Mike Gorden
Der gefrorene Urknall
Mystery-Thriller
2. Auflage
Erstauflage © 03.2020 by Mike Gorden
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Sah man sich das CERN auf dem Stadtplan an, so erschien es wie ein eigener Stadtteil von Genf. Die Route de Meyrin teilte das Gelände in zwei unterschiedlich große Teile. Auf dem kleineren Teil befanden sich die Gebäude des ATLAS Experiments. Unter ihnen, in 100 m Tiefe, verlief ein Teil des 27 km langen Ringes, in dem Atomteilchen auf beinahe Lichtgeschwindigkeit beschleunigt wurden. In einer großen Halle zeichneten dort unzählige Detektoren akribisch die Myriaden von Zerfallsereignissen auf, deren sie habhaft werden konnten. Es gab mehrere dieser Experimente, die über den Verlauf des Beschleunigerrings verstreut lagen. Insgesamt arbeiteten mehrere tausend Personen hier im Grenzbereich zwischen der Schweiz und Frankreich.
Stefano Magnone beging heute seinen letzten Arbeitstag. Die Ereignisse dieses Jahres hatten ihm zugesetzt. Ein fehlgeschlagenes Experiment schlug unabsichtlich eine kleine Pforte in ein Paralleluniversum, in dem alles aus Antimaterie bestand. Dieses Loch im Universum verursachte einen schrecklichen Unfall. Seine Folgen konnte man auch heute spüren, denn der Forschungsbetrieb in der Anlage lief immer noch nicht wieder in normalen Bahnen.
Sein Körper zeigte ihm mittlerweile deutlich, daß er ihn nicht mehr so belasten konnte wie früher. Der Streß in der Zeit, als sie noch einen neuen Antimaterieausbruch befürchten mußten, führte bei ihm zu einer permanenten Magenreizung, die er nur durch intensive ärztliche Behandlung im Griff behielt. So nahm er nach einigem Zögern das Angebot des Instituts an, sich frühverrenten zu lassen. Zudem bot man ihm für sein Ausscheiden eine überraschend hohe Abfindung.
Ein wenig wunderte er sich, wo das CERN so viel Geld hernahm, aber letzten Endes konnte ihm das auch egal sein. Er hatte Freunde und eine Familie, die ihn viel zu selten sahen und die geradezu begeistert waren, daß er ab nächster Woche zu Hause bleiben durfte. Außerdem lief die Zusammenarbeit mit Doktor Lies, der mittlerweile vom Leiter der Anlage zum Institutsdirektor aufgestiegen war, nach wie vor nicht sonderlich gut. Er behandelte ihn zwar meistens ausgesucht höflich. Unter der Oberfläche blieb er aber das gleiche Ekel, als das er sich nach dem Ausfall der Institutsleiterin vor einigen Monaten erwiesen hatte. Stefanos Albträume verschwanden mit dem Erlöschen der Aktivität der Anomalie im Detektor wieder, aber wer wußte schon, wie lange das anhielt, sobald Lies das Arbeitstempo wieder anzog.
Nur seine Mitarbeiter taten ihm leid. Er hatte ihnen durch seine unangreifbare Position das Leben etwas leichter machen können. Das fiel jetzt weg. Zum Glück hatte sich ausgerechnet Aurel Favre in den letzten Monaten sehr positiv entwickelt. Er würde nach ihm den Posten des technischen Leiters einnehmen und Stefano konnte sich keine bessere Besetzung vorstellen. Die Erlebnisse, die zu Favres Zusammenbruch geführt hatten, waren vergessen. Er kam jetzt mit allen gut aus, auch mit Doktor Lies, und sein sensationelles Gespür für die Befindlichkeiten des Maschinenparks, der hier unten in der Detektorkammer lief, hatte sich nicht geändert.
Ihm gegenüber saßen gerade Urs, Francine und Jacques. Sie vier waren seit Jahren ein gut eingespieltes Team und verstanden sich auch ohne viele Worte. Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Auf dem Tisch stand ein Käsekuchen, den Francine gebacken hatte. Daneben befanden sich ein kleiner Stapel Teller und ein Becher mit Kuchengabeln.
»Wo bleibt Aurel?«, brach Jacques das Schweigen. »Ich habe mir extra das Mittagessen verkniffen, als ich gehört habe, daß Du Käsekuchen mitbringst. Jetzt habe ich Hunger.«
»Halte durch«, sagte Francine und fügte mit einem Blick auf sein deutlich spannendes Jackett hinzu: »Du wirst schon bis dahin nicht verhungern.«
Favre kam nach wenigen Minuten mit einem Schreibblock unter dem Arm an, entschuldigte sich fahrig für die Verspätung und setzte sich zu den anderen. Francine schnitt Stücke von ihrem Kuchen ab und verteilte sie in der Runde, bis jeder einen gefüllten Teller vor sich stehen hatte.
»Laßt es euch schmecken«, sagte sie schließlich. »Ich finde es jammerschade, daß Du in Rente gehst, Stefano, aber ich wüßte auch niemanden, der es mehr verdient hätte als Du.« Die anderen nickten und langten zu.
»Danke euch allen«, antwortete der geschmeichelt. »Ich werde das hier vermissen. Auch wenn ich mich zu Hause sicher keine Minute langweilen werde. Wir haben noch viel vor. Eine längere Reise beispielsweise.«
»Ich kann Dir gar nicht sagen, wie ich euch beneide«, sagte Favre.
»Und ich erst«, ergänzte Francine. »Sag mal, Aurel, ist etwas nicht in Ordnung mit Dir? Du hast seit einigen Tagen rote Augen. Eine Allergie?«
»Es ist nichts. Ich habe schlecht geschlafen. Du hast sicher auch schon die große Einkaufsliste für nächsten Monat bekommen?« Francine nickte.
»Bin ich froh, daß ich mich damit nicht mehr befassen muß«, sagte Stefano. »Mein Internist meinte letzten Monat, daß ich kurz vor einem Magengeschwür stünde und in Zukunft unbedingt ruhiger leben muß. Ich will gar nicht mehr wissen, was Doktor Lies für die nächste Zeit alles plant.«
»Doktor Lies plant in der Tat einiges«, klang es von der Zimmertüre. »Aber es stimmt, daß Sie sich damit nicht mehr belasten müssen, Doktor Magnone. Die Meßwerte im Detektor sind wieder normal und wir können endlich auch im ATLAS neue Experimente durchführen. Natürlich unter Berücksichtigung der Ereignisse des Frühjahrs und mit aller gebührenden Vorsicht.«
Lies trat ein und trug eine Magnumflasche Champagner mit sich, die er mit einem Schwung auf den Tisch stellte, daß die Löffel auf den Untertassen leise klirrten.
»Wir haben doch sicher Gläser hier?«, fragte er in die Runde. »Heute wollen wir unseren Monsieur Magnone noch einmal hochleben lassen.«
Urs stand auf und holte sechs Gläser aus der benachbarten Küche. Lies öffnete die Magnum und füllte die Gläser mit ungeahnter Professionalität, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.
»Zum Wohl«, sagte er, nachdem sie alle angestoßen hatten, »auf unseren lieben Doktor Magnone, der uns leider verlassen muß. Heute ist Ihr Tag. Genießen Sie ihn!«
Kaum hatten sie angestoßen, hatte er es aber auch schon wieder eilig. »Ich würde gerne noch ein wenig hierbleiben, aber ich muß jetzt zu einer Telefonkonferenz mit einer Investorengruppe. Sie verstehen das doch sicher«, sagte er augenzwinkernd in die Runde und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
Alle saßen verblüfft und wortlos zusammen, bis Francine das Wort ergriff: »Kann es sein, daß er sich wirklich geändert hat?«
»So fröhlich und aufgeräumt wie heute habe ich ihn noch nie gesehen«, fügte Jacques hinzu.
»Vielleicht hat er eingesehen, daß man ein Institut nicht als Alleinherrscher führen kann und gibt sich Mühe.«
»Vielleicht hat er auch nur Kreide gefressen«, sagte Urs.
Der Champagner schmeckte allen. Lies hatte sich nicht lumpen lassen und so hielt die Flasche nicht lange vor. Stefano konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann er zuletzt im Institut so fröhlich gewesen war.
Leicht angeheitert löste sich die Runde nach einer Weile auf. »Leute, ihr wißt, daß ihr viel mehr für mich seid als nur Teamkollegen. Ihr seid über die Jahre meine Freunde geworden. Du auch, Aurel!«, sagte er einem sichtlich überraschten Favre. »Darum fällt es mir auch wirklich schwer, zu gehen. Aber es muß sein. Es war eine schöne Zeit mit euch, aber ich habe jetzt einen neuen Lebensabschnitt vor mir, auf den ich mich freue. Ich hoffe, daß wir uns bald einmal wiedersehen.«
Beifälliges Nicken in der Runde zeigte ihm, daß er allen aus der Seele gesprochen hatte. Stefano umarmte jeden einzelnen zum Abschied herzlich und verließ danach beschwingt den Raum. Er fuhr zum letzten Mal mit dem Aufzug nach oben, spazierte durch die Halle, nickte den Wachmännern zu und ging über den Parkplatz zu seinem Wagen.
»Francine, meinst Du, ich darf noch ein Stückchen von Deinem Käsekuchen essen?«, fragte Jacques unten.
Mike Peters stand vor einem Abzug, in dem sein Experiment lief. Die Vorbereitungen dafür kosteten ihn den ganzen Vormittag und so hatten sie bereits Nachmittag, als er den Temperaturregler des Heizpilzes endlich hochdrehen konnte. Er kochte einen Grignard und wartete, daß der ansprang. Aber die Magnesiumspäne glänzten und glitzerten nur im Schein des Halogenstrahlers und machten keine Anstalten, sich mit dem Reagenz zu verbinden. Mike schwitzte. Etwas stimmte mit der Klimaanlage nicht. Er schob in Gedanken seine Schutzbrille nach oben, damit sie nicht von innen beschlug und stellte den Magnetrührer eine Stufe höher. Die einzelnen Späne konnte er jetzt kaum noch erkennen. Die ganze Flüssigkeit glänzte, als handele es sich um Quecksilber. Der Rotationstrichter in der Mitte des Kolbens vertiefte sich. Kein Erfolg. Mike erinnerte sich an eine Aphorismensammlung, die im Fachbereich kursierte. Ein kleines Büchlein mit Sprüchen der Professoren, die ein Assistent zusammengetragen hatte und die für jeden Problemfall Aufmunterung versprachen. 'Ob ein Grignard anspringt oder nicht, das hängt gelegentlich auch vom Stand der Gestirne ab.' stand dort zu seinem Problem geschrieben. 'Vielleicht stehen die Gestirne heute ja falsch', dachte Mike sich und drehte den Temperaturregler des Heizpilzes weiter nach oben.
»Schon wieder ohne Schutzbrille?«, erklang eine spöttische Stimme hinter ihm. Mike fuhr zusammen und erblickte Lies, einen der Postdocs, die das Drittsemesterpraktikum im Auftrag eines Organik-Professors durchführten. »Arbeite doch wenigstens hinter der Schutzscheibe!«, sagte er, und zog eine in den Abzug eingebaute Plexiglasscheibe nach unten, bis sie sich zwischen Mike und seinem Experiment befand. »So geht das!«
Mike zog die Brille schuldbewußt wieder ins Gesicht. »Wenn Du weiter so herumschleichst und Leute erschreckst, passiert eines Tages wirklich genau der Unfall, den Du mit Deiner Warnung vermeiden willst.«
»Ich bin hier bald weg. Ich habe gerade eine Zusage bekommen. Nächsten Monat fahre ich in die Schweiz. Du aber befindest Dich erst am Anfang Deines Studiums und wenn Du nicht lernst, die Regeln zu befolgen, wirst Du nicht weit kommen.«
Mike hörte ein leise Zischen und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Grignard. Leider zu spät, denn der war nun doch noch angesprungen. Aufgrund der höheren Temperatur allerdings viel zu schnell. Die Reaktionsflüssigkeit hing zusammen mit einigen, verbliebenen Magnesiumspänen in den Schlangen des Rückflußkühlers und in der Vorlage, in der sich eigentlich nur das spätere Reaktionsprodukt hätte sammeln sollen. Er hatte heute also umsonst gearbeitet. Morgen würde er einen neuen Ansatz starten müssen, um das Praktikum erfolgreich zu absolvieren. Vorher mußte er alles putzen und trocknen. Sorgfältig und lange.
»Danke!«, sagte er frustriert und drehte sich wieder um. Lies hatte sich aber schon wieder entfernt. Genauso lautlos, wie er plötzlich hinter ihm gestanden hatte.
Mike erwachte und rieb sich die Augen. Ein matschiger Lichtbrei drang durch die dicht geschlossenen Vorhänge. Draußen mußte bereits heller Tag sein. Es dauerte ein wenig, bis er erkannte, daß er zu Hause in seinem Bett lag. Gelegentlich suchten ihn immer noch diese Erinnerungsschübe heim. Es handelte sich dabei um Nachwirkungen eines nicht dreidimensionalen Panoramas, das er sich vor gut einem halben Jahr angesehen hatte und dessen verstörenden Anblick seine Gehirnzellen nur mittelgut vertragen hatten. Von Zeit zu Zeit rächten sie sich bei ihm und schickten ihm Erinnerungen an unangenehme Situationen, von denen er gehofft hatte, sie niemals wieder erleben zu müssen.
In den letzten Monaten kamen diese Schübe seltener, so daß ihn dieser jetzt kalt erwischt hatte. Bestimmt war die Silvesterparty im Cox am vergangenen Abend schuld. Es ging hoch her und sie alle hatten den Abend über einiges getrunken. Der Mitternachtschampagner aufs Haus vertrug sich nicht gut mit den Bieren, die Mike bis dahin trank.
Danach zogen sie um die Häuser. Er erinnerte sich, daß er sehr eng mit einer Dragqueen tanzte, die ihn auf ihren Highheels um gut einen Kopf überragte, obwohl er wirklich nicht klein war. Hatte er Martin und Marie wirklich Hand in Hand an der Tanzfläche gesehen? Er bedauerte, daß Maurice sich von dieser Art Veranstaltungen immer fernhielt. Er tanzte viel lieber mit ihm.
Mehrere Nummern später ertönten die ersten Klänge von 'Salma Ya Salama' und einige arabisch kostümierte Go-Go-Tänzer stürmten die Bühne über der Tanzfläche. Die Stimmung im Club war am Überkochen und Mike verausgabte sich beim Tanz völlig.
Dann stand plötzlich dieser zartgliedrige, verhuschte Junge vor ihm. Mike erinnerte sich gut. Es handelte sich bei Gilles eigentlich um einen Bekannten von Maurice. Er arbeitete in der IT der Polizei und sie kannten sich vom Sehen. Offiziell bekam er erst mit ihm zu tun, als er Sébastien Girouds Notebook aus der Forensik abgeholt hatte.
