ok. Hm. Ah ich weiß. Was machen wir beide jeden Samstag Mittag?”

“Fußball gucken!”

“Genau. Und da passt der Satz auch. Eine Mannschaft hat 11 Spieler auf dem Platz, aber die spielen nicht immer gut zusammen. Manchmal sind sie einfach kein Team, sondern nur 11 Menschen, die über den Platz rennen. Aber was können sie von Aristoteles lernen? Was meinst du?”

“Hm. Wenn sie gut zusammenarbeiten, dann gibt es ein schönes Bild, wie bei meinem Puzzle?”

“Genau. Dann sind sie vielleicht nicht die besten Spieler, wenn sie alleine sind, aber wenn sie zusammenspielen, auf den anderen achten, sich gegenseitig helfen sind sie ein Team. Und nur dann sind sie erfolgreich und glücklicher.”

“So wie Mama und du sich immer gegenseitig helfen, meinst du?” Er nickt ihr nur zu. Sie versteht so schnell! “Dann seid ihr auch ein Team, Mama und du!”

“Mama, ich und du, Sophie! Wir drei sind ein Team!” Das gefällt Sophie.

“Wir sind ein Team! Ein super Team!” murmelt sie vor sich hin.

 

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Heute

 

“Alles Weitere erklärt Ihnen jetzt Frau Cita, der neue Project Lead!”

Die Worte holen sie in die Gegenwart zurück. Sie blinzelt kurz verwirrt und orientiert sich. Der große Besprechungsraum. Sie sitzt am Kopf des langgezogenen Holztisches. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Links von ihr steht der Geschäftsführer, ihr langjähriger Schulfreund Rolf, und wartet darauf, dass auch sie sich endlich erhebt. “Du bist dran!” zischt er ihr zu, doch sie braucht noch ein paar Sekunden, um wieder zu sich kommen. Langsam steht sie auf und lächelt die Anwesenden an. Ihr Spiegelbild zeigt ihr, wie unsicher sie dabei auf alle wirken muss. Reiß dich zusammen! Das ist DEIN Tag heute! Sie streicht sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht und holt noch einmal tief Luft. Jetzt ist sie wieder völlig klar im Kopf.

 

“Als Erstes vergessen Sie alle mal das ‘Frau Cita’! Ich bin Sophie und ich hoffe sehr, dass wir mit unseren Vornamen auskommen. Höfliche Distanz wahren können wir gegenüber unseren Kunden. Wir hier sind ein Team! Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen! Wer damit ein Problem hat, und das meine ich nicht böse, sollte jetzt aufstehen und den Raum verlassen. In meinem Team ist kein Platz für Egoismus. Egoismus kostet Zeit! Egoismus kostet Geld! Egoismus schadet der Stimmung! Und ganz ehrlich: Wir können uns keine schlechte Stimmung leisten. Das ist das größte Projekt, das unsere Firma je an Land gezogen hat. Wir erschließen damit wichtige neue Märkte, neue Kunden, neues Geld. Geld das für uns alle gute Gehälter und Boni bedeutet, Kunden und Märkte, die uns garantieren, dass das auch die nächsten Jahre so bleiben wird. Ein erfolgreicher Projektabschluss ist dafür natürlich Voraussetzung. Irgendwelche Fragen? Fühlt sich irgendjemand jetzt schon nicht geeignet für unser Team?” Gespannt blickte sie in die Runde. Die anderen klebten ihr regelrecht an den Lippen und auch bei Rolf hatten sich die Gesichtszüge merklich entspannt.

 

“Ihr alle habt meinen vermeintlichen Aussetzer vorhin mitbekommen. In diesem Team hat jeder das Recht auf Aussetzer. Wir alle werden Höchstleistungen bringen müssen, weit über das bisher gewohnte hinaus. Ich bin Realist. Fehler sind blöd, aber sie werden passieren. Aber ich will nie erleben, dass irgendeiner so hängen gelassen wird, wie ich vorhin. Lasst euch was einfallen! Erfindet neue Informationen, neue oder geänderte Tagesordnungen, was auch immer, aber opfert nie, NIEMALS, ein Teammitglied. Schaut euch um. Für die nächsten sechs Monate ist das hier eure Familie. Eure besten Freunden sitzen in diesem Raum. Wir alle werden Opfer bringen. Wir werden arbeiten bis zum Umfallen, um die Termine zu halten. Wir werden Überstunden ansammeln und auf Freizeit verzichten! Aber das ist es wert, das verspreche ich euch. In sechs Monaten werden wir in Geld schwimmen und das wird euch für alles entschädigen! Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile! Das habe ich von meinem Vater gelernt. Und seht wie weit es mich gebracht! Jetzt liegt es an euch. Seid ihr lieber ein Teil von etwas Großem, oder weiter ein kleiner Einzelgänger? Eure Entscheidung. Wenn keine weiteren Fragen sind, bleibt mir nur noch eins zu sagen: ‘Willkommen im Team!’” Jubel und Applaus erfüllte den Raum. Sie hatte es geschafft. Sie hatte ihr Team an Board, war mit sich und der Welt zufrieden. Das würde groß werden. Ganz groß.

