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1. Kapitel




1. Kapitel


Als Bibiana an einem späten Abend im Januar ihre Post auf die Holzkommode im Flur legte, ahnte sie nicht, dass die aktuelle Telefonrechnung ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellen würde. Während sie ihre Stiefel abstreifte und den Mantel auszog, warf sie einen erfreuten Blick auf den dicken Umschlag, der den Absender eines Möbelhauses trug. Es konnte nur der Katalog sein, ein weiterer Beweis, dass sie es geschafft hatte. Sie wollte die Pausenzone in ihrem Fitness-Studio neu gestalten. Es war so weit, an eine kleine Investition zu denken.
In der Küche kochte sie sich einen großen Becher grünen Tee. Sie wusste, dass es töricht war, dermaßen stolz auf ein paar Tischchen und Korbsessel zu sein, aber es waren schließlich ihre letzten zwei Jahre gewesen, die sie damit verbracht hatte, ihr Studio zu etablieren. Es war vielleicht nicht die elitäre Arena, die ihrer Mutter vorschwebte, aber auch keine Mucki-Bude.
Das Studio hatte eine ganz persönliche Note. An den Wänden hingen Bilder von noch wenig bekannten Künstlerinnen. Sie wurden nach etwa drei Monaten ausgetauscht und waren käuflich zu erwerben. In den Ecken standen verschiedene Palmen in großen Tontöpfen. Stets lief schwungvolle Musik, die weder hektisch noch aufdringlich war.
Bibiana liebte Schönheit, wobei es für sie keine Rolle spielte, ob es sich um die Schönheit der Natur, eines Menschen oder eines Objektes handelte. Ästhetische Objekte stimulierten ihre Gefühle, regten ihre Fantasie an. Es machte ihr Freude, mit etwas ihren Lebensunterhalt zu verdienen, das für die Gesundheit und das Wohlbefinden von Menschen nützlich war, und sie zeigte eine bemerkenswerte Begabung für die Gestaltung ihres Clubs.
Sie vermisste ihren alten Job nicht. Eine wirkliche Vollblutlehrerin war sie nie gewesen, dazu fehlte ihr der akribische Zug, dieses wirklich Akkurate. Sie war nicht beseelt von der unabänderlichen Richtigkeit der Dinge. Die permanente Ausschau nach Fehlern und deren Korrekturen hatte sie nicht ausgefüllt.
Sie war geliebt und auch abgelehnt worden, der Job hatte seine Highlights gehabt und seine abtötende Routine. Besonders das sich Einfügen in die Hierarchien der Schule war ihr ein Gräuel gewesen. In einem Anfall von Überdruss hatte sie den Job in Bielefeld gekündigt.
Sie war zurück in ihre Heimaltstadt Köln gezogen, wo sie wieder in der Nähe ihrer beiden Freundinnen war. Bei Laureen hatte sie die ersten drei Monate gewohnt. Dort hatte sie sich erholt und besonnen. Schließlich hatte diese Idee mit dem Studio Gestalt angenommen.
Vielleicht war sie ja wirklich eigenbrötlerisch, egoistisch und unnachgiebig, was ihre Mutter ihr immer vorwarf. Dennoch fühlte sie sich im Recht. Der Job in der Schule hätte sie ausgebrannt.
Das Studium von Geographie und Sport hatte ihr gefallen und immerhin nutzte sie ihre profunden Kenntnisse für das Erstellen von speziellen Trainingsprogrammen der Clubmitglieder. Sie bot ein abwechslungsreiches Kursangebot von Yoga bis Salsastep.
Jetzt war sie eine unabhängige Frau, ihr eigener Boss, im Alter von dreißig Jahren noch jung und lebte mit der Gewissheit, genau das zu tun, was sie wollte und über alle Einzelheiten selbst bestimmen zu können. Sie griff nach ihrem Becher und ging in den Flur, um sich mit der Post in ihr aufgeräumtes Wohnzimmer zu begeben.
Die Kunstdrucke und die fröhlichen Farben, die sie gewählt hatte, strahlten Wärme und Lebendigkeit aus. Das Zimmer wirkte bewohnt, selbst wenn sie die meiste Zeit alleine hier verweilte. Zufrieden setzte sie sich auf ein Sofa, den Katalog würde sie sich zum Schluss vornehmen, entschied sie. Ohne großes Interesse riss sie die Rechnung des Telefonanbieters auf.
Was sie erblickte verwandelte ihr Desinteresse in Ungläubigkeit. Nachdem sie die Richtigkeit der Empfängeradresse geprüft hatte, fühlte sie ihr Herz schneller schlagen. Fünfhundertvierundsechzig Euro und dreißig Cent! Das konnte doch nicht sein! Wie sie der Gesamtaufstellung entnahm, war von ihrem Anschluss aus lange und oft nach Afrika telefoniert worden.
Sie fühlte kalte Wut in sich aufsteigen. Assis, das konnte nur er gewesen sein. Sie hielt doch tatsächlich die Rechnung von ihrem Liebhaber in der Hand!

In Krisenzeiten hatte Bibiana sich stets an sich selbst gehalten, sich nach innen gewandt. Das war vielleicht schwierig, aber sie war keine Frau, die Schwierigkeiten scheute. Nicht dass sie sonderlich nach ihnen suchte. Sie konnte sehr gut ohne Probleme auskommen. Aber wenn sich ihr eine Schwierigkeit in ihrem Leben stellte, nahm sie sie auf sich.
Im Falle von Assis handelte es sich um keine Krise, sondern um eine bodenlose Unverschämtheit, eine Ungeheuerlichkeit, die sie nach Luft schnappen ließ. Auf seinem Handy hatte sie ihn mehrfach nicht erreicht. Sie war sogar zu seinem Appartement in der Innenstadt gefahren, nur um dort vor verschlossener Tür zu stehen. Danach hatte sie in ihrem Studio mit Gewichten und an Geräten trainiert, sich am Laufband abreagiert, um dann immer noch rastlos in ihrer Wohnung auf und ab zu laufen, weil sie nicht schlafen konnte.
Inzwischen waren einige Tage verstrichen, sie hatte ihre Arbeit getan und sich weitere Versuche, Assis zu erreichen, untersagt. Nicht dass dies ihre Stimmung besserte, es dürstete sie nach Rache. Am liebsten wollte sie Assis hinterher jagen, um ihn zur Rede zu stellen und – wenn sie ehrlich war – eine Erklärung hören. Eine allumfassende Erklärung, die es ihr ermöglichte, sich zu beruhigen und mit ihm zu versöhnen. Sie konnte es selbst kaum glauben, aber sie vermisste ihn. Das erboste sie noch zusätzlich. Wo war ihre Unabhängigkeit geblieben?
Liebe, Sex oder blinde Leidenschaften hatten ihr noch nie viel anhaben können. Sie hatte sich stets um ihre eigenen Ziele und Projekte gekümmert und war immer damit glücklich und zufrieden gewesen. Bis sie Assis kennen gelernt hatte, war ihr Leben in bester Ordnung gewesen. Und jetzt sehnte sie sich nach ihm. Das Blut schoss ihr in die Wangen, während sie ihren Wagen durch den dichten Verkehr der Stadt manövrierte.
In ihr stritt der Schock über den Betrug ihres Liebhabers mit dem Verlangen, alles möge wieder gut sein. Nagende Wut wetteiferte mit der Sehnsucht. Bibiana stöhnte auf und wippte nervös mit dem Fuß, als sie vor einer roten Ampel warten musste. Sie verabscheute das Warten, es verursachte ihr schnell schlechte Laune. Auf Assis warten, dachte sie verächtlich. Es blieb ihr nichts anderes übrig.
Natürlich hatte sie die Telefonrechnung bezahlt. Darauf zu hoffen, dass er es täte, war zu ungewiss. Mit vor Zorn zusammengezogenen Brauen blickte sie aus moosgrünen Augen auf die Landstraße. Endlich hatte sich der Verkehr gelichtet. Sie musste aufhören sich durch ihre Gedanken zu zermürben, nahm sie sich vor. Besser, sie dachte gar nicht daran, dass sie Assis trotz alledem vermisste. Sie fuhr an majestätisch gewachsenen Bäumen und Wiesen entlang bis nach Rodenkirchen, einem nahezu ländlich anmutenden Stadtteil, in dem Freia ein kleines Haus bewohnte.
Sonntags trafen sich die drei Freundinnen, die schon in der Schulzeit eine unzertrennliche Mädchenclique waren, zu einem gemeinsamen Essen. Heute war es an Freia für das Essen zu sorgen, eine Aufgabe, die für sie wie geschaffen war. Es gab kaum etwas, was Freia lieber tat, als Freunde zu bewirten.
Bibiana sprang aus dem Wagen, den sie in der schmalen Einfahrt geparkt hatte, die zu einem rechteckig, lang gezogenen Garten führte. Das kleine zweistöckige Häuschen strahlte eine heitere Ruhe aus, die für ihre Besitzerin so typisch war. Die Fenster blinkten in der Wintersonne, die Fassade leuchtete warm in der Farbe von Elfenbein. Zwei Tannen wuchsen bis zum Dachspeicher, und bildeten mit ihrem satten Grün einen perfekten Rahmen zu den Schieferziegeln. Freia Hoffmanns Knusperhäuschen, kam es Bibiana unwillkürlich in den Sinn.
Sie sog tief die frische Luft ein, es war ein kühler Tag, sonnig und klar. Man spürte den frostigen Winterduft in der Nase. Sie betätigte die Klingel, welche in einem glockenartigen Dreiklang ertönte.
Laureen öffnete ihr und lächelte strahlend. Sie sah frisch aus in ihrem taubenblauen Wollkleid, hatte ihr blondes Haar salopp hochgesteckt und fixierte Bibiana. „Du siehst fertig aus“, konstatierte sie.
„Es ist immer wieder wohltuend, wie aufbauend du bist“, erwiderte Bibiana mürrisch.
Verblüfft über den schroffen Ton hob Laureen die Schultern. Bibiana war mitunter launisch, heute war es wohl wieder so weit. Aber schlechte Launen hielten bei ihr nie lange an. „Komm erst mal rein und entspanne dich.“
„Bibiana, da bist du ja endlich“, rief Freia und breitete ihre wohl gerundeten Arme aus.
Freia war eine mollige Frau von achtundzwanzig Jahren, deren Gewicht sich formschön auf eine Größe von ein Meter vierundsechzig verteilte. Sie war die kleinste der drei Frauen, mit einem offenen Gesichtsausdruck und zierlichen Händen, die meist mit etwas beschäftigt waren. „Komm zu mir.“
Bibiana musste lachen und fühlte sich sofort besser. „Ich bin spät dran, aber ich musste noch im Studio auf meine Ablösung warten.“ Und in meinem überdrehten Nervenzustand habe ich das meiste Papiergeld aus der Kasse genommen, fügte sie im Stillen hinzu.
Bei der Präsentation am Samstag hatten drei Clubmitglieder das Galvanic Spa, ein kleines elektrisches Gerät mit dementsprechender Gesichtspflege, vom Fleck weg erstanden.
Auch das Leasen des Biophotonen Scanners erwies sich als die richtige Entscheidung. Sechs Personen hatte das Multivitaminpaket gekauft, um ihren Zellschutzindex zu verbessern. Das Wochenende hatte sich gelohnt und einen Umsatz von eintausendachthundert Euro in bar erbracht.
Kurz bevor Bibiana das Studio verlassen wollte, um zu Freia zu fahren, wurde sie unruhig. Du musst das Geld wegschaffen. In deinem Studio wird bald eingebrochen, dachte sie plötzlich.
Es kam immer unvorbereitet, plötzlich und in diesen einfachen Sätzen. Wenn es eine Art Erkennungsweise an den Tag legen könnte, wäre es mir lieber, haderte sie mit sich selbst. Obwohl sie ihre Ahnungen nicht immer direkt erkannte und ihnen nicht sofort glaubte, hatte sie sich diesmal zunehmend unwohl bei der Vorstellung gefühlt, ihr könnten weitere Geldeinbußen bevorstehen.
Hatte sie sich nicht vorgenommen, wenn sie wieder die lapidare Zeitangabe von bald hören würde, sofort wann zu fragen? Stattdessen hatte sie es wieder abgewürgt, als Unsinn abgetan, obwohl sie tatsächlich das Geld aus der Kasse genommen und in die Hosentasche ihrer Jeans gesteckt hatte.
„Ist schon in Ordnung, jetzt haben wir ja Zeit.“ Freia schob Bibiana auf Armeslänge von sich und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. „Du arbeitest zu viel.“
„Wirklich schön, wie mir jede von euch sagt, dass ich schlecht aussehe.“
„Nicht direkt schlecht, nur irgendwie durch den Wind“, bemerkte Laureen, die an dem großen Küchentisch wieder Platz genommen hatte.
„Wie dem auch sei, ich passe gern auf Ramona auf, wenn du das Foto-Shooting für den Katalog hast“, nahm Freia die durch Bibianas Ankunft unterbrochene Unterhaltung wieder auf.
„Wunderbar, dann wäre das geklärt. Jetzt brauche ich nur noch eine Lösung für meine Buchhaltung, wenn Susanne nächsten Monat nicht mehr da ist.“
Laureen betrieb eine kleine Werkstatt mit fünf Näherinnen. Dort entwarf und fertigte sie mit ihrem Team jede Saison eine Kollektion an, die sie einigen luxuriösen Boutiquen vorstellte. Laureen arbeitete gerne, sie liebte Abwechslung und Intensität. Die Buchhaltung und andere Verwaltungstätigkeiten, die nichts mit Menschen zu tun hatten, gehörten nicht dazu. Dafür hatte sie zweimal in der Woche Susanne als studentische Aushilfe eingestellt. Leider hatte diese jetzt ihr Examen in Betriebswirtschaft gemacht und würde in Kürze wegen einer viel versprechenden Anstellung die Stadt wechseln.
„Du könntest deine Buchhaltung selber machen.“ Bibiana war noch nicht bereit, verständnisvoll zu sein.
„Was du nicht sagst! Ich will es aber nicht“, Laureen verzog missbilligend das Gesicht.
„Es ist wirklich nicht so schwer“, insistierte Bibiana und nahm Teller aus der Anrichte. „Für wie viele Personen decke ich den Tisch?“
„Für sechs, vier Erwachsene und zwei Kinder“, Freia stand an ihrem Herd, einer runden Kochstelle aus grob verputztem Backstein. Das Ceranfeld war in einer dicken Holzplatte integriert, um welches der Messerblock, verschiedene Ölflaschen und viele Gewürzgläser standen. „Otis zuliebe gibt es Ceebu Jen und zum Nachtisch Himbeer-Litschi-Sorbet.“
Bibiana biss sich auf die Lippen und schwieg. Sie liebte den senegalesischen Fischreis, wurde aber dadurch nur wieder an Assis erinnert, den sie doch aus ihren Gedanken verbannen wollte.
Laureens Augen blitzten auf. Das war es also, weshalb Bibiana sie aufforderte, sich um etwas zu kümmern, was ihr zuwider war. Sie wollte von sich ablenken, irgendetwas stimmte mit ihrem senegalesischen Freund nicht. Nun, dem Problem würde sie zu gegebener Zeit auf den Grund gehen.
„Wir könnten unsere Buchhaltung und den Steuerkram gemeinsam auslagern.“
„Überlege ich mir. Ich bin mir nicht sicher, ob das Bistro schon so viel abwirft, dass ich mir das leisten kann“, lächelte Freia. Vom Kochen hatten ihre vollen Wangen Farbe bekommen. Sie stellte die Warmhalteplatte auf den Tisch, als es klingelte.
Laureen schlenderte zur Tür und fing ihre Tochter Ramona auf, als sich diese ihr in die Arme warf. Für ihre sieben Jahre war Ramona groß gewachsen und glich ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die dunklen Haare und die haselnussbraunen Augen, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.
„Ich habe meine neue DVD mitgebracht“, erklärte Ramonas Freundin Janine und drückte sich an Otis vorbei.

