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Die Vorstellung ... vom Weihnachtsbaum

„Schau mal, wie viele Menschen sich hier drängen“, freute sich Ivy, die kleine Tanne und neigte sich vertrauensvoll zu Stürmchen, ihrer Freundin. „Wann wohl endlich jemand mich auswählt? Ich wünsche mir so sehr, ein echter Weihnachtsbaum zu werden. Dann darf in einer hübschen Wohnung stehen, werde reich geschmückt und unter mir häufen sich die Geschenke. Kerzen zieren meine Zweige und Lametta schimmert golden. Ich bin so aufgeregt, du nicht?“

„Ich weiß nicht“, entgegnete Stürmchen ein wenig kläglich. „Ich würde gerne ganz groß werden, bis in die Wolken hinein ragen. Ich möchte alt werden und viele Sommer sehen. Mich daran erfreuen, wenn Eichhörnchen auf mir herum springen und Vögel ihre Nester in mir bauen. Ein Leben für einen einzigen Tag beenden? So wertvoll wie das Leben kann Weihnachten doch gar nicht sein.“

„Wir sind aber Weihnachtsbäume“, schimpfte ein etwas größerer Tannenbaum, „das ist unsere Bestimmung. Wir sind die Bäume der Bäume für das Heiligste aller Feste der Christen. Es ist eine Ehre, an diesem Tag in vollem Glanz zu erstrahlen!“

„Ich weiß nicht“, stotterte Stürmchen wieder und neigte sich sacht Ivy entgegen. „Hast du denn gar keine Angst? Vor dem Fällen? Dem Fallen? Davor, dass du niemals mehr die Vögel sehen kannst? Ich fürchte mich. Ich möchte in gar keine schön geschmückte Stube. Dort wird es sicher warm sein und ich liebe es, wenn der Wind um meine Zweige weht. Ich mag den Regen, die Sonne. Wie wird es sein? Scheinen dort des Nachts die Sterne?“

„Schweig!“, fuhr sie die große Tanne an. „Wir sind dazu bestimmt, dem Menschen eine Freude zu bereiten. Kinderaugen zum Strahlen zu bringen. Es ist nun einmal so. Wir sind gebildet, kultiviert. Nicht umsonst nennt man uns Baumschule. Du bist nicht in der Wildnis aufgewachsen, hier wird gestutzt, gehorcht, nicht nachgefragt.“

„Dann ist es beschlossen?“, fragte Stürmchen verzweifelt. „Und die Menschen freuen sich wirklich an einem geschlagenen Baum?“

„So schlimm ist das nicht“, beruhigte die große Tanne. „Du wirst sehen, es ist ein erhabenes Gefühl.“

 

 

Lilly war sehr aufgeregt, als ihre Eltern sie mitnahmen, um einen Baum auszusuchen, der ihr Weihnachtsbaum werden sollte. „Wo stellen wir ihn denn hin?“, fragte ihre Mutter, als sie bereits auf dem Weg zur Plantage waren.

„Na, auf die Diele, dort kommt er am besten zur Geltung“, entschied ihr Vater. „Ein richtig großer Tannenbaum, der ordentlich was hermacht.“

„Dann willst du ihn heute schlagen und in den nächsten Tagen mit dem Anhänger holen?“, schimpfte Ella. „Was für ein Umstand! Lass uns einen nehmen, der ins Auto passt. Die Diele finde ich auch viel zu kalt, die Stube, das wäre doch viel besser. Dann haben wir viel mehr davon.“

„Auf der Diele hält er länger. Dort ist es kühl und er nadelt nicht so schnell. Du solltest mal pragmatisch Denken, Liebes.“

„Ich brauche gar keinen Weihnachtsbaum, wenn er nicht in der Stube steht, Richard. Ich wünsche mir einen Baum für uns, nicht für deine Geschäftspartner, die du am 2. Feiertag eingeladen hast“, gab Ella wütend zurück. „Weihnachten! Mindestens an Weihnachten solltest du mal ein Ehemann und Vater sein!“

„Für wen arbeite ich denn so viel?“, rief Richard aufgebracht, trat auf die Bremse und bog in die Einfahrt der Plantage ein. „Nur deinetwegen! Du kriegst doch den Hals nicht voll! Alles willst du haben und jetzt auch noch Ballett Unterricht für Lilly. Als ob Klavierstunden, Pony reiten und Schwimmen nicht genug wären! Sie ist erst sechs, meine Liebe! Glaubst du nicht, dass alles ist viel zu viel für unsere Tochter?“

„Du musst das ja wissen!“, fauchte sie zurück. „Herr Landhaus Besitzer arbeitet ja in der Stadt. Lilly und ich fühlen uns in diesem großen Haus oft genug verloren! Jetzt fahr endlich weiter, damit wir überhaupt noch einen verfluchten Baum bekommen!“

„Wir sind da, meine Teure. Aber wie immer siehst du den Wald vor lauter Bäumen nicht! Und jetzt lass es uns endlich hinter uns bringen.“

„Du bist furchtbar, Richard. Feier dein blödes Weihnachtsfest mit deinen Kollegen, aber ohne Lilly und mich. Ich fahre mit ihr zu meinen Eltern!“

„Das könnte dir so passen! Lilly bleibt!“ Wütend stieg er aus dem Auto und starrte auf die bereits geöffnete Hintertür. „Wo ist Lilly?“, fragte er nun heiser, doch auch Ella sah sie nicht. Lilly war fort.

