Cover


Hey, Leute!
Jetzt mal im Ernst: Ich hätte niemals freiwillig darum gebeten, dieses Leben zu führen. Von allen Seiten werde ich genervt, angestarrt und bedroht.
Genervt bin ich von der "Vampir-Gang“, die mir den letzten Nerv zu rauben droht.
Angestarrt werde ich von allen Leuten aus der Nachbarschaft, meine Familie inbegriffen.
Und bedroht... das werdet ihr hier herausfinden.
Ich hasse es, mit Vampiren leben zu müssen. Wenn ihr dieses Buch lest, weil ihr selbst gerne an meiner Stelle wärt, dann klappt das Buch sofort wieder zu und zieht nach Balestone Village, um selbst herauszufinden, wie schlimm es ist. Ich könnte hier sowieso Beistand gebrauchen.
Wenn sich hier nicht bald etwas ändert, werde ich vermutlich ausrasten! Es gibt nur eine Sache, die ich noch mehr hasse als Yven: Angestarrt werden.
Falls ihr eine Idee habt, wo ich ein Messer aus Silber herbekomme, schreibt mir zurück.

Jamie


Kapitel 1



Die Sonne schien kräftig in Balestone Village. Die Luft war trocken, die Vögel zwitscherten fröhlich vor sich hin. Alles schien perfekt zu sein.
Doch betonen wir lieber einmal das „schien“. In unserer Straße fand gerade ein Fest statt – für all die erfolgreichen High-School-Absolventen. Ich gehörte zwar noch nicht dazu, hatte aber dennoch vor, mich zu den Kindern, Studenten und Eltern zu gesellen.
Ich hörte die Leute schon lachen und reden, die Kinder schreien, bevor ich um die Ecke bog.
Ein wunderbares Szenario offenbarte sich mir auf der Wiese, die mir nun gegenüber lag. Viele Tische und verschieden farbige Klappstühle waren aufgestellt waren, von irgendwo dröhnte Musik aus Lautsprechern. Unter der großen Eiche waren mehrere Tische mit Essen und Trinken aufgestellt worden. Weiter links ärgerten sich einige Jungen gegenseitig.
Sarah war auch schon da, sie ging aufgeregt herum und schien jemanden zu suchen.
Ich schüttelte den Kopf, denn ich hatte gehofft, dass Sarahs Interesse an Yven mit der Zeit nachlassen würde.
Einige Eltern hatten Gruppen gebildet und scherzten oder unterhielten sich.
Wie gesagt, alles schien perfekt zu sein.
Bis ich kam, zumindest.
Die ersten, die aufblickten und mich sahen, verstummten sofort, das Lächeln vieler verschwand schlagartig. Ich fühlte mich unbehaglich und zupfte nervös an dem Saum meines grauen T-Shirts.
Die Jungen, die zuvor noch gerangelt hatten, stießen sich gegenseitig an und deuteten unauffällig auf mich. Die Mädchen begannen zu tuscheln, die Eltern durchlöcherten mich mit ihren prüfenden Blicken.
Ich wusste genau, was nun in ihren Köpfen vorging. Sie machten mich für Davids Verschwinden verantwortlich. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, genau so wenig, wie ich ihnen die Wahrheit erzählen konnte.
Die Leute wollten eine Erklärung, und da es keine gab, begannen sie, selbst Gerüchte zu verbreiten. Die Theorie, ich habe ihm etwas angetan, setzte sich gegen die Vermutungen eines missglückten Selbstmordversuches und ein Ausreißmanöver durch.
Ich Idiotin hatte mein Blut dort verteilt... Zwar wussten sie nicht, dass das Blut mir gehörte, aber nun erkannte man dennoch, dass sich jemand ernsthaft verletzt haben musste.
Unwillkürlich begann ich, die Spuren, die die Schnittwunden hinterlassen hatten, zu mustern. Eine große, rosige Linie zog sich vom Ansatz meines Daumens bis in die Mitte der Handfläche. Darüber waren einige feinere Kratzer, die beinahe schon nicht mehr erkennbar waren.
Ich überlegte, was ich nun tun sollte. Einfach abhauen, wie würde das denn aussehen?– Auch wenn mir das am liebsten gewesen wäre...
Andererseits wollte ich sie anschreien, fragen, warum sie mich so anstarrten.
Letztendlich tat ich keines von den beiden. Ich ging mit dem neutralsten Gesichtsausdruck, den man sich nur vorstellen kann an einen der langen Tische und setzte mich zu den wenigen Leuten, die diesen schon belegten.
An diesem Tisch saßen Annas Eltern und zwei Jugendliche, die ich nicht kannte. Ich sah, dass sie die einzigen waren, die nicht verlegen wegblicken mussten, wenn ich ihren Blicken begegnete – sie sahen mich nicht so an, als sei ich eine Straftäterin. Und das, obwohl ich ihnen direkt gegenüber saß.
Dafür blickte ich sie aber komisch an. Ich schätzte den Jungen auf siebzehn und das Mädchen auf fünfzehn Jahre.
Sie waren wirklich merkwürdig. Sie beide saßen aufrecht und es sah so aus, als reckten sie leicht das Kinn. Der Junge hatte sein blondes Haar zurückgekämmt, es sah ein wenig so aus, als sei er gegen eine Wand gelaufen... Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten. Das Mädchen hatte hellblondes, gelocktes Haar, das ihrem schmalen Gesicht schmeichelte und zu beiden Seiten wie Seide hinabhing.
Mehr konnte ich nicht erkennen, da mich nun beide ansahen. Kein Wunder, immerhin hatte ich sie gerade mit merkwürdigem Blick gemustert.
Irgendwie erinnerten sie mich an Yven und Bryle... Nein, Vampire waren sie nicht, aber irgendwie... Ach, ich wusste auch nicht, weshalb.
Ich rang mir ein schwaches Lächeln ab, als die anderen Leute begannen, das Interesse an mir zu verlieren.
»Ihr seid gerade erst hergezogen, oder?«, fragte ich das blonde Mädchen freundlich.
Sie begann, freudig zu lächeln.
»Ja.«
»Hi. Ich bin Jamie«, grinste ich.
Es war toll, einmal mit jemandem zu reden, der mich nicht für verrückt hielt oder ein Vampir war.
»Hallo. Ich bin Della, und das hier ist mein Bruder, Audrick.«
Audrick nickte mir wie zum Gruß zu.
Die beiden waren irgendwie merkwürdig... So... Wohlerzogen! Noch ein Grund weniger, zu glauben, dass sie Ähnlichkeit mit Bryle und Yven hatten.
»Woher kommt ihr denn?«, fragte ich die beiden.
»Wir sind aus Portsmouth hierher gezogen«, erklärte Audrick.
Ach so. Ich hatte anfangs gedacht, die beiden sprachen nur so, weil es „sauberer“ klang...
»Und weshalb seid ihr nach Balestone Village gezogen?«, fragte ich und wollte gar nicht wissen, wer soeben so verrückt gewesen war, sich neben mich zu setzen.
Ich rutschte ein wenig beiseite, um dem großen Typen Platz zu machen.
»Wie wollten ein wenig Ruhe. Immerhin ist Portsmouth...«
Della hielt inne und musterte den Typen neben mir mit großen Augen, was auch mich dazu veranlasste, hinzusehen.
»Hallöchen«, grinste Yven.
Da ich nicht wollte, dass Audrick und Della mich für bescheuert hielten, weil ich jemanden anbrüllte, versuchte ich, es unauffällig zu machen und trat Yven unter dem Tisch ins Schienbein.
»Was für eine... Überraschung«, meinte ich mit finsterem Unterton.
Yven stieß mich grinsend in die Seite.
»Willst du uns nicht miteinander bekannt machen?«, fragte er und deutete auf Della – nur auf Della.
Diese versuchte, ein Kichern zu unterdrücken. Ihr Bruder hingegen schien sich schon auf das Schlimmste gefasst zu machen.
»Klar... Yven, das ist Audrick, Audrick, das ist Yven«, sagte ich grinsend.
Yven warf mir einen bösen Seitenblick zu, lächelte aber dennoch.
»Hallo, freut mich sehr«, sagte er.
Ja klar. Wehe, er zerstörte mir die letzte Chance, neue Freunde zu finden!
»Und das ist Della«, sagte ich deshalb schnell.
Wenn er sie jetzt anflirtete, würde etwas passieren!
»Hallo«, sagte er nur und setzte sein Casanova-Lächeln auf.
Sofort bohrte ich meine Fingernägel in seinen Oberschenkel. Er sollte damit aufhören!
»Yven, wo ist denn Bryle?«, versuchte ich, abzulenken.
Yven grinste aber nur.
»Soll ich ihn dazuholen?«
»Nein!«, schrie ich etwas zu laut.
Wieder erntete ich einige verwirrte und misstrauische Blicke.
Verdammt, wie sollte ich hier nur wieder raus kommen?
Ich zupfte am Saum von Yvens schwarzem T-Shirt und warf ihm einen flehenden Blick zu.
Schmunzelnd erhob er sich.
»Ich muss dann schon wieder gehen. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder!«
Sobald Yven in der Menschenmenge verschwunden war, beugte Della sich über den Tisch zu mir.
»Oh Gott, ist der süß!«, grinste Della mich an.
»Ich glaube, ich bin hier Fehl am Platz«, meinte Audrick und erhob sich.
Della ignorierte ihn gänzlich, sie richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf mich.
»Woher kennst du diesen Yven?«, fragte sie.
»Glaub mir, das willst du gar nicht wissen«, seufzte ich.
»Doooch!«
Ich wurde nachgiebig und erzählte ihr von der Sache mit dem Handy – das mit den Vampiren ließ ich dabei allerdings weg.
»Wie romantisch«, seufzte sie und stützte verträumt den Kopf ab.
Was war daran denn bitteschön romantisch?
»Ihr passt ja auch perfekt zusammen! Das mit dem Handy muss Schicksal gewesen sein!«
»Äh... Du glaubst, wir sind... ein... Paar?«, fragte ich,
Sie zuckte mit den Schultern. »Klar.«
Unbeabsichtigt begann ich, lauthals loszulachen.
»Nein, glaub mir... Das letzte, was wir sind, oder jemals werden, ist ein „Paar“.«
Jetzt begann Della, der Sonne beim Strahlen Konkurrenz zu machen.
»Also ist er noch zu haben? Kannst du da was arrangieren?«
Ich versuchte, geduldig zu bleiben.
»Willst du ihn nicht erst besser kennen lernen?«
»Das kann ich ja dann machen, wenn wir miteinander ausgehen!«, meinte sie schulterzuckend.
»Ist dir der Altersunterschied egal?«, fragte ich verblüfft.
»Wieso denn? Wie alt ist er?«, fragte sie.
»Zwanzig!«
Jetzt sah Della mich merkwürdig an.
»Du findest, drei Jahre sind ein großer unterschied?«
Oh, wie peinlich!
»Du bist siebzehn...?«
»Klar, was dachtest du denn?«, lachte sie, »Audrick ist mein Zwillingsbruder, auch, wenn man es uns nicht sofort ansieht.«
Da hatte ich ja noch mal Glück gehabt... Ich hatte schon mit einer zweiten Sarah gerechnet...
»Und? Kannst du ihn mal nach einem Date fragen?«, hakte sie nach.
»Ich sehe, was ich machen kann«, log ich.
Ich wollte nicht, dass dieses nette Mädchen von Yven ausgenutzt wurde!
»Okay, danke, du bist die beste! Wir werden sicher gute Freundinnen!«, strahlte sie und erhob sich, »Ich gehe sehe jetzt mal nach Audrick. Viel Spaß noch!«
Seufzend schlug ich mir die Hände vors Gesicht.
Am liebsten wäre ich jetzt wieder in meinem Zimmer gewesen...
Gerade, als ich aufstehen und gehen wollte, wurde mir eine Hand auf die Schulter gelegt.
Als ich mich umdrehte, erstarrte ich.
»Mrs. Laney«, meinte ich verblüfft.
Ruhig setzte sie sich neben mich. Das verstand ich nicht, immerhin verdächtigten mich alle, ihrem Sohn etwas zugefügt zu haben...
»Jamie... Wir wissen, was hier in der Nachbarschaft erzählt wird«, sagte sie, »Aber du musst wissen, dass wir keinen Wert auf solchen Tratsch legen. Ich finde es schrecklich, wie die Leute dich anstarren.«
Ich lächelte. Das war genau das, was ich die ganze Zeit wollte. Jemand, der mir versicherte, an meine Unschuld zu glauben.
Trotz des schwachen Lächelns sah Mrs. Laney zutiefst traurig und müde aus. Sie litt sicherlich sehr unter dem plötzlichen Verschwindens.
»Hast du nicht einmal eine Idee, wo David nun sein könnte?«, fragte sie mich hoffnungsvoll.
»Nein, ich habe keine Ahnung, tut mir leid«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
Doch ich hatte das Gefühl, dass es besser war, wenn David sich von Balestone Village fernhielt.
»Na gut... Dennoch... Falls dir irgendetwas einfallen sollte, melde dich«, bat sie.
»Natürlich.«
»Möchtest du dich nicht zu uns setzen?«, bat sie.
Anscheinend merkte sie wirklich, dass ich im Moment völlig alleine dastand.
»Nein, danke«, sagte ich dennoch.
Ich wollte wirklich nach Hause, das hier war mir zu viel auf einmal.
Ohne einen Blick zurück zu werfen, erhob ich mich und schritt über die Wiese zurück auf die Straße.
»Jamie!«
Ich drehte mich um, doch keiner schien wirklich auf mich zu achten. Hatte ich es mir nur eingebildet?
Schulterzuckend drehte ich mich wieder um.
»Yven! Wenn du das noch einmal machst, bringe ich dich um!«, schrie ich, als er plötzlich vor mir stand.
»Tut mir leid«, meinte er grinsend.
Einen Moment überlegte ich, ihm eine zu verpassen, ließ es dann aber doch bleiben. Das war es nicht wert.
»Ich wollte nur wissen, ob ich verschwinden soll.«
Ich kniff böse die Augen zusammen.
»Wäre gar keine so schlechte Idee!«, zischte ich und verschränkte die Arme.
Er schüttelte den Kopf.
»Du verstehst nicht, was ich damit meinet... Ich wollte wissen, ob ich aus deinem Leben verschwinden soll... für immer«, sagte er plötzlich ernst, »Jetzt, da wohl alles geklärt ist...«
Ich überlegte fieberhaft, ob ich das beantworten könnte.
Weshalb fiel es mir plötzlich so schwer, Dracula wegzuschicken, wo ich ihn doch die ganze Zeit über nicht bei mir haben wollte?
»Das... Das musst du schon selbst entscheiden! Ich bin ja nicht so herrisch wie du!«, rief ich plötzlich.
Perplex sah Dracula mich an.
»Ich möchte nicht, dass dir wegen mir noch etwas passiert.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Es war nicht deine Schuld.«
Yven wirkte beinahe schon nervös. Irgendetwas war da nicht in Ordnung...
»Komm morgen Abend noch einmal zu uns, dann reden wir in Ruhe.«
»Wenn es sein muss...«, murmelte ich und verschränkte mit unbehaglichem Gefühl die Arme.
Yven lächelte mich schwach an.
»Willst du wirklich schon vom Fest verschwinden? Du bist doch eben erst gekommen!«
Ehe ich etwas hätte erwidern können, war er auch schon wieder verschwunden. Ich wusste nicht recht, ob ich mich darüber freuen oder ärgern sollte.
Als ich zu Hause ankam, ließ ich mich, in meinem Zimmer angekommen, sofort aufs Bett fallen. Zu gerne hätte ich den Rest des Tages hier verbracht, vielleicht bis morgen Mittag ausgeschlafen.
Gerade, als ich trotz der Tatsache, dass es gerade mal Fünf war, versuchen wollte zu schlafen, klopfte jemand an meiner Tür und öffnete sie.
»Jamie... Wir wollen morgen zu Sally und Margaret fahren. Möchtest du mitkommen?«, fragte meine Mutter.
Sie sah auch nicht besonders glücklich aus. Unter diesen Umständen sicherlich kein Wunder...
»Nein danke«, lehnte ich ab, »Ich brauche jetzt erst einmal Ruhe.«
Mit aufeinandergepressten nickte sie.
»Na schön. Wie wäre es, wenn ich dir etwas Geld gebe? Geh doch mit deinen Freunden ins Kino!«
Ich seufzte.
»Natürlich«, log ich.
Catherine und Crab waren nicht mehr wirklich so etwas wie „Freunde“. Zwar verhielten sie sich so, doch immer, wenn wir uns trafen, spürte man, dass es eher Schauspielerei war. Auch ich war nicht besser. Ich erwiderte das aufgesetzte Lächeln einfach.
Schweigend ging meine Mutter wieder heraus und schloss die Tür leise hinter sich.
Wenigstens hatte ich morgen Sturmfrei...
»Jamie!«, rief jemand.
Gleich darauf wurde die Tür aufgeknallt und Sarah stand mit wütender Miene vor mir.
»Du hast meine neuen Ohrringe genommen, gib’s zu!«, rief sie aufgebracht und stemmte die Hände in die Hüften.
Ruhig richtete ich mich auf.
»Ich habe keine Ahnung, wo deine Ohrringe sind.«
Zornig kniff Sarah die Augen aufeinander.
»Genau so, wie du nichts von David weißt, ja?«
Das war ein Stich ins Herz gewesen. Wie konnte sie nur darauf herumhacken? Dachte sie wirklich, ich hätte David etwas angetan? Ich hatte keine Ahnung, wo er sich im Moment aufhielt, das stimmte. Ich hatte ihm nichts getan und wollte deshalb auch nichts über seinen Aufenthaltsort wissen. Wenn hier jemand verletzt war, dann ich.
Wütend verschwand Sarah. Im Gegensatz zu Mom knallte sie die Zimmertür mit voller Wucht zu. Das Knallen schmerzte in meinem Ohren, schmiegte sich an meinen Herzschmerz.
Hoffentlich würde bald alles wieder sein wie früher... Nur ohne David.


