Siegfried saß am Tisch in der Küche und aß missmutig sein Marmeladenbrot. Ein kleines Tässchen stand daneben, in das die Mutter die wenige Milch, die die kleine Ziege am Morgen gegeben hatte, einfüllte. Für sie selbst war nichts mehr übrig geblieben, also hatte sie sich einfach warmes Wasser in ihre Tasse eingegossen. Brot gab es auch nur noch ein kleines Stück, das sie für Siegfried aufhob.
Die Mutter, Elsa, sah diesem Tag mit Graus entgegen. Man schrieb Heiligabend 1945. Der Krieg war Gott sei Dank endlich zu Ende, doch die Lebensmittel waren sehr knapp bemessen. Die zwei Hasen, die sie mit viel Mühe über den Sommer großgezogen hatte, waren von der immer noch rigoros vorgehenden Obrigkeit kurz vor Weihnachten beschlagnahmt worden.
Elsa wusste, wozu die Herren der neuen Regierung die Hasen brauchten. Man sah es an ihrer Leibesfülle, dass sie keine Mangel leiden würden... an diesem denkwürdigen Heiligabend!
Was Elsa nicht wusste, war das bitterliche Flehen ihres einzigen Sohnes zu Gott. Erwin, ihr Mann und der liebevolle Vater für ihren Sohn Siegfried, war seit zwei Jahren nicht mehr zuhause gewesen. Andere Nachbarsmänner waren längst aus dem Krieg, oder auch aus der Gefangenschaft, zurückgekehrt. Einige waren ums Leben gekommen. Elsa hoffte und betete innständig, dass ihrem geliebten Ehemann nichts zugestoßen war. Seit vielen Monaten hatte sie keinerlei Nachricht mehr von ihm bekommen.
Ein Nachbar, der bereits seit dem Sommer wieder zuhause war, hatte ihr berichtet, dass er mit Erwin in der gleichen Einheit seinen Dienst getan hatte. Erwin war kurz vor dem Ende des Krieges am Bein verwundet worden und kam in ein Lazarett. Seitdem hatte auch er kein Lebenszeichen mehr von Erwin erhalten.
So saß Elsa grübelnd am Tisch. Ihr gegenüber, ebenso in seine Gedanken vertieft ihr Sohn Siegfried. "Mama", sagte er plötzlich. "Denkst du, dass Papa heute kommt? Heute ist doch Heiligabend!" Elsa zerriss das Herz vor Leid. "Mama, lass uns den Tannenbaum im Vorgarten schmücken, bitte!" bettelte er. "Warum willst du die Tanne schmücken Siegfried?" fragte die Mutter. "Wenn der Papa heute abend kommt, soll er einen schönen Empfang haben!", ereiferte sich Siegfried.
Die Mutter wusste, dass dieser Wunsch ihres traurigen Sohnes nicht in Erfüllung gehen würde, doch um ihm die Freude zu machen, sagte sie ihm zu. So suchten sie gemeinsam auf dem Dachboden nach dem Weihnachtsbaum-Schmuck. Mit einer klapprigen Holzleiter und dem dürftigen Weihnachtsbaumbehang gingen sie gemeinsam in den Vorgarten. Die Mutter hielt die wackelige Leiter und Siegfried begann mit großem Eifer, die Kugeln, Engel und Tannenzapfen an dem Baum zu befestigen. Er kletterte um den Baum wie ein kleines Äffchen. Die Mutter hatte Sorge, er könne herunterfallen. Siegfried bemerkte dies und sagte in seiner kindlichen Einfachheit "Keine Angst Mama, ich habe gebetet, ich falle nicht!" Der Glaube ihres zehnjährigen Sohnes beeindruckte sie sehr.
Die Nachbarn kamen auf die Straße und fragten neugierig nach dem Grund dieser Aktion. Der kleine Siegfried erklärte mit Eifer seinen Plan. Die Nachbarn waren sehr gerührt. Nur ein Kind hatte die Gabe, solch einen Glauben zu entwickeln. Niemand der Umstehenden zog auch nur im Entferntesten in Betracht, dass Siegfrieds Wunsch in Erfüllung gehen könnte.
Nach getaner Arbeit und nachdem Siegfried gefühlte hundert Mal erneut auf der Leiter herumturnte, weil ihm die eine oder andere Kugel nicht richtig zu hängen schien, räumten sie die Sachen wieder in den Schuppen. Siegfried verkroch sich in den leeren Hasenstall und war den ganzen Tag nicht mehr zu sehen.
Seine Mutter ahnte, was in dem Jungen vorging und ließ ihn gewähren. Sie bereitete aus dem bisschen Mehl, das sie noch hatte, etwas Hefe und einem geschenkten Ei der Nachbarin etwas Teig zu und fing an, für Siegfried einen Hefeteig-Engel zu backen. Mehr hatte sie leider nicht für ihr Kind.