Jetzt saßen sie alle beisammen. Die geräumige Küche wirkte sauber, fröhlich und ordentlich. Die Wände waren schulterhoch in einem tiefen Grün gehalten, die Decke und die restlichen Wandflächen waren in dem Beige von einem Birkenbaum gestrichen. Freia hatte es verstanden mit dieser Farbwahl eine Atmosphäre zu schaffen, die ein Urgefühl des Menschen ansprach, das Gefühl von Sippe, Wald und Zugehörigkeit.
Das Essen verlief etwas turbulent, da Otis vorschlug afrikanisches Essen auch afrikanisch zu verspeisen. Die Mädchen legten neugierig das Besteck zur Seite und wurden von Otis belehrt. Sie rollten mit der rechten Hand kleine Kugeln, welche sie unter Gelächter und lauten, vergnüglichen Geräuschen in sich reinstopften.
Nach dem Essen ging Freia mit den Kindern in den ersten Stock, wo sie Janines DVD sehen wollten. Kaum hatten sie die Küche verlassen, schloss Laureen schwungvoll den Geschirrspüler.
„Was ist mit dir los, Bibiana?“
„Nichts. Wieso fragst du?“
„Du hast Schatten unter den Augen. Erzähl mir warum.“
„Ich weiß wirklich nicht, was du willst. Mir geht es gut.“
Aus langjähriger Erfahrung wusste Laureen, dass Bibiana sich, um ihre Gefühle zu schützen, erst einmal zurückzog, bevor sie sich anderen anvertraute. Ein kurzer Blickaustausch mit Otis sorgte für die notwendige Unterstützung.
„Melody, du schaust sauertöpfisch aus der Wäsche“, sagte Otis sanft mit seiner dunklen, ausdrucksstarken Stimme.
„Würdest du bitte aufhören, mich mit diesem lächerlichen Begriff anzusprechen“, fauchte Bibiana und löste ihre vor der Brust verschränkten Hände.
„Es ist ja nicht so als würdest du Otis nicht seit dem Kindergarten und mich nicht seit dem Gymnasium kennen. Behandle uns nur wie Fremde, das ist schon in Ordnung.“ Laureen nahm mit einer natürlichen Anmut, die ihr durch jahrelange Ballettstunden zu Eigen geworden war, auf ihrem Stuhl Platz.
„Also gut. Ich habe eine zu hohe Telefonrechnung“.
„Frauen!“, stöhnte Otis.
„Wie viel zu hoch?“
„Fünfhundert.“
„Wie hast du das denn gemacht?“, bewundernde Überraschung breitete sich auf Laureens Zügen aus.
„Mit Handy wäre das nicht passiert. Da fasst man sich kürzer“, kommentierte Otis.
„Ich betrachte es als meine ganz persönliche Freiheit ohne Handy zu leben und nicht überall und jederzeit erreichbar zu sein.“
„Das müssen ja tolle Gespräche gewesen sein!“
„Kann ich nicht beurteilen, ich habe diese Gespräche nicht geführt. Sie gingen in den Senegal“, murmelte Bibiana und fühlte, wie sich ihre Schultern verspannten.
Otis lachte laut auf. „Der Assis! Der Gangster!“
„Wie schön, dass ich zu deiner Erheiterung beitragen kann.“ Bibiana sprang auf und stieß eine Kaffeetasse um, die auf dem Boden zu Bruch ging. „Und lass dir eins gesagt sein, Assis ist kein Gangster, er hat es mir nur vergessen zu sagen“, ihre Stimme überschlug sich und hörte sich irgendwie hysterisch an, stellte sie unangenehm berührt fest.
Otis blickte sie scharf an. „Er hat einiges vergessen dir zu sagen, wenn du mich fragst.“

Freia kam leise summend die Treppe herunter. Sie hatte den Mädchen den Recorder eingestellt, sie noch ein wenig geneckt, um sie dann ihrem Film zu überlassen. Sie liebte die Wärme und Geborgenheit, die sie mit ihren Freunden teilte. Am besten lebt man in den Momenten, in denen man mit sich und der Zeit im Einklang ist, dachte sie, als sie Bibiana in der Küche schreien hörte.
„Ich frage dich aber nicht!“
Bibiana kehrte gerade Scherben auf, während Otis sich an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Freia setzte sich zu Laureen und ließ sich über den Stand der Dinge aufklären. Betreten blickte sie auf Otis. Keiner konnte Bibiana so aus der Reserve locken wie er.
„Was sagt denn Assis dazu?“, bohrte dieser nach.
„Gar nichts. Ich habe ihn noch nicht gesprochen.“
„Und seit wann weicht er dir aus?“ Otis nahm die Kaffeekanne von der Wärmeplatte mit genau der Muskelanspannung, die erforderlich war.
Wie er stets den Energieaufwand dem Anlass entsprechend bemisst. Er würde die Kanne nicht mit mehr Kraft halten, als ihr Gewicht erfordert, schoss es Bibiana durch den Kopf. Verwundert stellte sie fest, wie sie wieder einmal durch die Schönheit seiner Bewegungen verblüfft war.
„Seit wann?“, wiederholte Otis seine Frage.
„Seit ein paar Tagen, eine Woche vielleicht.“
„Was wirst du tun?“
„Nun, ich werde zu gegebener Zeit mit ihm reden und eine Erklärung bekommen und dann wird er mir das Geld zurückbezahlen“, hauchte Bibiana erschöpft.
Jetzt stand Otis die Wut im Gesicht geschrieben. „Einen Dreck wird er tun. Wie lange liegt er dir schon auf der Tasche?“
„Das geht dich gar nichts an!“
„Nein? Wie lange beköstigt er sich schon bei dir? Wie oft hat er zufällig kein Geld dabei, wenn ihr ausgeht?“ Ein handfester Streit würde Bibiana gut tun, beschloss Otis.
Bibiana sank auf ihren Stuhl zurück. „Ich bin kein Buchhalter. Was soll das denn?“
Betreten mischte sich Freia in das Wortgefecht ein: „Er bindet dich durch Mangel. Du bekommst nicht genug. Weder Zeit noch Fürsorge. Und so weißt du nicht, ob ihr überhaupt etwas miteinander anfangen könntet.“
„Das weiß ich sehr wohl, ich liebe Assis.“
„Du bist nicht verliebt, du bist verhext“, entfuhr es Otis.
Für den Bruchteil einer Sekunde war ein Ausdruck der Überraschung in seinen dunklen Augen zu sehen, bevor er einer beherrschten Verschlossenheit wich.
Was hatte er nur gesagt! Er war kein Afrikaner mehr! Wie konnte er so zu einer Weißen sprechen?
Er schien die zwei Welten, zwischen denen er seit seinem fünften Lebensjahr recht problemlos hin- und herwechselte, nicht mehr auseinander zu halten. Sollte Bibiana mit ihrem Assis doch erleben, was sie erleben musste. Was ging ihn das an?
„Und du bist bekloppt“, lachte Bibiana.
„Wie du meinst“, Otis zwang sich zu einem Lächeln, sein Gesichtsausdruck wirkte spöttisch und distanziert.

Ramona und Janine kamen schwatzend die Treppe herunter.
„Mama, dürfen wir noch mit der Magic-Knetmasse Kettenanhänger machen?“
„Äh, nein, wir müssen Janine jetzt wieder nach Hause bringen.“ Laureen erhob sich und suchte geschäftig nach ihren Jacken.
„Dann wollen wir mal“, Otis schnappte sich einen Plüschhasen und das Bambi. „Meine Damen … .“
Bibiana straffte die Schultern. „Otis, ich wollte dich nicht vertreiben, es tut mir leid.“
„Das tust du nicht. Wir sind mit einem Auto hier. Ich war vorher noch bei Laureen.“
Nachdem sich alle verabschiedet hatten, starrte Bibiana unschlüssig in ihre Kaffeetasse. „Kannst du mir erklären, warum ich Assis verteidige, obwohl ich ihn am liebsten in der Luft zerreißen würde?“, fragte sie Freia kleinlaut.
„Nein, das kann ich nicht. Aber du wirst es schon noch herausfinden.“
„Wenn ich mich nicht gerade über Assis ärgere, ist es so lebendig mit ihm. Ich habe das Gefühl von spontanem grenzenlosem Glück. Problematisch ist dieses Brennen, dieses Sattwerden in der Seele. Ich blühe auf, ich brauche keine Ziele, ich bin da. Wunschlos, völlig lebendig im Moment verhaftet. Was soll ich bloß machen?“
„Dir vielleicht doch ein Handy anschaffen?“ Freia bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall.
So konfus hatte sich ihre Freundin noch nie geäußert, überlegte sie. Bibianas ausgeprägter Unabhängigkeitsdrang hatte sie bislang wirkliche Bindungen zu Männern meiden lassen. Stets hatte sie ein eher unterentwickeltes Gefühlsleben an den Tag gelegt. Bibiana verhielt sich ganz und gar untypisch!

Am nächsten Morgen überquerte Otis mit langen Schritten den Parkplatz. Er hatte sich vorgenommen, Bibiana gegenüber völlig cool zu sein. Wie jeden Montag ging er lediglich in ihren Club, um dort sein allgemeines Kreislauftraining zu absolvieren und ein wenig mit Gewichten und Geräten zu hantieren. Er konnte das auch anderswo tun, war aber sofort Mitglied geworden, als sie den Club eröffnet hatte.
Mit elastischen Schritten stieg er die Stufen hoch und fand sich vor einem ausgemachten Tohuwabohu. Otis ließ seine Sporttasche fallen und stürzte durch die offen stehende Eingangstür in den Empfangsbereich. Der Boden war mit Glasscherben und Pulvern von Nahrungsergänzungsmitteln bedeckt, der Glaseinsatz der Tür zu einem angrenzenden kleinen Büroraum war zerschlagen, die Regale hinter dem Tresen umgestürzt und die Kasse aufgebrochen.
„Verflucht“, sagte Otis und drehte sich wütend nach links.
Durch den offenen Türrahmen, in dem noch einige scharfe Glasscherben steckten, erblickte er Bibiana. Sie sah blass aus und hakte gerade etwas auf ihrem Klemmhefter ab. Mit einem Satz war er bei ihr. Wäre Bibiana nicht so vertieft in ihre Liste gewesen, hätte sie die Geschwindigkeit, mit der er durch den Türrahmen setzte, beeindruckt.
„Hi, Melody.“
„Oh, hi.“
„Du musst dich setzen“.
„Was?“
„Setz dich.“ Sie war eindeutig zu blass, und viel zu ruhig, befand Otis. Er ergriff sie am Arm, um sie auf einen Stuhl zu drücken.
„Kannst du schon sagen, was fehlt oder kaputt ist?“
„Mein funkelnagelneuer Laptop. Wenn du mich jetzt bitte loslassen würdest, könnte ich meine Arbeit weitermachen.“
Mit einer abwehrenden Geste stemmte sie sich aus dem Sitz und stieß gegen eine offen stehende Schublade des Schreibtisches. Sie rieb sich das schmerzende Schienenbein, als ein junger Polizist durch den Türrahmen spähte.
„Wir sind mit der Spurensicherung fertig. Wie sich demnach ergibt, sind sie wohl durch ein eingeschlagenes Fenster auf der Damentoilette hereingekommen.“
Bibiana stapfte über den verwüsteten Boden zum Tresenbereich, den Klemmhefter unter dem Arm. Restbestände von Orangensaft und anderen Fitness-Getränken waren überall verschüttet.
„Auf dem Fenstersims haben wir Blutspuren und Fußabdrücke gefunden“, berichtete der Polizist. Er war noch nicht lange bei der Polizei, mit seinen blonden Haaren, die sich an den Spitzen wellten, sah er regelrecht unschuldig aus. Gewissenhaft legte er das Protokoll auf den klebrigen Tresen.
„Lesen Sie das bitte durch und unterschreiben dann hier.“
„Über das Tatmotiv können wir nur spekulieren, oder haben Sie etwas Auffälliges bemerkt?“, fragte sein Kollege, ein stämmiger, drahtig wirkender Mann in mittlerem Alter.
„Nein, habe ich nicht“, erwiderte Bibiana sachlich.
Ich habe es nur gewusst, dachte sie und hätte fast gelacht bei der Vorstellung, was die beiden Herren wohl dazu sagen würden.
Betty, die im Studio angestellt war, kam mit vor Sensationslust glänzenden Augen aus dem Kursraum. „Oben ist nicht viel passiert. Sie haben sich weder für die Geräte, noch für die Bilder interessiert. Alles ist unversehrt an seinem Platz“, verkündete sie aufgeregt. „Oh, hallo Otis“, sie wirbelte herum, ihre Augen weiteten sich.
Er sah so umwerfend aus in den gut sitzenden Jeans und der abgetragenen Lederjacke über einem azurblauen Pullover. Er strahlte eine Männlichkeit aus, die man unmöglich übersehen konnte. Dabei vermochte Betty nicht zu sagen, was diese Männlichkeit ausmachte. Lag es an seinem Auftreten, seinem geschmeidigen, kraftvollen Körper oder an der statuenhaften Schönheit seines Gesichts?
Er lächelte sie freundlich an, während sie verzweifelt nach einer geistreichen Bemerkung suchte. „Heute wird hier wohl nicht mehr trainiert werden können“, sagte sie.
„Nein, aber wir können alles wieder in Ordnung bringen, wenn die Herren von der Polizei fertig sind.“
Während Betty die Polizisten verabschiedete, telefonierte Bibiana mit der Versicherungsgesellschaft. Otis schälte sich aus seiner Lederjacke und streifte die Ärmel über seine muskulösen Unterarme.
Bis zum Mittag hatten sie das Gröbste geschafft, einige Clubmitglieder auf den nächsten Tag vertröstet und den Glaser verständigt. Bibiana wollte nun die Bestandsaufnahme für die Versicherung angehen.
„Was war denn alles auf deinem Laptop drauf?“, fragte Otis und biss in einen Energieriegel, den er vom Boden aufgehoben hatte.
„Alles für das Geschäft, Rechnungen, E-Mails. Zum Glück habe ich das meiste auch auf dem alten Computer, der bei mir zu Hause steht.“
„Gib mir deinen Hausschlüssel, dann hole ich ihn dir.“
„Das brauchst du nicht“, Bibiana hob abwehrend die Hände.
Er überhörte ihren Einwand und griff nach seiner Jacke. „Wie viel Geld fehlt?“
„Nicht viel. Ein bisschen Münzgeld.“ Bibiana atmete vernehmlich aus und straffte die Schultern.
„Wie das?“
Sie schnalzte verweisend mit der Zunge und fühlte, wie sie errötete. „Ich habe gestern das meiste Papiergeld mitgenommen.“
Otis lächelte. „Da hat dir wohl dein Vögelchen etwas erzählt.“ Er kannte Bibiana lange genug, um zu wissen, wie sehr sie mit ihrer Gabe auf Kriegsfuß stand. Sie hätte diesen Einbruch verhindern können. Aber sie lebte mit ihren Fähigkeiten nicht im Einklang. Ihr Verstand, der sie an allem zweifeln ließ, war dabei ihr größtes Hindernis.
„Wir leben nicht im sechzehnten Jahrhundert, Melody. Du läufst nicht Gefahr als Ketzer verbrannt zu werden. Deine Tendenz zur gelegentlichen Hellsichtigkeit wird heutzutage nicht mehr als Werk des Teufels betrachtet.“ Otis musterte sie mit unverhohlener Neugier. Das kurze Flackern in ihren Augen zeigte ihm, dass er dem, was sie verbergen wollte, zu nahe gekommen war.
„Rück den Schlüssel raus, damit ich deinen Computer holen kann. Dann habe ich eine Stunde Break Dance und zwei Stunden Jazz zu unterrichten. Anschließend gehe ich mit Laureen eine Passage der Choreographie für den Feuervogel noch mal durch. So um einundzwanzig Uhr komme ich dich abholen“, sagte er im Plauderton.
Bibiana wühlte in ihrer Tasche. „Ich brauche keinen Babysitter.“
„Spar dir deinen Widerstand. Ich habe nicht die Absicht, dich heute Abend unbegleitet nach Hause fahren zu lassen.“ Mit einer schnellen Bewegung riss er ihr den Schlüssel aus den Fingern. „Es ist ja nicht für immer“, sagte er sanft.
Bibiana schenkte ihm ein gnädiges Lächeln. „Unterstehe dich schon mal die Hälfte der Ablagefläche im Bad freizuräumen. Du ziehst nicht bei mir ein, nur weil du auf mich aufpassen willst.“
„Erst, wenn du ohne mich gar nicht mehr sein kannst“, grinste er, nahm seine Sporttasche und verließ das Studio mit dem fließenden Gang eines Tänzers.