Bei Sébastien hatte es sich um seinen engsten und eigentlich einzigen Freund gehandelt. Sie kannten sich aus ihrer Studienzeit. Er wurde im vergangenen Jahr ermordet und sein Tod nahm Mike sehr mit. Im Zuge der polizeilichen Untersuchungen geriet er kurzzeitig ins Visier der Ermittler und lernte dabei Maurice kennen. Sébastien hatte Mike als Vollstrecker seines digitalen Testaments eingesetzt, so daß er nach Abschluß der Morduntersuchung sein persönliches Notebook erhielt. Mike flirtete beim Abholen des Geräts ein wenig mit Gilles und der hatte ihm daraufhin seine Handynummer zugesteckt. Danach telefonierten sie einige Male. Eigentlich fand Mike ihn zu schüchtern und eher ein bißchen langweilig. Gestern abend war Gilles aber wie ausgewechselt, redete wie ein Wasserfall und wich ihm nicht von der Seite.
Und jetzt hatten sie Neujahr und er konnte ausschlafen. Sie konnten ausschlafen. Mike drehte sich noch einmal im Bett um und umarmte den Körper, der neben ihm schlief. »Guten Morgen Gilles«, sagte er zärtlich. »ein frohes Neues Jahr!«
Die Dunkelheit draußen begann gerade, einem kraftlosen Grau zu weichen, das die Umgebung mehr zukleisterte als erhellte. Martin Moser ging durch die Redaktion des 'Magazine de la Science', einer populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift, und leerte die kleinen Papierkörbe an den Arbeitsplätzen in einen großen Müllsack. Die Putzkolonne hatte es in der Nacht wohl besonders eilig gehabt. Als ausgesprochener Morgenmensch entfaltete er seine größte Produktivität, wenn er allein war. Deshalb begann er seinen Tag gerne vor allen anderen. Er hatte unlängst eine halbe Stelle bekommen und arbeitete jetzt als Schnittstelle zwischen dem 'Magazine' und einer Reihe von Forschern. Klotho Papantoniou, die Leiterin einer geheimen Organisation von Wissenschaftlern mit dem erklärten Ziel, die Menschheit vor sich selbst zu schützen, löste damit ein Versprechen ein, das sie im letzten Jahr Mike Peters, seinem Chef gegeben hatte. Sein Team und Moíra, so hieß die Organisation, hatten mit vereinten Kräften einen katastrophalen Unfall am Large Hadron Collider im CERN verhindern können. Mike Peters hatte dadurch eine Art Vertrauensstatus für diese Organisation erlangt und erhielt von Zeit zu Zeit Informationen über sensible Forschungen.
Nicht alle dieser Forschungen führten auch zu Artikeln, die es bis in die Printversion schafften. Einigen Stoff hielt man für zu komplex für die Leser des 'Magazine', und plazierte ihn in speziellen Fachmagazinen. Andere Themen erwiesen sich als zu brisant, um sie gleich zu veröffentlichen. Unterm Strich konnten sie aber genügend publizieren, um die Verlagsleitung bei Laune und seinen Arbeitsplatz sicher zu halten.
Martin hatte die Aufgabe, diese Kontakte zu koordinieren. Viele dieser Wissenschaftler lebten in Ländern, die die Freiheit der Forschung einschränkten. Wenn sie sich am wissenschaftlichen Diskurs in ihren Fachgebieten beteiligen wollten, konnten sie das nicht auf öffentlichen Wegen tun. Martin schrieb viele Mails, warb um Vertrauen, stellte anonyme Postfächer bereit, organisierte verschlüsselten Speicherplatz auf den Servern von Moíra, auf dem die Forscher ihre Arbeiten ablegen und sich austauschen konnten und hielt Mike über die Ergebnisse auf dem Laufenden.
Er hatte jetzt Zeit und Geld, um ein wenig Sport zu treiben, und wirkte wesentlich reifer und erwachsener als früher. Seine Haut war reiner und man hatte ihn sogar schon einmal laut lachen gehört. Schüchtern verhielt er sich immer noch, aber innerhalb des Redaktionsteams galt er als vollwertiger Mitarbeiter und alle erkannten seine Leistungen an.
Marie Bouesnard erschien im Eingang des Großraumbüros, in dem sich ihre Arbeitsplätze befanden. Sie trug eine große Einkaufstasche und schien etwas außer Atem zu sein. Ihr sonst immer perfektes Makeup konnte selbst nach einem Tag die Spuren der Neujahrsnacht nicht ganz verdecken. Am Silvesterabend unternahmen sie alle mit Mike und einigen seiner Freunde im Marais etwas und draußen wurde es bereits hell, als er wieder nach Hause kam.
Martin und Marie kamen sich in den letzten Monaten näher. Ihr berufliches Verhältnis hatte sich zu einer engen Freundschaft gewandelt. Martin glaubte sich zu erinnern, daß sie frühmorgens sehr eng miteinander getanzt hatten. Vielleicht handelte es sich dabei aber auch um Wunschdenken, denn über die letzten Stunden der Nacht hatte der Alkohol einen Schleier des Vergessens gezogen.
»Coucou Martin!«, rief sie ihm fröhlich entgegen. »Ist sonst schon jemand da?«
»Salut Marie«, antwortete Martin im gleichen Tonfall, der ihm immer noch schwerfiel. »Wir sind die ersten. Wie immer.«
»Sehr gut. Ich habe nämlich Croissants eingekauft und möchte sie unauffällig in Mikes Büro aufbauen.«
»Eine gute Idee!«, sagte Martin erfreut und Marie verschwand im Büro.
»Bring schon mal die Kaffeemaschine zum Laufen!«, rief sie ihm durch die halb geöffnete Tür zu.
Er folgte ihrer Bitte. Den Job machte er sogar besonders gerne. Die Verlagsleitung hatte dem Büro nämlich zu Weihnachten einen Kaffeevollautomaten spendiert, der sich auf dem heutigen Stand der Technik befand und seinen Namen verdiente. Chromglänzend stand er auf der Arbeitsfläche der Büroküche und war darauf programmiert, auf Knopfdruck etwa ein Dutzend Kaffee-, Tee- und Kakaospezialitäten zuzubereiten. Kein Vergleich zu der bitteren, schwarzen Brühe, die sein vorsintflutlicher Vorgänger in Plastikbecher ausgespien hatte.
Er schaltete die Maschine ein und beobachtete fasziniert die vielen Blinklichter, die nacheinander aufleuchteten, während sich die Maschine aufheizte. Er drehte den Wasserhahn wieder auf und kontrollierte den Füllstand der Kaffeebohnen, die jetzt für jeden Becher frisch gemahlen wurden. Eigentlich wäre das Aufgabe der Praktikanten gewesen, aber Martin störte sich nicht daran.
Vor gar nicht so langer Zeit war er selbst noch einer gewesen. Daß er heute nicht wieder auf der Straße stand, wie seine damaligen Praktikumsgenossen, verdankte er nur einer Reihe von Zufällen und seinen Beziehungen zu einer Gruppe von Hackern. Nur mit ihrer Hilfe hatten sie bei der großen Krise am CERN im vergangenen Jahr in die dortigen Systeme eindringen und einen vorzeitigen Neustart des Beschleunigers unterbinden können.
Die nächsten Gesichter erschienen zwischen den Schreibtischen. Auch die anderen Bereiche der Redaktion kamen jetzt zur Arbeit, die meisten mehr oder weniger verkatert von den vergangenen Feierlichkeiten. Beatrice Rousseau aus der Archäologie trug eine überdimensionale Sonnenbrille und bemühte sich, von möglichst wenigen Leuten gesehen zu werden. Als Marie ihr ein lautes »Coucou, ma Chérie! Gehen wir heute als Elton John?« entgegenschmetterte, zuckte sie gequält zusammen und verschwand mit verblüffender Geschwindigkeit hinter ihrem Rechner.
Zwei Personen schienen neu hier zu sein. Sie standen einige Zeit unsicher im Eingangsbereich herum. Martin erkannte sie als die beiden neuen Praktikanten, die heute ihren ersten Arbeitstag hatten. Er ging auf sie zu.
»Willkommen im Team!«, begrüßte er sie. Er führte die beiden, die sich ihm als Guillaume Garçon und Emil Rotik vorstellten, zu ihren neuen Arbeitsplätzen und wies sie ein.
Guillaume wirkte ein wenig zappelig und nervös, was auch seinem hageren Körperbau und den langen Gliedmaßen geschuldet war. Martin beschäftigte sich zuerst mit ihm. Er stellte ihm beiläufig einige technische Fragen und die Antworten stellten ihn zufrieden.
»Ich will etwas mit IT studieren, habe aber in diesem Jahr keinen Studienplatz bekommen«, sagte er, als er seinen Rechner hochfuhr. Martin konnte von oben auf seinen Kopf sehen und war für einen Moment fasziniert von den blonden Haaren, die so hell aussahen, daß sie fast transparent wirkten und man meinte, durch sie hindurch auf seine Kopfhaut blicken zu können.
»Du wirst sehen, daß Du hier etwas Nützliches mit Deiner Zeit anfangen kannst«, antwortete er. »Unser Netzwerk ist nicht ganz unkompliziert und Leute, die zwischendurch auch mal ein paar Zeilen Code schreiben können sind bei uns besonders willkommen.«
Guillaume selbst stellte auch Fragen zur Struktur des Netzwerks in der Redaktion. Er wirkte auf Martin wach und interessiert und war nicht auf den Mund gefallen. Er würde sich bestimmt nützlich machen können.
Kleiner und kompakter stand Emil neben ihm. »Ich stamme aus Brno«, sagte er und rollte das 'r' dabei so, daß Martin keinerlei Zweifel an seiner tschechischen Herkunft hatte.
»Ich bin eigentlich Grafiker, auch kein schlechter, aber ich gehöre nun mal zur… wie sagt ihr… 'Generation Praktikum'?«
Da jetzt auch Mike auftauchte, nahm Martin sie gleich mit in dessen Büro. »Was auch immer ihr hört, redet ihn bitte immer mit 'Mike' an, niemals mit 'Michel', wenn euch euer Leben lieb ist«, sagte er unterwegs halb im Scherz zu den beiden. Mike redete nie darüber, warum er seinen wirklichen Vornamen nicht mochte, aber er reagierte meist ziemlich humorlos, wenn man ihn so nannte. Martin geriet vor einiger Zeit auf diese Art auch einmal in seine Schußlinie und erinnerte sich nicht gern an diesen Abend.
Mike holte aus dem kleinen Kühlschrank, den sie im letzten Jahr gekauft hatten, zwei Flaschen Champagner. Passende Gläser dafür gab es nicht und so mußten sie sich mit dem Restbestand Plastikbecher aus dem alten Kaffeeautomaten behelfen. Das störte aber niemanden.
Nachdem er den Champagner eingegossen hatte und sich alle ein frohes neues Jahr wünschten, hielt Mike eine kleine Begrüßungsansprache und bezog die beiden neuen Praktikanten gleich mit ein, die zu Beginn noch etwas verloren in einer Ecke standen.
»Ihr seid hier zunächst nur auf Zeit«, sagte er zu ihnen, »aber so lange seid ihr Teil eines Teams. Ein Team, dessen Aufgabe es ist, jeden Monat einige spannende und gut recherchierte Artikel für das 'Magazine' beizusteuern. Jeder von uns hat besondere Fähigkeiten, aber nur gemeinsam schaffen wir es, ein konstant gutes Ergebnis abzuliefern.«
Guillaume und Emil nickten. »Ihr werdet euch in den nächsten Tagen in der Gruppe umsehen. Zusammen werden wir herausfinden, wo und wie ihr euch am besten einbringen könnt. Danach werdet ihr einem von uns zugeteilt. Wenn es euch hier gefällt, wenn ihr gut seid und euch unentbehrlich macht… fragt Martin. Der hat es geschafft.«
Martin fühlte sich plötzlich unwohl. Als Vorbild fand er sich nicht sonderlich geeignet und er hätte sich jetzt am liebsten hinter seinen Rechner zurückgezogen. Aber Mike sagte die Wahrheit. Er hatte sich hier wirklich unentbehrlich gemacht und dabei gelernt, Verantwortung zu übernehmen.
»Sieht so aus, als hättest Du die beiden in den nächsten Tagen an der Backe«, neckte ihn Marie, als sie wahrnahm, daß die beiden Neuen ihre Aufmerksamkeit nun auf ihn fokussierten.
»Keine Sorge, wir lassen Dich nicht hängen«, sagte Mike freundlich. »Finde einfach heraus, was die Jungs können und reiche sie dann einem von uns weiter. Martha, unsere Bildredakteurin«, Mike blickte dabei auf eine rundliche, farbige Dame, die in der Runde saß, »beklagt sich beispielsweise seit Monaten, daß ihr die Bildrecherche zu viel wird, seit unsere Produktivität im letzten Jahr so gestiegen ist.«
Martha nickte eifrig. »So, und nun langt zu. Marie, Du hast uns einen prima Start ins neue Jahr verschafft. Das werden wir Dir nicht vergessen!«
»Ich werde Dich dran erinnern, wenn ich hier das nächste Mal am Wochenende auflaufen muß, mon cher Michel«, kicherte Marie und Mike seufzte.
»Also ich finde, Michel ist ein schöner Name«, sagte Guillaume. »Meine Maman war ja so fantasielos!« Er stockte abrupt, als ihm das eisige Schweigen in der Gruppe auffiel. Dann schlug er sich dramatisch die Hände vors Gesicht. »Oh, mon dieu! Ich muß mal eben … für kleine Königstiger«, hörten sie noch. Dann klappte die Bürotür hinter ihm.
»Ich habe das Gefühl, hier sind Homosexuelle im Saal.« Mit dieser Bemerkung rettete Marie die Situation und alles löste sich in fröhlichem Gelächter auf.
»Womit das geklärt wäre.« Selbst Mike mußte lachen.
»War ich damals auch so leicht zu durchschauen?«, fragte er später im Gedanken an seinen eigenen ersten Tag in dieser Gruppe.
»Viel leichter.« Marie legte verschwörerisch einen Finger über ihre Lippen.
»Ich muß an mir arbeiten.«
»Mußt Du nicht!«
Maurice saß in einer Shishabar in Saint Denis und trank einen gewürzten Tee. Die Bar lag nur einige Straßen entfernt von dem Viertel, in dem er aufgewachsen war. Draußen gingen gerade die Laternen an. Der Barmann hatte das Licht gedimmt, so daß man trotz des Dunstes im Laden durch die großen Fensterfronten die Straße beobachten konnte.