 

„Wie sieht sie denn aus?“, fragte der Baumschulen Besitzer die aufgeregten Eltern, die immer wieder nach Lilly riefen und reichte ihnen eine Taschenlampe. „Die Strahler beleuchten nur den Eingang. Sehen Sie, dort hinten geht die Plantage noch ein ganzes Stück weiter. Aber weglaufen würde Ihre Tochter jawohl nicht, oder?“

Ratlos sah Richard in Ellas Augen, die sich längst mit Tränen gefüllt hatten. „Ich weiß es nicht“, stammelte er. „Wir hatten Streit.“ Unwillkürlich strich er seiner Frau die Tränen von der Wange, nahm die Taschenlampe dankbar an und murmelte ein zuversichtliches „Wir finden sie.“

 

Stürmchen hatte das kleine Mädchen, das weinend durch die Reihen lief, zuerst entdeckt. „Wer bist du?“, fragte sie neugierig und Lilly blieb verwundert stehen. „Warum bist du so traurig?“, fuhr die kleine Tanne fort und Lilly hörte auf zu weinen.

„Du verstehst mich?“, staunte sie. „Ich glaube, ich träume.“ Stürmchen lachte. „Natürlich verstehe ich dich. Du verstehst mich ja auch! Also sag, was hast du denn?“

„Meine Eltern streiten sich immer. Dabei habe ich mich so gefreut, auf diesen Tag. Wir wollten uns doch einen Weihnachtsbaum aussuchen, alle zusammen, denn bald kommt doch der Weihnachtsmann.“

„Wer ist der Weihnachtsmann?“, fragte Stürmchen. „Er bringt Geschenke und erfüllt dir deine Wünsche. Aber das, was ich mir wünsche, hat er sicher nicht.“

„Was wünschst du dir denn?“, wollte die Tanne wissen. „Dass meine Eltern sich nicht immer streiten. Dass Papa nicht so oft fort ist und Mama nicht mehr traurig ist.“

„Und der Weihnachtsmann erfüllt dir alle Wünsche? Das ist ja toll! Glaubst du, er erfüllt die von kleinen Tannen auch?“

Lilly musste Lachen. „Was wünschst du dir denn?“

„Ich möchte kein Weihnachtsbaum werden“, murmelte Stürmchen. „Ach nein?“, wunderte sich Lilly. „Findest du Weihnachten denn gar nicht schön?“

„Ich weiß es nicht“, gab Stürmchen zu. „Ich weiß nur, dass meine Schulfreunde hier gefällt werden und übrig bleibt ein Stumpf. Aber daran hängen unsere Wurzeln und ohne Wurzeln sterben wir.“

„Das ist ja furchtbar“, stotterte Lilly betroffen. „Dann mag ich Weihnachten ab jetzt auch nicht mehr. Niemand soll dich fällen. Da ist es mir schon lieber, wenn meine Eltern sich streiten. Weißt du, seit dem wir umgezogen sind, bist du der einzige Freund, den ich gefunden habe. Ich bleibe ab jetzt bei dir und passe auf, dass dir kein Leid geschieht.“

„Du bist ja lieb“, lächelte Stürmchen. „Aber das kannst du nicht machen. Dir wird kalt werden, besser ist, du gehst zu deinen Eltern zurück. Vielleicht vertragen sie sich ja wieder. Mit mir wird auch oft geschimpft.“

Lilly staunte. „Warum kann man mit dir schimpfen? Was könntest du denn falsch machen?“

„Na eben, weil ich kein Weihnachtsbaum werden will. Die große Tanne sagt, wir hätten alle unsere Bestimmungen erfüllt und somit werden wir gefällt. Ausnahmen gibt´s da leider nicht.“

 

Es dauerte eine ganze Weile, bis Ella und Richard ihre Tochter gefunden hatten, die lächelnd und plaudernd vor einer kleinen Tanne stand.

„Lilly!“, rief ihre Mutter erleichtert und nahm sie auf den Arm. Richard zog die beiden an sich. „Du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt, Kleines, wir hatten furchtbare Angst. Was machst du hier im Dunkeln ganz alleine? Lauf bloß nie wieder weg!“

„Ich bin gar nicht alleine“, widersprach Lilly fröhlich. „Seht mal, das ist Stürmchen, mein neuer Freund. Aber Stürmchen möchte gar kein Weihnachtsbaum werden, Papa, wie können wir ihr nur helfen?“

„Wieso möchte Stürmchen denn kein Weihnachtsbaum sein?“, wunderte sich Richard und schaute sich die kleine Tanne an.

„Stürmchen hat mir erzählt, dass sie ohne Wurzeln gar nicht Leben kann. Stimmt das denn nicht?“

Ella fühlte Lillys Stirn und suchte verwundert Richards Augen. „Sie hat kein Fieber“, erklärte sie beruhigt. „Sag mal Lilly, woher weißt du das?“

„Na von Stürmchen, das habe ich euch doch erzählt. Können wir ihr helfen?“

„Ja, ich denke schon“, antwortete nun ihr Vater und zog sein Handy aus der Tasche. „So weit ich weiß, verkaufen die hier auch Weihnachtsbäume mit Ballen. Frag du mal dein Stürmchen, ob sie vielleicht bei uns im Garten groß werden will. Nach Weihnachten könnten wir sie dort einpflanzen, wenn ihr das gefällt.“

Lilly strahlte und auch Stürmchen war begeistert von Richards Idee.

So kam es, dass Stürmchen nun doch ein glücklicher Weihnachtsbaum wurde und Lilly ihren ersten Freund von nun an immer an ihrer Seite hatte.

Ob Ella und Richard sich vertragen haben? Das kann ich euch nicht mit Gewissheit sagen. Fest steht, dass sie dieses Weihnachtsfest auf jeden Fall zusammen feiern werden. Wie es ausgeht? Nun, das ist eine andere Geschichte, die ich euch im nächsten Jahr erzählen werde...)

 

Ende

 

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Tag der Veröffentlichung: 06.12.2017

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