Eine Woche später radelte Bibiana zu den von ihrer Wohnung nahe liegenden Parks. Sie würde einen Spaziergang machen. Dies war ihr erster freier Tag seit langem und sie würde ihn genießen, beschloss sie.
Der Vormittag war ärgerlich genug verlaufen. Ihre Yogastunde, welche sie immer zur Ruhe kommen ließ, hatte diesmal nicht diese Wirkung getan. Ganz im Gegenteil, sie war immer noch nervös und unausgeglichen. Was auf ihre mürrische Stimmung zurückzuführen war, gestand sie sich lustlos ein.
Sie verschloss das Rad an der Stange eines Verkehrsschildes und betrat den Park. Es war wenig los, kaum Schüler, ein paar Jogger und Hundebesitzer. Zwei Mütter mit ihren Kleinkindern waren am Kanal damit beschäftigt, die Enten zu füttern. Die Luft war kalt, der Himmel klar und sonnig.
Ein herrlicher Tag und sie dämmerte vor sich hin, nicht richtig wach, nicht voll lebendig. Unsäglich fade erschien ihr zurzeit die Welt. Dabei lief alles gut, die Schäden des Vandalismus oder Einbruchs waren vollständig behoben, es hatten sich drei neue Mitglieder angemeldet, sie konzipierte einen neuen Stepp Kurs für Anfänger, ihre Freunde ließen täglich von sich hören und kümmerten sich rührend.
Bibiana beschleunigte ihre Schritte und erreichte nach einer halben Stunde zügigen Gehens eine große Wiese, die menschenleer war. Am Horizont, wo die Bäume die Wiese säumten, war ein Radfahrer zu sehen. Sie setzte sich auf den breiten Stamm eines auf dem Boden liegenden Baumes und seufzte. Sonne, das winterliche Gras, in dem eine Elster stolzierte, ein weiterer Vogel am klaren Himmel. Das erfreute sie doch normalerweise. Was war nur los mit ihr?
Seit Tagen hatte sie eine nebulöse Gleichgültigkeit erfasst, die durch gelegentliche Wut aufgemischt wurde. Der Schwung ist raus, ich fühle mich wie meine eigene Großmutter, dachte sie. Parallel dazu nahm ihre Sehnsucht nach Assis zu. Es gab Momente, bezeichnenderweise nachts, wo sie ihn furchtbar vermisste. Sie war bei ihm so verdammt anhänglich, das wäre ihr früher nie passiert! Laut fluchend stieß sie sich von dem Baumstamm ab, in ihren Augen funkelte die Wut, als sie sich auf den Rückweg begab.

Sie bog gerade in die von kahlen Linden und Platanen gesäumte Straße, in der sie wohnte, da sah sie ihn von weitem. Assis kam ihr mit der für ihn typischen lasziven Leichtigkeit entgegen.
„Dein schlechter Mann ist pünktlich.“
Seine Stimme traf sie im Innern ihrer Seele, seine Satzmelodie, seine Stimmlage mit ihrem breiten Spektrum. Sie würde ihn gerne zu sich bitten, nur um diese Stimme länger zu hören. Stattdessen erwiderte sie: „Du bist nicht mein Mann und pünktlich bist du auch nicht.“
„Nein? Hast du vielleicht noch nicht gemerkt.“
„Das soll nicht meine Sorge sein“, bemühte sie sich möglichst schnippig zu klingen.
Aktuelle Sorge bereiteten ihr gerade ihre Gefühle. Wie er da so stand. Wie er ganz sanft und rhythmisch gegen das Vorderrad ihres Fahrrades trat, so dass es jedes Mal eine leichte, angenehme Erschütterung in ihren Armen ergab, die die Lenkstange festhielten. Er hatte auch so eine spezifische Art, seine Hände in die Hosentaschen zu stecken, wobei er die Hose so hochzog, dass die Hüfte … er hat genau die Erotik, auf die ich fliege, schoss es ihr durch den Kopf.
„Bekomme ich einen Tee, Cherie?“
„Ja, er kostet fünfhundert Euro“, hochmütig reckte sie das Kinn, aber ihre Augen lächelten und ihr Mund hatte einen weichen Zug.
Assis musterte sie nachlässig und bewundernd zugleich. „Bekommst du, wenn ich aus dem Senegal zurück bin und du mich heiratest.“
„In hundert Jahren vielleicht.“
„Ich warte auf dich.“
Nun, Assis war unmöglich! Aber ihre Seele jauchzte. Sie musste diese Schwäche für ihn irgendwie bezwingen! Stattdessen erfreute sie sich an ihm.


2. Kapitel




2. Kapitel


Sie verbrachten eine herrliche Woche. Assis war in Bestform, sowohl von der Stimmung wie vom Aussehen. Parties waren seine Stärke und er veranlasste Bibiana mit ihm eine aufzusuchen. Er brachte sie zum Lachen. Da sie nicht lange nachtragend sein konnte, fiel ihm das nicht schwer. Er kannte sie gut. Sie liebte es spielerisch, leicht und amüsant.
Er ließ sie sich ausleben und wusste, wann er locker lassen musste und wann er präsent sein sollte. Er amüsierte sie mit seinem Stil, seiner köstlichen Gestik, seinen harmlos wirkenden, gefährlichen Augen.
Bibiana war für ihn ein müheloser Genuss, traumhaft einfach zu handhaben. Bei ihr zu Hause gab er sich einen Stoß und sprang aus dem Bett, bevor sie missmutig werden konnte. Er hatte immer wieder mal mitgekriegt, dass europäische Männer Erstaunliches leisteten und bügelte, saugte oder briet Banjes, eine senegalesische Eierspeise mit Mehl und Milch, die Bibiana gern zum Frühstück aß. Er kam ohne Absprache, betätigte sich gelegentlich im Haushalt, sorgte für Frohsinn und bezahlte nichts.
Bibiana strotze vor Energie. Wie ein frisch aufgeladener Akku funktionierte ihr Organismus optimal. Sie fühlte sich unsäglich lebendig, schmeckte, roch und fühlte wieder. Ihre Aufgaben erledigte sie mit der für sie typischen Zielstrebigkeit, wobei sei alle ihre Tätigkeiten genoss. Auch nahm sie sich Zeit für ihre Freunde. Sie schätzte es, dass Assis sie in ihrem Leben nicht störte. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, ihm mehr Zeit geben zu müssen oder von ihm zu bekommen.
In drei Tagen würde er in den Senegal fliegen, um seine Familie zu besuchen. Sie vermisste ihn jetzt schon. Bei diesem Gedanken runzelte sie die Stirn und blickte aus dem Küchenfenster. Es war früh am Abend, ein heftiger Wind war aufgekommen und der Himmel sah nach Regen aus.
Assis stand am Herd, seine elegante, steingraue Flanellhose schützte ein kariertes Geschirrtuch, dessen Zipfel in einem schwarzen Designergürtel steckten. Aus dem, was Assis an Lebensmitteln vorfinden konnte, hatte er eine Mahlzeit zubereitet. In diesem Fall Spagetti mit einer sehr scharfen Tomatensauce, in die er eine Dose Tunfisch gekippt hatte. Es kostete ihn einige Anstrengung, seinen Unwillen zu verbergen, aber Bibiana hatte eine Schwäche für Fertiggerichte oder aß in Freias Bistro. Sie konnte das Essen auch ganz vergessen.
„Achte darauf, dass du genug isst, wenn ich weg bin.“ Assis wischte sich die Hände an dem Geschirrtuch ab und wandte sich Bibiana zu.
Er hatte markante Gesichtszüge mit einer stabilen Knochenstruktur, eine etwas niedrige Stirn, schöne Ohren und volle sinnliche Lippen. Seine Haare waren an der Kopfhaut zu eng anliegenden Zöpfchen geflochten.
„Ich werde schon nicht verhungern“, erwiderte Bibiana leichthin. „Oder willst du eine afrikanische Mama aus mir machen?“ Sie streckte den Rücken zu einem Hohlkreuz durch und imitierte einen gewichtigen Gang.
Assis entfuhr ein Lachen. „Ich liebe dich, ich kann mit dir bis zum Tod leben.“

Das Essen nahmen sie an dem alten, stellenweise verkratzten Holztisch in der Küche ein. Die in einem Apricot-Ton gestrichen Wände sowie die weißen Küchenmöbel sahen fröhlich und irgendwie lecker aus. Bibiana hatte in einem Anflug von Romantik dicke, rote Kerzen entzündet und als Hintergrundmusik klassischen Soul gewählt. Das Gespräch drehte sich um Alltägliches, lustige Begebenheiten und Bibianas Überlegungen, ein Vibrationstrainingsgerät im Club anzubieten.
„Es ist echt ein Wunderwerk der Technik“, erklärte sie begeistert, während sie Assis mit zwei Gläsern in der Hand ins Wohnzimmer folgte. „Mit Hilfe einer vibrierenden Platte werden Schwingungen auf die Muskulatur übertragen, die reflexartige Muskelkontraktionen bewirken. Das ist gut für die Durchblutung, gegen Gelenkschmerzen und auch als Krafttraining geeignet.“
Assis stellte die ungeöffneten Bierflaschen auf einem viereckigen, niedrigen Bambustisch ab, richtete sich auf und ging mit unschuldiger Miene auf Bibiana zu. Im Vorübergehen rempelte er sie leicht an. Lachend sprang sie zur Seite.
„Du willst nichts von diesem Fitvibe-Gerät hören.“
„Jetzt nicht. Ich will mit dir reden.“
Bibiana machte eine ausholende Bewegung mit der Hand in Richtung der Sitzlandschaft. Zwei kleine blaue Sofas, ein großer Sessel in kräftigem Orange und einige bunte Sitzkissen nahmen die Farben des ausgeblichenen Perserteppichs wieder auf. Bibiana stellte die Gläser zu den Bierflaschen und ließ sich auf ein Sofa fallen.
„Schieß los, was gibt es zu bereden?“
Assis hatte auf dem anderen Sofa Platz genommen und griff nach einer Bierflasche. Er setzte den Kronkorken an seine Eckzähne, biss bedachtsam zu und hebelte ihn vom Flaschenhals. Mit drei Fingern hielt er die Flasche, nahm einen großen Schluck und lächelte Bibiana an, die sich gebannt die Hand vor den Mund hielt.
„Aua.“
„Nix aua, ich kann auch Knochen kauen. Ich bin Afrikaner. Tierknochen“, fügte er grinsend hinzu, als er Bibianas entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte.
Wie ein Raubtier, dachte Bibiana. In piekfeinen Klamotten, nahezu wie ein Dandy und dann dieses Überraschende. Er zerstörte das Bild, das er von sich entwarf. Oder er vervollständigte es, überlegte sie.
Assis beugte sich lässig vor und umschloss die Bierflasche mit beiden Händen. „Ich will im Senegal ein Stück Land kaufen und später ein Haus drauf bauen. Für uns.“
„Oh“, entfuhr es Bibiana.
„Gibst du mir viertausend Euro mit?“
„Nein, ganz sicher nicht.“ Bibiana zog die untergeschlagenen Beine vor. Sie verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, Boden unter den Füßen zu fühlen. „Was soll ich mit einem Haus im Senegal? Ich lebe hier.“
„Als Zweitwohnsitz und für später, oder glaubst du, ich will als Schwarzer in Deutschland einmal im Altersheim versauern?“
„Ich habe das Geld nicht. Das hat doch alles noch Zeit.“
„Ich will es aber jetzt anfangen. Hast du nichts gespart?“
„Das ging alles drauf, als ich meine Zelte in Bielefeld abbrach und hier völlig neu angefangen habe.“
„Nimm einen Kredit auf.“
„Ich will keine Schulden machen.“ Bibiana ballte die Hände zu Fäusten.
„Was ist mit den neuen Möbeln für deinen Club?“
„Das ist doch was anderes. Das ist Aufwand für mein Geschäft, das ist nicht mein Privatgeld.“ Ihr Mund fühlte sich plötzlich so trocken an.
„Dann nimm halt eine Hypothek auf die Eigentumswohnung auf“, sagte Assis beiläufig.
„Die Wohnung gehört meinen Eltern, ich bewohne sie nur. Das kommt alles gar nicht in Frage!“
„Sie gehört dir, du wirst sie doch erben.“
„So weit ist es aber noch nicht“, fauchte Bibiana und sprang auf.
Sie lief ungestüm zum Fenster. Hinter dunklen Scheiben wankte der Stamm einer haushohen Linde im Wind, die Äste bogen sich und die Zweige flatterten geradezu hilflos hin und her. Das Geprassel von strömendem Regen mischte sich mit dem Rauschen von nassen Reifen vorbeifahrender Autos und dem gelegentlichen Heulen des Windes.
Bibiana wirbelte herum. „Verstehe ich dich richtig! Du willst mich heiraten, ohne mir einen richtigen Antrag gemacht zu haben und willst mehr oder weniger im gleichen Atemzug viertausend Euro von mir, obwohl du mich kürzlich erst um fünfhundert geprellt hast?“ Ihre Augen waren zu Schlitzen verzogen und sprühten pures, grünes Gift.
„Als deinen Anteil, überleg es dir. Ich muss jetzt los, spiele heute Abend Perkussion.“ Sein Gesichtsausdruck war hart, seine Augen undurchdringlich.
Er stand auf und streckte sich. Betont langsam ging er in den Flur, nahm seine Jacke und grinste durchtrieben, als er sich nach Bibiana umwandte. „Morgen habe ich einen Gig in Frankfurt. Kurze Sache, nur eine Nacht. Vielleicht sehen wir uns noch vor meinem Abflug in den Senegal.“