Die Straßenlaternen offenbarten ihm ein ödes Panorama. Nur wenige Leute – meist handelte es sich um Männer – trauten sich bei Dunkelheit noch auf die Straße. Bei den Hochhausblöcken auf der anderen Straßenseite hatte es sich früher einmal um zeitgemäße und moderne Wohnanlagen gehandelt. Nach einigen Jahrzehnten ohne jegliche Renovierung verströmten die Plattenbauten mit ihren winzigen Appartementzellen aber einen eher morbiden Charme. Die meisten trugen auf ihrem Balkon eine Satellitenschüssel, so daß im Halbdunkel der Laternen und der Lichter in den Fenstern der Eindruck entstand, als wären die ganzen Blöcke über und über von einem monströsen Pilz überwuchert.
Maurice besuchte diesen Laden heute nicht wegen des Ausblicks. Ihm gegenüber saß Tahir Habib, ein Bekannter aus den Jahren, in denen er hier noch gelebt hatte. Tahir sah auch heute noch gut aus. Er lachte viel und seine Augen strahlten dabei, so daß sich jeder in seiner Gegenwart wohl fühlte. Maurice erinnerte sich, daß er ihn für kurze Zeit sogar geil gefunden hatte, als sie im selben Studio trainiert hatten. Mittlerweile hatte aber ein geregeltes Eheleben seine Spuren hinterlassen. Sein Leib und auch seine Gesichtszüge bekamen Fülle und er bewegte sich gemächlicher als früher. Dennoch – wenn er einen seiner Witze riß und ihn dabei frech angrinste – fühlte Maurice sich um viele Jahre zurückversetzt in die Zeiten, in denen sie an jedem Wochenende zusammen um die Häuser zogen.
»Du solltest uns mal wieder besuchen, Rice«, sagte Tahir gerade zu ihm. »Nadine würde Dich gern kennenlernen. Ich habe ihr viel von unseren gemeinsamen Zeiten erzählt.«
Maurice zuckte zusammen, als er den Spitznamen hörte, mit dem man ihn damals immer gerufen hatte. »Ja, unsere Zeiten waren echt die besten. Du und ich im Sportstudio. Ich mußte Deine Gewichte halten. Ich habe mich echt zu lange in Paris verkrochen. Wird Zeit, daß sich das ändert. Ich habe das hier vermißt.«
»Ich Dich auch. Das Sportstudio hatte ich verdrängt. Aber es hat immer Spaß gemacht, mit Dir auf die Piste zu gehn, als Du Deine erste eigene Bude hattest. Wo wohnste jetzt eigentlich?«
»Der Name Nadine klingt aber nicht, als hätte Dein Vater die Frau für Dich ausgesucht.« Maurice tat so, als hätte er die Frage nicht gehört.
»Natürlich nicht. Du hättest seinen Blick sehen sollen, als ich sie ihm vorgestellt habe. Aber ich bin rechtzeitig bei ihm ausgezogen. Ich habe nen Job gefunden in nem Callcenter. Für eine kleine Wohnung hier reichts und Nadine verdient auch noch was dazu.«
Tahir sprach manche Worte noch wie ein Banlieusard, ein Akzent, den auch Maurice mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Seit er im Marais arbeitete, hörte er ihn nur noch selten.
»Guter Mann!«, sagte er anerkennend zu Tahir. »Ich finde auch, daß Ehe was mit Liebe zu tun haben sollte, und nicht mit religiösen Vorschriften, die seit Jahrhunderten keiner mehr versteht.«
Maurice lehnte sich mit dieser Bemerkung ziemlich weit aus dem Fenster. Immerhin war Tahir sicherlich Moslem und erwartete das auch von ihm. Er tippte aber darauf, daß sein Gegenüber eine eher liberale Einstellung dazu hatte, wenn er schon seiner Frau wegen einen Bruch mit dem Elternhaus riskierte. Außerdem hatte ihre Unterhaltung sowieso nur dann Sinn, wenn er mit ihm einigermaßen offen reden konnte.
Tahir lachte nur kurz auf. »Recht haste. Du mußtest Dich im letzten Sommer auch Deiner Haut wehren, habe ich gehört. Dein Vater hatte doch nen richtig großes Ding mit Dir geplant, als Du im Krankenhaus lagst. Das hat hier ordentlich Wellen geschlagen, als er unverrichteter Dinge wieder abziehn mußte.«
Damit hatte Maurice die Klippe umschifft. Er hakte diesen Punkt innerlich ab und lächelte dann gequält, bevor er Tahir antwortete: »Das war verflixt knapp. Gut, daß ich Freunde habe, die mir damals geholfen haben, sie abzuwimmeln. Außerdem steh ich nicht so auf Frauen.«
»Das habe ich mir früher schon gedacht. Du warst zu schüchtern mit den Mädels. Was haste seinerzeit eigentlich genau mit Marlon angestellt? Der hat mich regelmäßig abgezogen und weil er mich mit etwas erpreßt hat, konnte ich mich auch nicht richtig wehren gegen ihn. Von einem auf den andern Tag hat er mich in Ruh gelassen und ich hatte immer den Verdacht, daß Du Deine Finger im Spiel hattest.«
»Das willste nicht wissen. Glaub mir. Womit hat er Dich denn erpreßt?«
»Ach, es war nix. Dein Vater ist jedenfalls stocksauer wegen der abgesagten Hochzeit. Du solltest Dich dort besser nicht mehr sehen lassen. Ich habe mitbekommen, daß Deine Brüder Dich suchen und zur Rede stellen wollen.«
»Meine Brüder können mich mal.«
»Nimm das nicht auf die leichte Schulter, Rice!« Tahir blickte plötzlich sehr ernst. »Ich seh Dir an, daß Du Dich Deiner Haut wehren kannst. Aber gegen nen Messer im Dunkeln bist auch Du machtlos. Treib Dich lieber nicht zu oft hier in den Vorstädten rum. «
Maurice wußte aus eigener Erfahrung, wie machtlos er gegen einen Messerstich war, der unerwartet kam. »Ich sehe mich schon vor. Wollte auch nur ein bißchen über alte Zeiten reden. Ist lange her, daß ich zuletzt hier war. Was machen eigentlich Omar und seine Gang? Dealen die immer noch mit allem, das sich nicht wehrt?«
»Omar ist eine ziemliche Nummer geworden in den letzten Jahren.« Tahir schien der Themenwechsel eher unangenehm zu sein. »Der kontrolliert den Handel in einigen Straßen hier und einige Mädels hat er auch laufen. Hier in Saint-Denis und im Achtzehnten am Boulevard Barbès. Noch einer, vor dem Du Dich vorsehen mußt. Omar ist nachtragend und hat nicht vergessen, was Du damals mit Marlon gemacht hast. Was immer es war. Der war nämlich in seiner Gang. Außerdem biste jetzt Pariser. Damit haste sowieso nen schweren Stand.«
»Omar hat keine Beweise, daß ich es war. Schon gar nicht jetzt, wo die Sau sitzt.«
»Beweise haben Omar immer herzlich wenig interessiert. Ich warne Dich: Laß Dich nicht mit ihm ein!«
»Und die andern Jungs aus unserer Schulzeit, was haben die gemacht?«
»Die meisten sind in Omars Gang. Ein, zwei Streber sind nach Paris gegangen. So wie Du.« Dabei zwinkerte Tahir ihm zu und Maurice grinste linkisch zurück. »Fast alle Mädchen haben geheiratet und stehen jetzt irgendwo in den umliegenden Wohnblöcken hinterm Herd. Nur zwei sind nicht mehr hier, aber die waren auch häßlich wie die Nacht. Wahrscheinlich waren sie gefrustet, weil sie keiner wollte.«
Maurice war unangenehm berührt, entschloß sich aber, nichts draus zu machen. »Weißte, wo man Omar jetzt finden kann?«, fragte er Tahir noch.
»Er hat nen Club draußen in Val-d'oise.« Tahir nannte eine Adresse. »Da hängt er meist rum. Aber ich habe Dich gewarnt. Das ist eine ganz eigene Welt. Nicht mal die Flics trauen sich dorthin!«
»Ich habe schon gehört, daß man sich von der Gegend besser fernhält. Und auch im Achtzehnten gehen komische Dinge vor. Haben da nicht am Wochenende wieder Autos gebrannt bei Stalingrad, nachdem die Flics dort Leute verhaftet hatten?«
»Genau. Und man sagt, daß Omar dabei seine Finger im Spiel hatte. Wie bei fast allem, was da an Scheiße passiert. Der, den sie tot in einem der Autos gefunden haben… wer weiß, wer weiß.«
Maurice horchte auf. »Weißt Du mehr darüber?«
»Nein, nein. Ich habe eh grad zuviel gesagt. Über sowas redet man nicht an Plätzen, wo die Wände Ohren haben.«
Maurice zahlte seinen Tee. »Ich habe verstanden und werde mich vorsehen. Danke, Tahir. Du bist nen echten Freund. Ich freue mich, daß wir uns wieder getroffen haben. Und grüß Nadine von mir. Unbekannterweise.«
»Mache ich«, antwortete Tahir und umarmte Maurice herzlich. »und melde Dich mal wieder, Rice. Wie es Dir ergangen ist und so. Meine Einladung steht!«
»Ich versuchs.«
Maurice verließ die Bar. Tahir sah ihm noch eine Weile nach. Als er um die nächste Ecke verschwunden war, zog er sein Handy und wählte eine Nummer. »Rice ist wieder im Lande«, sagte er, als die Leitung stand. »Genau, der Rice.«
Walter lehnte sich zufrieden zurück. Seinen Artikel für die 'Astrophysical Reviews' hatte er beinahe fertig und erstmals nahm er dabei direkt Bezug auf die Forschungen des vergangenen Jahres. Er skizzierte seine Theorie eines zweigeteilten Universums, das aus einer Welt aus Materie und einer aus Antimaterie bestand. Zwei unmittelbar benachbarte Teilwelten, die eine Dimensionsbarriere trennte und die nur über die Schwerkraft miteinander wechselwirkten. Zwei Welten, die im vergangenen Jahr durch einen schrecklichen Unfall am CERN beinahe miteinander verbunden worden wären, um sich gegenseitig auszulöschen.
Morgen würde er alles noch einmal gegenlesen, ehe er es an den Verlag schickte. Der lange Tag hatte ihn erschöpft und er freute sich auf ein Glas Rotwein. Den durfte er jetzt wieder trinken, denn die experimentelle Behandlung, mit der ihm die Wissenschaftler der Gruppe Moíra sein Leben zurückgegeben hatten, war mittlerweile beendet.
Seinerzeit bekam er Zugriff auf neue Satellitendaten der NASA in nie gekannter Auflösung. Er entdeckte in diesen Aufnahmen unbekannte Signale. Sein Student Martin O’Connor schrieb ihm eine Auswertungssoftware. Sie errechnete daraus ein Panorama, das einen Blick über die Grenzen unseres Universums ermöglichte. Dieses 'O’Connor-Panorama' zeigte aber keine dreidimensionale Umgebung, sondern nur den dreidimensionalen Aspekt von etwas Höherdimensionalem. Das menschliche Gehirn kann solche Daten nicht verarbeiten. Deshalb rief es mentale Störungen verschiedenster Art bei allen Leuten hervor, die es zu betrachten und zu verstehen versuchten.
Bei Walter äußerte sich dies in Form von abnormen Träumen, die ihm durch ihre Intensität zeitweilig ein normales Leben unmöglich machten. Erst unter der Behandlung ließen sie langsam nach und wandelten seine Erinnerungen an das O’Connor Panorama in etwas um, das sein dreidimensionaler Verstand verarbeiten konnte. Letztlich hatten ihm diese Träume sogar geholfen, seinen Artikel fertigzustellen. Sie gaben ihm Fingerzeige, anhand derer er seine Theorie verfeinern konnte. Mittlerweile belästigten sie ihn kaum noch.
Draußen senkte sich die Abenddämmerung über die Stadt und die Straßenlaterne vor seinem Fenster schaltete sich ein. Der Bildschirm des Notebooks schimmerte bläulich durch den Raum. Schließlich begannen die Buchstaben, vor seinen Augen zu verschwimmen. Er klappte den Laptop zu und gähnte, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Zufrieden ging er zu Bett, nachdem er sein Glas geleert hatte, und schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen durch.
Hatte er wirklich nichts geträumt? Ganz sicher war er sich nach dem Aufwachen nicht. Er fühlte sich aber gut erholt und beschloß aus einer Laune heraus, den Artikel heute noch nicht abzuschicken, sondern den Tag stattdessen am CNRS zu verbringen, um seine nächsten Schritte zu planen. Er wollte nach der Veröffentlichung einen Beitrag für den YouTube-Kanal des Instituts herauszubringen, der sich mit den allgemeinverständlichen Aspekten seiner Forschung beschäftigte. Durch seine regelmäßigen Unterhaltungen mit Mike Peters wußte er mittlerweile noch besser, wie weit er seine Zuschauer fordern durfte und was er besser unterschlug.
Jetzt nach den Feiertagen blieb es in der Fakultät noch sehr ruhig. Walter betrat sein Büro, ohne von mehr als einer Handvoll Leuten gesehen worden zu sein. Post hatte er über den Jahreswechsel keine erhalten. Nur ein Brief lag vor seinen Füßen, als er die Tür aufschloß. Er hob ihn auf, öffnete ihn und fand ein formloses und unpassend kurzes Schreiben eines Mitarbeiters. Der hatte sich in den letzten Monaten anscheinend bei verschiedenen Firmen beworben und zwischen den Jahren eine Zusage bekommen. Jetzt teilte er ihm mit, daß er seine Forschungen bei ihm abbrechen würde.
Walter seufzte leise. So ging das leider viel zu oft. Die meisten Doktoranden und Postdocs, die mit ihm zusammenarbeiteten, sahen die Forschung oft nur als Sprungbrett zu einer besser bezahlten Stelle in der Industrie. Walter besaß einen untadeligen akademischen Ruf und eine gewisse Zeit in seiner Arbeitsgruppe machte sich gut in jedem Lebenslauf. Er haderte mit der Unmöglichkeit, zu dieser Art Mitarbeiter eine persönliche Beziehung aufzubauen, wenn sie nach sechs bis zwölf Monaten schon wieder verschwanden. Von einer Kontinuität in seiner eigenen Forschungsarbeit ganz zu schweigen.
Er legte das Schreiben beiseite, klappte seinen Rechner auf und sah als erstes in die Mails. Kaum hatte er damit begonnen, klopfte es aber schon leise an der Tür.
»Entrez!«, rief er. Er bemühte sich in diesem Punkt, Professor Ludwig von Oertzen nachzueifern, seinem Doktorvater in Cambridge, dessen Tür seinen Studenten immer offenstand. Bisweilen hielt ihn das von seiner Arbeit ab. Die Meisten dankten es ihm aber mit großer Zuneigung und nutzten seine offene Tür nicht ungebührlich aus.
Herein kam eine junge Dame. »Bonjour Professeur! Ich hoffe, ich störe Sie nicht«, begrüßte sie ihn.