Kapitel 2: Opposite Direction



Sieben Uhr vierzig am nächsten Abend. Mom und Sarah waren noch immer bei Sally und Margaret. Sie hatten angerufen und mir mitgeteilt, dass sie dort übernachten würden. Vielleicht sollte ich mich langsam auf den Weg zu Yven machen. Sicherlich wartete er schon...
Doch irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, hinüberzugehen.
Hoffentlich war das kein schlechtes Omen, dachte ich, als ich die Treppe hinunterschlich.
Das ungute Gefühl in meiner Magengrube verebbte auch nicht, als ich vor die Haustür trat. Im Gegenteil, ich fühlte mich beobachtet.
Mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen – als würde ich mich gegen etwas Unsichtbares verteidigen wollen – ging ich los.
Mein Gefühl sollte mich nicht täuschen. Etwas würde heute passieren.
Je näher ich dem Haus der Jungs kam, desto unsicherer wurde ich. Ich schüttelte den Kopf über meine negativen Gefühle, als seien sie bloße Einbildung.
Das Haus der Jungs war nun direkt vor mir. Kurz, bevor ich sie erreicht hatte, wurde die Haustür auch schon geöffnet.
Alex grinste mich an. Ich hob eine Augenbraue.
»Heute mal nicht komplett in Schwarz?«, fragte ich mit gespielter Ungläubigkeit.
Er trug ein weißes Jackett über seinem schwarzen Hemd.
»Soll vorkommen«, erwiderte er, »Komm schon rein.«
Als ich eintrat, hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. Sie klangen gemeinsam so angenehm wie ein Streichquartett.
»Wie haben noch Besuch, aber...«, setzte Alex leise an.
»Ach, deshalb hast du dich so rausgeputzt!«, unterbrach ich ihn grinsend.
»Ähm... Nein«, sagte er bloß und schob mich ins Wohnzimmer.
»Hast du deine Haare geschnitten?«, fragte ich ihn währenddessen und konnte mir ein Lachen nicht verkneifen.
Seufzend ließ Alex sich auf einen Esszimmerstuhl sinken.
Erst jetzt realisierte ich, was Alex gesagt hatte. Sie hatten Besuch.
Qualm von Zigaretten stieg mir in die Nase. Ekelhaft. Ich unterdrückte ein Husten und wandte mich in die Richtung, aus welcher der Qualm kam. Die Sitzecke.
Vier Augenpaare waren auf mich gerichtet. Zwei davon kannte ich.
Dracula und Nosferatu saßen zwischen zwei Typen, denen ich beim besten Willen keinen Spitznamen geben konnte. Einer der beiden sah aus wie ein Holzfäller, der andere wie ein Drogendealer.
Entweder ging wieder einmal meine Fantasie mit mir durch, oder die beiden bleckten unauffällig ihre spitzen Zähne.
Yven und Bryle sahen beide nicht danach aus, als wollten sie mich vorstellen – oder ein Blutbad verhindern. Glücklicherweise erbarmte sich wenigstens Alex.
»Tyson, Jared, das ist Jamie.«
Der Holzfäller blickte mich an und begann plötzlich zu lächeln.
»Null?«
Alex nickte und legte mir einen Arm um die Schulter.
»Positiv«, seufzte er, »Aber das könnt ihr vergessen! Sie gehört mir!«
Als ich verstand, worüber sie redeten, war ich schon wieder kurz davor, an die Decke zu gehen.
»Ich gehöre dir ganz sicher nicht«, zischte ich ihn an.
»Wir werden sehen«, erwiderte er grinsend, »Ich hab was gut bei dir.«
Ohne auf die hungrigen Blicke zu achten setzte ich mich neben den Drogendealer.
»Ach ja? Und weshalb?«
»Ich hab’ wegen dir einen Pflock abbekommen!«, lächelte er.
Ich rollte mit den Augen. Das war wirklich kindisch.
»Du tust ja geradezu so, als wäre ich dein Beschützer gewesen! Dabei war es doch anders herum!«, konterte ich.
Nicht nur Holzfäller und Drogendealer beobachteten das ganze belustigt, auch Dracula und Nosferatu schienen ihren Spaß zu haben.
»Aber trotzdem haben wir dich gerettet. Eigentlich schuldest du uns allen Blut!«,. forderte er.
»Weshalb rettest du mir das Leben, wenn du es danach sowieso wieder aus mir heraussaugen willst?!«, motzte ich.
Alex reckte theatralisch die Hände in die Luft.
»Wir reden hier von einem Schluck!«
Das war jetzt aber wirklich genug!
»Bin ich für dich ein Mensch oder eine wandelnde Saftflasche?«
Bryle und Yven begannen zu lachen.
»Ich dachte eigentlich, wir wollten ein ernstes Gespräch führen«, wechselte ich das Thema.
»Erstaunlich«, bemerkte Holzfäller.
Als er fragende Blicke erntete, begann er zu grinsen.
»Wie habt ihre es hingekriegt, dass sie nicht einmal ein bisschen Angst hat?«
Yven begann, lauthals zu lachen.
»Jamie war schon immer ein bisschen plemplem«, erklärte er und blickte mich dabei herausfordernd an.
»Da spricht ja der richtige! Ich bin wenigstens nicht behindert!«, feuerte ich zurück.
Dracula zog einen Schmollmund. »Du weißt ganz genau, dass ich nicht behindert bin...«
»Behindert genug, mich zu einem Gespräch einzuladen und dann nicht richtig mit mir zu reden!«
»Du hat Recht«, murmelte er resigniert und erhob sich, »Lass uns reden.«
Mit einer Hand bedeutete er mir, ihm zu folgen. Er führte mich die Treppe hinauf in sein aufs Zimmer.
»Setz’ dich ruhig aufs Bett«, bot er mir an.
Ich biss mir auf die Lippe.
»Ähm... Nein, danke.«
Er verstand sofort, was ich meinte und lachte leise. Obwohl ich zögerte, schob er mich auf das Bett des Grauens zu und zwang mich sozusagen, mich hinzusetzen, indem er mich an den Schultern hinunterdrückte.
Unschuldig setzte er sich neben mich.
»Na? Wie geht es deinem Aua Aua?«, grinste er.
»Sie verheilen noch. Immerhin bin ich kein Vampir!«
Böse grinsend wackelte er mit den Augenbrauen.
»Noch nicht... Aber was nicht ist, kann ja noch werden!«
Böse boxte ich ihm in die Schulter.
»Ich habe nicht vor, ein Vampir zu werden!«
Yvens Miene wurde einen Deut düsterer.
»Du kannst auch keiner werden. Zu einem Vampir wird man nicht erst nachher „gemacht“. Du hast es schon immer im Blut. Bis zu deinem dreißigsten Lebensjahr überkommt dich dann die Verwandlung. Kein Beißen, kein Irgendwas. Entweder du hast es, oder du hast es nicht.«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf.
»Du wurdest sozusagen mit einem „Vampir-Gen“ geboren?«, fragte ich ungläubig.
Er nickte nur.
»Und deshalb weiß ich, wie wertvoll ein Menschenleben ist. Mir wurde es genommen, ich hatte keine Wahl. Aber deins werde ich beschützen.«
»Danke«, meinte ich und blickte leicht verlegen auf den Boden.
Yven beugte sich etwas weiter zu mir.
»Ich würde nicht zulassen, dass dir irgendetwas passiert«, sagte er und kam noch näher.
Unwohl verschränkte ich die Arme.
»Was...«
Ehe ich meine Frage beenden konnte, wurde ich überrumpelt.
Yven zog mich sanft näher. Er legte seine Lippen auf die meinen und legte mir behutsam eine Hand auf die Schulter.
Beim ersten Mal, als er das getan hatte, war es wunderbar gewesen, das gebe ich zu. Wie eine Art kleines Feuerwerk, etwas, das man einfach genießen musste.
Doch diesmal war es irgendwie anders. Einfach scheußlich. Eine andere Beschreibung gab es hierfür nicht.
Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr von jemandem geküsst werden würdet, für den ihr nicht einmal richtig freundschaftliche Gefühle hegt? Es fühlte sich für mich beinahe wie ein Angriff an, mein Magen verkrampfte. Ich hatte nicht mit so etwas gerechnet.
Um ehrlich zu sein: Ich hatte gehofft, dass so etwas nie passieren würde.
Augenblicklich schubste ich Yven von mir weg. Da ich es nicht wagte, ihm nun ins Gesicht zu sehen, wusste ich auch nicht, wie er sich nun fühlte.
Gut aber ganz sicher nicht.
»Ich dachte, wir hätten das geklärt... Ich will nichts von dir,... du willst nichts von mir«, brachte ich nach einigen schweigsamen Minuten stockend heraus und fixierte mich auf einen Punkt an der Wand, um nicht in Versuchung zu geraten, ihn nun anzusehen. Das könnte ich nicht.
»Tut mir leid«, meinte er nur. Es klang ungewöhnlich heiser.
Ich erhob mich, ohne ihn anzusehen.
»Ich sollte jetzt besser gehen.«
Ich blickte ihn an. Nicht sein Gesicht, sondern nur seine Haare. Ich fühlte mich wirklich zu schuldig. Schuldiger, als ich eigentlich war! Immerhin konnte ich nichts für diese peinliche Situation!
Peinlich... Mein Gesicht lief gerade sicherlich rot an. Nicht vor Scham, sondern vor Wut. Einer Wut, die ich im Moment noch unterdrückte. Diese Art von Wut, die manchmal ungewollt in Form von Tränen ausbrach.
»Soll ich dich begleiten?«, fragte er.
Ich schüttelte energisch den Kopf, wandte mich ab und stürmte aus dem Zimmer. Oh nein.
Nein, nein, nein!
Das war wirklich die bescheuertste Aktion seit langem! Musste er immer alles kaputt machen? Das kleine Gebilde von Sympathie, das ich für ihn aufgebaut hatte, hatte er soeben genau so unsensibel wie Godzilla niedergetrampelt.
»Tschüss«, meinte Alex verwundert. Er hatte es eher wie eine Frage formuliert.
Ohne auf ihn zu achten wandte ich mich der Haustür zu.
Das letzte, was ich hörte, bevor ich herausstürmte und lautstark die Haustür hinter mir zuknallte, war, dass oben irgendetwas krachte. Wie Holz, das einer gewaltigen Kraft nachgab und zerbarst.
Müdigkeit und Wut vereinten sich gerade in mir und wurden zu starken Kopfschmerzen, die mich auf dem Weg nach Hause begleiteten.
Mein ungutes Gefühl hatte mich doch nicht getäuscht.
Einige Male fühlte ich mich wieder beobachtet, während ich schnellen Schritts die Straßen entlang ging. Draußen war es schon dunkel.
Als ich mich gerade an die ungewöhnliche Stille hatte, hörte ich ein metallisches Kratzen. Schnell drehte ich mich um.
Da sah ich eine gekrümmte Gestalt seitlich an einer Straßenlaterne lehnen. Die Person trug eine Sweaterjacke, die Kapuze über den Kopf gezogen. Eine der Hände kratzte senkrecht am Laternenpfahl. Selbst von hier aus konnte ich erkennen, dass die Knöchel an den Fingern weiß hervortraten.
Weshalb war er bloß so wütend? Mir war sofort klar gewesen, dass es Yven sein musste. Und ich verstand nicht, weshalb er sich immer gleich so aufregen musste. Sicherlich hatte der Laternenpfahl schon Kerben...
Trotz allem verspürte ich ein merkwürdiges Schuldgefühl und machte einen Schritt auf ihn zu.
»Yven... es tut mir leid...«, murmelte ich.
»Weshalb auch immer«, hängte ich im Stillen an.
Immer noch konnte ich sein Gesicht nicht erkennen. Auch sonst zeigte er keine Reaktion, bis auf das unaufhörliche Kratzen und ein leichtes Zurückzucken.
»Was... ist los?«, fragte ich zögerlich.
Wieder erhielt ich keine Antwort.
Ging es ihm nicht gut? Ich machte weitere Schritte auf ihn zu.
Plötzlich hob er eine Hand und hielt sie sich vors Gesicht, als wolle er sich vor einem Angriff schützen.
»Komm nicht näher!«, ertönte eine heisere männliche Stimme, die garantiert nicht Yven gehörte.
Erschrocken wich ich zurück. Wer war das?
Nur drei Schritte lagen zwischen mir und der Person. Ihr Gesicht war von der Kapuze bedeckt.
Ich wurde abgelenkt, als ich sah, dass etwas auf den Boden tropfte. Die ganze Jacke und das darunter liegende Hemd war damit getränkt.
