Unschlüssig drehte Henning Burkstett die Münze zwischen den Fingern hin und her. Jede Medaille hat zwei Seiten. Wer wohl diese Weisheit erfunden hat? Kopf oder Zahl? Henning warf den Euro hoch und fing ihn wieder auf. Wo ist hier der Kopf?, fragte er sich. Es war eine rhetorische Frage. Nicht alle Euromünzen haben einen Kopf auf einer Seite, das wusste er. Meistens die Länder, die sich noch ein Königshaus leisteten. Früher hielten sich die Adeligen Hofnarren, heute halten sich manche Demokratien Königshäuser oder Herzöge. Henning schüttelte unwillig den Kopf und knallte die Münze auf den Tisch. Er wollte eine Entscheidung, auch wenn es durch das Werfen einer Münze sein musste.
Henning Burkstett war mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden, wie man so schön sagt. Endlich der ersehnte Erbe der Firma, die sein Großvater aus dem Nichts aufgebaut hatte. Er brachte sie unbeschadet über den Krieg und überschrieb sie nach einem oberflächlichen Entnazifizierungsverfahren an seinen Sohn Johannes, Hennings Vater. Und dieser wiederum machte aus der kleinen Firma durch Innovationen und knallhartes Management ein weltweit führendes Nischenunternehmen, das sich erfolgreich einem Börsengang verweigerte und sich gegen Übernahmen zur Wehr setzen konnte. "Unser Betrieb wird immer ein Familienbetrieb bleiben!", hatte er stets verkündet.
Dumm war nur, dass aus seiner Ehe zwei Töchter hervorgingen, die, da sie Frauen waren, seiner Meinung nach als Firmenerben nicht in Frage kamen. Überschwänglich war dann seine Freude, als das dritte Kind endlich ein Junge war. Henning.
Henning Burkstett absolvierte standesgemäß seine Kindheit mit Kinderfrau und Privatlehrer, seine Jugend in einem Eliteinternat, anschließend Studium an der LMU München mit Auslandssemestern an der University of California, Berkeley. Der klassische Weg. Sein Studium beendete er mit … Noten. Nein, es waren wirklich nicht die besten Noten, und das gefiel dem Vater ganz und gar nicht. Und er wusste auch sofort, woran das lag. Es lag an der blöden Kunst. Definitiv.
Mal verfasste sein Sohn, Stammhalter und Firmenerbe romantische Gedichte, mal schrieb er tragische Romane, dann wiederum spielte er auf Hinterhofkabarettbühnen den Komiker oder verplemperte seine Zeit mit dem Verkleckern von Farbe auf teuren Leinwänden. Aber er war eben auch der Sohn. Er würde ihn schon hinbiegen, wenn er erst in der Firma integriert war.
Und seine Mutter? Die spielte die perfekte Gattin und schwammerte als Mutter unentschlossen hin und her. Herrgott! Manchmal hätte ihr Gemahl sie am liebsten vom Hof gejagt – er hatte von sich und seinen Immobilien die Vorstellung eines Fürstenhofes – aber das wäre schlimm für seinen Sohn gewesen, schlechte Publicity und damit sehr, sehr schlecht für die Firma.
Als Johannes Burkstett herausfand, dass Henning seinen USA-Aufenthalt vorwiegend in Kinosälen, auf Vernissagen und Künstlerpartys verbracht hatte, war das schon schlimm genug. Aber dass er bei seiner Rückkehr auch noch eine Schauspielerin mitgebracht hatte, eine völlig unbekannte noch dazu, das schlug dem Fass den Boden aus. Hennings Vater war sauer, sehr sauer. Aber Henning war sein Sohn und Nachfolger, und irgendwie gönnte er ihm auch seine Eskapaden, ja ganz tief im Inneren beneidete ihn sogar darum. Aber die Firma ging vor. Basta. Und das mit der Schauspielerin aus L.A. würde er schon irgendwie regeln.
Cindy Celabry – ihr Künstlername – war ehrgeizig. Sie hatte alles daran gesetzt, ins Geschäft zu kommen. Schauspielerin zu werden, und genau das zu sein und zu leben, das war alles, was sie wollte. Wie oft war sie über Hollywood's Walk of Fame in L.A. geschritten, zwischen all den blöden Touristen, hocherhobenen Hauptes, lächelnd wie eine bekannte Diva. Und sie konnte schon ihren goldenen Stern im Pflaster leuchten sehen. Und dann die Galas, die roten Teppiche, die Empfänge! Was würde sie dafür geben, mal zur Oskar-Verleihung oder zum Golden Globe eingeladen zu werden. Oder wenigstens zum Screen Actors Guild oder Peoples Choice Award. Das wäre doch schon mal ein Anfang für eine steile Karriere!
Aber dann kam dieser #MeeToo-Quatsch dazwischen. Sehr schlechtes Timing. Sie musste sich einen Gönner suchen, auch wenn er nicht aus der Branche war. Einen reichen Sohn etwa, der sie anhimmelte und unterstützte. Finanziell vor allem. Wo finden? In L.A. sicher nicht. Da bildete sich jeder MacDonald's Big Mac Griller ein, selbst entdeckt zu werden. Der richtige Ort wäre San Francisco. Absolutely!