Bibiana senkte die Fäuste, die sie immer noch in die schmalen Hüften gestemmt hatte. Konzentriert löste sie die Finger. Mechanisch brachte sie ihr unangetastetes Bier zurück und stand ratlos in der Küche. Das war doch alles nur ein schlechter Witz!
Sie brauchte Zeit, ungestörtes Alleinsein, sie musste sich erholen. Mit schweren Gliedern sank sie auf einen Stuhl. In sich gekehrt starrte sie vor sich hin, langsam breitete sich in ihr eine stille Leere aus.
Währenddessen taxierte Assis die betuchten Gäste der luxuriösen Hotelbar. Zufrieden lächelte er, eine Frau hatte ihm bereits nach dem ersten Set einen Drink zukommen lassen. In der nächsten Pause würde er zu ihr gehen, um mit ihr anzustoßen. Er schätzte sie auf gut erhaltene Vierzig, wahrscheinlich Geschäftsfrau. Die Businessbluse hatte sie vermutlich gegen das silbern glitzernde Abend Top ausgetauscht. Der gut geschnittene, anthrazitfarbene Hosenanzug verriet Geschmack und Geld. Eine Begleitung hatte er noch nicht ausmachen können, vielleicht war sie wegen eines geschäftlichen Meetings in dem Hotel abgestiegen. Sie trug einen Ehering und eine teure Uhr.
Das waren ihm die Liebsten. Die Verheirateten machten bereitwilliger Geldgeschenke, keine Schwierigkeiten und man wurde sie wieder los. Sollte er die herzergreifende Geschichte über seine kranke Schwester in Afrika und die teure Medizin erzählen oder würde sie eher auf die Variante mit dem intelligenten Bruder und der fehlenden Studiengebühr ein Jahr vor dem Abschluss abfahren?
Bereitwillig warf er sich in Pose und zeigte, was er zu bieten hatte. Das hatte er gut hingekriegt. Als schwarzer Musiker hatte er bessere Chancen bei Frauen. Da standen sie echt drauf! Es hatte eine Weile gedauert, bis er das kapiert hatte, aber dann war ihm alles klar. Ich habe mein Image aufgebaut, dachte er selbstgefällig. Die sehen einen sexy, schwarzen Musiker in super Klamotten. Den wollen einige Frauen dann haben. Wenn er sah, dass sie großzügig waren, tat er manchen den Gefallen.
Das konnte er gut neben Bibiana machen. Die hatte immer viel zu tun und ließ ihn in Ruhe. Bibianas wichtigste Wertvorstellung war ihr Glaube an die Freiheit. Sie war nicht die Aufmerksamste, was die Gefühle anderer betraf, aber sie respektierte die Freiräume des anderen. Er mochte Bibiana, sie ließ bereitwillig zu, dass andere ihren Weg gingen und neigte nicht zu Kontrolle.
Frauen waren schon okay. Viele waren ganz versessen darauf, einem was zu geben. Wollten einem meist ihre verdammten Gefühle geben, lächelte er verschmitzt. Nun, das musste man in Kauf nehmen. Bis sie dann begriffen, dass sie mit Gefühl Geld geben sollten. Frauen waren doof, brauchten dauernd das Liebesgesülze und wenn man nicht aufpasste, kam nicht mal was bei raus.
Na gut, die Sache mit Bibiana war heute nicht gut gelaufen. Die Frau war anders, schwieriger. Sie fiel nicht so leicht auf die Liebe herein. Hatte ewig was zu tun, Zeitpläne, to-do-Listen, Ideen, Projekte, Freunde. Das lenkte sie alles nur ab.
Als er sie getroffen hatte, war er der Meinung, sie sei ein Goldfisch. Es sah ja auch alles danach aus. Das Studio für den gehobenen Geschmack, die Wohnung, die Mutter – echt eine Show die Frau! Fantastische Klamotten und dann der 5er BMW in knallrot! Sie machte dick im Immobiliengeschäft, und der Vater buddelte meist in anderen Ländern. Ein Archäologe, dachte Assis verächtlich, immerhin stellte er kein Hindernis dar.
Dass es so schwer war, aus Bibiana Geld herauszuleiern, hätte er nicht gedacht. Also hatte er die Verhexung mit ihr machen lassen. War nicht billig gewesen und seine Mutter in Afrika hatte bestimmt noch eine Stange Geld für sich dabei herausgepresst. Sollte ihm recht sein, das hätte er auch getan. Es wirkte jedenfalls super, Bibiana war Wachs in seinen Händen. Wie beherrscht und originell sie bei der Telefonrechnung reagiert hatte!
Nun gut, er hatte nicht rechtzeitig für die Auffrischung gesorgt. Das war etwas nachlässig gewesen. Er würde sich im Senegal darum kümmern und Bibiana dingfest machen lassen. Der Frau war ja anders nicht bei zu kommen. Er hatte sie wirklich unterschätzt, diese zierliche, biegsame Person war hart wie ein alter Baobab.
Assis verpasste seinen Einsatz um einige Sekunden, der Sänger warf ihm einen zornigen Blick zu. Dann sorgte Assis für die rhythmische Untermauerung, auf der sich die Stimme des Sängers zu einem ergreifenden Finale aufschwingen konnte.
Die Frau war aufgestanden und klatschte begeistert mit den manikürten Händen. Nach dem Applaus schwang sich Assis von der Bühne und schlenderte zu ihrem Hocker, auf dem sie inzwischen wieder Platz genommen hatte. Er stellte sich links von ihr an die Bar, den Körper ihr zugewandt.
„Vielen Dank für den Drink.“ Beiläufig legte er seine Hand auf ihren Oberschenkel. Die Frau streckte den Rücken durch, die Beine hatten sich ruckartig einen Zentimeter geöffnet.
„So schön und so alleine?“ Siegessicher zeigte Assis schneeweiße Zähne.


Die letzten drei Tage hatte Bibiana damit verbracht, ihre Plansolls zu erfüllen. Sie hatte sich vorgenommen, nur nützliche Entscheidungen zu treffen und versucht, sich in die Arbeit zu stürzen. Wenn sie das Fitvibe-Gerät anbieten wollte, musste sie es unabhängig von der monatlichen Beitragesgebühr berechnen. Vielleicht sollte sie ihre Kalkulation von jemand anderem noch mal auf Rentabilität überprüfen lassen? In letzter Zeit konnte sie sich so schlecht konzentrieren, und es war nicht ausgeschlossen, dass sie sich verrechnet hatte.
Ungehalten schob sie die Papierstöße beiseite und fuhr sich durch ihr zerwühltes Haar. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Von Assis hatte sie vorletzte Nacht telefonisch gehört. Er hatte ihr mitgeteilt, was sie ohnehin schon wusste, dass er am nächsten Tag abfliegen würde. Bis dahin hatte sie allerdings noch nicht gewusst, dass seine Stimme bei ihr einen Art Pawlow-Effekt auslöste. Es hatte nicht viel gefehlt und sie hätte geseibert wie ein Hündchen, erinnerte sie sich.
„Ich liebe dich, nach dem Senegal können wir heiraten“, hatte er gesagt.
Warum machte sie das so rastlos? Wieso fühlte sie sich nur so zerrissen? Sie hatte ein Gefühl von hin und weg, von komm und geh. Und das alles gleichzeitig. Seit Tagen bemühte sie sich um Gleichmut, versuchte ordentlich zu arbeiten und ausgeglichen sinnvoll zu handeln. Stattdessen nörgelte sie an allem herum, widersprach pauschal und generell, wann immer sich eine Gelegenheit bot und war zickig und lustlos. Genau das verabscheute sie doch normalerweise.
Ihre Sehnsucht nach Assis würden sie noch verrückt machen. Was dachte sie nur für ein unkontrolliertes Zeug! „Ich kann mit jeder Situation in meinem Leben fertig werden“, sagte sie laut. Resigniert schlüpfte sie in ihren Mantel und begab sich auf einen Spaziergang.
Seit Tagen stapfte sie in ihrer Freizeit durch Parks oder Straßen. Im Gehen konnte sie am besten nachdenken. Man konnte ein Problem lösen, man konnte es ignorieren, man konnte auch irgendwie mit einem Problem leben, aber sie wühlte dauernd darin herum. Wo lag überhaupt das Problem? Sie hatte eigentlich gar keins.
Fuchsteufelswild sah sie plötzlich, dass sie vor dem Miethaus stand, in dem Otis ein Appartement bewohnte. In Gedanken versunken war sie, ohne auf den Weg zu achten, zu ihm gegangen. Auch den einsetzenden Nieselregen hatte sie nicht gespürt und war an Bars, Imbissbuden, Restaurants und Geschäften vorbeigegangen. Passanten, Liebespaare und befreundete junge Leute in Grüppchen hatte sie kaum wahrgenommen.
Von der gegenüber liegenden Straßenseite spähte sie nach oben. Bei Otis brannte Licht. Sie war nicht eingeladen, hatte sich nicht angekündigt, käme vielleicht ungelegen. Ach was, verdrängte sie diese Gedanken, es war Otis, ihr Freund aus Kinderzeiten, ihr Bruder genau genommen. Er würde ihr schon sagen, falls sie störte. Und wenn nicht, so könnte sie immerhin Dampf ablassen. Otis war ihr bevorzugter Sparring-Partner. Ein kleiner Streit, ein neckender Wettkampf käme ihr jetzt gelegen, und Otis würde ihr genau das geben können.