Als der Unbekannte ein Stück zurückwich und das Licht der Laterne auf ihn fiel, konnte ich genau erkennen, was es war.
Blut.
Überrascht und ängstlich zugleich schlug ich die Hände vors Gesicht.
Mir fiel noch etwas auf.
Das Blut lief Hals abwärts... Und das konnte nur eins bedeuten.
»Du brauchst sofort einen Arzt!«, keuchte ich.
Obwohl der Fremde mir immer wieder auswich, rannte ich auf ihn zu.
»Jamie!«, rief er flehend, als sei ihm gerade mein Name eingefallen.
Wer war das, verdammt noch mal? Ich kannte diese Stimme doch!
Sobald ich vor ihm stand, riss ich die Kapuze herunter.
Blonde Haare... Grau-grüne Augen... Ich wusste nun, wer es war, und doch hatte ich ihn mir zuvor nicht richtig angesehen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sein Haar leicht rötlich schimmerte und seine Wangenknochen die Augen, die nun erschrocken dreinblickten, noch mehr betonten.
Er wirkte beinahe wie ein Außenseiter, so stand er hier, mit einer Haltung, die signalisierte, ihn in Ruhe zu lassen und der blassen Haut... eines Vampirs.
Ich hatte noch nie gesehen, wie ein Mensch sich durch die Verwandlung in einen Vampir verändert. Es schien so, als sei er viel aufmerksamer, er hatte beinahe etwas fesselndes an sich; etwas, das mich nicht los ließ. Fast schon zu schade, um zu blinzeln.
Zuerst dachte ich, hier sei jemand angegriffen worden. Jetzt wurde mir klar, dass hier mehr dahinter steckte. Jemand hatte sich verwandelt.
Unwillkürlich schoss mir die Frage durch den Kopf, wie ich wohl aussehen würde, wenn ich... Ihr wisst schon.
»Audrick...«, hauchte ich.
Schnell entfernte er sich wieder von mir.
»Du weißt nicht, was mit mir los ist! Geh jetzt!«, rief er.
Ich merkte, warum er so angespannt war. Seine Augen waren dunkel untermalt, seine Haut wirkte aschfahl.
»Ich... weiß, was mit dir los ist... Und ich weiß, wie ich dir helfen kann.«
Als er sein hübsches Gesicht vor Zorn verzog, erinnerte es mich plötzlich an Yven. Weshalb mussten alle wütenden Vampire so aussehen, als kamen sie gerade vom Dreh für einen Werbespot für Aggressionsbewältigung?
»Du kannst mir nicht helfen!«, rief er und ging weiter, mit der Absicht, jetzt einfach wegzulaufen.
Neben mir lag ein Stein in der Größe meiner Handfläche. Ich hob ihn auf und schmiss ihn so weit wie nur möglich in seine Richtung, als Audrick sich abwandte.
Wie ich es mir gedacht hatte, wandte er sich nun zornentbrannt um. Es war, als würde man ein Lama reizen, bis es endlich spuckte.
Beinahe so schnell wie die anderen Vampire, die ich kannte, stand er wieder vor mir. Einen Meter Abstand hielt er zur Sicherheit jedoch noch immer.
»Was willst du eigentlich von mir?«, schrie er, obwohl er doch so heiser war.
»Ich will dir helfen!«
Da ich wusste, was er antworten würde („Du kannst mir nicht helfen, bäh, bäh...“) kam ich ihm zuvor und streckte ihm meine Hand entgegen.
»Versuch es!«
Zuerst sah Audrick mich nur perplex an. Dann wanderte sein Blick die Umgebung ab.
»Woher weißt du es?«
»Kann dir doch egal sein!«, zischte ich.
Ich wollte mich nicht mit ihm anlegen, doch er forderte es geradezu heraus, indem er sich wie eine Tussi aus der siebten Klasse benahm.
»Wir stehen hier mitten auf der Straße!«, knurrte er tief.
»Dann komm mit zu mir nach Hause!«
»Nein!«, rief er.
»Doch!«
»Nein!«
»Oh, doch!«
»Niemals!«
Ich seufzte.
»Du weißt doch ganz genau, wer dieses Spielchen hier gewinnen würde! Jetzt komm mit, ich will nicht genau so heiser werden wie du!
Ich hörte genau, wie er Beleidigungen grummelte, als er nachgab und zögernd näher kam. War ja nicht so, dass ich ihn beißen wollte. Er sollte besser aufpassen!
Während wir liefen, fiel mir auf, dass es ihm inzwischen schon viel besser ging. Seine Schmerzen schienen verschwunden zu sein, wahrscheinlich waren seine Wunden auch schnell geheilt, und nur die Blutspur erinnerte nun noch daran.
»Hast du gar keine Angst?«, fragte er, als ich die Haustür aufschloss.
Ich lachte ihn für diese Frage beinahe schon aus.
»Glaub mir... Wenn ich Angst vor Vampiren hätte, wäre ich seit drei Wochen im Arsch.«
Ich sah, dass er weiterfragen wollte, ermahnte ihn jedoch mit einem Blick. Mir war nun wirklich nicht danach, über Yven alias Dracula alias Sexgott alias Godzilla alias Arschloch zu reden.
Sobald sich die Haustür schloss, wurde mir mulmig zumute.
Es war kein Gefühl der Angst, sondern Scham.
Das, was wir vorhatten, war mindestens genau so peinlich wie ein Quickie im Flugzeug!
Audrick lachte.
»Was ist so lustig?«, motzte ich sofort.
»Gar nichts...«, meinte er und versuchte, sich eine ernste Miene abzuringen.
Seufzend führte ich ihn ins Wohnzimmer, schaltete das Licht ein und ließ mich auf der schwarzen Couch fallen. Lautlos ließ er sich neben mich sinken.
Er hielt den Atem an, als ich ihm plötzlich meine Hand entgegenstreckte.
»Tu es«, meinte ich.
Für meine Verhältnisse hatte ich das ungewöhnlich leise und ernst gesagt.
»Nein«, knurrte er wieder, »Ich will das nicht.«
Oh Gott, der Typ war ja noch nerviger als Dracula und Lestat zusammen!
»Dann bitte ich dich, jetzt mein Haus zu verlassen oder auf der Stelle zu sterben«, sagte ich todernst.
Schweigend erhob er sich wieder und streifte seine Hose glatt.
Ich wusste nicht, weshalb, doch ich packte ihn am Handgelenk. Anscheinend stand ich darauf,
abgeknabbert zu werden.
Du willst es, du brauchst es, Baby. ... Dümmste Momente, dümmste Gedanken. Ich war ein hoffnungsloser Fall, keine Psychiatrie der Welt würde es mit mir aufnehmen.
Wie beim ersten Mal ließ er sich geräuschlos neben mir nieder. Mit einen vertrauenerweckenden Blick legte ich meine Hand mit dem Handrücken nach unten auf seinen Oberschenkel.
Seine Finger waren kalt, als er meine Hand in seine Hände nahm.
»Bitte verzeih mir«, sagte er, während er meine Hand langsam an seine Lippen führte. Trotz des schuldbewussten Blickes sah ich das Verlangen in seinen Augen aufblitzen.
Sobald ich den Druck auf zwei Stellen im Handgelenk spürte, schloss ich die Augen.
Trotz des schuldbewussten Blickes sah ich das Verlangen in seinen Augen aufblitzen.
Sobald ich den Druck auf zwei Stellen im Handgelenk spürte, schloss ich die Augen.
Ich spürte kurz den Widerstand meiner Haut, die schließlich von zwei rasiermesserscharfen Zähnen durchbohrt wurde. Eine Ohrfeige kitzelte im Vergleich zu diesem Schmerz.
Sicherlich haben nun viele eine Szene wie aus dem Film vor Augen. Ein kurzer, sinnlicher Biss und untermalende Musik...
Doch ich hörte keine Musik. Ich hörte das grausamste Geräusch, das man sich vorstellen konnte. Ich bekam eine Gänsehaut davon.
Niemals hätte ich gedacht, dass Schlucken so widerlich klingen konnte. Und das Gefühl, dass das Leben über meinen Arm aus mir herausgezogen wurde. Es schmerzte fürchterlich. Dennoch ließ ich es mit geschlossenen Augen über mich ergehen, um Audrick das Leben zu retten.
Zum Glück war es schon nach wenigen Sekunden vorbei. Achtlos ließ Audrick meine Hand fallen und sah mich zornig an. Er sagte Dinge, die ich nicht erwartet hätte, nachdem ich ihm das Leben gerettet hatte.
»Du hast es nur noch schlimmer gemacht!«, zischte er.
Wütend zog ich meinen schlaffen Oberarm von seinem Oberschenkel zu mir und drückte fest auf die Wunden, um die Blutung zu stoppen. Ich hatte eine tiefe Wunde, die von der oberen Zahnreihe stammte, auf der Innenseite meines Armes und eine nicht ganz so schlimme, die von der unteren Zahnreihe geblieben war, auf der Außenseite.
»Ich habe dir gerade geholfen!«
»Nein«, presste er hervor, »Du hast ein Monster aus mir gemacht! Ich will doch nicht ... Könntest du anderen Menschen so erheblichen schaden zufügen, nur, weil es dir hilft?«
Ich schüttelte ehrlich den Kopf.
»Nein«, antwortete ich, »Nicht, wenn sie das nicht wollen. Aber ich habe dir meine Hilfe nun mal angeboten! Und wenn du deshalb nun auf mich oder dich selbst sauer bist, bist du einfach bescheuert!«
Sein Atem wurde ruhiger.
»Tut mir leid«, seufzte er.
»Schon okay. Es muss hart für dich sein«, antwortete ich leise.
Plötzlich wurde ich furchtbar müde. Meine Augen fielen beinahe von allein zu und mein Atem ging langsamer. Während Audrick nun wieder lebendiger war, war ich ausgelaugt. Doch das war es wert gewesen.
Ich würde ihm immer wieder helfen, wenn es sein müsste, damit er sich nicht wie ein Monster fühlte.
Immerhin war er für einen Vampir unheimlich einfühlsam. Er hatte keine Witze gerissen oder mich beleidigt. Er handelte mit Schuldgefühlen.
Vielleicht wurde er ja der erste Vampir, den ich mochte.

Sanfter Regen rieselte, als ich aufwachte. Die Regentropfen zerplatzten an der Fensterscheibe und strömten leise die Regenrinne herunter.
Ich lag auf dem Bauch, mein Gesicht war halb ins Kissen gedrückt.
Als ich im Augenwinkel eine Person erblickte, erschrak ich mich nicht mehr sonderlich. Dafür war das einfach schon viel zu oft passiert!
»Yven!«, schrie ich in mein Kissen.
Komischerweise erhielt ich keine Antwort, sondern ein verlegenes Räuspern. Immer noch müde richtete ich mich auf und versuchte, mit meinen verschwommenen Augen zu realisieren, wer da saß.
»Ich konnte dich so doch nicht einfach allein lassen... Irgendwie.«
Überrascht blickte ich Audrick an und stützte mich auf dem rechten Arm ab. Ich sog scharf die Luft ein, als der Schmerz stechend durch meinen ganzen Unterarm schoss.
»Das ist nett...«, sagte ich aufstöhnend, »...Irgendwie...«
Als ich an meinem Arm herunterblickte, sah ich einen Verband, der straff um die frische Bisswunde gelegt worden war.
»... Danke«, meinte ich verwundert.
So einen „Service“ war ich von Vampir wirklich nicht gewohnt... Aber er sollte es nicht übertreiben, denn sonst würde ich noch selbst beginnen, mich hilflos zu fühlen...
Nein! Kein Vampir würde ich jemals verunsichern, stellte ich zufrieden grinsend fest.
»Deine Mutter hat... Pfannkuchen gemacht«, grinste er zurück.
Lächelnd erhob ich mich.
»Du versuchst doch nicht, vom Thema abzulenken, oder?«, fragte ich stirnrunzelnd.
»Was... Ist denn das Thema?«, erwiderte er zögerlich.
Ich seufzte und mühte mich ab, mich aufzusetzen. Ernst blickte ich ihn an.
»Das hier«, sagte ich und deutete mit einem Kopfnicken auf den Verband.
Er antwortete nicht.
»Wenn du wieder Hilfe brauchst, kannst du natürlich wieder herkommen.«
»Nein! Ich werde es mal mit Tieren versuchen«, murmelte er niedergeschlagen.
Ich verzog angewidert das Gesicht.
»Die schmecken aber viel widerlicher!«
Er sah mich überrascht an. Schnell ergänzte ich die Aussage.
»... Das habe ich zumindest gehört...«, sagte ich verstohlen lächelnd.