Wieder schlug Henning mit der Faust auf den Tisch. Mann, Mann, Mann. Was tun? In zwei Wochen sollte er in Vaters Firma anfangen, schnell Verantwortung übernehmen und dann die Leitung. So sah Vaters Plan aus. Und es war ja auch verlockend. Endlich Verantwortung bekommen, eigene Ideen einbringen, eine ganze Firma leiten und einen Vater, der sich stolz und entspannt aufs Altenteil zurückziehen würde. Und für die Kunst bliebe ihm als Chef noch Zeit genug. Wenn er denn Chef sein würde.
Aber was war mit Cindy? Henning hatte sie auf einer Bacheloratsfeier in San Francisco kennen gelernt und sich gleich in sie verliebt. Dass sie keine Studentin war, sondern Schauspielerin, war höchst anregend für ihn.
Und als ihre Beziehung enger wurde und sich sein Semester dem Ende näherte, war es klar, dass sie mit nach Deutschland kommen würde. Er würde für sie sorgen, er würde sie darin unterstützen sich in ihrer Profession entfalten zu können, und er würde sie heiraten.
Auf die Reaktion seines Vaters war Henning nicht vorbereitet. Ohne lange Diskussion hatte der ihm erklärt, dass er auf keinen Fall eine hergelaufene Schauspielerin durchfüttern würde. Und auf Hennings entsetzten Einwand, dass er Cindy lieben und sie schnell eine Karriere starten würde und dass er als sein Angestellter und späterer Chef seine Frau selbst versorgen könne, antwortete sein Vater nur mit schnappatmungsähnlichen Geräuschen. Und als er noch zu hören bekam, dass sein Sohn diese Cindy heiraten wolle, war es ganz aus.
Henning war verzweifelt, so verzweifelt, dass er auf die dumme Idee mit der Münze kam. Eine Münze, die über das Schicksal entscheiden sollte. Sein eigenes, das seiner geliebten Cindy, das seines Vaters und der Firma. Seine Mutter schloss er in seine Überlegungen überhaupt nicht mit ein.
Wieder drehte er den Euro zwischen den Fingern. Dann gab er sich einen Ruck, flüsterte: "Cindy Kopf, Vater Zahl ", warf die Münze hoch und versuchte sie aufzufangen. Sie glitt zwischen seinen Fingern durch, prallte auf die Tischplatte und kullerte zu Boden.
Henning stieß einen wütenden Schrei aus, stand auf und wollte die Münze wieder aufheben. Doch sie war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war sie unter den Schrank gekullert.
Resigniert ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und dachte nach. Im Studium hatte er gelernt, dass ein Problem eine Abweichung des Istzustandes von einer Sollvorstellung resp. von einem oder mehreren Zielen ist. Eine Lösung, nämlich den Rückgriff auf Zufallsmechanismen hatte er eben verbockt. Eine weitere, weit bessere Methode sei, sich für Entscheidungen Zeit zu nehmen, Pro- und Kontralisten zu erstellen, alles zu überdenken, dann zu gewichten und eine Wahl treffen.
Er holte sich Zettel und Bleistift und notierte unter FIRMA:
- Großvaters Erbe
- sichere Position
- selbstständiges Arbeiten
- sein eigener Chef sein
Usw.
Dann kam die Rubrik CINDY:
- klasse Figur
- türkisgrüne Augen
- lange Beine
- dunkle, glänzend schimmernde Haare
- Künstlerin
Usw.
Schließlich hörte er erschöpft auf, ließ sich zurückfallen und las seine Listen noch mal durch.
"Was für ein Bullshit", schrie er, zerknüllte das Papier und warf es an die Wand. "Das klingt alles wie ein Auszug aus einem gottverdammten, strunzblöden Schnulzenroman!"
Wieder überdachte er seine Situation, und je mehr er nachdachte, desto klarer wurde es ihm.
Er nahm ein neues Blatt Papier, schrieb links 'Vater' und darunter 'Cindy', dachte noch mal nach und setzte dann sein Urteil daneben. Kurz und prägnant.
Vater: machtgierig
Cindy: geldgierig
Aus und vorbei. Vater würde, solange er lebte, nie seinen Chefposten räumen, und Cindy würde alles tun, um ihr Ziel zu erreichen. Und beide benutzten ihn nur.
"Na super", flüsterte er. "Und was mach ich nun? Ich muss mich doch entscheiden!"
Henning stand auf und ging zur Bar, um sich eine Entscheidungshilfe zu holen. Dabei fiel sein Blick auf den Möbelsockel. Dort lehnte hochkant sein Euro und schien ihn auszulachen.
"Du dummes Ding", sagte Henning. "Du konntest dich auch nicht entscheiden!" Er hob die Münze hoch und betrachtete sie genauer.
"Verdammt!", rief er dann, "Ihr Idioten! Von wegen, eine Münze hat zwei Seiten. Sie hat auch einen Rand!" und dann fiel ihm ein Zitat von Karl Valentin ein, dem 'Wortklauberer':
Jedes Ding hat drei Seiten. Eine positive, eine negative und eine komische.
"Ja, Karl, drei Seiten, damit hast du recht. Aber das Ding kann auch zwei negative und eine positive haben. Und was man aus der positiven Seite macht, kann auch komisch sein. Aber positiv ist sie allemal."
Dann schob Henning Burkstett die Münze in die Uhrtasche seiner Jeans mit dem Vorsatz, sie nie mehr herzugeben und machte sich umgehend an die Planung seines neuen Lebens. Ohne Firma und ohne Cindy. Und komisch würde daran einiges sein, aber das war ihm egal.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 20.01.2018
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