Als Bibiana das fünfte Stockwerk erklommen hatte, stand die Tür zu Otis Appartement offen. Ihr Blick fiel auf eine überfüllte Garderobe aus Kiefernholz, wenngleich dies kaum zu erkennen war. Das Stück war überfrachtet mit Jacken, Mänteln, Jacketts und Sakkos, die an sämtlichen Haken und Bügeln hingen. Sie schlängelte sich durch den engen Flur und fand Otis telefonierend vor. In einer nachtblauen Jogginghose und einem rauchgrauen Kapuzenshirt stand er barfuß am Fenster.
„Nein, ich stehe erst wieder in ein paar Monaten zur Verfügung“, er bedeutete Bibiana mit einer winkenden Geste einzutreten.
„Es tut mir leid, aber dafür wird die Zeit nicht reichen. Um den Part im River Dance zu übernehmen, brauche ich mindestens zwei Monate Training. Ich werde in diesem Musical nicht mitwirken können.“
Bibiana warf ihren Mantel auf einen lederbezogenen Tisch mit Harzbeinen, die täuschende Ähnlichkeit zu Kuduhorn aufwiesen. Dann schmiss sie sich in einen sesselartigen Stuhl, der mit Zebra- oder Kuhfell bespannt war, so genau konnte sie das nicht bestimmen. Jedenfalls einem Einzelstück und auch die einzige Sitzmöglichkeit, wollte man nicht auf dem riesigen, niedrigen Bett Platz nehmen, welches das ansonsten spärlich möblierte, große Zimmer beherrschte.
Auf einem Flachbildschirm lief bei abgedrehtem Ton die DVD der letzten Aufführung der Ballettgruppe anlässlich des dreißigjährigen Jubiläums der Tanzschule. Laureen, die dort nebenberuflich unterrichtete, wirbelte gerade in einem roten Etwas als Feuervogel im pas de deux mit ihrem Partner über die Bühne.
„Ja, dann verbleiben wir so. Ich melde mich. Das wünsche ich Ihnen auch. Bis dann“, beendete Otis das Gespräch mit seinem Agenten. Das Handy landete auf dem Bett inzwischen von DVDs und Papieren. „Ist sie nicht eine Wucht!“ Stolz wies er auf den Bildschirm.
„Ja, das ist sie. Schade, dass Laureen keine Profiballerina geworden ist“, stimmte Bibiana zu.
„Sie hat zwar die Füße dafür, aber nicht das Gewicht. Dafür müsste sie so schmächtig sein wie du“, warf er ihr grinsend den Köder zu.
„Laureen ist doch nicht dick“, erwiderte Bibiana, von seiner Provokation unbeeindruckt.
„Oh nein. Sie ist eine Göttin, aber für ein Leben auf der Spitze müsste sie eine Elfe sein.“ Otis durchquerte in lockeren Schritten das Zimmer. „Willst du einen Saft?“
„Ja, gern.“
„Was führt dich in meine Hütte?“
„Meine schlechte Laune. Ich kam her, um mich mit dir zu streiten.“ Bibiana war Otis in die kleine, dem Wohnraum angrenzende Küche gefolgt und lehnte am Türrahmen, als sich Otis umwandte.
„Mach ein Thema auf“, bereitwillig öffnete er die Arme, eine Flasche Ananassaft in der Hand.
Impulsiv schmiss sich Bibiana an seine Brust. Es war tröstlich von ihm gehalten zu werden. Er roch so vertraut nach Kakaobutter, etwas Aftershave und nach Mann. „Ich will nicht, dass du nach Afrika fährst“, seufzte Bibiana leise.
„Davon wirst du mich nicht abhalten können. Der Benz und der Container mit Elektrogeräten sind seit fünf Tagen auf dem Seeweg nach Dakar. Ich fliege übermorgen hin, um die Sachen vor Ort in Empfang zu nehmen.“
„Lass das doch deine Verwandten machen.“
Otis fasste Bibiana an den Armen und blickte sie überrascht an. „Ich gedenke aber selbst alles am Hafen zu regeln. Es ist mein Geschäft, und der Zoll kann dort verhängnisvoll sein.“
„Wie lange wirst du bleiben?“
„Zwei, drei Monate. So genau kann man das nie sagen.“ Otis drehte den Verschluss auf.
„Ein viertel Jahr“, entfuhr es Bibiana entsetzt.
„Ein Monat fürs Geschäft, ein Monat Urlaub, neu einkaufen und verschiffen und einen Monat will ich meine Studien zum afrikanischen Tanz betreiben.“
Otis drückte Bibiana ein großes Glas Saft in die Hand, nahm ihren Arm und dirigierte sie ins Wohnzimmer. „Ich bringe dir eine schöne Tasche mit. Oder willst du lieber etwas anderes?“
„Alle fahren nach Afrika!“
„Solltest du auch machen“, sagte Otis beiläufig.
In den letzten Tagen hatte Otis mit sich gerungen. Sollte er mit Bibiana sprechen oder nicht? Es war nun wirklich nicht sein Problem! Er hatte sein Leben im Griff, alles verlief genauso wie er es geplant hatte.
Sein Traum, eine eigene Tanzschule zu eröffnen, rückte in absehbare Nähe. Sein kleiner Handel von exportierter Technik und importierten afrikanischen Möbeln und Accessoires ermöglichte ihm zu reisen und in gewisser Weise ein Nomadendasein zu führen, welches er sehr schätzte. Warum war er nicht zufrieden?
Weil er sah, was mit Bibiana passierte, wie gefangen und unfrei sie war. Eine gefährliche Wut konnte von ihm Besitz ergreifen, wenn er sie so leiden sah.
„Wenn du und Assis nicht wenigstens zur gleichen Zeit weg wären“, nörgelte Bibiana und ließ sich in den Sessel plumpsen.
„Erwähne meinen Namen nicht im selben Satz mit diesem Kriminellen.“
Otis warf Bibianas Mantel in die hinterste Ecke auf sein Bett, rückte einen bunten Bastuntersetzer zurecht und stellte die Saftflasche ab. Wie sollte er nur anfangen? Europäer konnten so nicht denken.
„Wie läuft es denn mit Assis?“, fragte er gleichmütig und nahm auf dem Bett Platz.
„Alles bestens.“
„So wirkst du aber nicht auf mich. Hat der Gute deine Telefonrechnung inzwischen bezahlt oder hat er alles abgestritten?“
„Weder noch. Er will nach dem Senegal bezahlen.“ Bibiana begann sich ein wenig hilflos zu fühlen und nippte an ihrem Getränk.
„Hauptsache du glaubst daran.“
Otis streckte die Beine aus und wappnete sich für den unvermeidlichen Streit. Es war unumgänglich, dass sie Assis jetzt verteidigen würde. Stattdessen versetzte Bibiana Otis in Erstaunen.
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben kann. Er hat mich um viertausend Euro gebeten und sagt, dass wir heiraten sollen, wenn er wiederkommt.“
Otis zog scharf die Luft ein und schnellte in eine kerzengerade Sitzposition. Es war so weit! Er würde sich das nicht länger bieten lassen. Er hatte ja nichts dagegen, dass manche Frauen sich anscheinend mit Vorliebe Arschlöcher aussuchten. Aber Bibiana würde das nicht tun! Mit konzentrierter Langsamkeit griff er nach der Flasche und nahm einen langen Zug.
„Da kann ich nur gratulieren. Melody, weißt du schon, was du anziehst?“
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, hauchte Bibiana. Dann sprang sie wie von einer Tarantel gestochen aus dem Sitz. Mit nervösen Schritten marschierte sie durch das Zimmer. „Gar nichts werde ich anziehen. Ich hatte überhaupt nicht vor zu heiraten!“
„Wenn du das nicht willst, musst du es nicht tun“, erwiderte Otis ruhig, darauf achtend, sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Wenn er mich anguckt, geht es mir durch und durch. Er muss mich nur antippen und ich giere vor sehnsüchtigem Verlangen nach ihm“, hilflos warf Bibiana die Arme in die Luft.
„Ich weiß, was mit dir los ist.“
„Nein, das weißt du nicht. Es ist unbeschreiblich. Ich bin nach ihm verrückt wie blöd. Etwas derart Unkontrollierbares ist mir noch nie passiert. Ich rase vor Leidenschaft und verliere dabei meinen Kopf. Ich muss mich irgendwie umpolen, anders programmieren sozusagen“, peinlich berührt stellte sie fest, dass sie Tränen in sich aufsteigen fühlte.
„Der Verstand und das Herz können sich erstaunliche Kämpfe liefern.“ Otis blickte höflich auf den Boden. Er musterte diesen, als sähe er ihn zu ersten Mal. Dann holte er tief Luft und straffte die Schultern. „Melody, ich sage es dir nicht gern, aber ich sage es dir noch einmal. Du bist verhext.“
Bibiana blieb abrupt im Zimmer stehen, in ihren Augen erschien ein gefährliches Glitzern. „Genau der richtige Zeitpunkt, dass du dich über mich lustig machst.“
„Das tue ich nicht. Setz dich bitte hin. Ich will versuchen, es dir zu erklären. Assis hat mit dir einen afrikanischen Liebeszauber machen lassen.“
„Er hat was?“ Wie angewurzelt stand sie im Raum, zog die Augenbrauen hoch und legte den Kopf schief.
„An sich nichts Außergewöhnliches. Du hast doch schon mal was von schwarzer Magie gehört“, erwiderte Otis entschlossen. „Assis hat einen Zauber, der verursacht, dass du nur ihn lieben kannst. Du kannst nicht anders, du denkst nicht mehr, du liebst ihn nur noch, bis die Realität wieder da ist. Dann willst du dich vielleicht trennen, aber wenn er dich sieht, kann er dich wieder gefangen nehmen.
Gut dass er weg ist! Du musst nämlich jede Berührung vermeiden. Kein Schulterklopfen, kein Schubsen, gar nichts. Du hast noch Glück gehabt. Was er mit dir gemacht hat, könnte dein völliger finanzieller Ruin sein. Irgendwo muss er nachlässig gewesen sein, sonst hättest du dich ihm nicht so weit widersetzten können.“
Bibiana ließ sich in den Sessel sinken. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, nach jedem Klaps, nach jedem Schubs entbrannte sie immer in Liebe zu Assis. Er brauchte sie wirklich nur anzutippen!
„Wie erkennt man richtige Gefühle? Wie kann man sie von diesen gezauberten Gefühlen unterscheiden?“, fragte sie, ihre Stimme klang irgendwie brüchig.
„Richtige Gefühle kommen langsam. Verzauberte schlagartig. Bei dem Zauber brauchst du nichts aufbauen. Er berührt dich nur kurz und schon willst du total.“
„Wieso weißt du solche Dinge?“
Otis lachte und drehte die Saftflasche in seinen Händen. „Wir sind alle von Afrika. Es ist Power, Melody, einfach Power. Das ist sehr stark. Normalerweise hast du keine Chance frei zu kommen. Ich sage es dir, du hast ein Recht, es zu wissen. Dann kannst du besser verstehen.“
„Ich bin ein freier Mensch und lebe, wie es mir passt!“, wutschnaubend griff sie nach ihrem Glas, wobei sie ungläubig feststellte, dass ihre Hände zitterten.
„Du machst dir selbst was vor und verweilst in Illusionen.“ Otis ließ sich von ihrer Wut nicht täuschen und warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Assis hat deinen Geist gefangen genommen, er kann es nicht rückgängig machen. Du musst jemanden finden, der sich damit auskennt.“
„Wie bitte?“
„Du brauchst jemanden, der etwas für dich tun kann oder dir sagt, was du machen kannst.“
„Wie stellst du dir das vor?“ Bibiana senkte das Glas, das sie im Begriff war an den Mund zu führen. „Soll ich eine Anzeige aufgeben: Seele verloren, Finderlohn garantiert?“, höhnisch verschränkte sie die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
„Es ist nicht deine Seele, sondern dein Geist, ein Aspekt deines Geistes. Und du hast ihn nicht verloren, er wird gefangen gehalten.“
„Wo denn das?“
„Oh, das kann verschieden sein.“
„Hör mal, ich bin eine vernünftige Frau. Ich glaube so etwas nicht.“
„Musst du auch nicht, es funktioniert trotzdem, wie du weißt“, erwiderte Otis unnachgiebig.
Sie wurde blass, öffnete den Mund, bekam aber kein Wort heraus. Hier in diesem Zimmer hatte ihre Wut nichts zu suchen, hatte sich plötzlich aufgelöst, um einer aufsteigenden Beklemmung Platz zu machen.
Otis gemahnte sich zur Selbstbeherrschung. Er hatte es fast geschafft, diese störrische Frau aus ihren gewohnten Gedankenmustern zu reißen. „Nun, du bist ja ein freier Mensch. Vielleicht passt dir eine Psychotherapie besser in dein Leben. In Europa wird man doch auch irgendwas in der Richtung kennen. Die in ihrer Liebe manisch abhängige Frau, so was in der Art“, vage fuchtelte er mit den Händen in der Luft und beschloss, dass es an der Zeit war, seinen Trumpf auszuspielen.
„Du solltest vielleicht auch die Parapsychologie in Erwägung ziehen. Dann könntest du neben deiner manischen Abhängigkeit eventuell auch noch deine gelegentliche Hellseherei vernünftig klären.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage!“ Bibiana warf ihm einen abweisenden Blick zu, hob abwehrend die Hände und hielt abrupt inne. „Okay, eins zu null für dich. Das kann ich auch nicht vernünftig erklären“, murmelte sie leise.
Otis unterdrückte ein Lachen und atmete geräuschvoll aus. „Hast du die Nummer vom Gesundheitsamt? Du könntest ein paar Impfungen brauchen.“

Vier Wochen später umkreiste Bibiana um Geduld bemüht das kleine lackierte Holztischchen, auf dem gewöhnlich ihr Telefon stand, und gab einen missvergnüglichen Laut von sich. „Mama, das haben wir doch schon durchgekaut. Ich habe jahrelang keinen Urlaub gemacht und jetzt ist es so weit.“ Erschöpft nahm sie auf der Sessellehne in ihrem Wohnzimmer Platz und hielt die Hörmuschel des Telefons zwei Zentimeter von ihrem Ohr entfernt.
„Ich sage doch nicht, dass du keinen Urlaub verdienst. Die Toskana, die Malediven oder von mir aus die Karibik wären ideal. Eine organisierte schöne Reise, wo du dich richtig entspannen kannst“, ertönte die klare, energische, noch immer junge Stimme von Sophia Fehn.
„Tja, vielleicht das nächst Mal.“
„Ich verstehe wirklich nicht, warum du auf die Idee verfallen bist, ausgerechnet nach Afrika zu fliegen. Das muss doch nicht sein!“
„Daran ist nichts mehr zu ändern.“ Entschlossen erhob sich Bibiana von der Sessellehne. „Mach dir bitte keine Sorgen, mir wird schon nichts passieren.“
„Das sagt dein Vater auch immer, wenn er an den entlegensten Orten auf seinen Grabungen ist.“ Sophia Fehn war eine füllige, dominante Frau, eine erfolgreiche Immobilienmaklerin, stets elegant gekleidet, mit exzellenten Umgangsformen. Sie war es gewohnt, geschickt zu verhandeln und sich durchzusetzen, notfalls manipulativ wie ihr manche Leute nachsagten. Aber sie war auch eine Realistin. Sie wusste aus Erfahrung genau, wann Bibiana nicht mehr umzustimmen war.
Sie hatte mit ihrer Tochter immer gewisse Schwierigkeiten gehabt. Zum einen hatte sie sich eine mädchenhaftere Tochter gewünscht, die weniger nach draußen strömte und in niedlichen Klamotten ihren Freundinnen vorzuführen gewesen wäre. Auch schätzte sie die recht unmaterielle Einstellung ihrer Tochter nicht sonderlich. Und schließlich war da diese unnatürliche Fähigkeit, mit der sie geschlagen war! Das konnte zu Statusverlust führen. Die Menschen liebten es nicht, wenn man anders war. Zugegeben, dafür konnte Bibiana nichts, es lag in der Familie. Leider hatte es nur zwei Generationen übersprungen und Bibiana war mit diesen unschicklichen, maßlosen Ahnungen versehen.
„Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist. Aber ich fahre dich morgen zum Flughafen.“
„Das ist nicht nötig, ich komme schon klar.“
„Das steht nicht zur Diskussion. Ich fahre dich nach Düsseldorf und basta.“
Bibiana wusste, dass ihre Mutter keinen Millimeter von diesem Standpunkt abrücken würde und fügte sich ins Unvermeidliche. Das war der maximale Kompromiss an Einvernehmlichkeit, der zu erreichen war. „Danke, das ist sehr lieb von dir.“
„Na also! Wir sehen uns dann morgen“, beendete Sophia halbwegs zufrieden das Telefonat.
Bibiana eilte in ihr Schlafzimmer, wo ihr geöffneter Koffer auf dem Holzparkett lag. Das quadratisch geschnittene, große Zimmer war ihr persönliches Refugium. In der Luft lag der schwache Duft nach Zitronenöl, die Wände waren in einem leuchtenden Türkis gehalten, Vorhänge und Bettdecke aus smaragdgrünem Chintz. Neben einem hohen zweitürigen Schrank in heller Eiche und einer alten Truhe aus dunklem Mahagoni beherrschten lebhafte Farben wie saphirblau, tiefviolett, bernsteingelb und paprikarot in Form von Kissen und Bildern den Raum.
Jedes geübte Auge mit nur ein wenig Menschenkenntnis hätte aus diesem Zimmer Bibianas Hang zu Leidenschaft und Dramatik, sowie eine romantische Sehnsucht herauslesen können. Was Bibiana vehement abgestritten hätte und worüber sie sich nicht im Mindesten klar war.
Mit gerunzelter Stirn stand sie breitbeinig vor dem Bett, auf dem sie einige Kleidungsstücke gestapelt hatte. Würden die alle in diesen Koffer passen? Nachdenklich kratzte sie sich heftig am rechten Unterarm. Die letzte Typhusimpfung war der Hammer gewesen! Sie hatte drei volle Tage alle Nebenwirkungen, die auf dem Beipackzettel standen, durchlitten. Erst seit gestern juckte ihre Haut nicht mehr als hätte sie die Krätze.
Und wem verdankte sie diese Qual? Ihrem lieben Freund Otis. Es war ganz allein seine Schuld! Er hatte vor vier Wochen einen schwachen Moment von ihr ausgenutzt und sie bequatscht, diese Reise zu unternehmen. Ungeduldig hörte sie mit dem Kratzen auf.
Sie flog nicht einfach in Urlaub, erinnerte sie sich, sondern begab sich auf die Suche nach einem Scharlatan, einem Schwindler, einem Quacksalber. Ganz offensichtlich war sie im Begriff verrückt zu werden. Himmel, sie war eine durchschnittlich erfolgreiche Geschäftsfrau, vernünftig und rational. Wozu hatte sie sich bloß hinreißen lassen!
Als es schellte, ließ sie die Chucks fallen und stürmte zur Wohnungstür. Laureen stand triumphierend vor ihr und schwenkte ein Paar schneeweiße Stilettos mit schätzungsweise acht Zentimeter hohen Absätzen durch die Luft. Neben ihr stand Freia, eine riesige Frischhaltedose in den Händen, ein Leinenbeutel baumelte an ihrem Handgelenk. Zwischen beiden Frauen drängte sich Ramona hervor.
„Wir helfen dir beim Packen und haben Essen mitgebracht. Freia hat zum Nachtisch Schokoladenbaisers gemacht.“ Vor Freude hüpfte Ramona auf der Stelle, ein Zeichenblock rutschte ihr aus den Händen und landete auf dem Fußabtreter. Bibiana beugte sich vor, um Ramona in die Arme zu nehmen. Tief sog sie den vertrauten Geruch nach Himbeershampoo, Fruchtgummis und Jugend ein.
„Oh, meine Süße, wie werde ich dich vermissen!“ Bibiana räusperte sich, dann wandte sie sich mit belegter Stimme an Freia. „Her mit deinem Beutel! Ist der ganz voll mit Schokobaisers?“
„Ja, da hast du noch morgen was von“, schmunzelte Freia.
Zielstrebig betrat Laureen die Wohnung, sie hatte die Schuhe an ihre Brust gepresst. Der argwöhnische Blick, den Bibiana auf diese nun wirklich traumhaften Sandalen geworfen hatte, war ihr nicht entgangen.
„Wo steht dein Koffer?“, fragte sie entschlossen.
„Laureen, ich glaube nicht, dass ich die brauche. Solche Schuhe ziehe ich nicht mal hier an“, gequält verdrehte Bibiana die Augen.
„Ich bitte dich, du sollst damit ja nicht aufs Laufband. Aber du wirst sicherlich mit Otis mal schick ausgehen.“
„Diese Schuhe sind jenseits meiner Schmerzgrenze.“
„Stell dich nicht so an. Bequemlichkeit ist nicht alles!“ Laureen eilte mit schwebenden Schritten durch den Flur und stieß einen siegesgewissen Laut aus, als sie den Koffer im Schlafzimmer erspähte. „Das ist mein Geschenk für deine Reise. Ich bestehe darauf, dass du dich freust“, sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete und legte die Stilettos in den Koffer. Mit sicherem Griff zog sie aus ihrer Handtasche ein kleines Fläschchen hervor. „Ich habe auch gleich den passenden Nagellack mitgebracht.“
„Warum fühle ich mich neben dir bisweilen wie eine Kröte?“, resigniert beäugte Bibiana das Fläschchen.