Kapitel 3



Jemand hielt unsere Türklingel mindestens zehn Sekunden lang gedrückt. Ich schnaubte genervt. Es war schon zehn Uhr abends!
»Jamie! Öffne die Tür! Ich kann gerade nicht!«, rief meine Mutter von unten.
»Äh... Schlechter Zeitpunkt!«, antwortete ich laut durch die geschlossene Tür.
Hastig wickelte ich mir ein Handtuch um und betrat den Flur. Das war wieder einer der Momente, in denen ich diesen Flur hasste, da am Ende des Ganges ein Fenster war, durch das man zwar nur in den Garten sehen konnte, ich jedoch dennoch von oben bis unten zu sehen war, wenn man von draußen hineinblickte.
Schnell hastete ich in die dem Fenster entgegengesetzte Richtung davon und ging in mein Zimmer, wo ich die Tür sofort zusperrte.
Ich hörte, wie meine Mutter unten die Tür öffnete und kurz darauf jemanden ins Haus einlud.
Ich fragte mich, wer das wohl war, während ich mich umzog und meine Haare zusammenband, obwohl sie noch nass waren.
»Sie ist oben«, hörte ich meine Mutter nun sagen.
Wahrscheinlich eine von Sarahs Freundinnen... Mich wollte ja sowieso niemand besuchen.
Entgegen meiner Erwartungen klopfte einige Sekunden später jemand zögerlich an meiner Tür. Daraufhin wurde die Türklinke heruntergedrückt.
In diesem Moment war ich ausgesprochen froh, die Tür verriegelt zu haben, da ich nur in Unterwäsche dastand.
»Jamie?«, hörte ich leise jemanden von draußen fragen.
Verdammt! Ausgerechnet er! Was wollte Yven hier?
»Äh... Nein?«
Schnell zog ich mir ein kurzärmliges Oberteil über und schlüpfte in meine bequeme Lieblingshose, die über meinem Stuhl hing.
Als ich zur Tür eilte, fiel mir plötzlich wieder die Wunde ein.
Wo hatte ich bloß den Verband hingelegt? Unordnung sollte wirklich verboten werden!
Wenn er die Wunde sah...! Er würde sicherlich ausrasten!
»Mach keinen Quatsch, sonst komme ich durchs Fenster!«, knurrte er so leise, dass nur ich es hören konnte.
»Warte doch, Blödmann!«, zischte ich leise zurück, war mir jedoch sicher, dass er es hören konnte.
Hastig suchte ich unter meinem Bett und durchwühlte sogar meine Unterwäsche-Schublade.
Endlich fand ich den Verband. Er war hinter die Kommode gerutscht!
»Jamie? Was machst du denn?«
Jetzt war er auch noch genervt! Dabei wollte er etwas von mir, und nicht anders herum!
»Ich... bin nackt! Wehe, du kommst rein!«
Etwas besseres war mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Dabei vermutete ich, dass ihn das erst recht ermutigen würde, hineinzukommen!
Der verband würde auffallen, aber ich konnte in diesem Fall immer noch lügen. „Ich habe mich am Herd verbrannt“ zum Beispiel.
Mit schnellen Bewegungen versuchte ich, mir den Verband anzulegen. Leider musste ich feststellen, dass das mit nur einer Hand gar nicht so einfach war!
Verzweifelt gab ich es auf. Jetzt musste ich mir etwas anderes anziehen!
Also warf ich den Verband einfach auf den Boden, schlüpfte wieder aus dem T-Shirt, riss die Kleiderschranktür auf und zog einen langärmligen Pulli heraus.
»Bist du jetzt endlich soweit?«, drängelte Yven von draußen.
»Jaa-haa!«, stöhnte ich und eilte zur Tür, um sie aufzuschließen.
Yven sah mich amüsiert an, als ich die Tür geöffnet hatte.
»Nach so viel Zeit zum Überlegen ziehst du bei dreißig Grad einen Pulli an«, stellte er fest.
»Zum Glück entscheidest du nicht, was ich trage«, motzte ich ihn an.
Er schob mich ohne zu antworten ein paar Schritte zurück, sodass er eintreten konnte.
»Was willst du?«, fragte ich und verschränkte die Arme.
Unser letztes Treffen war nicht unbedingt optimal verlaufen. Ich hatte ihm die Sache immer noch nicht verziehen.
»Tut mir leid, dass ich... Du weißt schon...«
Das war keine überzeugende Entschuldigung. Ich verharrte in meiner abwehrenden Position.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte ich ihn.
Ich setzte mich auf mein Bett.
Anstatt mir eine Antwort zu geben, ließ Dracula seinen Blick durch mein Zimmer gleiten, bis er schließlich an dem Verband, der halb aufgerollt auf dem Boden lag, hängen blieb.
»Hast du dich verletzt?«, fragte er süffisant grinsend.
»Quatsch«, log ich.
»Wofür hast du ihn dann gebraucht?«, fragte er interessiert und hob die Rolle vom Boden auf.
»So viel Neugierde ist unhöflich«, tadelte ich ihn augenrollend.
»Verzeihung, Ma’am«, grinste er.
Ich forderte ihn mit einer Handbewegung dazu auf, mir den Verband zu geben.
Langsam kam er auf mich zu und warf die Verbandsrolle schließlich neben mich, als er vor mir stand. Ehe ich es verhindern konnte, hatte er mit seinen Händen meine beiden Arme gepackt und zu sich gezogen.
Ich verzog beinahe unmerklich – das hoffte ich zumindest – das Gesicht, als er auf die Bisswunde drückte. Man musste ja nicht unbedingt Öl ins Feuer gießen!
»Sicher, dass es dir gut geht?«, fragte er in einer merkwürdigen Tonlage. Er klang verärgert.
Ich versuchte, meine Arme zurückzuziehen, doch sein Griff war eisern. Die Reibung, die dabei entstand, verursachte nur noch mehr Schmerzen.
»Ja«, presste ich mit aufgesetztem Lächeln hervor.
Danach ließ er mich endlich los. Ich dachte schon, mein Arm würde absterben und herunterfallen!
»Ich muss weg... Mich mit jemandem... unterhalten«, sagte er schließlich.
Er versuchte erfolglos zu verbergen, dass er drauf und dran war, – mal wieder – etwas in seiner Hand zu zerbröseln. Wenigstens waren es nicht meine Arme!
»Okay... Aber nimm die Haustür!«, erwiderte ich zickig.
Diese „Entschuldigung“ hatte er verbockt! Ich sah ich nicht einmal an, während er mein Zimmer verließ.
Doch eine Sekunde später wurde die Tür wieder geöffnet.
»Ach, übrigens... In eurem Wohnzimmer riecht es nach Blut!«
»Zieh Leine!«, rief ich aufgebracht und warf mein Kissen nach ihm.
Leider war er schneller und schloss die Tür, bevor das Kissen ihn hätte treffen können. Manchmal wollte ich ihm einfach den Hals umdrehen! Allein der Gedanke daran ließ meine Finger beinahe zucken!
In der Hoffnung, mein Zorn würde so verfliegen, rollte ich den Verband mit schnellen Bewegungen auf.
Doch es half nichts.
Vielleicht sollte ich einfach schlafen, es war sowieso schon spät.
Seufzend ließ ich den Verband auf den Boden fallen und schlug die weiche Decke zurück. Etwas Ruhe... Die bekam ich in letzter Zeit nur im Schlaf...
Seufzend legte ich mich hin und zog mir die Decke bis zum Kinn. Nur etwas Ruhe... Keine Gedanken mehr an Vampire und verschwundene Exfreunde...
Erschöpft schloss ich die Augen und fiel kurz darauf in einen leichten Schlaf.
Ich hatte nichts geträumt, denn zum Träumen hatte ich überhaupt nicht genug Zeit. Kurz nach Mitternacht wurde ich von zwei starken Händen wieder wachgerüttelt.
Erschrocken riss ich die Augen auf. Mein Herz schlug schneller, als ich mich aufrappelte. Ein Gesicht war dicht vor mir. Ein grünes Augenpaar sah mich an.
»Jamie... Hast du Lust, zu sterben?«, flüsterte Dracula.
Waaaas? Ich setzte mich aufrecht hin und ließ meine Beine den festen Boden finden. Yven wollte anscheinend nicht von oben auf mich herabblicken, denn er ging vor mir in die Hocke.
»Natürlich hab ich Lust zu sterben«, sagte ich im sarkastischen Tonfall.
»Ich weiß, was du da tust«, sagte Dracula und ging nicht auf meine Antwort ein, »Wenn du nicht damit aufhörst, bist du bald tot.«
Ich schüttelte vehement den Kopf.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Er sog scharf die Luft ein.
»Ich habe es gesehen! Ich rieche es sogar! Es riecht nach frischem Blut, einer großen offenen Wunde...!«
Ehe ich hätte blinzeln können, hatte er meine Hand (diesmal behutsamer) gefasst. Da ich nun nur noch ein T-Shirt anhatte, konnte er die Wunde genau sehen.
»Wer war das?«, fragte er böse.
Ich gab keine Antwort.
»Ich werde es sowieso rausfinden!«, mahnte er mich, »Und dann ist das Arschloch dran!«
Zorngeladen entzog ich ihm meine Hand.
»Was gibt dir das Recht, dich in mein Leben einzumischen? Ich habe diesem Vampir nur geholfen! Es wäre sonst gestorben, kapiert?«
»Das ist ja noch schlimmer!«, knurrte er und reckte die Hände in die Luft.
(Es war übrigens viel schwerer, mit ihm zu streiten, wenn wir auf Augenhöhe waren!)
»Halt die Klappe.«
»Was hast du denn gedacht, was passiert, wenn du ihn gehen lässt? Dachtest du...«, fuhr er mich an.
»Ich sagte halt die Klappe!“, unterbrach ich ihn wütend.
Ich wollte nichts von seinen Geschichten hören! Außerdem weckte er noch Sarah oder Mom auf, so laut wie er schrie...
»Nein! Ich will, dass du mir einen Namen gibst! Vorher gehe ich hier nicht weg!«
Wie brachte man bloß jemanden zum Schweigen, der sich so in Rage geredet hatte?
»Pfannkuchen!«, rief ich.
Und tatsächlich schwieg er mich verdutzt an.
»Und jetzt geh! Sonst werde ich mich fürchterlich rächen«, murmelte ich.
»Nein.«
»Dein ganzes Wohnzimmer stinkt nach diesem Vampir!«, knurrte er zähneknirschend, »Was hast du dir dabei gedacht, ihn...«
Dracula hielt inne. Er schloss die Augen und schien zu lauschen. Ich nahm nichts wahr, mein Gehör war im Gegensatz zu seinem sicher grottenschlecht.
Plötzlich war er verschwunden. Doch gerade, als ich dache, ich könnte mich jetzt einfach wieder hinlegen, ertönte von draußen ein Krachen, bei dem ich zusammenfuhr.
Dann war Yven wieder da. In der Hand hielt er einen Ast von der Dicke meines Arms.
»Mal sehen, ob er dich immer noch vernaschen will, wenn ich ihm das Teil hier ins Herz ramme!«
Er benahm sich wie ein Psychopath!
»Du hast ja wohl ne Vollmeise!«
Ich riss ihm den Ast aus der Hand. Als er mich böse anstarrte, zog ich ihm damit eine über den Hinterkopf. Er knurrte mich grimmig an.
»Und jetzt verschwinde! Sonst werde ich dich mit diesem Ding hier pfählen und als Dekoration über mein Bett hängen!«
»Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn ich dich hier halb tot auf dem Boden finde! Dieser Dreckskerl kommt gleich... Ich kann ihn hören.«
Er ging zum Fenster, riss es auf und sprang heraus.
Wütend ging ich in die Richtung, in die er verschwunden war, und warf ihm den Ast hinterher.
Er hatte nicht nur meine Gefühle, sondern auch einen armen, unschuldigen Baum verletzt! Das war mindestens genau so schlimm, wie mir in den Am zu beißen – redete ich mir zumindest ein.
Er würde gleich da sein, hatte er gesagt. Ich hoffte, Yven war nicht mehr in der Nähe, als es tatsächlich an meiner Zimmertür klopfte.
»Jamie? Darf ich... rein kommen?«
Das war Audrick. Kein anderer Vampir hätte die Höflichkeit besessen, zu fragen.
»Klar«, antwortete ich.
Langsam fühlte ich mich wie seine Mutter. Nein, das war wohl der falsche Ausdruck... Ich fühlte mich wie seine große Schwester. Ich beschützte ihn vor bösen Jungs, machte ihm – metaphorisch gesprochen – die Mahlzeit und war seine Ansprechpartnerin.
Geräuschlos öffnete er die Tür und schloss sie verlegen wieder hinter sich.
»Wie geht es dir?«, fragte er.
»Könnte mir nicht besser gehen«, lächelte ich, »Und dir?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht so wichtig.«
Ich hatte schon geahnt, dass er nicht darüber sprechen wollte. Wahrscheinlich litt er unter seinem neuen endlosen Leben mehr, als ich dachte.
»Was ist mit deiner Familie? Della und deinen Eltern?«, fragte ich leise und ließ mich wieder aufs Bett sinken.
»Sie haben mich seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr gesehen. Vielleicht denken sie, ich bin verschwunden...«
Unter dieser Aussage zuckte ich zusammen. Es traf mich wie tausend Nadelstiche, als er das erwähnte. Vor meinem inneren Auge erschien ein Bild: Ein Zeitungsartikel. Die Überschrift lautete „Die verschwundenen Jungen aus Balestone Village“. Ein paar Zeilen darunter war ein Fahndungsbild, auf dem ich abgebildet war.
»Woran denkst du?«, fragte Audrick mich und riss mich so aus meinen Vorstellungen.
»Egal.«
Ich musterte ihn eingehend, doch keiner von uns wusste, was er sagen sollte.
»Du kannst hier wohnen.«
Perplex starrte er mich an.
»Das geht nicht! Meine Eltern... Deine Eltern...! Wenn das jemand mitkriegt...! Außerdem ist es viel zu gefährlich für dich!«
Ich rollte mit den Augen.
»Wie oft willst du mir noch wiedersprechen? Natürlich kannst du auch unter einer Brücke leben und dich von Ratten ernähren! Entscheide selbst. Ich allerdings bin zu müde, um zu diskutieren!«
»Schon gut!«, erwiderte er und hob die Hände, »aber höchstens eine Nacht.«
Ich lächelte zufrieden, er sah mich jedoch nahezu beleidigt an.
»Du kannst in meinem Bett schlafen. Ich schlafe auf dem Teppich.«
Mein Blick fiel auf meinen fluffigen Fransenteppich, der im Moment richtig einladend wirkte.
»Das geht doch wirklich zu weit, das...«
»Audrick!«, unterbrach ich ihn genervt«, im Moment könnte ich selbst auf einem Nagelbrett ruhig schlafen.«
Ungläubig sah er mir dabei zu, wie ich mich erhob und gleich darauf in den kuscheligen Teppich sinken ließ.
»Ist es dir peinlich, wenn ich dir zusehe, während du dich ausziehst?«, fragte ich grinsend.
Seine Wangen glühten in der Dunkelheit fast unmerklich.
Er war wirklich süß... So was hatte ich vermisst.
Nach ein paar Sekunden des Wartens auf eine Antwort merkte ich, dass er dachte, ich hatte das ernst gemeint. Stöhnend wandte ich mich von ihm ab und schloss die Augen, während ich hoffte, dass Yven nicht reinplatzen würde, während wir noch schliefen.