Ihr leichter Akzent und etwas in ihren Gesichtszügen kamen Walter vertraut vor. Daher betrachtete er sie genauer. Wache, wasserblaue Augen und eine Stupsnase wirkten sympathisch. Die lockigen, roten Haare hielt ein Band im Nacken zusammen. Die blasse, sommersprossige Haut verriet, daß sie ihre Haare nicht gefärbt hatte.
»Bonjour Mademoiselle, was kann ich für Sie tun?«
»Ich verfolge Ihre Forschung seit Jahren und habe gehört, daß es in Ihrer Arbeitsgruppe bald einen freien Platz gibt. Ich habe meinen Master Recherche in Mathematik beendet und strebe mittelfristig ein Doctorat an. Ich würde mich dabei gerne auf ein Thema bewerben, das aus Ihrem Arbeitsbereich kommt.«
Walter bemühte sich, seine Verblüffung nicht offen zu zeigen. Immerhin wußte er selbst erst seit einigen Minuten von dem Weggang eines Mitarbeiters. »Warum gerade bei mir? Für junge Mathematiker gibt es in Paris doch sicherlich geeignetere Stellen, Mademoiselle…«
»O’Connor, Marian O’Connor. Mein Onkel hat für Sie gearbeitet und er hätte mir von Ihnen vorgeschwärmt, wenn er in seiner Art offener gewesen wäre. Ich möchte gerne in seine… wie sagt man… Fußstapfen treten?«
»Martin O’Connor war Ihr Onkel? Nehmen Sie es mir nicht übel, Mademoiselle… O’Connor, aber Sie scheinen mir mindestens ebenso alt zu sein wie er.«
»Ich bin sogar ein Jahr älter. Unsere Großeltern haben wohl nicht mehr mit Nachwuchs gerechnet, als er kam. Wir beide sind im Prinzip wie Geschwister aufgewachsen und er hielt sich später öfter bei uns auf als bei seinen Eltern. Vor allem, als es klar wurde, daß er… anders war als die Jungs in seinem Alter. Meine Großeltern gaben sich die Schuld und er hat sich von ihnen zurückgezogen. Ich bin… ich war wohl seine einzige Bezugsperson in der Familie.«
Marian redete ohne Punkt und Komma und Walter fiel es schwer, einzuhaken. Daß er plötzlich einem Familienmitglied von Martin O’Connor gegenübersaß, traf ihn unvorbereitet. Jetzt erkannte er auch, warum ihn der leichte Akzent, in dem Marian sprach, so bekannt vorkam. Er ähnelte dem Tonfall Martin O’Connors.
»Verstehe ich Sie richtig, daß Sie gerne an seine Arbeiten anknüpfen würden?«, brachte er es schließlich fertig, sie zu unterbrechen. »An die Zusammenarbeit mit Martin O’Connor werde ich nicht gerne erinnert, wie Sie sich denken können.«
»Ich weiß.« Marian schüttelte ihren Kopf so energisch, daß sich das Haarband öffnete und ihre roten Locken wild umherwirbelten. »Ich habe nicht verstanden, was damals passiert ist. Er hat in den letzten Wochen mit niemandem gesprochen, auch mit mir nicht. Ich weiß, daß er mich nach Schmerzmitteln gefragt hat. Er hat aber nicht erzählt, wozu er die brauchte. Ich will mich auch gar nicht mit ihm vergleichen. Wir sind unterschiedliche Charaktere und Temperamente. Was uns verbunden hat, ist die Mathematik. Martin hat mir schon vor Jahren gesagt, daß Mathematik mir liegt. Sonst wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet dieses Fach zu studieren. Es schien ihn oft zu überraschen, daß ich seinen Gedankengängen folgen konnte. Na los, testen Sie mich!«, forderte sie Walter auf.
Walter hatte heute gute Laune. Normalerweise hätte er Marian wohl aus seinem Büro hinauskomplimentiert. Er empfand ihr Eindringen schon als grenzwertig frech. Andererseits fühlte er sich ihrer Gegenwart wohl. Deswegen ließ er sich auf eine Diskussion ein und begann, ihr einige Fragen zu stellen.
Einfache, mathematische Grundzusammenhänge zunächst. Logarithmen und Kurvendiskussionen, Integralrechnung, Algebra, Primzahlfaktoren, Symmetriepunktgruppen und analytische, mehrdimensionale Geometrie. Marian hielt mühelos mit. Anscheinend hatte sie in der Schule und auch im Studium aufgepaßt. So wurde ihr Gespräch zunehmend komplizierter. Ein normal Sterblicher hätte ihnen schon bald nicht mehr folgen können. Über Wahrscheinlichkeitstheorie leitete Walter zur Astroinformatik über, Martins Spezialgebiet. Marian besaß weniger Hintergrundwissen als Martin und ihre Gedankengänge erschienen nicht so genial intuitiv. Walter erkannte aber schnell, daß Martin mit ihr über seine Forschungen in Walters Arbeitsgruppe gesprochen hatte und daß sie einige Teile davon erfaßt und verstanden hatte. Ihre Kenntnisse genügten völlig für eine Zusammenarbeit. Vor allem wäre sie wohl als Einzige in der Lage, dort anzusetzen, wo Martins Gedanken so abrupt endeten.
Dennoch ging ihm das zu schnell und erschien ihm zu leicht. Er mußte zunächst in Ruhe darüber nachdenken, ehe er eine Entscheidung fällte. Vor allem durfte er sie nicht mit Martin O’Connor vergleichen. Sie besaß eine ganz eigene Persönlichkeit und verhielt sich wesentlich kommunikativer als Martin in seinen besten Tagen. Vielleicht sogar zu kommunikativ, denn ihr Redefluß war gerade wieder schwer zu stoppen.
»Schluß!«, sagte er schließlich so energisch, daß er Marian aus ihrem Redefluß riß und sie ihn besorgt ansah. »Mademoiselle O’Connor, Sie haben es geschafft, mich auf Sie aufmerksam zu machen. Dabei sollten wir es aber für heute belassen. Lassen Sie mir bitte Ihre Kontaktdaten hier, oder was immer Sie für mich vorbereitet haben. Ich werde mich damit auseinandersetzen und mich dann bei Ihnen melden.«
Marian nickte und wollte zu einem weiteren Redeschwall ansetzen. Walter unterbrach sie aber mit der Bemerkung, daß er jetzt noch anderes zu erledigen hätte.
»Ein Gespräch mit Ihnen stand heute nicht auf meinem Plan«, sagte er lächelnd zu ihr. Marian nickte und überreichte ihn einen dicken Umschlag. Danach bedankte sie sich und verließ das Zimmer. Ihre roten Locken verschwanden aus Walters Büro, wippten aber noch eine Weile durch sein Bewußtsein, während er nachdenklich auf seinem Stuhl saß.
Die Morgensonne strahlte durch das Fenster. Kommissar Georges Lefebvre trank Kaffee in seinem Büro. Ihm gegenüber saß Maurice Belloumi, seit einem halben Jahr Teil von Lefebvres Team. Vor dem Aktenschrank stand Chefbrigadier Marc Moreau. Der schüttere, graue Haarkranz und der kleine Bauch ließen ihn älter erscheinen als Lefebvre. Bereits vor dessen Beförderung zum Kommissar arbeiteten die beiden zusammen und gelegentlich unternahmen sie auch privat etwas gemeinsam.
Als ruhiger Typ bildete Moreau in der Gruppe den Gegenpol zu Lefebvre. Er hätte ebenfalls einen guten Kommissar abgegeben. Ihm fehlte aber der Ehrgeiz, sich für den gehobenen Dienst zu bewerben. »Noch einmal eine Ausbildung und jede Menge Prüfungen stehen meine Nerven nicht durch«, hatte er seinerzeit nach einigen Bieren in einer Bar zu Lefebvre gesagt. »Nicht für die paar Euro, die Du dann mehr verdienst. Ich stehe immer hinter Dir. Neben Dir ist mir aber zu anstrengend.«
Damit war das Thema für ihn erledigt und die beiden redeten nie wieder darüber. Lefebvre wurde Kommissar und holte Moreau zu sich. Bei den Ereignissen im vergangenen Frühjahr lag er nach einem Bandscheibenvorfall im Krankenhaus. Seit seiner Genesung tat er aber wieder seinen Job, als wäre er nie fort gewesen.
Wenn mit Maurice oder Lefebvre das Temperament durchging und sie sich übellaunig anschwiegen, bildete er das Bindeglied, das das Gespräch am Laufen hielt, bis sich einer der beiden wieder beruhigte. Selbst Gabriel Clement respektierte ihn und bildete mit seinen gelegentlichen Anfällen von Professionalität das vierte Rad am Wagen dieser heterogenen Gruppe.
»Was haben wir bis jetzt an Informationen?«, fragte Lefebvre in die kleine Runde.
»Nicht viel«, antwortete Maurice, »zumindest nicht über das Opfer. Die Leiche ist noch in der Gerichtsmedizin und der vorläufige Obduktionsbericht sieht mager aus. Es war ja auch nicht viel übrig nach dem Feuer.«
»Zumindest befand er sich nicht freiwillig in diesem Auto, denn das Loch in seinem Schädel hat sich bestimmt nicht von selbst gemacht. Unter einer Bodenplatte im Fußraum lag übrigens ein Beutel mit einer weißen Substanz«, ergänzte Moreau. »Sie hat irgendwie das Feuer überstanden. Der Beamte, der den Beutel gefunden hat, tippt auf Heroin oder Kokain.«
»Das muß die Analyse zeigen«, sagte Lefebvre knapp. »Hoffentlich stehen wir nicht vor neuen Problemen. Ein Mord in der Nähe des Place de Stalingrad ist kein gutes Omen. Denkt an die Unruhen im letzten Jahr.«
»Wird schon nicht so schlimm werden«, sagte Maurice.
»Hast Du gestern abend etwas herausgefunden? Du wolltest doch alte Kontakte pflegen.«
Lefebvre und Maurice duzten sich mittlerweile. Der Kommissar hatte ihm vor einigen Wochen das 'Du' mit einem launigen Kommentar angeboten: »Da wir beide ohnehin immer verschiedener Meinung sind, finde ich, wir sollten uns duzen. Es sagt sich viel leichter 'Du Arsch!’ als 'Sie Arsch!'. Einverstanden?« Natürlich war Maurice einverstanden: »Worauf Du einen lassen kannst.«
»Ich habe mich mit dem Kumpel getroffen, mit dem ich früher um die Häuser gezogen bin«, berichtete Maurice jetzt. »Der kannte damals jeden im Viertel. Ich glaube, das ist auch heute noch so.«
»Wird sicher nicht schaden, da am Ball zu bleiben«, sagte Moreau. »Jede Verbindung in diese Szene ist wichtig für uns.«
»Kann sogar sein, daß er in unserem Fall etwas weiß. Dazu muß ich mich aber mal bei ihm einladen und mit ihm inoffiziell reden. Zumindest kennt er Omar.«
Moreau pfiff leise durch die Zähne. »Wow. Der und seine Leute hatten bei den letzten Morden in der Drogenszene immer ihre Finger im Spiel. Es wäre schön, wenn wir ihm endlich etwas nachweisen könnten.«
»Laßt uns zunächst abwarten, was die Gerichtsmedizin sagt«, warf Lefebvre ein. »Maurices Treffen ist schließlich nur zufällig mit diesem Mord zusammengefallen. Er sollte uns nur ein wenig ins Spiel bringen. Daß Du diesen Monsieur Habib von früher kennst, ist ein super Zufall.«
»Allzu tief werde ich da nicht eindringen können. Tahir hat mich sehr nachdrücklich vor meinen Brüdern gewarnt. Wenn meine Familie ins Spiel kommt, wird sich nicht lange geheimhalten lassen, für wen ich arbeite. Mein Vater hat den Vorfall damals im Krankenhaus persönlich genommen. Ich rieche den Ärger jetzt schon.«
»Wird schon so schlimm nicht werden. Hatten wir nicht alle Probleme mit unseren Eltern beim Erwachsenwerden?«, fragte Lefebvre.
»Den nächsten, der über die Beziehung zu meinen Eltern Witze reißt, fischt man am nächsten Tag aus der Seine!« Lefebvre und Moreau zuckten synchron zusammen, denn Maurices Blick verriet, daß er die Drohung ernst meinte.
»Man wird doch wohl noch einen Spaß machen dürfen«, versuchte Moreau die Situation zu retten.
»Ihr könnt das gern mit meinen Brüdern ausdiskutieren. Das wird ein Spaß.«
Das Telefon klingelte. Lefebvre nahm ab. »Hallo? … Oh, hallo Docteur. Okay? … Okay … verstehe. Danke. Au'voir.«
Lefebvre wandte sich wieder an Moreau und Maurice. »Docteur Monin von der Gerichtsmedizin. Es war Heroin in dem Beutel. Er läßt den Stoff aber noch genauer untersuchen. Er hat ein komisches Gefühl.« Lefebvre malte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Und er nimmt uns das Loch in seinen Hosen immer noch übel, das ihm Gabriel im letzten Jahr unabsichtlich verpaßt hat. Apropos, wo ist er eigentlich?«
»Ich habe ihn vorhin gesehen«, antwortete Moreau. »Er befand sich aber auf dem Sprung. Scheinbar hat sein Spezi von der Morgenzeitung wieder irgendwelche 'heißen Details' zu unserem Mordfall für ihn.«
»Vielleicht ist es wirklich nur nen Mord im Drogenmilieu«, mutmaßte Maurice, »aber wenn Omar dahintersteckt, kriege ich ihn dafür ran!«
Da klopfte es schon und Gabriel Clement steckte den Kopf herein: »Störe ich?«
»Komm schon rein«, brummte Lefebvre. »Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt, unsere morgendliche Besprechung ausfallen zu lassen.«
»Wieso? Ihr seid doch noch hier«, sagte Clement sonnig, »und ich habe tatsächlich Neuigkeiten!«
Maurice stand auf und ging in eine Ecke des Raumes, als Clement sich mit an den Schreibtisch setzte. Den durchdringenden Körpergeruch seines Kollegen ertrug er immer noch nicht. Lefebvre roch okay und auch Moreaus Geruch war meistens in Ordnung, außer an den Tagen, an denen er Sodbrennen hatte. Nur dieser Clement stank ihm. Es war gar nicht der Schweißgeruch. Schweiß roch unterschiedlich stark, jedoch in der Grundnote immer gleich. Nicht angenehm, aber erträglich. Es war das After Shave, mit dem Clement seinen Geruch zu überdecken versuchte. Eine Kombination von schwerer Süße mit einer strengen Moschusnote. Für Maurice kaum auszuhalten.
Clement sah Maurice irritiert an, hatte aber zu viel zu erzählen, um nachzufragen. Da er das immer so hielt, bestand auch keine Gefahr, daß das Thema einmal auf den Tisch kam. Lefebvre und Moreau wußten um Maurices besondere Fähigkeit und lächelten, während sie die unfreiwillige Pantomime der beiden beobachteten.