Während Ramona am Küchentisch sitzend selbstvergessen und bedachtsam die nächste Farbe auswählte, mit der sie anlässlich der bevorstehenden Karnevalsaison eine Sternenkönigin malte, überprüften die Frauen in Bibianas Schlafzimmer den Kleidungsstapel auf Tauglichkeit. Bibiana entkorkte einen Rosso, schenkte drei Gläser ein und erhob ihres.
„Auf euch, auf uns. Ohne euch würde ich morgen nicht fahren können.“
„Paperlapap, das ist doch selbstverständlich.“
„Hast du auch alle Impfungen, die du brauchst?“
„Und mehr! Ich habe mir alles nur Erdenkliche injizieren lassen. Wenn es eine Impfung gegen Sandflöhe gäbe, hätte ich die auch noch machen lassen. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich so ängstlich geworden bin.“
„Das ist nur vernünftig und verantwortlich.“ Freia nippte an ihrem Glas. „Schön, dass du das afrikanische Kleid mitnimmst..“, wohlwollend zupfte sie an dem Baumwollstoff.
Dieses Kleid aus ockerfarbenem Grund mit azurblauen, großflächig verlaufenden Spiralen war der ausschlaggebende Faktor für Laureens Idee gewesen, die nächste Sommerkollektion in afrikanischen Stoffen mit europäischem Design zu kreieren. Es war zwar eine mathematische Glanzleistung, derartige Stoffe nicht zu kastenförmigen Gewändern zu verarbeiten. Die Muster stellten eine Herausforderung dar, wenn sie nicht wahllos zerschnitten aneinander genäht wurden. Aber Laureen begeisterte sich für die Idee, diesen Sommer nicht beliebig reproduzierbare Stoffe anbieten zu können.
„Es ist ein Versuch wert“, hatte sie vor drei Wochen beschlossen und Bibiana vorgeschlagen an ihrer Stelle auf Stoffreise zu gehen. Im Austausch dafür würde sie sich um das Fitness-Studio kümmern.
Auch Freia, die nach dem Mittagsgeschäft ihren Laden schließen konnte, hatte ihre Unterstützung zugesagt. Mit einer zusätzlich eingestellten Aushilfskraft und einem etwas reduzierten Kursangebot würden sie den Club am Laufen halten.
„Notfalls stellen wir noch jemanden ein, mach dir keine Sorgen“. Laureen thronte auf dem Bett, die Beine ladylike seitlich gestellt. Unter ihrem schwarzen Wollkleid lugte die jadegrüne Spitze eines Unterkleides hervor.
„Gemeinsam schaffen wir das“, bestätigte Freia. „Lass so oft wie möglich von dir hören.“
„Ich weiß nicht, warum ich das überhaupt mache. Es ist die reinste Schnapsidee. Liebesfluch! So ein Mist! Das kann doch kein normaler Mensch ernsthaft denken.“ Auffahrend leerte Bibiana ihr Glas in einem Zug.
Freia trat an Bibiana heran und fixierte sie mit festem Blick. „Es gibt Menschen, die nur das glauben, was sie über ihre Sinne direkt wahrnehmen können. Dabei sieht jede Katze besser als ein Mensch, jeder Hund riecht besser und jeder Wal hört besser als wir.“ Mit ruhiger Gelassenheit schritt Freia auf den Koffer zu, ging in die Hocke, schloss den Koffer mit einem kräftigen Ruck und drehte das Nummernschloss.
„Du solltest es eigentlich besser wissen“, fuhr sie fort. „Du hast schließlich einen Sinn mehr oder einen, der bei uns nicht entwickelt ist. Gerade du solltest nun wirklich wissen, dass es Dinge im Leben gibt, die wir nicht so ohne weiteres erklären können. Warum in aller Welt soll es keinen Liebeszauber geben?“ Beiläufig klopfte sie mit den Fingern auf den Griff des Koffers. Dabei zeigte sie ein so warmes und aufrichtiges Lächeln, dass Bibiana und Laureen es unwillkürlich erwiderten.
In dem Moment kam Ramona mit vor Eifer roten Wangen ins Schlafzimmer gerannt. „Guckt mal, ich habe die Sternenkönigin fertig.“ Mit beiden Händen hielt sie ihre Zeichnung hoch. „Mama, können wir sie aufhängen, wenn ich sie in der Schule gezeigt habe? Sie soll Bibiana beschützen.“
„Aber sicher machen wir das.“ Laureen zog ihre Tochter zu sich heran, um ihr einen Kuss zu geben. „Das hast du wunderschön gemalt.“
„Ich habe Hunger“, erklärte Ramona.
„Dann wollen wir mal“, ließ Freia verlauten. „Bei der Gelegenheit kannst du Bibiana auch die Kette geben, die wir für sie ausgesucht haben.“
Ramona flitzte in den Flur, um unverzüglich mit einem Kästchen wiederzukommen. Der traubengroße Amethyst war an einer sechzig Zentimeter langen Silberkette befestigt. Bibiana fasste sich an die Kehle. Sie konnte kaum glauben, dass dieses krähengleiche Geräusch ihre Stimme war.
Freia kam auf sie zu und legte ihr den Arm um die Taille. „Ein Amethyst begünstigt die Intuition und klares Denken. Sieh mich nicht so an, als würden wir dich zwingen ein Hufeisen oder ein Glücksschwein mitzunehmen.“