Kapitel 4



»Schaaatz! Wir sind wieder da-haa!«
Ich kuschelte mein Gesicht in die Fransen des Teppichs. Jetzt nicht!
Nicht einmal das leise, monotone Schnaufen im Hintergrund störte mich... woher kam es?
»Es ist Mittag! Schläfst du etwa immer noch?«, rief meine Mutter nun.
»Mhm«, murmelte ich bloß.
»Jamie?«
Ich hörte ihre Schritte nun deutlich. Jetzt kam sie wohl, um zu sehen, ob ich noch lebte
»Nein, danke«, murmelte jemand.
Ich riss den Kopf hoch. Audrick lag noch immer in meinem Bett. Er sah aus wie ein schlafender Gott... Das hieß.... Oh nein, nein, nein! Er muss hier weg! Mom würde gleich hier sein!
Ich rappelte mich auf und rüttelte panisch an seinem Körper, denn ich hörte die Schritte meiner Mutter schon auf der Treppe.
Irgendwie schaffte ich es dann, ihn zu bewegen. Schnell zog ich ihn aus dem Bett, wobei ein dumpfes Geräusch entstand, und schob ihn mit aller Kraft darunter. Er war wirklich nicht leicht... Seine Hand war gerade unter der Bettkante verschwunden, als Mom an meine Tür klopfte. Ich legte mich neben das Bett, weil ich keine Zeit mehr hatte, hineinzuschlüpfen und nun außerdem eine Ausrede für das Rumsen brauchte.
»Alles in Ordnung?«, fragte meine Mutter besorgt, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.
»Ja, ich bin nur... aus dem Bett gefallen...«
Vorsichtshalber legte ich Audrick unter dem Bett meine Hand auf den Mund.
»In Ordnung...«, sagte meine Mutter verwirrt.
»Wie wäre es mit einem schönen Stück Kuchen?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.
Kuchen? Ich war wirklich bescheuert!
»Gut, wenn du das willst, kaufe ich uns welchen...«
Die Verwirrung war ihr nun nur noch deutlicher anzusehen. Wenigstens verschwand sie wieder aus dem Zimmer... Langsam und prüfend schloss sie die Zimmertür wieder.
Erleichtert stöhnend ließ ich den kopf sinken. So konnte ich unter das Bett blicken.
»Du Idiot«, murmelte ich finster.
Er schien mich immer noch nicht wahrzunehmen. Stattdessen gab er einen lauten Schnarcher von sich. Als er den Mund kurz öffnete, blitzten kurz seine spitzen Zähne auf. Unwillkürlich glitt mein Blick daraufhin auf meinen Arm. Um die halbmondförmige Wunde herum hatte sich meine Haut lila und grau verfärbt. Es sah aus, als würde die Haut dort gerade absterben... Komischerweise tat es nicht weh... Doch vielleicht hatten Vampirbisse das an sich.
Ich warf einen Blick auf Audrick. Er hatte nur seine Schuhe und die Hose ausgezogen. Auf seinen Boxershorts waren pinkfarbene Nilpferde abgebildet. Er war irgendwie putzig, oder?
»Jamie! Es gibt Frühstück! Willst du was essen?«, rief Sarah genervt von unten.
»Essen!«, rief Audrick. Als er hochfuhr, prallte sein Kopf an das Bett. Ich musste Lachen, als er stöhnend zurückfuhr. So weckte man ihn also.
»Es gibt Frühstück... Ich... äh... bin gleich wieder da.«
Er sah mich aus den Augen eines Welpen an.
»Bringst du mir was mit?«, fragte er leise voller Hoffnung.
Ich musste grinsen.
»Ich glaube nicht, dass dir das schmecken wird.«
Er schüttelte seinen Kopf, der wegen seiner Vampirkräfte natürlich nicht mehr schmerzte.
»So lange ihr keine Hamburger zum Frühstück esst, bin ich dabei... Obwohl... Hmm! Hamburger!«
Ich rollte mit den Augen und gab eine übertrieben lautes Seufzen von mir.
»Ich glaube, du verstehst nicht«, begann ich.
»Bitte!«
Na gut, dann sollte er seine Erfahrungen selbst machen. Bryles und Alex’ Verhalten an dem Tag, als ich bei ihnen Pizza gegessen hatte, hatte ich aber noch nicht vergessen.
»Dann komm mal wieder da unten raus! Du willst gar nicht wissen, wie du da drunter gekommen bist...«
Schnell zog ich mir die Jogginghose über, die auf der Stuhllehne lag und verschwand aus dem Zimmer.
Als ich kurze Zeit später zurück kam, saß Audrick schon brav auf meinem Bett. Grinsend hielt ich ihm eine Schüssel Cornflakes unter die Nase und ließ einen Löffel hereinfallen.
»Lass es dir Schmecken«, lächelte ich böse.
»Warum genau meinst du, ich soll das nicht essen?«, fragte er. Ich zuckte immer noch grinsend mit den Schultern.
Mit gerümpfter Nase hob er einen Löffel der inzwischen schon schleimigen Cornflakes an seinen Mund. Das hätte ihm wahrscheinlich nicht einmal geschmeckt, wenn er es noch schmecken könnte.
»Du wirst bestimmt mal eine großartige Köchin«, sagte er und schob sich den Löffel mutig in den Mund.
Nur, um ihn danach gleich wieder auszuspucken. Widerlich!
»Was hast du da rein getan?«, fragte er laut.
»Psst!«, zischte ich. Hoffentlich hatte uns niemand gehört, »Ich habe da nichts rein getan! Daran wirst du dich gewöhnen müssen! In Zukunft wird für dich alles so schmecken... Außer... Du weißt schon...«
Ich wollte es nicht ansprechen. Ich hatte schon gemerkt, dass er sich gegen sein neues Leben wehrte.
»Wie ist... „Es“ eigentlich passiert?«, fragte ich ruhiger und setzte mich neben ihn.
Er schüttelte den Kopf und ließ die Schüssel in seinen Schoß sinken.
»Ich kann mich nicht mehr erinnern... Ich weiß, dass mir plötzlich jemand von hinten ins Ohr geflüstert hat...«
»Und was?«, fragte ich und unterdrückte den Drang, ihn in die Arme zu nehmen.
Seine Hände zitterten leicht. Doch nicht vor Trauer, sondern vor Zorn.
»Ich... Will nicht darüber reden«, erwiderte er.
»Na gut. Was ist dann passiert?«
»Es ging so schnell«, sagte er, »Ich hatte nicht mal Zeit zu blinzeln. Plötzlich wurde ich umgedreht und jemand... fiel mich an... Es war grausam. Alles, was ich gesehen habe, war ein heller Haarschopf. Wirklich platinfarben.«
Ich hatte das Gefühl, dass mein Atem nicht das einzige war, was plötzlich schneller ging. Was er da beschrieben hatte... Mir kam nur eine Person in den Sinn...
Antoine.
»Alles in Ordnung?«, fragte Audrick.
»Ja... Es ist nur... Ich finde das, was dir passiert ist, schrecklich.«
Ich versuchte, meine Gedanken um etwas anderes kreisen zu lassen, damit er nichts von der Wahrheit erfuhr.
»Was ist mit deiner Familie?«, fragte ich.
»Ich kann nicht dorthin zurück. Ich kann ihnen nicht einmal unter die Augen kommen.«
Ich konnte es mir vorstellen. Man war so glücklich... Hatte eine Familie, Freunde und überhaupt ein Leben... Und plötzlich war das mühselig aufgebaute Leben eine einzige Ruine.
»Ruf sie an. Sie werden meine Telefonnummer nicht erkennen.«
Er nickte. Ich stand auf und warf ihm das Telefon vom Schreibtisch zu.
»Was soll ich ihnen sagen?«, fragte er.
»Keine Ahnung... Sag ihnen, dass es dir gut geht. «, schlug ich vor.
Er wählte die Nummer. Ich setzte mich wieder neben ihn, um das Gespräch mitverfolgen zu können.
»Ha-hallo?«, meldete sich eine nervöse Stimme am anderen Ende.
»Della, ich bin es«, sagte Audrick langsam. Sicher schmerzte es sehr...
»Oh, Gott sei dank! Wo bist du?«, rief sie in den Hörer.
»Egal. Du sollst nur wissen«, er sah mich an, »Dass es mir gut geht.«
Ein kurzes Schweigen entstand.
»Nein! Wo bist du, verdammt? Wir haben dich schon gesucht!«
Er überlegte kurz.
»Ich... ich kann nicht mehr zurückkommen. Tut mir leid. Ich... hab dich... du weißt schon...«
Ich hörte Della noch seinen Namen rufen, als er auflegte.
»Geht es dir besser?«, fragte ich.
»Nein«, erwiderte er, »Aber wenigstens wissen sie, dass ich noch lebe und es mir gut geht.«
Wir beide begannen gleichzeitig, schwach zu lächeln.
»Was ist mit dir? Woher weißt du so viel über... über ... Vampire?«
»Na ja...«
Oh Gott, ich würde mich jetzt gleich wie eine Idiotin fühlen...
»Erinnerst du dich an Yven? ... Den Typen vom Fest?«
Er nickte interessiert.
»Was ist mit dem? Steht der auf Vampirgeschichten? Oder hat er schon mal einen Vampir gesehen?«
»Nein, erwiderte ich, »Er ist einer.«
Er starrte mich entgeistert an.
»War er es, der mich...?«
»Oh Gott, nein!«, sagte ich schnell.
Audrick schien sich plötzlich zu freuen. Worüber konnte er sich jetzt bloß freuen?
»Also bin ich nicht alleine! Ich sollte mit ihm sprechen!«
»Nein, nein, nein, nein!«, zischte ich und packte ihn an den Schultern.
Wütend schüttelte er meine Hände wieder ab.
»Warum nicht? Weshalb gönnst du mir nicht diesen Trost?«
»Mann! Empfindest du es etwa als Trost, exekutiert zu werden? Yven hasst dich!«
»Quatsch«, lächelte er, »Ich habe ihm doch nichts getan!«
Ich hob meinen angeknabberten Arm hoch.
»Er hält nicht viel davon, Menschen zu beißen. Er hat geschworen, dich umzubringen, wenn er dich findet!«
Audrick tat mich wirklich leid. Er hätte in Yven einen Freund finden können. Und ich war daran schuld, dass es nicht passieren würde.
»Tut mir leid«, fügte ich hinzu.
Doch wieder lächelte er.
»Du hast so viel für mich getan, dass ich sowieso lieber hier bleibe!«, grinste er mich an.
»Okay... Du kannst hier bleiben. Allerdings musst du wissen, dass Yven hier manchmal vorbeischaut. Es ist inzwischen zum Ritual geworden, glaube ich...«
»Dass du dir so was gefallen lässt«, sagte er kopfschüttelnd.
Wenn er wüsste... Ich hatte Dracula schon mit allem gedroht, doch nichts hielt ihn davon ab, in mein Zimmer zu kommen.
»Wir sollten dir neue Klamotten kaufen«, bemerkte ich. Er blickte an sich herunter.
»Blut steht dir nicht wirklich.«
Der Blutfleck war inzwischen bräunlich. Er hatte durch die Jacke auch das helle Shirt getränkt.
Schulterzuckend erhob er sich vom Bett. Er blickte auf mich herab und reichte mir die Hand zum Aufstehen.
Moment mal...
»Bist du gewachsen?«, fragte ich ungläubig, als ich neben ihm stand.
»Ich verändere mich?«, fragte er.
Er sah so entsetzt aus... Er tat mir leid.
»Soll ich dich einen Moment alleine lassen?«, fragte ich.
»Nein, bitte bleib.«
Ich lächelte ihm zu. Ich fühlte mich wie seine Beschützerin, obwohl ich jetzt sogar noch kleiner als er war. Er machte sogar dem Vampir-Trio Konkurrenz.
»Okay«, sagte ich, »Ich zieh’ mich noch schnell um, dann können wir los.«
»Ich warte... äh...«
Er wusste natürlich nicht, wo er hin sollte.
»Der dich einfach um«, wies ich ihn an.
Audrick folgte der Anweisung. Schnell ersetzte ich die Jogginghose durch eine normale Jeans und zog mir ein buntes Top über.
»Den Rest kann ich ja noch machen, wenn wir wieder zurück sind. Du nimmst den Weg durch das Fenster.«
»Durchs Fenster?«, fragte er ungläubig.
»Es wird nichts passieren«, seufzte ich, »Ich kenne Leute, die machen das wirklich mehrmals täglich.«