Maurice sah seinen überscharfen Geruchssinn mehr als Fluch, denn als Segen und es fiel ihm schwer, Clements Ausführungen zu folgen.
»Es scheint einen neuen Mitspieler in der Drogenszene im Norden zu geben, sagt mein Spezi. Angeblich hat ihm das eine Quelle im Rauschgiftdezernat gesteckt.«
»Bist Du sicher, daß nicht Du die Quelle bist?«, knurrte Maurice aus seiner Ecke.
»Du bist wirklich nicht nett. Du kannst Dir wohl nicht vorstellen, daß zwei Männer so auf einer Wellenlänge sind, daß sie einander völlig vertrauen.«
Maurice setzte zu einer patzigen Antwort an, aber Lefebvre ging dazwischen: »Ein neuer Mitspieler also. Gibt es dafür irgendwelche Belege?«
»Die gibt es in der Tat. Die Notaufnahmen der Krankenhäuser im Norden von Paris hatten in den letzten Wochen ungewöhnlich viele Fälle von Heroinvergiftung. Noch ist niemand gestorben, aber es scheint, als verkaufte da jemand Stoff, der nicht genügend verschnitten ist.«
»Das ist wirklich eine neue Entwicklung«, sagte Lefebvre. »Allerdings frage ich mich, warum Du dazu die Morgenzeitung bemühst und Dich nicht direkt im Dezernat erkundigst.«
Clement wußte für einen Moment keine Antwort. Moreau half ihm mit einem trockenen Kommentar:
»Das hat schon beides seine Richtigkeit, Georges. Wir kriegen diese Information natürlich im Rauschgiftdezernat. Wenn wir denn wissen, welche Fragen wir stellen müssen. Du weißt doch, daß sie manchmal auf ihren Informationen sitzen.«
Clement warf Moreau einen dankbaren Blick zu. Lefebvre schluckte kurz und lenkte dann ein: »Du hast recht, Marc. Wir müssen aber jetzt die richtigen Fragen stellen. Könnte diese Häufung von 'Unfällen' mit unserer Leiche zu tun haben? Gabriel, darum kümmerst Du Dich. Statte den Mädels und Jungs vom Rauschgift einen Besuch ab und bringe in Erfahrung, was sie genau wissen. Sie sollen uns einen zusammenfassenden Bericht schicken, was aus ihrer Sicht in der Umgebung von Stalingrad los ist. Welche Rauschgifte, welche Dealer, neue Mitspieler und so weiter. Vielleicht haben sie Details, die zu unserer Leiche passen.«
»Jawoll, Boß!«, schnappte Clement und verschwand durch die Tür, ehe Lefebvre noch aufstöhnen konnte.
»Vor allem sollten wir herausfinden, wer das Opfer ist«, warf Moreau ein. »Derzeit wissen wir ja nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.«
»Es ist ein Mann. So viel wußte der Pathologe schon. Bis er mehr für uns hat, könnt ihr die Vermißtenmeldungen der letzten Tage durchgehen, und herausfinden, ob jemand davon zu unserer Leiche paßt. Ich bin jetzt mit dem Untersuchungsrichter verabredet.«
»Viel Spaß«, sagte Moreau und verließ zusammen mit Maurice Lefebvres Büro.
»Georges hat übrigens unrecht. Sieh Dich bitte vor bei diesem Tahir. Schulfreund hin oder her«, sagte er draußen noch zu Maurice. Der knurrte etwas Unverständliches und verschwand in Richtung des Großraumbüros, in dem ihre Rechner standen.
Jetzt nach den Feiertagen gab es im CERN Institut bei Genf wieder viel zu tun. Der Beschleuniger befand sich offiziell zwar in den Winterferien. Seit Monaten liefen in der Detektorkammer des ATLAS auf Anordnung von Doktor Lies, seit kurzem Direktor des Instituts, aber aufwendige Umbauten. Das gesamte System von heliumgekühlten Magneten wurde ausgetauscht und durch stärkere Anlagen der neuesten Generation ersetzt.
Francine Aubry gehörte zum technischen Team, das das komplexe Ballett von Pumpen, Magneten, Kühlung und Detektoren am Laufen hielt. Ganz ausschalten konnten sie die Anlage trotz der Umbauten und der Winterferien nicht. Seit einem guten halben Jahr existierte nämlich mitten zwischen all der Technik eine kleine Dimensionspforte. Sie führte in ein Paralleluniversum aus Antimaterie. Ein gräßlich fehlgeschlagenes Experiment hatte sie im letzten Mai ins Universum geschlagen. Zur Zeit zeigte sie keine Aktivität. Damit das auch so blieb, hielten sie einen größeren Bereich zwischen den Detektoren sicherheitshalber unter Vakuum. Was die Antimaterie anrichten konnte, wenn sie durch die Pforte in unser Universum sickerte, hatte ihnen ein gewaltiger Strahlungsblitz gezeigt. Er forderte ein Menschenleben und niemand wollte dieses Ereignis wiederholen.
Sie hatte viel in der Detektorkammer zu tun, seit ihr Chef Aurel Favre sich zwischen den Jahren krankgemeldet hatte. De facto leitete sie jetzt die Technik der Anlage und sie fühlte sich nicht wohl dabei. Die Umbauten mußten ein Vermögen gekostet haben. Bei einem Besuch in der Verwaltung vor einigen Tagen konnte sie einige der Abschlußrechnungen einsehen. Sechs- und siebenstellige Beträge kamen selbst bei einem multinationalen Institut von der Größe des CERN nicht alle Tage vor. Doktor Lies hatte die Umbauten angeordnet, sich aber unglücklicherweise bis dato geweigert, seinen Mitarbeitern ihren Sinn zu erklären und was für Experimente sie hier künftig durchführen würden.
Aber heute würde sie ihn alles fragen, auch, wo er das Geld hernahm. Bei der wöchentlichen Besprechung, die er mit dem Teamleiter durchführte, mußte sie Aurel Favre vertreten. Sie suchte ihre Unterlagen zusammen und bereitete sich innerlich auf eine anstrengende Stunde vor.
In Gedanken streichelte sie noch Mona, ihren schwarzen Labrador, der tagsüber in ihrem kleinen Aufenthaltsraum hausen durfte. Aurel hatte ihr das erlaubt, weil sie seit einigen Monaten in Scheidung lebte und tagsüber nicht immer einen Hundesitter fand. Mona ging es hier unten gut und sie schlief die meiste Zeit, wenn Francine anderswo arbeitete. Auf jeden Fall tat es ihr besser, als sie den Tag über allein zu Hause zu lassen.
Mona drückte ihren Kopf gegen Francines Hand, als sie sie in der Ohrmuschel kraulte. Wäre sie eine Katze gewesen, hätte sie geschnurrt. Monas Version von Schnurren war ein tiefes Ein- und Ausatmen, das manchmal ein wenig asthmatisch klang. Francine gab ihr einige Stücke Trockenfutter, die sie gierig fraß, als hätte es wochenlang nichts gegeben. Retriever waren wundervolle Familienhunde, aber irgendwann während ihrer Zucht kam der Rasse das Gen abhanden, das ihnen sagte: 'Ich bin jetzt satt'. Sie mußte Mona also ständig auf Diät halten, damit sie sich nicht rund und dick fraß.
Francine erneuerte noch das Wasser im Hundenapf und machte sich dann auf den Weg nach oben. Doktor Lies verbrachte fast den ganzen Tag in seinem oberirdischen Büro. Nachdem man ihn zum Direktor ernannt hatte, verzichtete er überraschenderweise auf die neuen, repräsentativen Büroräume, inklusive Sekretariat, in einem der Hauptgebäude auf der anderen Seite der Route de Meyrin und behielt lieber sein altes Büro im ATLAS Gebäude.
Nicht nur Francine fand dieses Verhalten ungewöhnlich für Lies. Ihre Ruhe hatten sie in der Detektorhalle dennoch. Hier unten ließ er sich nämlich nur sehen, wenn es absolut nicht anders ging. Sie fuhr im Fahrstuhl nach oben, besah auf der Damentoilette ihre Erscheinung nochmals im Spiegel und ging dann zu seinem Büro. Sie klopfte an und trat auf das geschnarrte »Herein!« ein.
»Schön, daß Sie es möglich machen konnten«, begrüßte er sie abwesend. Er hängte gerade ein Flipchart ab, auf dem eine Rißzeichnung des Detektorbereiches zu sehen war. Ein Detail schien verändert zu sein. So schnell kam sie aber nicht dahinter, worum es sich handelte, denn schon wandte sich Lies an sie:
»Wir haben heute Grund zu feiern. Trinken Sie ein Glas Prosecco mit mir?«, fragte er und klang plötzlich wieder betont freundlich.
»Gerne!« Francine war angenehm überrascht, ihn in aufgeräumter Stimmung zu erleben. Aurel konnte man regelmäßig für den Rest des Tages nicht mehr gebrauchen, wenn er von seinen wöchentlichen Briefings zurückkam.
Lies schenkte beiden ein Glas ein und sie prosteten sich zu.
»Der ist ausgezeichnet!«, sagte Francine anerkennend. »Was gibt es denn zu feiern?«
»Gleich auf den Punkt. Das schätze ich an Ihnen. Sie werden Monsieur Favre nach seiner… plötzlichen Erkrankung… vertreten müssen. Für eine Weile. Deswegen müssen Sie alle Details zu seinen Aufgaben wissen.«
»Sie haben recht. Ich kann nur effektiv arbeiten, wenn ich verstehe, was wir jetzt machen.« Francine versuchte, entschlossen zu klingen. »Die Umbauten der letzten Monate müssen ein Vermögen gekostet haben und so ganz klar ist mir nicht, wozu sie dienen.«
Sie stellte ihr Glas wieder ab. Bevor sie nicht genau wußte, was hier lief, blieb sie lieber hochkonzentriert.
»Oh, um die Kosten machen Sie sich mal keine Sorgen.« Lies klang wieder so überheblich, wie sie ihn von früher kannte. »Ich konnte im vergangenen Jahr neue Geldgeber anwerben. Potente Geldgeber, die sich sehr für unser Institut einsetzen. Aufgrund dieses geschäftlichen Erfolges hat man mich auch zum neuen Leiter des Instituts ernannt. Nach dem Weggang von Doktor Magnone ist auch die bisherige Leiterin am Jahresende in Frührente gegangen. Sie haben ja selbst gesehen, daß es ihr nicht gut ging.«
»Meinen Glückwunsch.«
»Danke. Die Umbauten dienen ausschließlich der Sicherheit der Anlage. Es handelt sich im Wesentlichen um eine Verstärkung der Abschirmung. Solange wir diese Singularität nicht verstehen, die wir im letzten Jahr unabsichtlich geschaffen haben, müssen wir allergrößte Vorsicht walten lassen.«
Francine nickte. »Aber ihre Aktivität ist doch in den letzten Monaten gegen Null gegangen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, können die Experimente in allen Instituten, die am LHC beteiligt sind, wieder anlaufen wie geplant. Sehen Sie da Probleme?«
»Natürlich nicht. Aber ich bin nicht nur für den Fortgang der Experimente verantwortlich. Die Unfälle im letzten Jahr waren… tragisch. Sie dürfen sich auf keinen Fall wiederholen. Deswegen – und da bin ich mir glücklicherweise mit dem Komitee der Mitgliedsstaaten und dem Konsortium… unserer neuen Geldgeber einig – steht künftig die Sicherheit an erster Stelle. Wir können schließlich nicht wissen, ob diese Anomalie nun für alle Zeit verschlossen ist. Für den Fall, daß sie das nicht bleibt, müssen wir unbedingt vorbereitet sein.«
»Das freut mich sehr, daß Sie das so sehen. Dann brauche ich mir also diesbezüglich keine Sorgen zu machen?«
»Aber nicht die geringsten.« Lies' verbindliches Lächeln beruhigte Francine. »In diesem Kontext verstehen Sie jetzt sicherlich auch die vielen Bestellungen besser, die Sie in letzter Zeit für uns managen mußten. Wir brauchen im ATLAS die neuesten Maschinen, die Menschen zu bauen imstande sind und Geld darf da keine Rolle spielen, wenn es um die Sicherheit unserer geschätzten Mitarbeiter geht.«
Freundlich lächelte Lies ihr zu und plötzlich fühlte sich auch Francine erleichtert. So viel Verantwortungsbewußtsein hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Dann gehörte er zu den Menschen, die an ihren Aufgaben wuchsen. Sie lächelte zurück und entspannte sich ein wenig. Jetzt nahm sie das Glas Prosecco wieder vom Tisch und trank einen Schluck.
»Natürlich ist es mit einer verbesserten Abschirmung allein nicht getan. Deswegen habe ich den Detektorbereich in den letzten Monaten komplett umstrukturiert. Falls in der Anlage wirklich noch einmal Antimaterie austreten sollte, müssen wir gewappnet sein und die Möglichkeit haben, sie aufzufangen, ehe sie Schaden anrichten kann. Da Monsieur Favre uns gerade nicht zur Verfügung steht, ist es jetzt besonders wichtig, daß Sie sich unverzüglich mit den Planungen vertraut machen.«
»Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen.«
»Ich werde Ihre Sicherheitsfreigabe entsprechend erhöhen und Ihnen die nötigen Dokumente zukommen lassen, damit Sie mich künftig besser unterstützen können.«
Francine trank ihr Glas auf einen Zug aus. Sie wußte aus Erfahrung, daß der Direktor sich nicht gerne mit Details befaßte und daß diese 'Unterstützung' mehr als eigenständige Arbeit zu verstehen war, und natürlich, daß sie für eventuelle Fehler geradezustehen hatte, selbst wenn es nicht ihre eigenen waren. Da es in erster Linie um die Sicherheit der Mitarbeiter ging, fühlte sie sich dieser Herausforderung aber gewachsen und freute sich fast ein wenig auf ihren neuen, erweiterten Verantwortungsbereich. Favre käme spätestens in einigen Wochen zurück. Was sollte in der Zeit schon schiefgehen?
Mona sprang laut bellend an ihr hoch und schleckte ihr über den Mund, als sie zurückkam. Francine beugte sich nieder und ließ sich die Liebkosungen gefallen. Als Mona der Meinung zu sein schien, daß sie Francine genügend begrüßt hatte, warf sie sich auf den Rücken und wälzte sich wohlig knurrend auf dem Fußboden hin und her. Francine kniete sich nieder und kraulte Mona am Bauch, bis diese sich schließlich wieder aufrappelte und einmal kräftig schüttelte.
»Ich wünschte, über mich würde sich auch jemand so freuen«, sagte Jacques neidisch, der gerade um die Ecke kam. »Aber im Ernst. Du wirkst gerade, als hättest Du den Hauptgewinn gezogen.«
»Vielleicht habe ich das. Vielleicht haben wir das. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.«
Amélie lebte eigentlich in Cambridge. Wenn sie nicht gerade während eines Forschungstrimesters in Paris wissenschaftliche Magazine infiltrierte, unterrichtete sie hier als Fellow am St. John's College Kriminologie und Psychologie sozialer Gruppen.