So wurde es Abend. Siegfried kam zum Abendessen, setzte sich wortlos hin und löffelte die dünne Milchsuppe, in die die Mutter eine Scheibe Brot geschnitten hatte. Nach dem Essen setzte er sich mit dem Stuhl an das Fenster und schaute unentwegt die Straße hinunter.
"Siegfried, was machst du?" fragte die Mutter. "Ich warte, bis ich Papa sehe!", entgegnete der Junge. "Komm, lass uns ein paar Weihnachtslieder singen!", schlug die Mutter vor. Ja, Weihnachtslieder mochte Siegfried gerne und so saßen die beiden zusammen vor dem Fenster, schauten zur Straße und sangen Weihnachtslieder.
Der Abend verging, Siegfried wurde langsam müde. Die Mutter hatte nicht den Mut, dem kleinen wartenden Jungen zu sagen, dass das Christkind wohl seinen Wunsch nicht erfüllen konnte. Voller Wärme sagte sie: "Siegfried, komm, du musst schlafen gehen." Doch der kleine Junge hatte andere Pläne. "Lass uns eine Kerze vor dem Weihnachtsbaum draußen entzünden, damit der Papa sie sieht, wenn er kommt. Bitte Mama!" Elsa hatte nur noch zwei kleine Stummel, doch sie konnte ihrem Jungen diese Bitte nicht abschlagen.
Als sie zur Haustür hinaustraten, begann es so sehr zu schneien, dass der riesige Weihnachtsbaum ruck zuck voller Schnee lag. Zusammen mit der kleinen Kerze, die sie unter einen Schutz gestellt hatten, sah das Ganze sehr festlich aus. Elsa hatte das Gefühl, das Licht der Kerze hatte sich vervielfältigt, so hell erstrahlte sie vor dem Tannenbaum. Ein Weihnachtswunder... dachte sie bei sich.
Siegfried war nun doch sehr müde geworden und ging freiwillig zu Bett. Als die Mutter sich, wie jeden Abend, auf sein Bett setzte, um mit ihm das Abendgebet zu sprechen, sagte Siegfried plötzlich "Mama, weißt du, der Papa ist jetzt zwar noch nicht gekommen, aber es ist noch nicht Mitternacht, der Papa kommt vor Mitternacht!" Elsa traten die Tränen in die Augen. Verstohlen wischte sie sich über ihr Gesicht. "Mama, du musst nicht weinen", sagte der Junge. "Ich habe heute Mittag im Hasenstall für unsere zwei Hasen gebetet, dass sie nicht leiden müssen. Ich weiß, dass die Männer sie heute geschlachtet haben. Das ist ok Mama. Sie haben ja auch Hunger! Aber die Hasen haben davon nichts gemerkt, das weiß ich ganz genau Mama!"
Die Mutter musste die Luft anhalten, damit sie nicht laut losweinte. Welch wunderbares Kind ihr Siegfried doch war. Sie war sehr dankbar für diesen Jungen, der seinem Vater so sehr ähnelte. Auch Erwin war ein Herzensmensch. Er war zu allen Menschen liebevoll und ehrlich. Jetzt, wo sie über ihren Mann nachdachte, überkam sie eine unbändige Sehnsucht nach ihm.
Siegfried unterbrach sie in ihren Gedanken. "Mama, können wir die zweite Kerze noch schnell unter den Baum stellen?" fragte er. Auch diesen Wunsch erfüllte sie ihrem Jungen von Herzen gerne. Also zogen sie noch einmal ihre warmen Jacken über und Siegfried stapfte zur Türe hinaus. "Mama, schau!" schrei er. Die Mutter eilte mit dem Kerzenstummel, den sie am Herdfeuer entzündet hatte, hinter ihm her und blieb abrupt stehen.
Draußen standen die Nachbarn, hatten Kerzen in Einweck-Gläsern um den gesamten Baum in den Schnee gestellt und angezündet. Der Baum leuchtete, als hätte jemand rundum helle Lampen dahin gestellt. Um den Baum war es taghell. Elsa stand da, weinte nun hemmungslos und wurde von allen getröstet. Jeder wusste, wie sehr sie sich nach ihrem Erwin sehnte. Er war auch ihr Nachbar und alle liebten ihn. Auch sie vermissten ihn an diesem Abend!
Karl, der Freund von Erwin, der ebenfalls mit ihm in den Krieg gezogen war, stellte sich vor den Baum, hob seine Mundharmonika an den Mund und spielte "Es ist ein Ros´entsprungen!". Tief bewegt stimmten die Umstehenden mit Gesang ein. Immer mehr Nachbarn gesellten sich langsam dazu. Jeder brachte eine Kerze mit, die unter dem Baum im Schnee einen Platz fand. So füllte sich der Schnee mit leuchtenden Lichtern. Die Schneeflocken gaben ihre Eiskristalle dazu und der Baum begann zu glitzern und zu funkeln.