Unten wartete Audrick ungeduldig vor dem Haus. Sicherlich hatte er Angst, entdeckt zu werden.
»Wir fahren nach Greenville, das liegt hier ganz in der Nähe. Hier gibt es nur einen winzigen Klamottenladen, da ist die Gefahr, dass dich jemand erkennt, noch größer.«
Wir stiegen in den Wagen und ich startete den Motor. Keiner von uns sagte ein Wort, bis wir auf der Hauptstraße waren.
»Was zum...?«, knurrte ich.
Durch den Rückspiegel sah ich, dass mir ein protziger BMW an der Stoßstange klebte.
»Muss das jetzt sein? Überhol doch, blöder Großkotz!«
Am liebsten hätte ich jetzt eine Vollbremsung gemacht. Diese Typen hielten sich für die coolsten. Veräppelt nur die arme Kombifahrerin! Sich einen Wagen mit seiner Mutter teilen zu müssen war schon schlimm genug.
Ich gab ein wütendes Knurren von mir und versuchte, den Wagen zu ignorieren.
»Wir sind gleich da«, sagte ich zu Audrick.
Gott sei dank waren wir in Greenville angekommen. Es war die größte Stadt in der Nähe und wirklich kein Vergleich mehr zu Balestone Village.
Bei der nächsten Kreuzung bog der BMW glücklicherweise ab.
»Da wären wir«, lächelte ich.
Audrick murmelte beim Ausstaigen etwas, das ich nicht verstehen konnte. Er klang nicht zufrieden, doch das konnte auch an der Gesamtsituation liegen.
Zwei Mädchen verließen den gerade den Laden. Nicht Audrick blickte ihnen hinterher, sondern sie blickten Audrick hinterher. Er hatte nun den Vampir-Appeal.
Als wir den Laden betraten, war ziemlich viel los. Jedoch entdeckte ich niemanden, der uns kennen könnte. Mann, ich kam mir fast vor wie ein Superspion!
»Lieber pink oder lila?«, fragte ich grinsend und hielt Audrick zwei Hemden vor die Nase.
»Komm schon, das ist nicht lustig! Die werden sich alle fragen, warum Blut auf meinem Shirt ist!«, knurrte er leise.
Ich rollte mit den Augen. »Eigentlich glotzen sie alle dich an, nicht dein Hemd. Und sie fragen sich, wie es sein kann, dass du jede Seunde heißer wirst!«
Es stimmte wirklich. Es fiel nicht auf, wenn man nicht darauf achtete, doch er hatte sich verändert. Seine Haare waren heller geworden, nun waren sie golden, nicht mehr dunkelblond. Seine Augen sahen aus wie zwei Edelsteine und irgendwie wirkte er einfach stärker... Er sah fast schon aus wie Yven, Bryle und Alex!
Ich verkniff mir ein Lachen, als mir auffiel, dass ich mal wieder rückfällig geworden war. Ich durfte keine Vampire bewundern, bis auf Audrick waren die allesamt bescheuert, und er war mein Schützling.
»Komm, Ricky, jetzt suchen wir dir erst mal ein neues T-Shirt, und dann brauchst du noch was zum Wechseln«, meinte ich eifrig und zerrte ihn mit mir.
»Ricky?«, hörte ich ihn leise fragen.
»Also... Ich hab keine Ahnung, was dir steht und was dir gefällt, aber ich wird schon was schönes finden. Du wartest hier bei den Umkleiden!«
Ich ging. Audrick murmelte etwas darüber, dass doch alle Frauen gleich seien, blieb aber artig stehen.
Ich schnappte mir ein paar Shirts, die ich auf seine Größe schätzte und kehrte zurück.
»Geh da rein!«, wies ich ihn an, als eine Umkleide frei wurde.
»Ja, Mami«, murmelte er sarkastisch.
Ich reichte ihm die Shirts und zog den Vorhang zu.
»Die sind doch viel zu groß!«, meinte er von drinnen.
Ich stöhnte. Die anderen im Umleidebereich begannen zu grinsen. Was war daran lustig?
»Nein! Probier es aus!«, schimpfte ich.
»Verdammt, ich will nicht aussehen wie ein Hopper!«, knurrte er.
»Soll ich erst noch reinkommen?«
Ich verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Er übertrieb maßlos! Außerdem hatte er selbst wohl noch nicht kapiert, dass er gerade einen merkwürdigen Vampir-Wachstumsschub hatte. Dabei stand da ein Spiegel!
Er wollte es wohl nicht mal versuchen.
»So, die Zeit ist um!«, rief ich.
»Halt!«, rief er überrascht, doch das hielt mich nicht davon ab, zu ihm reinzustürmen.
Die Kabine war definitiv zu eng für uns beide, doch das musste schon funktionieren. Immerhin hatten Menschen schon sonstwas in diesen Kabinen angestellt.
»Das wirst du nicht tun!«, warnte er mich.
»Hättest du dich nicht so angestellt...«, murmelte ich und zog ihm eiskalt die Jacke aus.
»Soll ich das machen, oder willst du es selbst ausziehen?«, fragte ich und deutete auf sein T-Shirt.
»Ich mach ja schon! Geh raus!«, knurrte er nun lauter.
Als ich wieder herauskam, waren alle Augen auf mich gerichtet. Was denn?!
Ich ging wieder zu den Kleiderständern, um weiterzusuchen, falls Ricky die Sachen nicht gefielen.
In dem Moment hörte ich ein Lachen, das mir bekannt vorkam. War das etwa Anna?
Ich sah zum Eingang.
»Ach du heilige...!«, fluchte ich leise.
Anna hatte den Laden wirklich betreten. Das war nicht das Problem. Das wahre Problem war, dass sie sich bei Yven eingehakt hatte.
»Ich kauf' dir, was du willst!«, grinste er diese an.
Die Leute, die mich sowieso schon für verrückt hielten, guckten nicht schlecht, als ich mich hastig hinter dem Kleiderständer versteckte. Ich schob ein paar Kleidungsstücke zur Seite, um die beiden beobachten zu können.
Als sie damit beschäftigt waren heftig zu flirten, verschwand ich schnell wieder zu den Umkleiden.
»Lass mich rein!«, flüsterte ich Audrick hektisch zu.
»Nein! Du hast mich blamiert!«
»Bitte! Ich werde dich auch nie wieder öffentlich blamieren!«, flehte ich.
Der Vorhang wurde aufgezogen und ich sprang schnell herein.
»Was ist denn?«, fragte er.
»Pssst!«
Ich hörte, dass Yvens Stimme lauter wurde. Hatte er mich gesehen?!
»Was ist los?«, fragte Audrick erneut und gab ein Seufzen von sich.
»Egal! Zieh dich weiter um, ich verstecke mich nur!«
Ich hatte mich an die Wand gepresst, damit er genug Platz hatte, doch es reichte immer noch nicht. Welcher Idiot hatte Mini-Umkleideabinen erfunden?
»So geht das nicht«, flüsterte er, »Du musst mir helfen, wenn du hier schon verstecken spielst!«
Er war der einzige Typ, dem ich glaubte, dass er keinen Hintergedanken hatte. Er wandte mir den Rücken zu.
»Zieh mal mein T-Shirt höher... Es ist irgendwie enger geworden...«
»Siehst du?!«, rief ich stolz.
Ich hatte doch Recht gehabt... Nur Ricky schien es noch nicht zu verstehen.
Schnell packte ich sein Shirt und zog es über seinen Rücken.
»So geht das schon«, meinte er.
Grinste er etwa? Ich konnte es nicht sehen, doch ich glaubte es aus seiner Stimme herauszuhören.
»Ich grinse nicht«, meinte er, begann aber, leise zu lachen.
Stimmt, er konnte ja auch Gedanken lesen... Mann, das war echt bescheuert.
Nun rissen wir hier beide an seinem engen T-Shirt und er fand es auch noch geil.
(Kennt ihr das? Ihr steckt in einer Situation und denkt, es kann nicht mehr schlimmer kommen, und dann... Na ja, ihr wisst es.)
In diesem Moment wurde der Vorhang aufgerissen.
»Was zur Hölle...!«, schrie Audrick auf.
Yven starrte uns einen Augenblick lang entgeistert an. Dann wurde er wütend.
Ricky und er sahen sich merkwürdig an.
»Du bist also dieser neue Kerl von Jamie«, bemerkte Dracula.
Wir alle wussten, dass er eigentlich "Vampir" meinte, es aber nicht sagen konnte.
» Sie hat mir inzwischen viel von dir erzählt«, erwiderte Audrick ebenso kühl.
»Ich wünschte, ich könnte das auch sagen...«, meinte Yven und blickte nun an ihm vorbei.
Sein Blick bohrte sich durch mich hindurch.
Yven hatte wohl schon vollkommen vergessen, dass die beiden sich bereits kennengelernt hatten.
Dracula sah mich an, als wollte er etwas ernstes sagen.
»So was hätte ich niemals von dir erwartet!«, prustete er jedoch los.
Verdutzt sahen Audrick und ich uns an.
»Wir haben nicht...«, begann ich.
»Schon klar«, zwinkerte Yven.
Ich hätte erwartet, dass er nun einen Wutanfall bekam, aber nein...! Er lachte nur! Und das nicht unbedingt leise.
»Soll ich lieber wieder gehen?«, fragte er.
Ich ließ endlich Rickys T-Shirt los.
»Ja!... Ich meine nein!«, stammelte ich.
Egal, was ich erwidern würde, er würde es falsch deuten.
»Soll ich mitmachen?«
»Fick dich doch«, zischte ich und schob mich an Ricky vorbei.
Als ich wieder aus der Kabine ankam, war echt viel los hier. Die Leute sahen mich belustigt an.
»Nächstes Mal solltest du es an einem ruhigeren Ort versuchen«, riet Yven.
Ich schubste ihn genervt zur Seite.
Nun hatte ich seine Taktik verstanden. Er wollte mich vor allen Leuten hier bloßstellen.
Hinter Yven erschien Anna.
»Sag bloß, du wolltest es hier drin treiben!«, lachte sie schrill auf.
Ich öffente den Mund, um mich zu verteidigen, doch sie unterbrach mich.
»Keine Sorge, ich werde schon dafür sorgen, dass das alle erfahren!«
Ohne nachzusehen, wer eigentlich hinter mir stand, wandte sie sich zum Gehen.
»Kommst du mit?«, fragte sie Yven zuckersüß.
»Klar doch.«
Er schenkte mir ein Siegerlächeln, bevor er mit ihr verschwand.
Verdammter Mist!
»Wir haben nichts gemacht!«, schrie ich die Leute genervt an, die mich immer noch anstarrten.
Dracula hatte gerade mein Grab geschaufelt. Und seins gleich dazu.
»Wir gehen. Nimm die Shirts mit, es ist mir egal, ob sie dir passen oder nicht!«
Hastig bezahlte ich drei T-Shirts. Ich hatte wirklich keine Lust, hier noch länger zu bleiben.
Schnell ging ich an Anna und Yven vorbei, die sich wieder den Klamotten gewidmet hatten.
»Und jetzt?«, fragte Ricky mich.
»Ich hab Lust auf ein Eis!«, meinte ich deprimiert.
Zuerst schwiegen wir, als wir uns auf den Weg zur Eisdiele machten.
»Ich finde die Idee schlecht«, meinte er traurig, »Du provozierst mich damit!«
Ich hob eine Augenbraue.
»Ach ja, stimmt… Du kannst nichts essen...«, stellte ich fest, »Pech für dich.«
Wieder sagte keiner ein Wort.
»Dieser Yven...«, murmelte Ricky, »Wieso macht er so was?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Eigentlich sieht es ihm gar nicht ähnlich.«
»Wieso nicht?«
»Na ja... Normalerweise wäre er total ausgerastet und hätte dich vermutlich in der Mitte zerbrochen...«, sagte ich zögernd.
Ich dachte an den Ast zurück, den er ohne großen Kraftaufwand zerbrochen hatte.
»Ich glaube, er wusste, dass wir nichts gemacht haben«, sagte Ricky nun.
»Warum hat er mich... - ich meine natürlich uns - dann so bloßgestellt?«
Er schien zu überlegen.
»Wahrscheinlich wollte er nicht, dass du die Wahrheit erkennst.«
Ich sah ihn entgeistert an. Was sollte das heißen?
»Du weißt doch was!!«, fauchte ich nun, »Sag es mir!«
Ich wusste genau, dass er Gedanken lesen konnte, und er hatte das ja auch nicht vor mir verborgen.
»Nein... Ich glaub', das würde dich wütend machen.«
»Ricky... Falls du es nicht gemerkt hast... Ich bin schon wütend!«
Wir bogen um die Ecke.
»Guck, da gibt's Eis!«, meinte er freudig.
»Lenk nicht ab!«
Er rollte mit den Augen.
»Es ist so offensichtlich, dafür braucht man nicht einmal Gedanken lesen zu können!«
»Dann sag es mir doch!«, bettelte ich.
»Nein... Wegen dir denken alle, ich wollte 'ne schnelle Nummer in einer Umleide schieben!«, warf er mir vor.
»Das ist doch gut! Jetzt denken sie alle, du hast es drauf!«, grinste ich.
Yven hätte es gefallen, wenn er so tun könnte, als würde er mich in einer Umkleide flachlegen. Ich musste lachen.
»Siehst du? Du weißt es ja schon!«, antwortete er auf... nichts?
»Euch Vampire soll mal einer verstehen...«, seufzte ich.