Die eigentlichen Vorlesungen des Wintertrimesters begannen erst in der übernächsten Woche. Es gab dennoch eine Menge Arbeit für sie. Sie hatte deswegen den Weihnachtsurlaub in der 'Kolonie' kurzgehalten. Dort gab es nur ein Satelliten-Internet, das zum einen nicht sehr schnell lief und in dem man zum anderen sehr viele Seiten aus Sicherheitsgründen sperrte. Hier in England konnte sie sich besser vorbereiten. Es stand ihr eine Vielzahl von Informationsquellen zur Verfügung und was dort nicht geschrieben stand, erfuhr sie über den Flurfunk.
Sie wußte aus eigener Erfahrung, daß sich Inhalte besser vermitteln ließen, wenn ihre Studenten einen Bezug zu aktuellen Ereignissen erkannten. Da sie im vergangenen Frühjahr in Paris ziemlich hautnah in einem echten Kriminalfall steckte, hatte sie ihnen über die Weihnachtsferien eine Hausaufgabe mitgegeben: Sie sollten alles recherchieren, was es in den Medien über den Mord an dem Informatiker Sébastien Giroud zu finden gab und daraus in Form einer Erörterung rückschließen, was damals wirklich passiert sein könnte. Sie war sich sicher, daß sie einige sehr unterschiedliche Versionen der Ereignisse zu lesen bekommen würde, über die sie dann in der Gruppe diskutieren konnten.
Sie selbst hatte aus der 'Kolonie', ihrem Weihnachtsdomizil, auch Hausaufgaben mitgebracht. Sie mußte für die weitere klinische Forschung Probanden suchen. Eine neue Wirkstoffklasse von Medikamenten, die man dort in den letzten Jahren entwickelt hatte, stand bereit für einen größeren klinischen Test.
Es handelte sich dabei unter anderem um das Medikament, das Walter Stein geholfen hatte, seine Albträume und Visionen zu überwinden, die ihm nach dem Betrachten des O’Connor Panoramas heimsuchten. Die Ergebnisse, die die Forscher von Moíra während seiner Therapie erhalten hatten, erwiesen sich als ungemein nützlich. Sie zeigten ihnen aber auch, daß sie vor allem die starken Nebenwirkungen der Droge noch genauer untersuchen und die Zusammensetzung anpassen mußten.
Amélie hatte nun die Aufgabe, möglichst frische epidemiologische Daten des Verteilungsmusters verschiedener dissoziativer Störungen in einer Reihe europäischer Länder zu suchen. In einem oder mehreren der Schwerpunkte sollten dann Vertrauensärzte der 'Kolonie' gezielt einzelne Kollegen ansprechen und sie und deren Patienten zu einer Teilnahme an weiteren Untersuchungen bewegen. Sie forschten damit am Rande des gesetzlich Zulässigen, gewannen aber viel Zeit, in der die Untersuchungen noch nicht an die Öffentlichkeit drangen, wie es bei einer offiziellen Studie in einem Krankenhaus der Fall gewesen wäre. So konnten die Patente für die kommerzielle Verwertung der neuen Wirkstoffklasse später beantragt werden und galten entsprechend länger. Moíra sicherte sich auf diese Weise eine neue Einnahmequelle, die Jahrzehnte lang sprudeln würde.
Die Daten, die Amélie benötigte, standen nicht offen im Internet. Sie mußte sie einzeln erfragen. Die ersten Kontakte zu Universitäten, Krankenhäusern und Behörden hatte sie bereits im vergangenen Herbst geknüpft. Im Laufe der nächsten Wochen sollten dann nach und nach die ersten Statistiken eintreffen, die sie zusammenfassen, auswerten, in graphische Form bringen und an die 'Kolonie' weiterleiten würde. Es handelte sich nicht um einen schweren Job, sondern lediglich um Fleißarbeit.
Sie fand, daß sie für diese Woche genug getan hatte. Am College herrschte nämlich keine weihnachtliche Ruhe mehr. Viele ihrer Studenten standen nach den Ferien bereits auf der Matte und stürzten sich mit Enthusiasmus in das neue Trimester, als sie sahen, daß auch ihre Lehrerin bereits arbeitete. In Cambridge studierte man nicht nach Regelstudienplan. Gute Noten bekam man vor allem durch persönlichen Einsatz bei den Professoren, Dozenten, Tutoren und Fellows, die gemeinsam ein sehr individuell gestaltbares Angebot ihre Teilnehmer bereitstellten. Da sich vor allem in den Seminaren und Tutorials selten mehr als eine Handvoll Studenten um einen Lehrer versammelten, fielen körperliche oder geistige Abwesenheit sofort auf.
Ihre Hausaufgabe schien die Studenten über die Feiertage ordentlich beschäftigt zu haben. Sie hatte heute mittag im Speisesaal mit ihnen zusammengesessen. In den letzten Tagen drehte sich das Gespräch beim Essen meistens um verschiedene Berichte, die sie in den ihnen zugänglichen Medien zusammengetragen hatten und die jeder auf seine persönliche Art interpretierte. Indem sie scheinbar locker über verschiedene Aspekte dieser Berichte plauderten, versuchten sie unauffällig, aus Amélies Kommentaren zusätzliche Informationen zu erhalten.
Die durchschaute das Spiel und hielt sich bedeckt. Ihre Aufmerksamkeit galt auch eher einem neuen Tutor, Jordan Jackson, der am Nachbartisch saß und in charmantem Plauderton mit einer Professorin Smalltalk hielt. Der Flurfunk berichtete, daß er aus den Staaten kam. Mit der gebräunten Haut, seinen dunkelbraunen Augen und dem schwarzen, straff nach hinten gegeltem Haar gefiel er ihr besser, als sie sich eingestehen wollte.
Offensichtlich hatte er gerade etwas Lustiges erzählt, denn beide lachten vernehmlich. Jackson legte beim Lachen den Kopf etwas in den Nacken und wirkte dabei sehr entspannt. Als er den Kopf wieder senkte, sah er Amélie kurz in die Augen. Sie senkte instinktiv den Blick. Hatte er ihr etwa gerade zugezwinkert?
Das konnte nicht sein. Dieser Typ Mann stand grundsätzlich nicht auf den Typ Frau, für den sie sich hielt. Sie wandte sich wieder ihren Studenten zu und parierte nonchalant die nächste Fangfrage. Trotzdem kam sie nicht umhin, Jackson hinterher zu blicken, als er nach einigen Minuten in Begleitung der Professorin den Speisesaal verließ. Ein knackiger Hintern in einer passend engen Jeans mit genau der richtigen Dosis Hüftschwung. 'Ein Mann wie der kann sich bestimmt vor Verehrerinnen nicht retten', dachte sie.
Jetzt am Freitagabend saß sie wieder zu Hause und verfolgte mit einem Ohr eine Rateshow im Fernsehen. Nebenher scrollte sie auf dem Tablet durch die neusten Nachrichten. Auf einem kalifornischen Flughafen hatte es eine Schießerei gegeben. Die Nachrichten waren voll mit 'nichts-genaues-weiß-man-nicht' Berichten. Amélie scrollte gelangweilt weiter. Morgen würde man mehr wissen.
Das Telefon klingelte. 'Klotho' stand auf dem Display. Klotho Papantoniou hieß die Leiterin jener Gruppe Moíra, für die Amélie nebenbei arbeitete. Ursprünglich handelte es sich dabei um eine weltweit aktive Gruppe von Wissenschaftlern, die in den Wirren des Ersten Weltkrieges entstand. Sie versuchte, die Menschheit vor den schlimmsten Auswüchsen aktueller Forschung zu bewahren. Klotho trat der Gruppe in den siebziger Jahren bei und hatte es mit Initiative und dem Vermögen ihrer privaten Holding geschafft, die Gruppe von einem akademischen Gesprächskreis zu einer profitabel arbeitenden Unternehmung und gleichzeitig zu einem geheimen Machtfaktor in der Weltpolitik zu machen. Sie waren bestens vernetzt, und wenn irgendwo auf der Welt ein Wissenschaftler etwas entdeckte, erfuhren sie es als erste.
Amelie schaltete den Fernseher stumm, nahm ab und meldete sich: »Hallo Mama. Geht es Dir gut? Was gibt es Neues?«
»Alles in Ordnung. Heute ist nicht viel geschehen… die Sonne brennt und es ist staubtrocken. Du hast nichts verpaßt in der letzten Woche. Was machen Deine Nachforschungen? Gibt es schon erste Daten?«
»Es geht mir auch gut. Danke, daß Du fragst.«
Stille in der Leitung. Amélie hörte nur ihre Mutter atmen.
»Es tut mir leid. Ich muß eine Rabenmutter sein.«
»Ich komme klar. Ich weiß, daß Du tust, was Du kannst.«
Wieder herrschte Schweigen in der Leitung. Amélie war es schließlich, die es brach. »Es gibt noch keine Daten, aber ich erwarte bereits in der nächsten Woche einige Antworten von meinen Kontakten. Sei sicher, daß Du die erste bist, die die Auswertungen erhält.«
»Es geht Dir nicht wirklich gut, oder?«
»Manchmal ist es schwierig. Ich weiß, wie wichtig unsere Arbeit ist. Dennoch wünschte ich mir etwas mehr Privatleben.«
»Jemand Bestimmtes?«
»Nein.«
»Schade.«
»Ist bei Dir auch alles in Ordnung, Mama? Du rufst doch sonst nur an, wenn es brennt.«
»Sei einfach vorsichtig, mein Kind. Wir hatten heute Besuch. Der Sicherheitsdienst hat in der Morgendämmerung eine kleine Gruppe Camper aufgegriffen, die in einem benachbarten Tal gezeltet haben. Urlauber. Sagen sie jedenfalls. Ich habe kein gutes Gefühl dabei.«
»Habt ihr sie festgesetzt?«
»Natürlich. Du weißt, daß ich kein Risiko eingehe.«
»Sei nett zu ihnen. Vielleicht sind es wirklich nur Leute auf Abenteuerurlaub. Leute, die Motorradausfahrten ins jemenitische Bergland buchen, fahren sicher auch in die chilenischen Hochanden.«
»Keine Sorge. Ich werde sie nachher befragen und dann angemessen reagieren.«
Klotho Papantoniou verabschiedete sich von ihrer Tochter und legte auf. Warum hatte sie Amélie eigentlich angerufen? Daß gute Ergebnisse ihre Zeit brauchten, wußte sie selbst. Nach längerem Grübeln gestand sie sich ein, daß sie die Gegenwart ihrer Tochter vermißte und eigentlich nur ihre Stimme hören wollte. Vielleicht sollte sie ihr das beim nächsten Mal einfach sagen und keine Geschäfte vorschieben.
Der unerwartete Besuch, den der Sicherheitsdienst aufgegriffen hatte, gab ihrer schon lange gehegten Sorge Nahrung, daß sie hier nur solange sicher waren, wie sie es schafften, die Existenz der 'Kolonie' geheim zu halten.
Der Besuch von Mike Peters im vergangenen Jahr hatte gleich mehrere Schwachstellen aufgedeckt, an die sie noch nicht gedacht hatten. Amélie hatte natürlich die Rechercheergebnisse, die Mike zu ihnen geführt hatten, mit ihr geteilt. Dies hatte ihnen erlaubt, eine Reihe von Informationslecks zu schließen.
Die Besucher aus der Nachbarschaft konnten tatsächlich ein Zufall sein. Sicher war das aber nicht. Das Konsortium war ein überaus mächtiger Gegner und sie durfte sich nicht noch einmal den Fehler erlauben, es zu unterschätzen.
Ángel wäre in der Lage, die Wahrheit aus ihren Besuchern herauszuholen. Meist schaffte er das sogar, ohne Gewalt anzuwenden. Er hatte aber in Schweden zu tun und sie erwartete seinen Bericht erst in einigen Tagen. Es half nichts. Sie mußte ihre Gäste selbst interviewen und sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen.
Die Befragung machte sie nicht schlauer. Die Erklärungen, die sie erhielt, schienen plausibel. Sie saßen zusammen bei einer Tasse Tee im Innenhof des Häuserblockes, in dem sie die vier Camper untergebracht hatten. Es gefiel ihnen natürlich nicht, daß man sie einfach aus dem Schlaf gerissen und samt ihrer Ausrüstung in einem fensterlosen Wagen hierher gebracht hatte. Ihre Entrüstung konnte echt sein. Vielleicht handelte es sich wirklich nur um Abenteuerurlauber, die die großartige Natur der Anden fernab von jeder Zivilisation erleben wollten.
Einer hatte sogar ein kleines Teleskop dabei, mit dem er nachts die magellanschen Wolken beobachten wollte. Klothos Frage, warum sie dann nicht in die Atacama gefahren seien, wo die Sichtbedingungen noch besser seien als hier, brachte ihn kurz aus der Fassung, aber auch das mußte nichts bedeuten.
Zu denken gab ihr der Kommentar eines ihrer Techniker, daß dieses Teleskop von der Bauart her eigentlich zu klein dimensioniert war, um damit Sterne und Galaxien genauer zu untersuchen, daß man es aber hervorragend für Beobachtungen auf der Erde einsetzen konnte.
Dieses Detail gab am Schluß den Ausschlag. Klotho beschloß, mit den Campern kein Risiko einzugehen. Sie einfach verschwinden zu lassen, würde zu viel Aufsehen erregen. Sie hatte aber noch andere Möglichkeiten.
Moíra betrieb auf dem Gelände der 'Kolonie' von Beginn an pharmazeutische Forschung. Sie entwickelten eine Reihe von psychoaktiven Wirkstoffen, die Menschen mit verschiedenen seelisch bedingten Leiden wie Depression und schweren Neurosen später einmal ein normales Leben ermöglichen sollten. Viele dieser Wirkstoffe befanden sich erst in einem recht frühen Stadium der klinischen Erforschung. Für das Antidissoziativum, das ihrem Freund Walter Stein aus einer schweren Krise geholfen hatte, suchte ihre Tochter Amélie in Europa jetzt einen erweiterten Kreis von Testpersonen.
Bei einer weiteren dieser Entwicklungen handelte es sich um ein neues Derivat von Propranolol. Diese Medikamentenklasse setzte man bereits erfolgreich zur Erinnerungsabschwächung bei Traumapatienten ein und sie leistete dort gute Dienste. Das Präparat, das Moíra entwickelt hatte, wirkte aber um vieles stärker. Es löschte das Kurzzeitgedächtnis nach der nächsten Schlafphase komplett. Der Wirkstoff verhielt sich in dieser Beziehung ähnlich wie KO-Tropfen. Es gab aber noch einen weiteren Effekt, der weit darüber hinaus ging. Rief man den Versuchspersonen nämlich vor Eintritt der Schlafphase weitere Ereignisse aus der Vergangenheit zurück ins Gedächtnis, so wurden auch diese mit gelöscht.
