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Der Baum

Wie immer vor Weihnachten war der letzte Arbeitstag nicht besinnlich, sondern stressig gewesen. Völlig geschafft kam Iffi nachhause. Sie schleuderte die Schuhe von den Füßen, hängte die Jacke an die Garderobe und freute sich auf ein paar Tage Urlaub. Erst nach dem Neujahrsfest musste sie wieder zur Arbeit. Endlich Ruhe!

Iffi ging ins Wohnzimmer, blieb gerührt stehen und schlug die Hände zusammen. Da stand er, der Weihnachtsbaum. Ach Adi!, dachte sie, du bist sooo süß!

Sie trat näher und inspizierte das Weihnachtssymbol genauer. Ja, es war tatsächlich eine Tanne, nicht so eine störrische Fichte wie letztes Jahr. Die Kerzen waren zwar die halb herunter gebrannten vom alten Baum, aber der Schmuck war neu. Viele hübsche, kleine, rote Äpfelchen. Wo Adi die wohl her hatte?

Sie ging in die Küche, holte Handbesen und Schaufel und fegte die von der Montage noch herumliegenden Holzspäne und Nadeln auf, räumte die Kerzenschachtel weg und rief dann nach ihrem Lebensgefährten.

"Adi! Adi?" Na ja, wahrscheinlich war er wieder in Fred's Pub wie jeden Tag. Anyway. Ruhe, Feierabend.

Iffi setzte sich aufs Sofa und betrachtete den Weihnachtsbaum. Okay, besonders gerade gewachsen war er ja nicht, aber das war egal. Er tat ihren Augen und ihrer Seele gut. Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens stand vor der Tür. Wie schön.

 

Während sie die apfelgeschmückte Tanne betrachtete, überlegte sie, ob sie noch den Abwasch machen sollte, der sich in der Küche stapelte, verwarf dann aber die Idee wieder. Der Anblick des Weihnachtsbaumes war einfach zu beruhigend, zu verheißungsvoll. Eigentlich hatte sie es ja nicht so mit christlichen Symbolen. Aber war ein Tannenbaum wirklich so etwas, oder doch eher ein Überbleibsel aus heidnischer, mythischer Zeit? Wahrscheinlich hatte es auch vor 2000 Jahren in Bethlehem keine Tannen gegeben, oder? Aber was spielte das schon für eine Rolle? Adi hatte den Baum für sie besorgt, aufgestellt und geschmückt, und nur das war es, was zählte. Ach, das Leben ist doch schön! Sie lehnte sich zurück und seufzte zufrieden. Dann schaute sie auf die Uhr, und schlagartig wurde sie hungrig. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, dachte sie. Nur weil ich jetzt weiß, dass es schon fast acht ist, will ich was essen. So ein Blödsinn! Sie beschloss, das Gefühl zu ignorieren und mit dem Kochen zu warten, bis Adi wieder heimkam.

 

Wieder betrachtete Iffi den Weihnachtsbaum. Schöne rotbäckige Äpfelchen als Schmuck – das war schon eine gute, wenn auch leicht schräge Idee. Letztes Jahr hatten sie nur ein paar scheußliche Plastikkugeln vom Ein-Euro-Laden am Baum hängen und Weihnachtsplätzchen von ihrer Oma. Als sie an das Gebäck dachte, packte sie wieder der Hunger. Sie stand auf und ging zur Tanne. Äpfel. Wie war Adi nur auf diese Idee gekommen?

Iffi umrundete den Baum und zählte sie. Achtzehn Stück. Ganz schön viele für die kleine Tanne. Ob es wohl auffallen würde? Nein! Verflixt! Verfressenes Miststück!, schalt sie sich innerlich. Aber Sekunden später war der Kampf verloren. Vorsichtig nahm sie einen Apfel vom Baum, hängte zwei andere etwas näher an die leere Stelle, trat zurück und nickte. Passt. Es fiel überhaupt nicht auf.

Iffi rieb das Diebesgut am Ärmel sauber, sank zurück aufs Sofa und biss herzhaft hinein. Hmm. Und noch mal. Ratzfatz war der Apfel weg, inklusive Kernhaus. Nur der Stiel und das goldene Bändchen, mit dem Adi den Apfel am Zweig befestigt hatte, blieben übrig. Sie rülpste kurz, weil sie so geschlungen hatte, und dann wurde ihr fast schlecht.

Mein Gott, dachte sie entsetzt, wenn Adi das doch merkt? Um Himmels Willen! Dann schlägt er mich wieder, der Mistkerl!

Das war doch typisch für ihn. Sie stand auf und betrachtete zitternd den Baum. Dabei fiel ihr Blick auf den Stumpf, der schief in dem billigen Christbaumständer klemmte. Keine Profiarbeit. Lieblos abgesägt und zurechtgehackt. Klar. Adi hatte den Baum auch heuer wieder im Wald geklaut. Und die Äpfel ganz sicher in der Mosterei gestohlen, der geizige Hund. Alles fiel ihr jetzt ein. Der Dreck im Wohnzimmer, das schmutzige Geschirr. Er hatte doch den ganzen Tag nichts zu tun! Gar nichts! Er tat überhaupt nichts im Haushalt. Weder verdiente er etwas durch irgendeine Art von Arbeit, noch kompensierte er sei Schmarotzertum durch etwas anderes. Lieber ging er in Fred's Pub zu seinen Kumpanen und versoff das Geld, das er von ihr forderte.

Iffi wurde es ganz kalt ums Herz. Habe ich das bisher nie gesehen? Habe ich immer alles verdrängt? Warum fällt mir das erst jetzt auf, am Tag vor Heiligabend?

Mit großen Augen starrte sie auf den Weihnachtsbaum. Äpfel. Langsam sickerten alte Geschichten in ihr Bewusstsein, Geschichten, die ihre im Frühjahr verstorbene Oma vor vielen Jahren erzählt hatte, als Iffi noch klein war. Stories aus der Bibel, Geschichten über das Paradies, Adam und Eva …

Ja verdammt, das passt, dachte Iffi. Ich heiße ja nicht Iffi, ich heiße Eve!

Sie hatte den Namen nie leiden können. "Iiiiiiiiif" haben ihr die Kinder immer nachgekreischt. Wie konnte ihre Mutter ihr das nur antun, sie Eve zu nennen? Warum nicht Eva? Irgendwann hatte sie dann aus Iiiiiiiiif einfach Iffi gemacht und dann war's gut.

Und Adi? Wie hieß ihr Lebensgefährte eigentlich wirklich? Sie hatte es vergessen. Adolf bestimmt nicht, da hätten sie in seiner bayerischen Heimat sofort Dolferl daraus gemacht. Dann fiel's ihr wieder ein. Klar. Adam. Adam und Eva. Und plötzlich wusste sie auch, was es mit dem Weihnachtsbaum auf sich hatte. Er war der Baum der Erkenntnis aus dem Paradies, und sie hatte einen Apfel davon gegessen.

Eva streckte die Hand aus, streichelte die Zweige und flüsterte: "Danke, lieber Tannenbaum."

Dann eilte sie ins Schlafzimmer, packte Adams Sachen zusammen und schleppte sie vor die Wohnung. Bevor sie die Tür schloss eilte sie noch einmal zum Weihnachtsbaum, pflückte einen Apfel, legte ihn auf die Taschen und sagte: "Iss, Adi. Iss auch du vom Baum der Erkenntnis. Du brauchst das genauso wie ich."

 

Dann knallte sie die Tür zu und schob den von außen nicht zu öffnenden Panzerriegel vor.

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 12.12.2017

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