 

Der Jubel legte sich langsam und alle schauten sie erwartungsvoll an. Ganz schüchtern hob sich eine Hand, so unauffällig und unsicher, dass sie beinahe ihrer Wahrnehmung entgangen wäre. “Nicht so schüchtern! Steh ruhig auf, damit wir dich alle gut sehen und verstehen können. Wie heißt du?” versuchte sie der Schüchternheit entgegen zu wirken.

Ganz langsam erhob sich das zierliche Persönchen. “Hi. Ich bin Julia. Und ich möchte dir sehr für deine mitreißende Rede danken, Sophie. Sie war wirklich sehr inspirierend.” Sophie genoss das sichtlich. “Allerdings”, fuhr Julia fort, “muss ich leider passen. Ihr werdet das ohne mich hinkriegen müssen.” Damit hatte Sophie nicht gerechnet. Unsicher schaute sie zu Rolf, der allerdings auch nur überrascht und fragend zurück starrte. Das war eigentlich nicht möglich. Sie hatten die Teammitglieder gemeinsam ausgewählt. Keiner der Anwesenden konnte es sich leisten, die Arbeit an diesem Projekt abzulehnen. Das war, neben der fachlichen Qualifikation natürlich, der springende Punkt bei der Zusammenstellung des Team gewesen.

 

“Könntest du uns die Gründe für deine Entscheidung erläutern?” fragte sie daher um etwas Zeit zu gewinnen.

“Sicher! Ausschlaggebend war deine Rede. Wie gesagt, sie hat mich wirklich inspiriert.” Das verwirrte Sophie noch mehr.

“Meine Rede?”

“Ja klar! Du hast soviel Wert auf das Team gelegt, dass mich das zum Nachdenken gebracht hat. Bis heute wollte ich unbedingt bei diesem Projekt mitarbeiten. Ihr beiden wisst sicherlich, dass ich das Geld ziemlich gut gebrauchen könnte. Bestimmt habt ihr eure Hausaufgaben gemacht.”

“Aber?”

“Aber es ist einfach nicht der richtige Weg, das hast du mir deutlich gemacht. Ich habe schon ein Team, dem ich all das versprochen habe, was du von uns erwartest. Und ich kann unmöglich gleichzeitig in zwei konkurrierenden Teams spielen. Tut mir leid, aber zu Hause warten mein Mann und mein vierjähriger Sohn auf mich. Sie zählen auf mich, sie verlassen sich auf mich, sie brauchen mich. Ein Team funktioniert nur, wenn jeder seinen Part übernimmt, in dem Bewusstsein, dass für jeden anderen auch das Team das Wichtigste ist. Wie könnte ich da guten Gewissens für mindestens sechs Monate so tun, als wäre das nur wichtig, wenn man genug Geld hat? Ich kann meinem Sohn nicht erklären, dass es etwas so Wichtiges gibt, dass ich ihn ein halbes Jahr nicht ins Bett bringen oder mit ihm spielen kann. Mein Mann würde es natürlich verstehen, aber es wäre nicht richtig. Das ist mir jetzt klar geworden. Deshalb bin ich raus. Aber ich wünsche euch natürlich allen viel Erfolg.” Bevor jemand etwas dazu sagen konnte verließ sie den Raum. Sophie sah ihr nachdenklich hinterher.

 

In dieser Nacht schlief sie nicht sonderlich gut. Rolf bemühte sich zwar redlich sie zu wärmen, doch tief in ihrem Inneren verspürte sie eine Kälte, der seine Nähe nichts entgegen zu setzen hatte. Da war keine Geborgenheit, keine Sicherheit, nur Leere. Sophie kannte dieses Gefühl. Sie hatte es tief in sich vergraben, doch jetzt bahnte es sich seinen Weg in ihre Träume. Versetzte sie zurück in die Zeit, als ihr Vater ihr eröffnete, dass er zukünftig woanders wohnen würde. Natürlich würde sie ihn jederzeit besuchen können. Und er war sich sicher, dass sie sich mit Maria gut verstehen würde. Alles würde sogar besser werden. Zusätzlich zu Mama und Papa hätte sie jetzt noch Marie und eine zweite Wohnung. Viel mehr als vorher. Das hatte ihr Vater ihr lächelnd verkündet, während Mama weinend in der Küche saß. “Aber das Team!” hatte sie ihm leise hinterher geflüstert, als er gegangen war. “Das Team, Papa! Was ist mit unserem Team? Ich dachte wir sind ein Team … ”

 

Verwirrt wachte sie auf und befreite sich aus den Armen ihres Schulfreundes. Es fühlte sich nicht mehr richtig an, hier zu sein. Auf dem Weg ins Badezimmer holte sie ihr Portemonnaie aus ihrer Handtasche und setzte sich auf den Badewannenrand. Vorsichtig zog sie das Foto heraus und strich es glatt. Wie lange hatte sie es nicht mehr angeschaut? Wie alte mochte er inzwischen sein? Sophie konnte sich nicht erinnern. WIe es ihnen wohl ging? Tränen bahnten sich ihren Weg, als sie leise schluchzend das Bild auf die Ablage des Spiegelschranks legte und zurück ins Bett ging. Vorsichtig kuschelte sie sich noch einmal an Rolf. Sophie hatte eine Entscheidung getroffen.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.02.2018

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