Klothos Plan war es, den vier Campern diesen Wirkstoff zu verabreichen und sie dann von ihren Leuten intensiv nach den Ereignissen der vergangenen Wochen befragen zu lassen, während sie unter seiner Wirkung standen. Danach würden sie ein Schlafmittel erhalten und in dieser Zeit zurück nach Santiago gebracht werden. Reichte die folgende Amnesie weit genug zurück, könnten sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr daran erinnern, wo sie gewesen waren und was sie in ihrem Urlaub sonst noch geplant hatten. Damit konnten sie den Standort der 'Kolonie' nicht verraten.
Als Leiterin von Moíra kannte sie keine Skrupel, wenn es um die Sicherheit ihrer eigenen Leute ging. Der Schutz ihrer Organisation und der 'Kolonie' stand für sie an erster Stelle. Daß sie die Ungiftigkeit des neuen Medikamentes noch nicht abschließend geklärt hatten, störte sie nicht. Sie erteilte die nötigen Anordnungen und verließ das Gebäude.
Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, die Sicherheitsvorkehrungen zu verschärfen. Sie plante Kamerastützpunkte auf den umliegenden Hügeln. Dazu bestellte sie eine Reihe hochauflösender Kameras und zusätzlich einige Drohnen für Luftüberwachung. Noch einmal sollte ihnen niemand so nahe kommen, daß sie überraschend in der Umgebung auftauchten. Außerdem würde sie dafür sorgen, daß die hier in der Gegend verbreiteten dornigen Büsche in den Richtungen, aus denen man sich zu Fuß nähern konnte, besonders dicht wuchsen. Das ließ sich durch gezielte Bewässerung, leichtes Düngen und einige Neuanpflanzungen schnell bewerkstelligen und würde zumindest Klettertouristen abschrecken, ohne daß sie dabei das Landschaftsbild verändern mußten. Vielleicht machte es auch Sinn, das Tal, durch das man zu ihnen kommen mußte, mit einigen Fernzündern zu verminen.
Einige Tage später kamen vier Leute auf einem Platz in einem Vorort Santiagos wieder zu sich. Ihre gepackten Trekking-Rucksäcke standen neben ihnen. Sie froren in der Morgenkühle und es dauerte fast eine Stunde, bis jeder von ihnen seine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Sie saßen zusammen und versuchten herauszufinden, was ihnen zugestoßen war. Niemand von ihnen konnte sagen, wie sie hierhergekommen waren. Sie erschraken, als sie das aktuelle Datum auf der Digitaluhr einer Bankfiliale sahen, die sich einige Häuser entfernt befand. Es schienen für alle mehr als zwei Wochen vergangen zu sein. Zwei von ihnen erinnerten sich nicht einmal, nach Südamerika gereist zu sein.
Alle litten sie unter großer Übelkeit und körperlicher Schwäche. Als sich einer von ihnen spontan auf das Pflaster erbrach, rief ein vorbeikommender Passant den Notarzt. Dieser ließ sie in ein städtisches Krankenhaus bringen, wo man sie zunächst stabilisierte und umfassend untersuchte. Die Ärzte tippten auf eine Vergiftung. Außer Spuren eines langwirkenden Schlafmittels konnten sie aber in den Blutwerten nichts Auffälliges finden.
Da sich der Zustand der Camper nach einigen Tagen besserte, entließ man sie schließlich als geheilt und schickte sie nach Hause. Keiner von ihnen würde sich aber je wieder daran erinnern können, was sie in den vergangenen Wochen erlebt hatten. Das Einzige, was ihnen blieb, waren sporadische Albträume und ein unbestimmtes Gefühl, daß ihnen Leute auf der Straße zu folgen schienen.
Tahir öffnete selbst die Tür und hatte sein breitestes Lächeln aufgesetzt. Er freute sich offensichtlich über Maurices Besuch und begrüßte ihn mit einer herzlichen Umarmung. Der ertrug sie wie üblich mehr, als daß er sie genossen hätte und entwand sich dem Griff schnell.
»Willkommen, Rice. Hey, ich freue mich doch nur. Ich will Dir nix tun!«
»Glaube mir, ich freue mich auch, daß ich hier sein darf.«
»Und wir freuen uns, daß Du da bist!« Tahir führte ihn ins Wohnzimmer und stellte ihn seiner Frau Nadine vor, einer hochgewachsenen, brünetten Schönheit. Sie trug eine dünnrandige, unauffällige Brille und begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und einem unerwartet kräftigen Händedruck.
»Das kommt davon, daß ich Tahir manchmal am liebsten den Hals umdrehen würde, wenn er wieder einmal irgendnen Ding gedreht hat«, erklärte sie, als sie Maurices erstaunten Blick sah. »Deswegen übe ich immer heimlich und wringe unsere Wäsche von Hand aus.«
»Hey, hey!«, protestierte Tahir. »Ich hoffe doch sehr, daß Du mich noch eine Weile leben läßt! Schließlich haben wir einiges vor zusammen.« Er zwinkerte Maurice zu, nahm Nadines Hand und küßte sie sanft.
Auf dem Tisch standen bereits Teller, Besteck und Schälchen, aber sie setzten sich zunächst auf das Sofa. Nadine brachte einige Häppchen zum Aperitif und etwas zu trinken. Tahir entkorkte später beim Essen eine Flasche Rotwein. Maurice fühlte sich in Gegenwart der beiden so wohl, daß er sein knurriges Wesen für eine Weile vergaß und einige Male sogar herzlich mitlachte, wenn Tahir einen Witz erzählte, auch wenn die Pointe gelegentlich auf seine oder Nadines Kosten ging.
»An Dir ist echt nen Unterhalter verlorengegangen«, sagte er anerkennend. »Das hattest Du schon in der Schule drauf.« Tahir lächelte geschmeichelt.
»Glaub nicht, daß das hier immer so läuft.« Nadines Stimme strahlte plötzlich eine Autorität aus, daß die beiden Männer zusammenzuckten. »Nächste Woche ist er mit Kochen dran!«
»Wir haben die ganze Zeit nur über mich geredet. Was hast Du eigentlich nach der Gendarmerie gemacht?«, fragte Tahir plötzlich.
Maurice hatte sich auf diese Frage vorbereitet und wunderte sich nur, daß Tahir sie nicht schon früher gestellt hatte. »Ich bin der Wanderpokal bei den Pariser Kommissariaten«, antwortete er und bemühte sich nicht, seine Verlegenheit zu verbergen. »Leute wie wir haben es nicht leicht bei diesen Stadtleuten. Das kannst Du Dir denken.«
»Das hättst Du mir doch schon in der Bar neulich sagen können.« Tahir setzte wieder sein unglaublich breites Grinsen auf. »Bist Du sicher, daß es nur an Deiner Herkunft liegt? Immerhin warst Du auch nie wirklich nen Prince Charming.«
Maurice errötete. »Das ist wohl richtig. Zuletzt haben sie mich jedenfalls im Vierten abgestellt. Was glaubst Du, was das für nen Spaß macht, im Marais Strafzettel zu schreiben?!«
»Zumindest hast Du auch jeden Monat Geld auf Deinem Konto. Viele Leute hier haben das nicht. Da haben wir hier das schon ganz gut getroffen. Tchin-tchin!« Tahir erhob sein Glas und alle drei stießen zusammen an.
Nadine verabschiedete sich nach dem Essen. »Ich muß leider gehen. Ich treffe mich noch mit meinen Freundinnen. Das wird bestimmt spät. Also wartet nicht auf mich.«
»Ist Kamila auch dabei?« Nadine nickte. »Grüß sie von mir.
»Kamila ist Omars Freundin«, erklärte er, als Nadine gegangen war.
Sie blieben noch eine Weile sitzen. Tahir öffnete eine zweite Flasche Rotwein. Maurice dachte darüber nach, daß sein Gegenüber der einzige Gefährte aus seiner Schulzeit und den Jahren danach war, der der Beschreibung 'Freund' auch nur nahekam. Mit allen anderen hatte er sich nur befaßt, wenn es nicht anders ging. Ein Stück weit genoß so auch Maurice das Wiedersehen und es hinterließ bei ihm einen schalen Nachgeschmack, daß er ihn eigentlich besuchte, um ihn auszuhorchen.
»Ich fände es schön, wenn wir uns wieder öfter sehen könnten«, sagte Tahir schließlich mit schon etwas schwerer Zuge. »Planst Du nicht mal, wieder aus der Stadt rauszuziehen? Dort hält Dich doch nix. Und die Mieten sind hier auch günstiger.«
»Nee, Du hattest Montagabend schon recht. Ich habe keinen Bock, meinen Brüdern über den Weg zu laufen. Und Omar zweimal nicht.«
Tahir wurde plötzlich wieder ernst. »Stimmt. Habe ich gerade für nen Moment vergessen. Außerdem – auch wenn Du nur Strafzettel schreibst, bist Du trotzdem nen Flic.«
»Was war das eigentlich mit Omar und diesem Toten in Stalingrad, was Du mir am Montag nicht erzählen wolltest?«
»Das hat ziemlich Aufsehn erregt.« Tahir sprach jetzt so leise, daß Maurice sich ein Stück zu ihm hinüberlehnen mußte, um alles zu verstehen. »Omar sagt, er war es nicht. Habe ich wenigstens so gehört. Andererseits soll ein Pfund Rauschgift im Auto gewesen sein. Omar würde niemals Stoff einfach so verbrennen. Er produziert ihn ja nicht selbst. Das paßt alles nicht zusammen, findest Du nicht auch? Sowas schmeißt man doch nicht einfach weg.«
»Klingt nen bißchen, als wüßte Omar aber, wer dahintersteckt. Irgendwer scheint da nen mieses Spiel zu spielen. Vielleicht soll jemandem was angehängt werden?«
»Das glaub ich nicht. Der Typ war nicht von hier, habe ich gehört. Es sind alle sehr aufgeregt, aber es wird wohl niemand vermißt.«
»Siehst Du Omar denn noch öfter, wenn Du so viel hörst?«
Tahir wirkte verlegen. »Läßt sich nicht vermeiden. Omars Mädel Kamila ist ja die beste Freundin von Nadine. Da erfährt sie so einiges, und ich mit ihr. Die Cliquen von früher hängen auch heute noch zusammen. Du wärst selbst noch drin, wenn Du nicht zur Gendarmerie gegangen wärst. Nur jetzt, wo Du nen Flic bist… eigentlich dürfte ich mit Dir gar nicht über sowas reden.«
»Von mir erfährts keiner. Ich habe selbst Ärger genug am Hals und kein Bedürfnis, mich wichtig zu machen.«
»Laß uns das Thema wechseln«, bat Tahir, der die Unterhaltung anscheinend gerade unangenehm fand. Er sah zwischendurch beinahe gequält auf Maurice. Auf einmal stand er auf und wanderte unruhig hin und her. Jetzt mischte sich eine neue Geruchsnote in seinen Körpergeruch. Angst.
»Ich würde gern noch nen wenig mit Dir um die Häuser ziehen. Nadine ist unterwegs. Wir haben die Stadt ganz für uns. Laß uns so nen Junggesellenabend machen. Ganz wie früher. Ich habe das echt vermißt. Und keine Angst, Rice, ich kenn nen paar Clubs, in die Omar bestimmt nicht geht«, fügte er hinzu, als er Maurices besorgten Blick sah.
Maurice mochte es nicht, mit seinem alten Spitznamen angesprochen zu werden. Den Preis würde er wohl zahlen müssen, solange er sich unter den Leuten bewegte, die ihn von früher kannten. Er fand aber, daß er von Tahir bereits einiges erfahren hatte, das anfing, die Puzzleteile um den Stalingrader Mord zu sortieren. Warum also nicht noch ein wenig Spaß haben?
So nickte er zustimmend und beide gingen sie die Treppen hinunter auf die Straße. Tahir legte wie früher freundschaftlich seinen Arm um ihn. Maurice erschauerte kurz innerlich. Zuletzt hatte er sich das von Mike gefallen lassen. Dann nahm er es aber hin und die beiden spazierten zusammen durch den Stadtteil.
Sie gingen zwischen Wohnblöcken und Mehrfamilienhäusern hindurch, bis sie den Canal de Saint-Denis erreichten, den sie über eine Fußgängerbrücke querten. Auf der anderen Seite folgten sie der Uferstraße und nutzten dann eine Unterführung, um eine Schnellstraße in der Nähe der Porte de Paris zu kreuzen. Auf der anderen Seite leuchtete ihnen schon die Außenwerbung einer Shisha-Bar entgegen.
Maurice bestellte sich dort einen Tee mit marokkanischer Minze und Tahir ließ sich eine Wasserpfeife bringen. Den Tabak, den er mitbekam, reicherte er vor dem Anzünden noch mit einigen dunklen Krümeln an, die Maurices Nase zielsicher als Haschisch identifizierte.
Nachdem Tahir einige Züge genommen hatte, entspannte er sich sichtlich. Er bot ihm die Pfeife an und auch Maurice nahm einige Züge. Die Wirkung der Zutat setzte schnell ein. Eine heitere Stimmung machte sich in ihm breit, die so gar nicht zu seinem Auftrag paßte. Auch Tahir sah jetzt wieder sehr aufgeräumt aus.
Maurice nahm einen Schluck von seinem Tee. Das Aroma der Minze vermischte sich mit dem alles durchdringenden Geschmack des Rauschgifts auf seiner Zunge zu einer Komposition, die er als extrem angenehm empfand. Vielleicht sollte er zu Hause wieder gelegentlich einen Joint rauchen. Vielleicht sollte er sich mit Tahir wieder öfter treffen und die alte Freundschaft wiederaufleben lassen. Schließlich stammte er von hier. In den letzten Jahren hatte er alles getan, um sich nicht mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen. Die alte Clique wiedersehen. Was sollte daran so schlimm schon sein? Die Welt fühlte sich plötzlich viel freundlicher an.
»Verdammt, ist das Gras stark«, sagte er mit schwerer Zunge.
»Vielleicht bist Du den Stoff einfach nicht mehr gewöhnt, den wir hier rauchen. Ihr kriegt doch bestimmt nur irgendeinen Verschnitt und nicht unser gutes Zeugs.«
»Vielleicht ist das so. Vielleicht bin ich auch nur außer Übung.«
»Laß uns nen Taxi rufen. Ich kenne da nen Club, in dem gehts bald ab.«
»Gute Idee. Ich will tanzen.«
Sie saßen schweigend auf der Rückbank. Tahir nannte eine Adresse und der Fahrer fuhr um den alten Stadtkern von Saint-Denis herum in nordöstlicher Richtung nach Val-d'Oise. In einem Gewerbegebiet befand sich ihr Ziel. Wenn man den Betrieb auf den benachbarten Parkflächen als Maßstab nahm, war er gut besucht. Sie standen bereits auf der Zufahrtsstraße im Stau, so daß Tahir den Fahrer bezahlte und sie die letzten Schritte zu Fuß gingen.