Kapitel 6



Es war halb Zehn.
Ich ging den beleuchteten Weg zum prunkvollen Haus der Evans entlang und sammelte ein letztes Mal meinen Mut. Um mich herum war es dunkel.
Ironischerweise fand die Party im Haus von Kyle Evans, Davids bestem Freund, statt.
Ich fühlte mich so unwohl wie nie zuvor, als ich die Türklingel betätigte. Von drinnen hörte man die Laute Musik und spürte schon den Bass unter der Haut.
Die Tür wurde geöffnet. Überrascht stand Kyle vor mir. Ich blickte an ihm vorbei und sah, dass wohl alle Jugendlichen der Nachbarschaft anwesend waren.
»Jamie?«, fragte er ungläubig, blockierte aber den Türrahmen.
Ich war mir sicher, dass seine überraschte Miene nicht nur an meinem allgemeinen Auftauchen lag.
Ich zwang mir mein charmantestes Lächeln auf die Lippen.
»Hi«, hauchte ich und ließ meine Hand an seiner Brust entlanggleiten, während ich mich eng an ihm vorbeischob.
Das war die freizügige Jamie, die an jedem Kerl vorbei kam. Die Jamie, die ihr blondes Haar wild über die Schultern fallen ließ und ihre Lider dunkel geschminkt hatte. Diese Jamie hier hatte nichts mit mir zutun. Sie trug ein hautenges, weinrotes Kleid, das gerade einmal die Hälfte ihrer Oberschenkel verdeckte und Stilettos, mit denen man jemanden aufspießen könnte.
Das hier war die Jamie, für die ich gehalten wurde.
Ich hoffte, es fiel nicht allzu sehr auf, dass ich in diesen Schuhen nicht laufen konnte. Immerhin war das hier mein Laufsteg.
»Wo gibt's Alkohol?«, fragte ich den erstbesten Typen in meiner Nähe.
Er sah mich ungläubig an.
»Bist du... Bist du etwa Jamie?«, fragte er mit weit aufgerissenn Augen.
Ich gab ein Pornostar-Lachen von mir.
»Wenn du das erst fragen musst, muss ich wohl noch an meinem Ruf arbeiten... Also, wo gibt's hier Alk?«, wiederholte ich.
Der Typ deutete sprachlos auf einen Torbogen. Dahinter vermutete ich das Wohnzimmer.
Als ich mich durch die quatschende und tanzende Menge quetschte, spürte ich Blicke von allen Seiten. Die Mädchen sahen mich entsetzt an... Moment, nein... Das war Eifersucht. Kein Wunder, immerhin glotzten ihre treuen, festen Freunde mir nun allesamt auf den Arsch.
Okay. Um ehrlich zu sein hatte ich meinen Schlafzimmerblick fast eine Stunde lang vor dem Spiegel geübt und war mir dabei vollkommen bescheuert vorgekommen.
Dafür verfehlte er seine Wirkung nicht. Die starrten mir noch hinterher, als ich schon lange um die Ecke verschwunden war.
Erfreut stellte ich fest, dass eine halbvolle Flasche Tequila neben den Plastikbechern stand. Grinsend schnappte ich mir die Flasche. Wofür brauchte man einen Becher, wenn in der Flasche die perfekte Menge enthalten war?
»Es stimmt also, was sie sagen«, murmelte jemand hinter mir.
Ich hörte noch einige Kommentare dieser Art, ignorierte sie jedoch gekonnt und nahm einen großen Schluck aus der Flasche.
Verdammte Scheiße, das brannte vielleicht... Ich unterdrückte ein Husten.
Plötzlich ging ein Seufzen durch die Reihen der Mädchen. Eine Erdbebenwarnung hätte nicht effektiver sein können. Ich musste mich nicht umdrehen, denn ich wusste sofort, wer auf der Bildfläche erschienen war. Ich musste mich nicht umdrehen, denn ich wusste sofort, wer auf der Bildfläche erschienen war.
Die anderen Mädchen stießen mehr als einen Seufzer der Verzückung aus und trotzdem überraschte es mich umso mehr, als ich seinen kalten, süßen Atem am Nacken spürte. Eine feine Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus, während er seine Hände auf meine Taille legte. Ich spürte seinen Mund an meinem Ohr.
»Wir kennen uns noch gar nicht«, murmelte er leise, »Wie konnte ich dich übersehen?«
Ein leises Stöhnen entfuhr mir, als seine Hände tiefer rutschten. Er vergrub sein Gesicht tief in meinem Haar und atmete den Duft ein.
»Jamie...«, murmelte er plötzlich verwirrt.
Was zur Hölle tat ich hier? Verdammt, das war doch nicht möglich!
Reflexartig riss ich mich los und stieß mit dem rechten Bein nach hinten zu. Yven stöhnte auf.
Ehe ich davoneilen konnte, hatte er mich an den Schultern gepackt und umgedreht.
»Wie siehst du denn aus?«, meinte er ernst.
Ich sah, dass er sich nun einen Wutausbruch verkneifen musste. Nachdem er seine Augen kurz geschlossen hatte, hatte er sich wieder gefasst. Gott sei Dank, ich hatte keine Lust auf weitere blaue Flecken, weil er sich nicht unter Kontrolle hatte.
»Du...«, begann er, wusste aber nicht, was er sagen sollte.
»Was ist? Das gefällt dir nicht? Tut mir aber leid!«, zischte ich.
Als ich hastig einen weiteren Schluck Tequila nehmen wollte, riss er mir die Flasche aus der Hand.
»Wieso... wieso machst du das? Du... Bist nicht mehr du selbst!«, stammelte er.
Ich riss mich los.
»Ich bin alles, was ich im Moment sein will... Du stehst doch auf so was«, motzte ich.
Er war mir egal! Er raubte mir nur die Show. Ich wollte mich heute austoben!
»Du blamierst dich nur«, knurrte er zornig.
»Du hast nichts zu melden, Yven. Ich kann machen, was ich will. Geh doch zurück zu Anna und hab ein wenig Spaß. Vielleicht bist du dann lockerer.«
»Und was ist mit diesem neuen Typen? Ist er daran schuld, dass du dich so anziehst?«, meinte er und zupfte abfällig an meinem Kleid.
»Halt die Klappe«, versuchte ich, ihn zu unterbrechen.
»Dieser Typ ist nicht gut für dich! Ich kann nicht zulassen, dass er dich so verändert! Wo ist die Jamie, die alle Jungs abblitzen lässt?«
Ich schwieg einen Moment.
»Ich habe nie alle Jungs abblitzen lassen. Ich habe nur dich abblitzen lassen. Die Jamie, die du suchst, ist heute Abend zu Hause geblieben.«
»Du bist so anders...«, murmelte er leise.
»Vorhin, als du nicht wusstest, dass ich es war, hat es dir noch gefallen«, grinste ich nun böse.
Er öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder.
Die anderen Gäste sahen uns entweder amüsiert oder erwartungsvoll an.
»Wenn du mich entschuldigst, wir sind hier auf einer Party. Streiten können wir ja wieder im Schlafzimmer. In letzter Zeit bist du da ja oft zu Besuch und kommst ungebeten rein«, zwinkerte ich.
Einige Kerle grinsten Yven nun an. Da dieser immer noch nichts sagte, nahm ich die Tequila-Flasche wieder ab und kehrte ihm den Rücken zu.
Einen besseren Abgang gab es nicht. Ich sah, wie Yven sich nun ebenfalls in Bewegung setzte, um mir zu folgen.
Schnell mischte ich mich unter die Tanzfläche und nahm einen weiteren Schluck. Da erblickte ich wieder Kyle, der zufrieden an einer Wand lehnte, seine gelungene Party beobachtete und sich ein Bier gönnte.
Wieder legte ich meinen Schlafzimmerblick auf und ging auf ihn zu.
»Hey, Kyle«, lächelte ich.
Er musterte mich von oben bis unten und murmelte »Hi«.
»Lass uns tanzen«, forderte ich ihn auf.
Ehe er etwas erwidern konnte, griff ich ihn am Arm und zog ihn auf die Tanzfläche. Die Flasche drückte ich dem Mädchen, das neben mir stand, in der Hand.
Ich hatte keine Übung im Tanzen, aber es war nicht schwer, ein wenig mit dem Hintern hin und her zu wackeln und Kyle dabei immer näher zu kommen.
Yven hatte sich anscheinend einen starken Drink geholt und beobachtete nun ungläubig, wie ich mich lasziv an Kyle drängte, den das nicht zu stören schien.
Yvens Miene veränderte sich nun. Seine augen verengten sich zu Schlitzen und sein Atem ging schwerer. Gleich würde er sicher ausrasten.
Ehe Kyle ode ich zu weit gehen konnten, schleppte ich ihn weiter. Bei den Alkhoholflaschen angekommen füllte ich zwei Becher mit der ersten Flasche, die mir in die Finger kam.
Kyle streckte die Hand nach einem der beiden Becher aus.
»Ach so, du wolltest auch was? Hol's dir selbst!«
Ich stürzte einen der Becher herunter. Was auch immer das war... Es war gut! Ich nahm einen weiteren Schluck aus dem zweiten Becher und zwinkerte Yven dabei provokativ zu.
Der Becher in seiner Hand verformte sich. Er zerbrach das Plastik, ohne es zu bemerken. Sein finsterer Blick blieb unverhohlen an mir hängen.
Ein anderer Kerl kam auf mich zu und legte mir grob seinen Arm um die Hüfte. Er sah aus wie Mitte zwanzig.
»Hey Baby«, brummte er.
Sein Atem roch stark nach Alkohol.
»Was gibt's?«, fragte ich, obwohl das ja eigentlich klar war.
»Hast du Bock, von hier zu verschwinden?«
Ich rollte mit den Augen. »Such dir jemanden in deinem Alter!«
Er zog mich näher an sich. Ehe ich den Kopf hätte abwenden können, hatte er mir auch schon einen feuchten Kuss auf die Lippen aufgedrückt, der nach abgestandenem Bier schmeckte.
Wütend schubste ich ihn von mir weg und verpasste ihm eine harte, schallende Ohrfeige.
Er taumelte einen Schritt zurück und rieb sich die Wange. Sein Blick richtete sich sofort wieder auf mich. Jetzt aber war sein Gesicht vor wut und Zorn entstellt. Ehe mir klar wurde was ich getan hatte, holte er bereits mit seiner Faust aus.
Ich kniff die Augen aufeinander und machte mich auf gewaltige Schmerzen gefasst, doch es war nicht ich, die schmerzerfüllt aufschrie.
Es war der Typ vor mir. Yven hatte sein Handgelenk plötzlich fest von hinten umklammert.
»Man schlägt keine Frauen. Hat dir das niemand beigebracht?«, sagte er ruhig.
Yven war zwar jünger, aber größer und stärker als dieser besoffene Kerl.
»Geh weg«, meinte ich kühl anstatt mich zu bedanken, »Ich muss noch was erledigen.«
Als er mir wieder folgte, stöhnte ich genervt auf. Er benahm sich, als wäre er mein Vater!
In der Nähe der Haustür erblickte ich mein Ziel. Ich hatte noch eine Rechnung offen... Anna stand in einer Ecke und knutschte mit irgendeinem blonden Kerl rum.
»Hey, Anna!«, rief ich und setzte ein falsches Lächeln auf.
Sie blickte nicht auf, weshalb ich ihr eine Hand auf die Schulter legte.
»Was willst du?«, zischte sie.
»Was machst du denn da? Ich dachte, du hast schon was mit Yven am Laufen!«
Sie setzte ein zynisches Lächeln auf.
»Das sagt diejenige, die einen Quicke in der Umkleidekabine hatte!«
Der Typ neben Anna war plötzlich hellhörig geworden.
»Sag bloß Yven hat dich nicht flachgelegt«, grinste ich nun breit.
Es hätte mich zwar gewundert, aber weshalb sollte sie sonst nicht seine Nähe suchen?
»Vielleicht hat er ja gemerkt, wie du unter der zehn Zentimeter dicken Schicht Make Up wirklich aussiehst...«
Sie sagte nichts, sondern hob ihre rechte Hand. Darin hielt sie einen fast leeren Becher.
»Ups«, grinste sie und ließ den restlichen Inhalt über meinen Ausschnitt laufen.
Gelassen wischte ich mir die Flüssigkeit von der Haut.
»Ist der Fleck sehr schlimm?«, fragte ich ihren Begleiter unschuldig und rieb am oberen nassen Saum.
»Nein, nein... Das ist ein guter Fleck«, grinste dieser.
Anna sah mich ungläubig an. Dabei verhielt ich mich haargenau wie sie! Ihr Kleid war höchstens fünf Zentimeter länger als meins.
»Danke«, lächelte ich ihn an.
»Willst du was trinken?«, fragte er mich nun.
Ich war zufrieden. Nun wusste Anna, wie sich so was anfühlte... Sie stand nun wie ein Häufchen Elend in der Ecke und sah zu, wie ich mit ihrem Kerl davonspazierte.
Yven hatte ich inzwischen doch aus den Augen verloren. Gott sei Dank hatte er aufgehört mich zu verfolgen...
»Du bist bestimmt Jamie...«, meinte der Blonde lächelnd.
»Wie schön, dann muss ich mich nicht mehr vorstellen«, antwortete ich.
Er reichte mir ein Getränk. Eigentlich war er gar nicht mal so übel...
»Irgendwie hab ich dich mir anders vorgestellt«, meinte er, »So ist es nur schwer zu glauben, dass du etwas mit Davids Verschwinden zutun hast.«
Ich grinste ironisch. Mein Ruf als Schlampe machte den als Kidnapperin wett. Dabei wollte ich nur einmal ausprobieren, wie es sich anfühlte, so zu sein, wie die anderen es von mir glaubten.
Seufzend nahm ich einen Schluck. Also Wasser war das bestimmt nicht.
»Mann, ich werde noch besoffen«, lachte ich.
»Komm schon! Das hier ist eine Party! Es ist nichts Besonderes, hier besoffen rauszugehen. Es ist eher besonders, es nicht zu tun...«, erwiderte er.
»Hier rausgehen?«, fragte ich plötzlich perplex.
Hastig stellte ich den Becher ab. Nein, ich war nicht besoffen. Ich durfte nicht besoffen sein. Wenn das herauskam, war ich geliefert!
»Ich muss dann... weg«, meinte ich knapp und verabschiedete mich von dem Typ.
Die anderen sahen mir immer noch nach, als ich in Richtung Haustür verschwand. Vielleicht lag es diesmal ja daran, dass ich die Party so früh wieder verließ.
Als ich die Tür hinter mir schloss, war es plötzlich wieder ruhig. Sofort schoss mir nun eine Frage in den Kopf: Was konnte ich jetzt tun?
Ich würde niemals betrunken an meiner Mutter vorbeikommen... Ich würde nicht einmal zu Hause ankommen!
Verzweifelt versuchte ich, mich zu erinnern, aus welcher Richtung ich gekommen war. Schnell ging ich vor zur Kreuzung.
Dort lehnte jemand an der Straßenlaterne und rauchte.
War das etwa...?
»Bryle!«, rief ich erleichtert und kam näher.
Als er aufblickte, ließ er die Kippe schnell hinter seinem Rücken verschwinden.
»Jamie? Was machst du denn hier?«, fragte er mich überrascht.
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen!«, feuerte ich zurück.
Er zuckte mit den Schultern und schnippte die Zigarette unauffällig weg.
»Ich war mit Yven auf der Party. Als es mir langweilig wurde, hab ich beschlossen, frische Luft zu schnappen und draußen zu warten.«
Na ja, so frisch war die Luft auch nicht gewesen... Dass er rauchte, überraschte mich. Aber ich fand es süß, wie er versuchte, es zu verbergen.
Ich wusste, dass er meine Gedanken sowieso lesen konnte, also wieso sollte ich es aussprechen?
»Okay... Ich geb's zu, ich bin seit ungefähr 150 Jahren Raucher... Da wurden die Dinger erfunden... Und? Ich lebe immer noch!«
»Schadet es euch nicht?«, fragte ich überrascht.
Er schüttelte den Kopf. »Deshalb machen es ziemlich viele Vampire.«
Ich hörte Schritte. Als ich mich umdrehte, sah ich jedoch niemanden.
»Oh, Jamie! Ihr Menschen seid großartig!«, lachte Alex.
Ich zuckte zusammen. Meine Augen waren zu langsam für diese Typen...
Als er mich sah, blieb ihm das Lachen im Hals stecken.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte er und kam näher.
Ich musste grinsen. »Hab' meinen Ruf aufpoliert. Jetzt lieben sie mich.«
»Du bist betrunken«, stellte Bryle fest und verschränkte die Arme.
»Ach, Quatsch...«
»So kannst du nicht nach Hause gehen!«, überlegte Alex laut.
»Es gibt noch die Möglichkeit, dass du bei uns pennst...«, grinste Bryle.
Alex rollte mit den Augen und wühlte in seiner Jackentasche. Ich war nicht weiter verwundert, dass auch er sich eine Zigarette anzündete.
»Bloß nicht... Letztes Mal hat sie sich aufgeführt wie 'ne Prinzessin!«, stöhnte er und nahm einen tiefen Zug von der Zigarette.
»Stimmt nicht! Du hast dich so beschissen aufgeführt!«, feuerte ich sofort zurück.
»Sie hat mein Zimmer durcheinandergebracht! In meinen Klamotten gewühlt!«, flehte Alex Bryle an.
»Jamie, das werde ich dir ewig danken«, lachte dieser, »Alex hat sich noch zwei Tage später darüber aufgeregt!«
»Na gut, na gut... Du kannst übernachten... Aber wehe, du gehst ungebeten in mein Zimmer!«
Ich grinste. »Lasst uns gehen. Aber macht langsam, meine Füße schmerzen fürchterlich!«
Ächzend zog ich mir die High Heels aus.
»Oh Mann! Ich hätte nie gedacht, dass du so was überhaupt besitzt!«, lachte Bryle.
»Ich bin immer noch eine Frau«, grinste ich zurück.
Mann, der Boden fühlte sich schmerzhaft unter meinen Füßen an! Ich verlangsamte meinen Schritt weiter, als ich plötzlich hochgehoben wurde.
»Hey!«, quengelte ich.
Alex trug mich nun in seinen Armen Dabei lächelte er mich an und man musste schon kalt wie Eis sein, damit einem dabei nicht automatisch wärmer wurde.
»Das tu ich nur aus Mitleid«, informierte er mich.
»Jetzt kannst du nicht weiterrauchen«, stichelte ich.
»Dafür bist du zu besoffen zum Gehen.«
Ich genoss es, getragen zu werden und schloss die Augen. Es war so schön still, nur Alex begann, leise zu lachen.
»Warte mal... Glotzt du mir in den Ausschnitt?«, fragte ich und öffnete die Augen wieder.
»Ich kann nicht anders! Das Kleid wurde dafür entworfen!«, verteidigte er sich.
»Darf ich auch mal tragen?«, fragte Bryle nun.
»Zu spät, wir sind schon da«, meinte Alex und wollte mich wieder herunterlassen.
Ich legte meinen Arm bettelnd auf seine Brust.
»Nein... Trag mich gleich hoch in's Schlafzimmer, bitte!«
Alex und Bryle brachen gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Bei meinem bösen Blick verstummten sie wieder.
»Wir bringen dich in Yvens Zimmer.«
»Nein!«, protestierte ich, »Ich will ihn unter keinen Umständen sehen und erst recht nicht in seinem Bett schlafen!«
Die Haustür war wie immer nicht abgesperrt, sodass wir einfach eintreten konnten.
»Ich geb' dir erst mal was zum Anziehen. Selbst meine T-Shirts haben mehr Stoff als der Fetzen, den du anhast...«, murmelte Bryle.
Alex schleppte mich problemlos die Treppe hoch. In Bryles Zimmer - das heute nicht einmal nach Bombeneinschlag aussah - ließ er mich herunter.
»Danke, du hast was gut bei mir«, lächelte ich.
»Einmal Beißen?«, fragte Alex und setzte einen Hundeblick auf.
Ich seufzte. Er hatte es also immer noch nicht aufgegeben...
»Nö. Ich lass niemanden an mir knabbern.«
»Wieso hast du dann eine Bisswunde am Arm?«, erwiderte Bryle und öffnete seine Kleiderschranktüren.
»Yven durfte natürlich ran!«, beschwerte sich Alex sofort.
Ich beschloss, die Sache erst mal so im Raum stehen zu lassen. Schweigend nahm ich eines von Bryles Shirts entgegen.
»Wollt ihr vielleicht noch zusehen wie ich mich umziehe? Dreht euch wenigstens um!«, befahl ich.
Als sie sich abgewandt hatten, schmiss ich die Stilettos, die ich immer noch in den Händen gehalten hatte, auf den Boden und schlüpfte aus dem knappen Kleid.
Tatsächlich hatte sich keiner der beiden heimlich umgedreht, bis ich mir das Shirt übergestreift hatte.
Seufzend ließ ich mich auf Bryles Bett fallen.
»Ich bleibe gleich hier...«, murmelte ich und ließ meinen Kopf in das Kissen sinken.
»Ich penn' auch hier, das weißt du schon...«, grinste Bryle breit.
»Hm, was? Ja...«, antwortete ich, ohne richtig zuzuhören.
Meine Augen fielen schon zu. Müde zog ich mir die Bettdecke über. Morgen würde ich einfach sofort wieder verschwinden... Und jetzt würde ich...
...Schlafen.