Ein Lied nach dem Anderen wurde gesungen und von Karl begleitet. Inzwischen war die Zeit vorgerückt, es war kurz vor Mitternacht. Niemand war nach Hause gegangen. Dieser besondere Abend unter der riesigen Tanne hatte etwas Göttliches, etwas Überirdisches. Ein Gefühl aus der Ewigkeit, das jeden in seinen Bann gezogen hatte. Dann sangen sie Erwins Lieblingslied. "Stille Nacht, heilige Nacht!" Genau in diesem Moment schlug die Kirchturm-Uhr Mitternacht.
Keiner außer Elsa wusste von dem Gebetswunsch ihres Sohnes. Sie schaute zu Siegfried, der mit einem Kerzenglas vor dem hell erleuchteten Baum stand und das schöne Weihnachtslied mitsang. Er schaute verstohlen zur dunklen Straße. Man sah nicht viel außerhalb der Tanne, doch Siegfried hatte die Hoffnung nicht aufgegeben.
Plötzlich ertönte aus der entgegen gesetzten Richtung eine wunderbare Männerstimme. Laut und voller Demut sang jemand "Stille Nacht, heilige Nacht!" Alle Augen sahen ins Dunkel, dann kam eine Gestalt langsam durch den Schnee gestapft. Elsa schrie "ERWIN!" Siegfried rannte mit seiner Kerze in den Händen auf seinen Vater zu und sprang ihm in die Arme. Erwin hatte seinen Beutel, den er über der Schulter getragen hatte, fallen gelassen und fing seinen Jungen auf.
"Papa!", weinte der kleine Junge. "Papa, ich hab´s gewusst, du kommst heute Abend!" Siegfried drückte sich fest an seinen Vater und beide weinten. Alle Nachbarn, vornean Elsa, gingen auf Erwin zu. Ein herzlicheres Willkommen hätte er sich nicht ausdenken können. Er war wieder daheim. Er hatte den Krieg überlebt, auch die Gefangenschaft und den abenteuerlichen Weg nach Hause.
Herzlich begrüßt und gedrückt bahnte sich jeder seinen Weg zurück zu Erwins Haus. So wie es seine Art war, nahm er seinen gefüllten Beutel, lud einfach alle Nachbarn zu sich ein. Mitten in der Nacht zog er einen ganzen Schinken und drei angefrorene Brote aus dem Beutel. Auch ein Kamintürchen kam zum Vorschein. Mit dem hatte Erwin etwas ganz Besonderes im Sinn.
Die Nachbarn schleppten einen Tisch vor den Weihnachtsbaum, Elsa holte ein Holzbrett und ein großes Messer. Der Schinken und die Brote wurden dünn aufgeschnitten, damit jeder der Anwesenden etwas abbekam. So stand Siegfried neben seinem Vater, strahlte ihn an, half die Brotscheiben verteilen und war selig. Die Nacht verging, es wurde gesungen, gelacht und erzählt bis zum frühen Morgen.
Bevor die Nachbarn sich verabschiedeten, stellte sich Erwin vor den beleuchteten Baum und faltete seine Hände. "Lieber Gott", betete er. "Ich danke dir, dass du mich gesund und heil nach Hause gebracht hast. Ich danke dir, dass meine Elsa und mein lieber Siegfried wohlauf sind! Und ich danke dir, dass du dein Wort gehalten hast, mich gut nach Hause zu bringen. Nun will auch ich meinen Teil unserer Abmachung erfüllen und dir zum Dank ein Gotteshaus bauen. Gelobt sei dein Name!"... und alle Umstehenden sagten laut AMEN!
Das tat er dann. Auf dem Grundstück neben dem Wohnhaus, genau da, wo der schöne Weihnachtsbaum im Vorgarten stand, baute Erwin ein kleines Haus genannt "Säälchen", in dem er zur Ehre Gottes jede Woche Bibelstunden und Gottesdienste abhielt. Das mitgebrachte Kamintürchen baute er in den Kamin ein.
Die Tanne vor dem Säälchen stand jedes Jahr erneut im Mittelpunkt der Weihnachtszeit. Regelmäßig an Heiligabend, wenn es dunkel wurde, kamen die Gemeindemitglieder, schmückten den Baum und stellten Kerzen in Einweckgläsern rund um den unteren Kranz der Zweige. Jedes Jahr waren andere Wetterbedingungen, immer war es ein besonderes Ereignis, doch niemals mehr leuchtete die große Tanne so hell, wie an Heiligabend 1945, als Siegfrieds Vater heimkam.
Diese Weihnachtsgeschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Erwin und Elsa Müller wohnten in Karlsruhe-Durlach. Siegfried ihr einziger Sohn ist der Gründer und Erbauer des heutigen Missionswerkes Karlsruhe. Er wurde gerade 82 Jahre alt. Vor dem Gebäude des Missionswerkes steht eine große Libanon-Zeder, die ihn an diese Anfänge von Weihnachten 1945 erinnert. Wenn er diese Geschichte erzählt, leuchten seine Augen - heute noch!
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 17.12.2017
Alle Rechte vorbehalten