3. Kapitel




3. Kapitel


Die Maschine der Iberia landete nach einem Zwischenstop in Madrid am frühen Abend des nächsten Tages auf dem internationalen Flughafen Léopold Sédar Senghor, zwölf Kilometer nordwestlich der Innenstadt von Dakar. Als Bibiana die geöffnete Flugzeugtür durchschritt, umfing sie eine schwüle Wand. Wie ein Schlag umhüllte sie diese drückende Luft, es roch nach Wärme, Kerosin und - wie sie später wusste - Afrika.
Auch war es bereits dunkel, stellte sie fest, während sie mit den anderen Passagieren einen grün weißen Zubringerbus bestieg. Sicherheitsbeamte in orangefarbenen Westen rollten Gepäckwagen herum, weitere Flugzeuge standen auf den Rollfeldern. Eine etwa einminütige Busfahrt brachte sie zu der Abfertigungshalle, die von ihrer Größe eher an einen Bahnhof als an einen Flughafen erinnerte.
Nach der Passkontrolle begab sich Bibiana zu dem abgenutzten Förderband auf dem alle möglichen Verpackungen und mit Klebeband umwickelte Tüten sichtbar wurden. Sie reihte sich unter den Fluggästen ein, hier drängten sich die unterschiedlichsten Menschen.
Bibiana hatte noch nie so wenig Weiße gesehen, bei denen es sich hauptsächlich um Touristen, junge Abenteuerurlauber und einige Presseleute handelte. Ansonsten konnte sie vorwiegend Senegalesen, Libanesen, Syrer, Familien mit Kindern, traditionell gekleidete Alte und Geschäftsmänner in Anzügen ausmachen.
Die Luft vibrierte unter einer Mischung verschiedener Sprachfetzen. Bibiana hörte, wie die Senegalesin vor ihr mit gutturalen, melodischen Lauten freudig auf ihre kleine Tochter einredete. Europäer versuchten ihr Gepäck zu erspähen, ab und zu war ein deutsches Wort zu vernehmen. Ansonsten hörte Bibiana Unverständliches und, wie sie mühsam identifizierte, Französisch, welches sich hier anders als in Frankreich anhörte.
Mit ihrem Gepäck versehen schob sich Bibiana in die Halle. Moderne Werbung von Handys, die auch in Deutschland gerade herauskamen, hing an den Wänden. An Säulen wurde für französisches Wasser, Maggi und Fluganbieter geworben. Afrikanische Masken standen zwischen Pflanzen mit großen Blättern, ein Schild hing an einer Wand: Bienvenu au Senegal. Es gab Cafés, Bars und einen Duty Free. Die Halle wirkte bunt und abgenutzt und hatte den Anschein von einer Markthalle, war allerdings ruhiger.
Bibiana verließ die Abfertigungshalle und hielt nach Otis Ausschau. Sie konnte ihn in der Menschenmenge nirgendwo sehen. Die Menschen strömten aus der Halle, um ihre Behausungen, Unterkünfte und Hotels aufzusuchen. Selbst als sich die Menge zunehmend lichtete und Bibiana einen guten Überblick hatte, war Otis nicht in Sicht.
Das sah ihm nicht ähnlich, überlegte Bibiana, während sie sich verwundert wieder in die Halle begab. Dort nahm sie auf ihrem überdimensionalen Kosmetikkoffer Platz, den sie ihrer Mutter zuliebe mit sich führte. Er diente als Attrappe, enthielt ein Moskitonetz, eine leistungsstarke Taschenlampe, unzählige Batterien, literweise Sonnenschutz und sollte den Eindruck erwecken, dass Bibiana gedachte, in einem feudalen Hotel am Meer Urlaub zu machen.
Otis hielt normalerweise seine Zusagen, sinnierte Bibiana, als sie um ihr Gepäck ging, um sich vom langen Sitzen die Beine zu vertreten. Sie kannte Otis nahezu ihr ganzes Leben. Auf ihn war Verlass. Es musste etwas passiert sein, das ihn davon abhielt, jetzt hier zu sein. Nachdenklich blickte Bibiana zu dem Ausgang des Flughafengebäudes, während sie sich mit der Hand Luft zufächelte. Gütiger Himmel, war ihr warm! Vor einigen Stunden hatte sie sich noch bei winterlichen Temperaturen von ihrer Mutter verabschiedet, die wohlgefällig auf Bibianas feines Reisegepäck geblickt hatte. Jetzt hatte sie schon ihren Mantel und den dicken Pullover ausgezogen, aber die Schuhe waren definitiv zu warm. Ihre Füße schienen aufzuquellen und fühlten sich wie Tatzen an.
Sie musste aufhören in regelmäßigen Zeitabständen in diesen Winterschuhen ihr Gepäck zu umkreisen oder es durch die Halle zu schleppen. Das erschöpfte sie nur unnötig. Jetzt stand sie hier wie bestellt und nicht abgeholt, was ja auch der Tatsache entsprach. Entschieden straffte sie die Schultern. Sie würde die Dinge in Gang setzen müssen, anstatt hier Wurzeln zu schlagen!
Bibiana strebte Richtung Ausgang, wobei sie sich durch die Menschen schlängelte, die sich für das chaotische Einchecken bei der Gepäckabgabe für den nächsten internationalen Nachtflug einfanden. Kaum hatte Bibiana die ersten Schritte aus dem Flughafengebäude getan, sah sie sich von einem Aufgebot von Taxifahrern umringt. Blitzschnell hatte ein etwas untersetzter, aber flinker Mann ihren Koffer geschnappt und eilte damit von dannen. Bibiana hetzte ihm, ihr verbliebenes Handgepäck umklammernd, mit Drohungen hinterher.
Der Mann wuchtete ihren Koffer gerade in seinen gelb-schwarz lackierten Peugeot, als Bibiana ihn einholte. Der Wagen befand sich in einem leidlich vertrauenserweckenden Zustand. Einige in der Nähe stehende Taxis machten durch lautes Hupen darauf aufmerksam, dass sie frei waren. Auch ihnen sah man an, dass ihre besseren Tage lange zurücklagen.
Mit einem lauten Plop schloss der Mann den Kofferraum, richtete sich auf und strahlte Bibiana an. Er hatte schnell genug erkannt, dass diese Frau von keinem Reiseveranstalter abgeholt wurde, und sich durch richtiges Timing diese Fahrt gesichert. Nun öffnete er ihr galant die Beifahrertür und bedeutete ihr mit einer ausholenden Geste einzusteigen. „Assiez vous, assiez vous!“
In Unkenntnis der Tatsache, dass man vor Antritt der Fahrt den an sich existierenden Festpreis aushandelte, fragte Bibiana in mäßigem Französisch: „Können Sie mich in die City fahren?“
„In das Plateau-Viertel also“, schmunzelte der Taxifahrer und ging im Geiste die umständlichste Strecke durch.
„Kennen Sie ein Mittelklassehotel, möglichst in der Nähe eines Marktes?“
„Aber natürlich, kein Problem. Ich bringe Sie zu einem schönen Hotel der Mittelklasse, wo mein Cousin arbeitet.“
Während Bibiana den Fahrtwind genoss, der durch die geöffneten Fenster hereinströmte, war sie ganz zufrieden damit, sich ein Zimmer zu nehmen. Auf dem Flug hatte sie schon überlegt, wie sie Otis am besten davon überzeugen konnte, dass sie nicht beabsichtigte, bei seiner Familie zu wohnen. Sie war kein Gruppenmensch! Schon gar nicht dafür geschaffen, mit ihr fremden Menschen zusammen zu wohnen. Sie brauchte ihre Privatsphäre, die Möglichkeit sich zurückzuziehen. Ihr eigener Freiraum war ihr heilig.
Der Fahrer nahm die Stadtautobahn, durchfuhr weitschweifig und mehrmals das großstädtisch anmutende Vorzeigeviertel von Dakar und bog schließlich von der Avenue du Président Lamine Gueye kommend in die Rue Jules Ferry. Er hielt vor einem kleinen Hotel an. Ohne mit der Wimper zu zucken zahlte Bibiana den überhöhten Fahrpreis. Der erfreute Fahrer trug ihren Koffer durch den von Palmen und Büschen gesäumten Eingangsbereich. Nachdem sie die schmiedeeiserne Tür unter einer roten Markise durchschritten hatten, geleitete er Bibiana hinein.
„Oumar, Oumar, na nga def? Wie geht es dir?“, sprach der Taxifahrer einen großen, schlanken Mann an, der an der Rezeption stand.
„Mangi fi rekk, mir geht es gut“, hinter drahtgefassten Brillengläsern leuchteten fröhliche Augen aus einem länglichen, dunklen Gesicht.
Während dem nun folgenden Begrüßungsritual der beiden Männer wurde Bibianas Aufmerksamkeit von einem Bild gefesselt, welches an der Wand hinter der Rezeption hing. Auf einer zwei mal eins achtzig Leinwand sah man eine große strahlende Sonne, die den Wüstensand zu fressen schien. Eine Kamelkarawane schlängelte sich in endlosem Sand dieser brennenden Sonne entgegen. Gold, weiß, gelb, rot irisierten miteinander, zogen den Betrachter in dieses Bild, zu dieser Karawane immer dem Licht entgegen.
„Ich habe dir einen Gast gebracht“, hörte Bibiana den Taxifahrer sagen, der sie nun einander vorstellte.
„Sehr erfreulich, herzlich willkommen, Frau Fehn. Woher kommen Sie?“ wandte sich Oumar an Bibiana.
„Aus Deutschland.“
„Wie lange bleiben Sie?“
„Das weiß ich noch nicht so genau, vielleicht zwei, drei Wochen.“
„Sind Sie geschäftlich hier oder privat?“
„Ich mache Urlaub.“
„Sind Sie allein?“
„Nein, eigentlich nicht, ich habe einen Freund verpasst“, Bibiana scharrte etwas ungeduldig mit den Füßen.
Eine ähnliche Unterhaltung hatte sie schon mit dem Taxifahrer geführt. Man war hier irgendwie sehr direkt, befand sie. Um zur Abwechslung auch mal eine Frage zu stellen, deutete sie auf das Bild. „Wer hat das gemalt?“
„Ah, das ist von Yassin Diop, der Tochter von Alassan Diop und seiner Frau Delia. Gefällt es Ihnen?“
„Sehr, es ist phantastisch!“
„Ich werde es ausrichten, das wird die Künstlerin freuen“, lächelnd schob Oumar ein Anmeldeformular über die Theke. „Waren Sie schon einmal in Dakar?“
„Bedauerlicherweise nicht“, langsam gewöhnte sich Bibiana an die hiesige Art des Small Talks.
„Es wird Ihnen hier sicher gefallen. Wenn ich Ihnen mit irgendetwas den Aufenthalt angenehmer gestalten kann, sagen Sie es mir, ohne zu zögern.“
„Mir wird es hier sicher gefallen“, sie bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln und machte sich daran, das Formular auszufüllen.
„Wir bieten unseren Gästen klimatisierte Zimmer mit Telefon und Fernseher, brauchen Sie einen Fax Service?“
„Wohl kaum, Telefon wird reichen“, Bibiana reichte ihm das Formular. „Es wäre für mich praktisch, wenn Sie mir sagen, wo sich die wichtigsten Märkte befinden. Ich interessiere mich für Stoffe.“
„Die Märkte de Sandaga und de Kermel befinden sich in unmittelbarer Nähe des Hotels“, freute sich Oumar zu berichten. Er liebte es, wenn Touristen sich nach der Möglichkeit erkundigten, Geld auszugeben. „Und in der Medina ist der Marché Tilène, ein sehr afrikanischer Markt, den dürfen Sie sich nicht entgehen lassen.“
„Ich kann Sie durch die Stadt fahren“, bot sich der Taxifahrer an. „Fragen Sie an der Rezeption nach Taffa. Wir können auch einen Festpreis machen, Tagestarif, was Sie brauchen“, vage wedelte er mit der Hand durch die Luft.
„Das wäre möglicherweise sehr hilfreich. Ich werde mich bei Bedarf melden“, stimmte Bibiana zu.
Nachdem sich die beiden Männer im Verhältnis zu der ausgedehnten Begrüßung rasch und knapp verabschiedet hatten, geleitete Oumar Bibiana zu ihrem Zimmer. Er öffnete die Tür, blieb aber draußen stehen. „Voilà, Ihr Zimmer.“
Mit einem Satz hechtete Bibiana zum nächsten Sessel, um sich die Schuhe von den heißen Füßen zu reißen. Wohlig seufzend stand sie wieder auf und ging zur Tür, wo sie barfuß den Zimmerschlüssel entgegen nahm.
„Richten Sie sich erst mal in Ruhe ein“, lachte Oumar mit einem Blick auf ihre unlackierten Zehennägel. „Sie wissen, dass Sie sich an mich wenden können, wenn Sie irgendwelche Fragen haben.“
„Wunderbar.“
„Genießen Sie Ihren Aufenthalt bei uns. Bis später.“
Bibiana ertappte sich dabei, dass sie ihm hinterher starrte. Sie riss sich von dem Anblick dieser fließenden, langsamen Bewegungen los und betrat ihr Zimmer. Sie war nicht hier, um schönen Männern hinterher zu gucken, ermahnte sie sich.
Das Zimmer gefiel ihr auf Anhieb. Die Wände waren in einer orange-weißen Tupftechnik gehalten, eine weiße Tür führte in das Bad. Sie setzte sich auf das Bett und griff zum Telefon. Otis ging nicht an sein Handy.
„Hi Otis, ich bin im Hotel Chez Oumar in der Rue Jules Ferry abgestiegen. Versuche dich später noch mal zu erreichen“, hinterließ sie ihre Nachricht.
Nach einer erfrischenden Dusche verließ Bibiana gut gelaunt das Hotel. Jetzt bot sich ihr die Gelegenheit, herumzulaufen und sich auf eigene Faust erste Eindrücke zu verschaffen. Fast eine Stunde schlenderte sie über die Avenue Pompidou, die mit ihren Edelboutiquen, Restaurants, Cafés und Patisserien den exklusiven Aspekt von Dakar zeigte.
Überall waren Menschen, weiße und schwarze. Sie sah Männer in Anzügen oder in bunten Hemden und Jeans, viele trugen Halsketten mit einem Lederanhänger oder sonstige Amulette. Manche Frauen waren europäisch gekleidet, andere wie Königinnen. Sie sah die unterschiedlichsten Frisuren, einige trugen ihr Haar lang, andere kunstvoll geflochten oder hochgesteckt. Man ging in Gruppen oder auch allein. Die Geräusche von vielen Stimmen und Sprachen drangen an ihr Ohr. Fliegende Händler versuchten ihre Waren anzubieten. Es herrschte eine quirlige Atmosphäre, jeder schien zu wissen, wo er hin wollte.
Vor einem Kino wurde tiaki verkauft. Der süße Geruch von Hirse in Dickmilch mit etwas Kokosnuss zog Bibiana unwiderstehlich an. Während sie den leckeren Nachtisch verspeiste, wurde sie zur Zielscheibe einiger junger Männer, die sich anboten, ihr das Nachtleben von Dakar zu zeigen.
„Ein andermal“, lehnte Bibiana ab, und gab vor verabredet zu sein.
Dann machte sie sich auf, die Seiten- und Nebenstraßen südlich der Avenue Pompidou zu erkunden. Sie wollte weiter in dieser angenehmen Nacht herumlaufen, Neues aufnehmen. Dakar war eine gefährliche oft gnadenlose Metropole voller Gegensätze. Doch das sah Bibiana nicht. Was sie sah, waren Wohn- und Handelshäuser, die in französischer Kolonialarchitektur erbaut waren. Heute hatte sich hier der libanesisch-syrische Groß- und Einzelhandel eingerichtet. Die umlaufenden Balkone über den Warenspeichern hatten es Bibiana besonders angetan. Hier würde sie bei Tageslicht wieder herkommen und alles noch genauer ansehen. Sie ging an einem Antiquitätenladen vorbei, passierte afrikanische Restaurants und fand sich in einem Revier mit zahlreichen Bars und Diskotheken wieder. Hier herrschte ein reges Treiben, um Mitternacht erwachte das Nachtleben in Dakar.
Durstig und mit vom vielen Laufen müden Beinen wandte sich Bibiana zur nächstgelegenen Bar. An der Tür stand ein riesiger Schwarzer, der sie mit gutmütigem Gesicht angrinste. Über seinem muskulösen Torso hing ein weites, weißes Hemd aus edlem Damast lässig bis zur Hüfte, am Hals eine Silberkette mit einem in Leder eingenähten Anhänger.
„Maschallah, guten Abend“, grüßte er und sah sich nach Bibianas Begleitung um.
„Guten Abend“, erwiderte diese und betrat zielstrebig das Lokal.
Die Luft war erfüllt von dem Geruch von Weihrauch, Parfüm, Alkohol und dem Rauch von Zigaretten oder irgendwelchen Blättern. Bibiana hatte schon viele Etablissements gesehen und schritt lässig an die Theke. Die Flaschen glänzten im Licht der sternförmigen Strahler, die in die Decke integriert waren. An der Theke saßen überwiegend Männer, vorwiegend Afrikaner und einige Franzosen.
Zwei schwarze Frauen tanzten in der Nähe aufreizend zu afrikanischen Klängen. Sie unterbrachen ihre Darbietung nur, um gelegentlich aus einem Strohhalm an ihrem Drink zu nippen. Dann nahmen sie ihre Show wieder auf und wiegten gefällig die nicht zu verachtenden Hüften.
Die Tische waren erst teilweise von Grüppchen oder Pärchen besetzt, die munter redeten und laut lachten. Bibiana fielen die vielen fröhlichen schwarzen und weißen Gesichter auf.
„Nehmen Sie doch an einem der Tische Platz“, forderte sie der schwarze Hüne auf. Als Besitzer dieses Lokals war er Bibiana gefolgt, denn er hatte sie sofort als Neuling identifiziert und befunden, dass diese Frau besser nicht an der Theke verweilen sollte.
Bibiana ließ sich von ihm an einen kleinen Tisch mit Blick auf einen Billardtisch führen, an dem mit Begeisterung und unter lauten Zurufen gespielt wurde. Während sie ein Judor, die hiesige Orangenlimonade, trank, genoss sie es, die Beine auszustrecken und die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen.
Plötzlich verstummte die Musik und eine Afrikanerin betrat eine winzige Plattform. Ihre klare, tragende Stimme erklang durch ein Mikrofon. Bibiana verstand kein Wort, wusste aber diese Stimme zu schätzen. Erst nach einem längeren Solo setzten ein Schlagzeug und eine Gitarre ein. Einige Gäste standen auf und tanzten spontan und wo sie gerade waren zu diesen Rhythmen. Dann nahmen sie wieder Platz, während andere sich für einen Tanz erhoben.
Unkompliziert und lebendig, schoss es Bibiana durch den Kopf. Allerdings war sie sichtbar understyled, überlegte sie, während sie die aufwendig zurechtgemachten Frauen musterte. Von afrikanischen bis europäischen Kleidern war hier alles vertreten, und es war eindeutig elegant, schick und weiblich. Unschlüssig blickte sie an ihrer legeren Leinenhose herunter, warf einen kurzen Blick auf ihre herrlich bequemen Loafers. Immerhin trug sie wenigstens eine Seidenbluse unter ihrer Sommerjacke.
Wer konnte denn ahnen, dass die Frauen hier so übertrieben? Das war ja der reinste Schönheitswettbewerb, dachte Bibiana, als ihr Blick auf ein besonders schönes, wie auch junges Exemplar der weiblichen Spezies fiel. Dieses hatte soeben das Lokal betreten und war in Begleitung einer anderen jungen Frau, die auch nicht zu übersehen war.
Jetzt reichte die Schönheit dem Hünen beide Hände zur Begrüßung. Ihre Arme waren schlank, an einem Handgelenk blitzte es golden, an dem anderen trug sie weiße Kaurimuscheln auf einem dunklen Lederband. Die Farbe ihrer Haut war von einem auffällig helleren Braunton als die des Hünen, welcher nun in die Richtung von Bibianas Tisch deutete. Überrascht blickte sich Bibiana um, wobei sie erkannte, dass ihr Tisch inzwischen der einzige war, der noch freie Plätze aufwies.
Beide Frauen steuerten gemessenen Schrittes auf Bibiana zu. Anders konnte man sich in den bunten, engen Röcken wahrscheinlich nicht fortbewegen, vermutete Bibiana.
„Guten Abend, ich bin Yassin Diop und das ist meine Freundin Daba Sall“, sagte Yassin mit heller, jugendlicher Stimme und schwieg erwartungsvoll.
„Äh, hi, ich bin Bibiana Fehn“, fühlte sich Bibiana bemüßigt zu antworten. „Wollen Sie sich setzen?“
Während die Damen anmutig ihre wohlgeformten Hinterteile auf die Stühle platzierten, umnebelte der schwere Duft von Gongo, einem aufreizend duftenden Körperpuder, Bibianas Sinne. Gutgütiger Himmel, rochen diese Frauen gut! Wo hatte sie den einen Namen nur schon mal gehört? Bei diesem Duft konnte ja kein Mensch mehr klar denken.
„Woher kommen Sie?“, vernahm Bibiana die zu erwartende Frage von Daba, die sie mit unverhohlener Neugier musterte.
„Jetzt weiß ich es wieder!“ Bibianas Augen blitzten vor Freude, „Yassin Diop, Sie haben das Licht gemalt.“
„Pardon? Ich verstehe nicht.“
„Im Hôtel Chez Oumar, die Sonne mit der Karawane an der Rezeption, die ist von Ihnen.“
„Ja, in der Tat“, erwiderte Yassin verblüfft.
„Das Bild hat mir sofort unglaublich gut gefallen! Entschuldigen Sie, Daba, ich wollte nicht unhöflich sein, ich komme aus Deutschland und wohne zurzeit in dem Hotel, wo Yassins wunderbares Bild hängt.“
„Kein Problem“, versicherte Daba, wobei sie mit beiden Händen gelangweilt durch die Luft wedelte. Immerhin saßen sie hier mit einer Toubab zusammen. Es war ja allgemein bekannt, dass die sich mitunter sonderbar verhielten. Sie konnten mit allem herausplatzen, was ihnen gerade in den Sinn kam, anstatt sich erst mal bekannt zu machen. (Toubab = Weiße, kann auch abfällige Konnotation haben.)
„Darauf trinken wir einen. Meine Mutter kommt auch aus Deutschland. Sie ist Ethnobotanikerin. Leider ist sie momentan nicht in Dakar. Sie würde sich sehr freuen mal wieder mit einer Landsmännin, äh Landsfrau zu sprechen“, begeisterte sich Yassin und gab dem Kellner ein Zeichen, um eine Runde Cocktails zu ordern.
„Warum sind Sie hier?“, nahm Daba die Befragung wieder auf.
„Ich will einige Stoffe kaufen und Urlaub machen. Und was machen Sie hier?“
„Ich lebe hier bei meiner Familie.“
„Und sie kümmert sich um die Kinder, den Haushalt und macht phantastische Frisuren“, vervollständigte Yassin das karge Bild, welches Daba von sich entwarf. „Die Atlantik Bar ist mein Stammlokal. Ich komme hierher um auszuspannen und dem neuesten Klatsch zu lauschen“, fuhr Yassin fort, wobei sie dem Kellner, der die Drinks brachte, ein sonniges Lächeln schenkte, welches ihre Grübchen zeigte.
Daba lehnte mit aufgestützten, kräftigen Armen auf der Tischplatte. „Sind sie verheiratet?“
„Nein.“
„Haben Sie Kinder?“
„Nein.“
„Wie alt sind Sie?“
„Dreißig“, Bibiana schnappte überrascht nach Luft.
Daba befremdete sie. Mit ihrer sexy, animalischen Stimme lullte Daba ihr Opfer ein und stellte mit diesem bohrenden Blick eine indiskrete Frage nach der anderen.
„Und Sie, Daba. Was planen Sie für die Zukunft?“
„Ich will so bald wie möglich heiraten.“
„Sie sind doch noch sehr jung, oder?“
„Ich bin achtzehn. Das ist höchste Zeit, ich will mich gut verheiraten.“ Daba richtete sich auf und gewährte Bibiana ein herablassendes Lächeln.
Ihrer Meinung nach war Bibiana nicht weiter interessant. Die hatte es irgendwie nicht geschafft. Wer wollte eine so alte Frau schon heiraten? Es sei denn, sie wäre reich. So sah diese Frau nicht gerade aus. Sie trug ja wie ein kleines Mädchen Hosen, anstatt einen Rock, was ihrem Alter angemessener wäre.
„Daba hat einen aussichtsvollen Kandidaten ins Auge gefasst“, war Yassin bemüht die aufkommende Beklemmung zu überspielen. „Otis Touré könnte ihren Ansprüchen genüge tun. Vielleicht haben wir bald allen Grund zu feiern.“ Begütigend tätschelte sie Dabas Schulter, als ein Afrikaner an ihren Tisch trat und Daba zum Tanzen aufforderte.
Diese erhob sich dankbar, während Bibiana mit einem Hustenanfall zu kämpfen hatte, da sie sich an ihrem Drink verschluckt hatte. Wie viele Otis Tourés mochte es in Dakar geben? Nach Luft japsend, nahm sie sich vor, diesen Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Es war doch ganz undenkbar, dass Otis sich von so einer heiratswütigen, blasierten Kuh einfangen ließ!
Inzwischen erklang die Mbalax Musik von dem allseits beliebten Youssou N´Dour auf CD. Irritiert beobachtete Bibiana, wie sich Daba in erotischen, rhythmischen Bewegungen mit ihrem Tanzpartner vergnügte. Daba war von mittlerem Wuchs, stattlich gebaut mit einem großen, festen Busen und dicken, runden Pobacken. Und einer physischen Präsenz, einer selbstgefälligen Präsenz, verbesserte Bibiana im Geiste. Nein, es musste sich hier um eine zufällige Namensgleichheit handeln. Zu gegebener Zeit würde sie mit Otis darüber lachen können.
Bibiana riss sich vom Anblick des tanzenden Paares los und wandte sich an Yassin. „Was ist mit Ihnen. Sind Sie schon verheiratet oder wollen Sie es sobald wie möglich tun?“
„Oh, nein. Ich bin zwar vier Jahre älter als Daba, aber ich weiß nicht, welchen Mann ich will und suche mir auch keinen aus. Vielleicht heirate ich gar nicht oder lasse mich von meiner Familie irgendwann verheiraten. Ich weiß es noch nicht“, Yassin griff mit zarten Fingern nach ihrem Drink. Sie sprach jetzt Deutsch, präzise und korrekt.
„Will heißen?“
„Das heißt, dass ich alles auf mich zukommen lasse. Es wird schon richtig sein, ich mache mir darüber keine Gedanken.“
„Äh? Nun denn!“
Ein junger Afrikaner hatte sich vom Billardtisch gelöst und war zu Bibiana herangetreten. „Tanzen wir?“
„Nein, danke.“
Betreten zog sich der Mann zurück.
„Du bist unmöglich!“ entfuhr es Yassin. „Im Senegal ist es üblich, eine Frau zu jeder Musik neu aufzufordern. Ablehnen gilt als unhöflich. Es handelt sich doch nur um einen Tanz,“ mit einer graziösen Bewegung stellte Yassin ihren Drink ab. „Umgekehrt fordern Frauen Männer nur indirekt auf, etwa indem sie …“ Yassins Belehrungen blieben ungehört.
Bibiana war schon aufgestanden. Yassin sah sie am Billardtisch bei dem jungen Mann stehen. Dieser sah dermaßen verwundert aus, dass Yassin in schallendes Gelächter ausbrach und dabei mehrmals in die Hände klatschte. Daba hatte sich inzwischen wieder zu Yassin gesellt. Mit beiden Händen strich sie sich das krause, schwarze Haar zurück und fragte mit einem überraschten Blick in Richtung Billardtisch: „Was macht sie da?“
„Sie lernt höfliches Benehmen in Afrika.“
„Bist du sicher?“
„Absolut!“ Vergnügt beobachtet Yassin, wie Bibiana tanzte. Bibiana war eine zierliche, schlanke Frau. Dabei wirkte sie athletisch, mit wenig Fettmasse, doch anmutig und weiblich. Sie stellte sich gar nicht mal so linkisch an zu den traditionellen Wolof-Rhythmen mit einem Mix aus karibischen Klängen, Jazz- und Soul-Elementen. In der Frau steckte Potenzial, sie wäre durchaus in der Lage, sich zu einer hingebungsvollen Tänzerin zu entwickeln.
Nach dem Tanz gab Bibiana die zweite Lage Cocktails aus. Leicht erhitzt erhob sie ihr Glas: „Zum Wohl.“
„Auf die Süße des Lebens“, erwiderte Yassin. „Übrigens, wenn Sie sich für Stoffe interessieren, sollten Sie auch mal eine Schneiderei besuchen. Das wäre sicher aufschlussreich.“
„Gerne und genauso gerne würde ich beim du bleiben, welches dir eben rausgerutscht ist.“
„Fein, sehr angenehm. Willst du mich morgen zu meinem Schneider begleiten? Ich muss ein Kleid anprobieren?“
„Ja. Und wo ist das?“
„Ich hole dich morgen an deinem Hotel ab, das ist für dich einfacher. Um neun Uhr?“
„Super. Kauft man hier keine fertigen Kleider?“
„Wenn es sich nicht um europäische Kleidung handelt, nicht. Man kauft den Stoff. Den bringt man zum Schneider, wählt ein Modell aus oder äußert seine Wünsche, bespricht mit dem Sticker die Stickerei und die Garnwahl. Du wirst ja sehen.“ Plötzlich verzog Yassin die vollen Lippen zu einem sehnsüchtigen Lächeln. Sie richtete sich auf, um besser gesehen zu werden. Ihre Augen weiteten sich vor Freude und strahlten in einem dunklen Braun, wie starker heißer Mokka Kaffee.
„Seht nur, da kommt Ibrahima“, verkündete sie glücklich.
„Was soll das schon heißen?“ Daba gab einen missvergnüglichen Laut von sich.
„Er wird hier singen. Ich liebe es, ihn singen zu hören! Oh wie schön!“ Unvermittelt sprang Yassin auf die Beine. Sie konnte es nicht abwarten, bis er sie endlich gesehen hatte.
„Mach doch nicht solch ein Aufheben um einen Griot!“, erwiderte Daba steif. Entschieden griff sie nach dem Handgelenk ihrer Freundin, um diese wieder auf den Stuhl zu ziehen. „Yassin, ich bitte dich. Er ist bloß ein Griot!“
„Ibrahima ist der wundervollste Griot auf der ganzen Welt. Ich liebe ihn! Unsere Freundschaft ist mir heilig. Daba lass mich los!“, ungeduldig befreite sich Yassin aus dem Griff ihrer Freundin.
Endlich hatte er sie gesehen. Soweit zufrieden ließ sich Yassin wieder auf ihren Stuhl nieder. Sie wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis sich Ibrahima auf dem Weg zu ihr an allen Freunden und Bekannten vorbeigearbeitet und mit diesen die notwendigen Begrüßungsrituale ausgetauscht hatte. Ebenso konnte sie nicht einfach zu ihm eilen. Das wäre unglaublich unhöflich gewesen. Ein faux pas sondergleichen. Als Frau hatte sie sich zu gedulden.
„Was bedeutet Griot?“, wollte Bibiana wissen. Daba hatte das Wort mit einem Tonfall versehen, der Bibiana an Cholera oder eine sonstige schlimme Krankheit denken ließ.
„Ein Griot ist ein Ungleicher. Sie bleiben unter sich.“ Hochmütig hob Daba das Kinn.
„Wie kannst du nur so sprechen!“ Yassin zog scharf die Luft ein. Dann riss sie sich zusammen und rang sich ein Lächeln ab. „Ein Griot ist ein Wort-Schmied, ein Erzähler, ein Fabulierer. Als Sänger und Musiker ist er ein Stimmungsmacher und Zeremonienmeister.“
„Also ein Künstler“, stellte Bibiana fest.
„Eher würde ich einen Schmied heiraten als einen Griot“, Daba schnalzte verweisend mit der Zunge. „Ein Griot wird nach Ermessen bezahlt. Er kann auch leer ausgehen. Mitunter sind sie nichts als arm. Ansonsten sind sie unheimlich mit ihrer Wortgewalt.“
Der große, schlanke Mann, der Yassin nun in Wolof begrüßte, wirkte auf Bibiana weder arm noch unheimlich, sondern exotisch. Er trug ein forokiya, ein afrikanisches Männergewand mit passender Hose aus einem bunten Baumwollsatin mit reicher Stickerei versehen. Drei Spiralen waren in dunkelviolettem Garn im vorderen Bereich aufgestickt, ein lanzettenförmiges Kreuz, von einem Kranz umgeben, zierte die dreieckige Brusttasche.
„Ibrahima Samba Diabaté, mein liebster Freund, Bibiana Fehn, meine neue Freundin aus Deutschland“, stellte Yassin sie einander vor.
Bibiana schüttelte eine große, schlanke Hand. „Na nga def“, sagte sie, womit sie sogar bei Daba überschwängliches Lob und Anerkennung auslöste.
„Sie lernen schnell, bald verstehen Sie meine Lieder“, sagte Ibrahima im Plauderton und setzte sich zu ihnen. „Woher kommen Sie genau?“
„Diabaté, Diabaté, was sitzt du bei den Frauen? Glaubst du, sie alleine wollen deine Stimme hören?“, unterbrach der Riese sie. Die Andeutung eines Lächelns zeigte Bibiana, dass der Vorwurf nicht so ernst gemeint war.
„Wann greifst du endlich zum Mikrophon, Bruder?“
„Gedulde dich noch etwas, Großer. Lass mich zuvor mit Yassin tanzen. In der Hoffnung auf diesen Tanz bin ich hierher gekommen.“
Bibiana wusste nicht, dass Mischlinge erröten konnten. Es sah großartig aus, wie dieser rot goldene Schimmer Yassins Wangen zum Glühen brachte. Auch wusste sie nicht, dass ein Tanz die einzige Möglichkeit war, sich körperlich nahe zu sein. Zärtlichkeiten zwischen Mann und Frau waren in der Öffentlichkeit verpönt. Und nicht öffentliche Situationen hatte es zwischen Yassin und Ibrahima nie gegeben.
Aber Bibiana wusste, dass es für sie an der Zeit war, sich in ihr Hotelzimmer zurückzuziehen. Die Reise und die neuen Eindrücke forderten ihren Tribut. Der zweite Cocktail hatte ihr den Rest gegeben. Nachdem Ibrahima Yassin zum Tisch zurückgeleitet hatte, nutzte Bibiana die Gelegenheit, sich zu verabschieden und entschuldigte sich bei Ibrahima dafür, das sie nicht mehr bleiben konnte.
„Ein anderes Mal.“
„Ja, ein anderes Mal, inschallah (so Gott will).“