Kapitel 7



Kapitel 7

Ich wachte in dem gemütlichsten Bett der Welt auf. Wieso war mein Bett nicht immer so weich?
»Verdammt!«
Ich riss den Kopf hoch, als mir wieder einfiel, wo ich war.
Meine linke Hand lag auf etwas weichem.
Ich drehte mich um und erschrak. Ich lag eng an Bryle gekuschelt in seinem Bett. Meine Hand war tief in seinen Haaren vergraben. Er selbst grinste mich neckisch an.
»Guten Morgen!«
Oh Mann! Wir lagen sogar zusammen unter einer Decke!
»Wieso... wieso bist du nackt?«, schrie ich auf.
Er lachte. »Bin ich nicht.«
Panisch riss ich die Bettdecke weg. Okay, er hatte nicht gelogen. Immerhin hatte er Boxershorts an... Ich wollte eigentlich nicht weiter hin starren, aber die kleinen Vampire darauf bannten meinen Blick.
»Was zum...«, murmelte ich verstört und zog die Bettdecke schnell wieder zurück.
Bryles Humor war wirklich außergewöhnlich.
Er begann zu lachen. Wahrscheinlich sah ich gerade ziemlich dumm aus der Wäsche.
»Jetzt will ich auch wissen, was auf deinem Höschen ist!«, lachte er.
Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Ihr Kerle...«
Jemand klopfte an der Tür. Fragend sah ich Bryle an, doch er zwinkerte nur zurück.
»Komm rein!«, rief er.
Wow, wenn es bei uns doch auch so wäre... Nicht immer dieses Hereinplatzen...
Yvens Stimme riss mich aus den Gedanken.
»Alter, wo warst du gestern? Du hast einiges verpasst, als...«
Plötzlich hielt er inne und starrte mich an. Langsam wanderte sein Blick zu Bryle und wieder zurück zu mir.
Sein Lächeln war wie weggewischt. Sein Gesicht zeigte keinerlei Gefühle, als er einen Schritt zurück machte und die Türklinke griff.
»Stimmt was nicht?«, fragte ich genervt.
Sicher fand er es schlecht, dass ich die Nacht bei ihnen verbracht hatte. Doch sich deshalb gleich so aufzuregen schien mir übertrieben.
Anstatt zu antworten knallte Yven die Tür mit voller Wucht wieder zu.
Bryle klatschte sich an die Stirn.
»Was war das denn?«, fragte ich ihn überrascht.
»Mein Bruder ist ein Vollidiot!«, erwiderte er entsetzt.
»Das fällt dir erst jetzt auf..?«
Seufzend schlug er die Decke zur Seite und murmelte etwas unverständliches.
Als er aufstand, kam ich nicht umhin, einen Blick auf seinen perfekten Hintern zu werfen. Selbst die kleinen Vampire linderten mein Verlangen nicht, ihn dort anzutatschen.
»Mach's doch einfach«, lachte er.
»Hm... Gucken ist viel besser als Anfassen«, murmelte ich und erhob mich ebenfalls.
Es schien ihn nicht im geringsten zu stören, dass ich ihn begaffte. Eigentlich schien es ihm sogar zu gefallen!
Lächelnd nahm er seine Hose. Ich warf ein letztes Mal einen Blick auf seinen Prachtarsch, bevor dieser unter seiner Jeans verschwand.
»Lass uns Frühstücken gehen«, schlug er nun vor.
Sein Blick blieb an meinem Körper haften. Als sein Blick an meinen Beinen hängen blieb, zog ich sein T-Shirt grimmig tiefer.
»Hoffen wir, dass ihr noch was im Kühlschrank habt«, stieß ich stöhnend hervor und folgte ihm
»Hoffen wir, dass wir nichts mehr haben!«, entgegnete er lachend.
Hastig folgte ich ihm die Treppe herunter. Mein Magen knurrte schon bedrohlich laut.
In der Küche angekommen erwartete Yven uns. Er lehnte mit verschränkten Armen gegen die Küchentheke und starrte auf den Messerblock, der vor ihm stand.
»Morgen«, lächelte ich kühl, »Gibt's auch was für mich zu essen?«
»Klar! Gibst du dich mit Cornflakes zufrieden?«, fragte Bryle und öffnete eine Schranktür.
Ich nickte begeistert. In meinem momentanen Zustand hätte ich fast alles gegessen.
Er stellte mir alles, was ich brauchte vor die Nase: Schüssel, Löffel, eine Schachtel Cornflakes und Milch.
»Aufmerksam von dir!«, lächelte ich.
Yven guckte mich nur finster an. Es gefiel ihm nicht, dass ich nett zu Bryle war und ihn ignorierte.
»Was ist eigentlich mit meinem Kleid passiert? Es lag heute nicht mehr da, wo ich es ausgezogen habe!«, sagte ich und schob mir einen Löffel Cornflakes in den Mund.
»Das hängt über dem Stuhl in meinem Zimmer. Gestern hattest du es so eilig, dass es noch am Boden lag«, erklärte Bryle.
Yven schnaubte verächtlich. Sein Bruder hingegen zwinkerte mir erneut zu.
»Willst du nicht wissen, was wir letzte nacht gemacht haben, Yancy?«, grinste er ihn an.
»Nein, danke. Ich kann's mir gut vorstellen«, erwiderte dieser nach einer Pause.
»Was haben wir denn gemacht?«, fragte ich ihn übertrieben unschuldig.
Bryle kam Yven mit einer Antwort zuvor.
»Er ist sauer, weil wir beide letzte Nacht Sex hatten!«
Ich musste breit grinsen. Anscheinend hatte Bryle das in Yvens Gedanken gelesen. Dabei hatte er uns nur kurz zusammen im Bett gesehen... Nun ja, es war die perfekte Chance, Yven eins auszuwischen.
»Ja, und was für welchen!«, stöhnte ich auf, »Endlich hat sich das mit dem Jungfrau sein erledigt!«
Bryle und ich übertrieben immer weiter. Yvens Blick wurde noch finsterer, als er endlich verstanden hatte, dass wir ihn an der Nase hreumgeführt hatten.
»Hier herrscht wohl Erklärungsbedarf...«, murmelte Bryle und wandte sich zum Gehen.
Yven und ich sahen uns schweigend gegenseitig in die Augen.
Er nahm es viel zu ernst. Wie immer.
Doch so war es nunmal: Er baute Mist, und ich rächte mich dafür.
»Wenn du jetzt ernsthaft eine Entschuldigung willst, kannst du lange warten.«
Auch ich wollte mich an ihm vorbeischieben und gehen.
Doch er hielt mich am Handgelenk fest und zog mich zu sich zurück. Nun war fast kein Abstand mehr zwischen uns.
Er atmete schwer, als sein Gesicht meinem näher kam. Sein süßer duft war nun deutlich zu vernehmen. Unweigerlich passte sich meine eigene Atmung der seinen an und bevor ich die Chance hatte, irgendwie zu reagieren, hatte er mich rückwärts geschoben und mich zwischen sich und dem Küchentreser gepresst.
Sofort spürte ich seinen muskulösen Körper an meinem. Ich schloss genüsslich die Augen, als er seine Lippen sanft auf meine Legte und blendete nahezu alles um mich herum aus.
Wage nahm ich wahr, dass er dabei mit seiner Hand unter mein langes T-Shirt fuhr, seine Hand auf meinen Rücken legte und mich so noch fester an sich zog. Seine andere Hand hatte er mittlerweile sanft auf meinen Nacken gelegt, um schon im Vorfeld jede Chance auf eine Flucht zu vereiteln.
Als er mich immer stürmischer küsste, konnte ich ein Aufseufzen nicht mehr verhindern. Erschrocken stellte ich fest, dass meine Hände auf Yvens rücken lagen und ich meine Fingernägel in sein Oberteil gekrallt hatte.
Einem kleinen Teil meines Gehirns war klar, dass ich das hier unbedingt beenden musste.
Doch seine Küsse waren einfach zu süß und mein ganzer Körper fühlte sich urplötzlich taub und doch unglaublich warm an.
Dort, wo Yven meine Haut so sanft berührt hatte, brannte sie sogar wie Feuer.
Von wem der entscheidene Impuls letzendlich ausging, konnte ich auch nicht sagen. Doch plötzlich wurde ich von Yven hastig an den Hüften gepackt und auf den Tresen geschoben. Ich wehrte mich nicht, als er sich zwischen meine Beine drängte und mich weiterhin küsste. Anstatt ihm eine Ohrfeige zu geben oder ihn irgendwie anders aufzuhalten, zog ich ihn sogar noch näher an mich.
Mit einer Hand fegte er die Cornflakesschachtel und die Schüssel von der Theke. Ich hielt nicht einmal inne, als diese auf den Boden viel und klirrend in viele Teile zersprang.
Es war so wunderbar... Yven war perfekt... Zum Glück fiel ich nicht wieder ins Schwärmen für diesen heißen, sinnlichen...
Moment, was tat ich hier? Ach egal... Ich lebe ja nicht weig... Doch... Ich wollte es nicht! Ich musste das hier aufhalten...
Mit einem unglaublichen Kraftaufwand löste ich meine Hände von seinem Rücken, legte sie dann auf seine Brust und drückten ihn mit meiner verbliebenen Kraft zurück.
Ich atmete einen Moment tief durch, um meine Gedanken wieder zu ordnen.
»Was... Was sollte das?«, fragte ich nun verlegen und zog mein T-Shirt wieder tiefer.
Er ging nicht auf meine Frage ein.
»War Bryle besser als ich?«, fragte er mich mit einem ironischen Lächeln auf seinen Lippen, die gerade noch auf den meinen gelegen hatten...
»Er war so gut, dass man ihn unmöglich übertreffen kann...«, grinste ich und gab einen übertrieben glücklichen Seufzer von mir.
»Lass mich dir das Gegenteil beweisen.«
Das Lächeln, das er jetzt aufsetzte, hatte eine wirklich außergewöhnliche Anziehungskraft. Kein Wunder, wenn man Jahrhunderte Zeit hatte, seinen Schlafzimmerblick zu üben...
Vampire waren böse. Sie waren Todesfallen. Anziehend. Betörend... Wundervoll... Unwiderstehlich.
»Ja...«, flüsterte ich.
Moment... Was?!
»Nein! Nein, nein, nein, nein, nein! Ich meinte nein! Niemals, nicht in 100 Jahren! Vergiss es, nein!«, schrie ich auf.
Ich brachte ihn nicht aus der Ruhe.
»Du hast zuerst Ja gesagt...«, schmunzelte er.
Ich schüttelte den Kopf.
»Das war ein Ausrutscher! Ich würde nicht mal mit dir schlafen, wenn...«
Er legte mir einfach einen Finger auf die Lippen.
»Irgendwann kriege ich dich... Das weiß ich«, sagte er leise.
»Ja..?«, fragte ich. Meine Stimme lang plötzlich wieder heiser.
"Ja" war schon ein verflixtes Wort...
Er gab mir einen sanften Kuss auf die Schläfe.
»Du solltest jetzt nach Hause gehen.«
»Was soll ich meiner Mutter sagen?«, fragte ich verlegen.
Seine Miene verfinsterte sich fast unmerklich.
»Erzähl ihr die Wahrheit... Also... Nun ja, bis auf den Alkohol und den "Sex".«

Sorry, das wer's erst mal! Es geht aber bald weiter!! :D

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Eigentlich sollte hier ja etwas Bewegendes stehen, doch ich kann mich wirklich schwer für entscheiden, wem ich das Buch widme. Deshalb widme ich es allen, die mich ermutigt haben, noch einen Teil dieser Geschichte zu schreiben.

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