Langsam wanderte Bibiana durch kleine Straßen, ließ die Hitze der Bar von sich abfallen und atmete die frische Nachtluft ein. Wie wunderbar der Abend gewesen war! Yassin war wie eine frische Brise. Warmherzig hatte sie Bibiana sofort als ihre neue Freundin vorgestellt. Bibiana, die immer etwas Zeit brauchte, um mit anderen Menschen warm zu werden, war durch diese freundliche und unkomplizierte Offenheit, berührt. Nun hatte sie das dringende Bedürfnis, alleine zu sein, um die neuen Eindrücke zu verarbeiten.
Erfreut und auf zufriedene Art müde bog sie in die Rue Carnot. Um diese Uhrzeit war die Straße ruhig und menschenleer. Zumindest fast menschenleer, dachte Bibiana, als sie die jungen Leute auf sich zukommen sah. In Gedanken versunken schmunzelte sie vor sich hin. So, so, Yassin hatte sich noch nicht entschieden, welchen Mann sie wollte. Dabei musste man mit Blindheit geschlagen sein, um nicht zu merken, wie verrückt sie nach diesem Iba war. Was Bibiana an Assis denken ließ. Wo dieser wohl jetzt war? Was er wohl machte? Wieso hatte sie eigentlich keine Adresse von ihm?
Die Jungs hatten sich genähert und waren im Begriff, an Bibiana vorbeizugehen. Als eingespieltes Team hielt sich einer rechts, die anderen beiden links. Bibiana ging arglos durch die Mitte, als ein Junge sie anrempelte, damit sie mit den anderen beiden zusammenstieß. „Pardon Madame, excusez moi.“
Sie war umkreist! Bibiana spürte, wie ihr Herz einen Satz tat und dann wild zu hämmern begann, als sie ein Messer aufblitzen sah. Unter allgemeinem sorry und pardon schnitt ein Junge blitzschnell den Riemen von Bibianas Umhängetasche durch, während die anderen beiden Bibiana festhielten. Dann verspürte sie einen kräftigen Schubs, woraufhin sie vor sich hin stolperte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bis sie sich gefangen hatte, waren die Jungs schon einige hundert Meter entfernt.
„Scheiße! Verdammt, verdammt, verdammt! Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Bibiana hörte das Blut in den Ohren rauschen. Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie sich nur mit Mühe auf ihnen halten konnte.
So konnte sie niemandem hinterherhetzen, gestand sie sich ein. Abgesehen davon hatte sie keine Chance gegen drei junge Männer, die jetzt nirgendwo mehr zu sehen waren. Sie atmete tief durch und blickte sich um. Sie war allein in einer dunklen Straße einer fremden Stadt. Mit wackeligen Beinen setzte sie ihren Heimweg fort, bis zur Rue Jules Ferry konnten es nur noch zwei Straßen sein.
Wie konnte sie nur so blöd sein! Sie hatte sich wie eine senile Oma benommen, die alleine im Park mit einer Handtasche spazieren ging. Nein, korrigierte sie sich. Sie hatte sich wie immer benommen. Sie war es gewohnt, wann immer und wo auch immer sie wollte, alleine des Weges zu gehen. Das war normal, ihr gutes Recht. Nun, sie hatte einen Fehler gemacht.


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Impressum

Texte: Deutsche Erstausgabe 2011 Copyright © Brigitte Chinaka alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung Mamadou Sow, Copyright © Brigitte Chinaka
Tag der Veröffentlichung: 02.12.2011

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