Die frische Nachtluft tat Maurice gut. Tief ein- und ausatmend ging er neben Tahir her. Was auch immer er da geraucht hatte, wirkte viel stärker als das Gras, das er sich von seinem Dealer holte. Das Blut pulsierte heiß durch seine Adern und vernebelte ihm die Sinne. Die Kühle half ein wenig, das in den Griff zu bekommen und vor allem gerade zu gehen. Ein wenig fühlte er sich jetzt tatsächlich wie damals, als sie noch zusammen am Wochenende die Gegend unsicher gemacht hatten.
Der Einlaß in den Club sah von außen unauffällig aus. Eine solide Feuerschutztür mitten in der Betonwand einer einstöckigen Industriehalle. Nur eine lange Schlange von Leuten wies darauf hin, daß in dieser Halle etwas geboten wurde, ebenso wie die Nummernschilder der Autos, die aus mehreren der umliegenden Departements stammten.
Tahir ging mit Maurice zielstrebig an der Schlange vorbei und zeigte den Türstehern etwas, das eine Marke sein konnte. Maurice konnte es auf die Schnelle nicht genau erkennen. Der Mann nickte kurz und schloß ihnen eine kleine Tür auf, die sich einige Meter neben dem Haupteingang befand. »Viel Spaß«, sagte er.
»Ey, will auch so ne Marke!«, rief es mit schwerer Zunge hinter ihnen aus der Schlange. Dann schloß der Türsteher die Türe hinter ihnen.
Sie befanden sich in einem schummrig ausgeleuchteten Raum, der mit einigen Sesseln und niedrigen Tischen bestückt war. An einer Wand befand sich eine große Garderobe, auf der bereits eine Reihe Klamotten hingen.
»Ist das nen VIP-Eingang?«, fragte Maurice und seine Hochachtung vor Tahir wuchs.
»Ich bin hier sowas wie nen … Stammgast.«
Tahir klang verlegen. Maurice war sich einen Moment lang nicht sicher, was der Unterton in seiner Stimme wirklich bedeutete, aber sein Blut befand sich bereits in Wallung. Er hörte das Wummern der Bässe durch die Tür hindurch, die ihren Raum vom Rest des Clubs trennte. Ja, es war genau wie früher. Er mußte jetzt da raus. Sich den Frust der Woche aus den Knochen tanzen.
Tahir ging voran. Auf der anderen Seite der Tür standen zwei Leute von der Security. Er zeigte wieder seine Marke vor und die Türsteher ließen sie anstandslos durch. Die Tür mußte schallisoliert sein, denn auf der anderen Seite schlug ihnen ein Tsunami aus Bässen entgegen. Auf ihm schwammen die zerschmetterten Gespräche der umstehenden Leute. Sinnlose Wortfetzen. Gelächter. Klirrende Gläser. Sie stürzten über Maurice zusammen und rissen ihn mit.
»Ich hol uns zwei Drinks«, rief Tahir Maurice hinterher, der bereits der Tanzfläche entgegenstrebte.
Ihm ging es gut wie schon lange nicht mehr. Genau das hatte er gebraucht. Warum hatte er das nicht schon lange gemacht? Gerade vor einer Woche hatte er eine Einladung Mikes ausgeschlagen, mit ihm zur Silvesterparty ins 'Le Club' zu gehen. Aber jetzt stand er hier. Heute würde er alles nachholen, was er in den vergangenen Monaten versäumt hatte.
Sein Körper trieb auf der Welle der Bässe, die die mannshohen Boxen hinter der Tanzfläche ausstießen. Er ließ sich von den schnellen Rhythmen durchdringen. Riesige Strahler schienen auf die Tanzfläche, aber er bemerkte ihre Wärme kaum. Seine Jacke hatte er eben an der Garderobe gelassen. Sein Tank Top, das die breiten Schultern mehr betonte als verhüllte, war im Nu schweißnaß und klebte ihm am Körper. Er genoß die bewundernden Blicke, die ihm viele der Mädels um ihn herum zuwarfen, und sogar einige der Männer.
Wieviel Zeit inzwischen vergangen war, wußte er nicht. Schließlich, als er einige der Endorphine aus seinem Körper getanzt hatte, fiel sein Blick auf Tahir, der in einer kleinen Gruppe Männer am Rand der Tanzfläche stand. Der lachte und hielt ihm einen Wodka Orange entgegen, von dem bereits das Kondenswasser tropfte.
»Hier Rice, trink. Du brauchst Flüssigkeit!«, rief er ihm durch den Lärm zu.
Maurice verließ die Tanzfläche und nahm dankbar einige Schlucke aus dem Glas. Tahir mußte schon eine Weile auf ihn gewartet haben.
»Tut mir leid«, sagte Maurice, als er das erkannte. »Aber war das geil! Einen tollen Club haste uns ausgesucht.«
Jetzt, wo sein Pulsschlag sich langsam normalisierte, nahm er auch seine Umgebung wieder wahr. Sie standen zwischen einem halben Dutzend Männer, die alle ähnlich muskulös gebaut waren wie er. Einer von ihnen schien ihn schon seit einiger Zeit anzusehen. Er war ähnlich leicht gekleidet wie Maurice, aber sein Körper war über und über tätowiert. Die Tattoos zogen sich über den Nacken bis hinauf auf seinen kahlrasierten Kopf. Seine Nase zeigte Spuren eines alten Bruchs und eine Narbe an der linken Schläfe zeugte davon, daß er sich schon öfter mit anderen geprügelt hatte. Die kindlich schwarzen Augen in dem runden Gesicht blickten voller Haß auf Maurice.
Es war Omar.
Ihre Wanderung durch das Hügelland westlich des Starnberger hatten sie beendet und Werner führte mit seinen beiden Marschgefährten Robert und Kurt eine lebhafte Diskussion über die Theorie der Atome, ein recht anspruchsvolles Sujet für die bald anstehenden Abiturprüfungen.
Im Kern ging es darum, daß Atome aufgrund des chemischen Verhaltens der Elemente zwar als Strukturelemente postuliert werden mußten, daß man sie aber vermutlich niemals direkt zu Gesicht bekommen würde. Über die Gründe waren sich die Drei jedoch uneins. Kurt war der Meinung, daß Atome bestenfalls ein Zwischenprodukt wären und vermutlich ebenfalls ad Infinitum aus kleineren Einheiten aufgebaut sein müßten. Daher wäre eine Diskussion über Atome von vornherein sinnlos. Robert sah das Problem von einer philosophischen Seite und vermutete, daß Atome lediglich Symmetrieeigenschaften grundlegender Strukturen des Raumes seien und daß alle Zeichnungen und Modelle in den Lehrbüchern den Blick auf die wahren Zusammenhänge eher verschleierten als erhellten.
Alle drei stimmten aber darin überein daß Atome nicht mehr waren als ein Konzept, das es erlaubte, chemische Reaktionen zu erklären und deren Ergebnisse vorherzusagen. Modelle, die etwas über die Form und Struktur eines Atoms aussagten, spiegelten aus ihrer Sicht zwar den jeweiligen Forschungsstand wider. Etwas wie das 'Aussehen' eines Atoms erklärten sie aber nicht, sondern lediglich die Meßergebnisse, die man zur Bildung des jeweiligen Modelles heranzog.
Jetzt lagen sie in ihrem Viermannzelt und seine Nachbarn schliefen bereits dem kommenden Tag entgegen. Werners Gedanken kreisten immer noch um die nachmittägliche Diskussion. Je weiter sich sein Geist dem Einschlafpunkt näherte, desto mehr verwirrten sie sich. Schließlich glitt er hinüber in die andere Wirklichkeit.
Unvermittelt befand er sich wieder in den Unruhen des vergangenen Jahres. Man hatte ihn mit einigen Schulkameraden zur Unterstützung eines Freikorps herangezogen. Dessen Aufgabe war es, die Münchener Räterepublik zu beenden. Wenn sie nicht gerade Telefondienst machten oder zur Schule gingen, strichen sie in kleinen Gruppen durch die Straßen der nördlichen Vorstädte und versuchten Informationen zu sammeln.
Einmal gerieten sie unabsichtlich in ein Gefecht des Korps mit einer Gruppe Plünderer. Bei ihren Versuchen, die Gefahrenzone zu verlassen, wurden sie getrennt und Werner fand sich in einem ihm nur wenig bekannten Teil Schwabings wieder, weit im Norden, in der Nähe der städtischen Kliniken. Zurück konnte er nicht. Der Lärm der Schüsse ließ keinen Zweifel daran, daß es dort noch höchst gefährlich war. Also versuchte Werner, das Gebiet in südlicher Richtung zu umgehen.
In der aufkommenden Dämmerung erreichte er schließlich wieder eine ihm bekannte Straße, von der er wußte, daß sie zum Feilitzschplatz führte. Dort endete auch die Leopoldstraße. Deren südliche Verlängerung war die Ludwigstraße, in der sich das Hauptquartier seines Korps befand.
Die Strecke nahm einige Zeit in Anspruch und die Dunkelheit fiel rasch über die Stadt. Plötzlich löste sich aus einem Hauseingang ein Schatten, der sich ihm in den Weg stellte. Ein Junge in seinem Alter stand vor ihm. Seine Kleidung sah völlig zerlumpt aus und das Gesicht, das unter der Soldatenmütze gerade noch zu erkennen war, wirkte bei der schwindenden Beleuchtung wie ein hohler Schatten. Der Junge hatte zweifellos einiges durchgemacht. Das Gewehr in seiner Hand ließ aber keinen Zweifel daran, wie die Machtverhältnisse verteilt waren.
»Wer da? Freund oder Feind?«, wurde er angerufen.
Die rhetorische Frage wäre zu einer anderen Zeit vielleicht lustig gewesen. Werner, der gerade froh war, aus der Kampfzone entkommen zu sein, ergriff aber die nackte Angst beim Anblick des Gewehres. »Ich … ich … habe mich verlaufen und suche den Weg nach Hause«, stammelte er.
»Ein Münchener, der sich in seiner eigenen Stadt nicht auskennt? Du hast Dich verraten. Du gehörst nicht zu uns. Du gehörst zu den Korps, die uns angreifen. Du gibst mir sofort alles, was Du hast!«
Der Junge nahm zur Unterstützung seiner Forderung das Gewehr hoch. Werner, der sich vor Angst fast in die Hosen machte, griff intuitiv in die Innentasche seiner Jacke, erwischte aber anstelle des Geldbeutels ein Stück Brot, das er sich mittags als Notvorrat eingesteckt hatte, falls er nicht rechtzeitig heimkam. Der Junge, der wohl seit Tagen nichts mehr zu essen bekommen hatte, sah das Brot und griff gierig danach.
Werner nutzte den Augenblick der Unaufmerksamkeit, stieß den Jungen vor die Brust, so daß der das Gleichgewicht verlor, und rannte davon, so schnell ihn seine Füße tragen konnten. Hinter sich hörte er lautes Fluchen und dann nach einigen Sekunden einen Schuß.
Mit diesem Augenblick veränderte sich Werners Perspektive. Er überblickte die ganze Szene, die plötzlich in helles Licht getaucht zu sein schien. Er sah den Schützen. Er sah sich selbst in Zeitlupe davonrennen und er sah noch etwas. Er sah die Patrone fliegen!
Die Zeit schien immer langsamer zu vergehen. Die Augenblicke dehnten sich endlos. Werner konnte anhand der Flugbahn des Geschosses klar erkennen, daß es ihn unmöglich verfehlen konnte. Kälte ergriff ihn. Seine Angst wuchs ins Unermeßliche. Gleich mußte es soweit sein. Fast hatte ihn die Kugel schon erreicht, da passierte – ja was denn eigentlich?
Er sah die Kugel fliegen und gleichzeitig sah er sie nicht. Je genauer er ihre Geschwindigkeit bestimmen wollte, desto unschärfer wurde das Bild. Zuerst ein kleines, etwas unscharfes Wölkchen, dann expandierte die Wolke, sie wuchs an zu einer Kugel in Handballgröße, sie wuchs immer weiter, bis sie schließlich als diffuser Nebel die ganze Straße ausfüllte.
Dann verschwand sie. Die Kugel hatte ihn entgegen aller Wahrscheinlichkeit verfehlt und er konnte weiterlaufen. Entkommen.
Mit einem Schrei schreckte Werner hoch. Ein leises Grummeln zeugte davon, daß er die Nachtruhe der anderen gestört hatte. Frierend saß er in der kalten Luft. Sein Atem bildete Wölkchen von Nebel. Die erste Morgendämmerung zeigte an, daß die Sonne bald aufgehen würde.
»He, Du hast wohl schlecht geträumt?«, sagte Karl, sein Nachbar, leise. Werner hatte ihn auf der Wanderung mehrfach heimlich betrachtet. Er beteiligte sich nicht an ihrer Diskussion. Um seine vollen Lippen spielte aber regelmäßig ein wissendes Lächeln. Er war hochgewachsen und Werner fand sogar, daß er hübsch aussah. Jetzt richtete er erstmals das Wort an ihn.
»Werner, Du zitterst ja. Komm, vergiß Deinen Traum und komm zu mir unter die Decke. Da wird Dir schnell wieder warm.«
Werner folgte der Bitte, ohne darüber nachzudenken. Er schlüpfte unter die Decke und drückte seinen frierenden Körper fest an den Karls. Der strahlte Wärme aus und Ruhe. Werner entspannte sich. Arm in Arm lagen sie zusammen unter der Decke und lauschten dem Vogelchor, der vielstimmig den neuen Tag ankündigte.
Walter und Mike sahen sich immer noch regelmäßig, obwohl die dramatischen Ereignisse, wegen derer sie sich kennengelernt hatten, überstanden und Geschichte waren. Zwischen den beiden grundverschiedenen Männern hatte sich mit der Zeit eine Verbundenheit entwickelt, die über eine schlichte Freundschaft hinausging. Mike beschlich manchmal das Gefühl, daß er für Walter eine Art Sohn darstellte. Letztlich spielte das aber keine Rolle, denn er mochte Walter ebenfalls und ihre regelmäßigen Treffen ließen ihn nie mit dem Eindruck zurück, sich auch nur eine Minute gelangweilt zu haben.
»Mal ganz indiskret gefragt: Haben Sie eigentlich Kinder?«, fragte er sein Gegenüber, nachdem sie sich eine Weile über Mikes Studienzeit unterhalten hatten.
Über Walters Gesicht schien kurz ein Schatten zu huschen: »Ich befand mich seltsamerweise nur einmal in einer Situation, in der ich überlegt habe, mich fest zu binden. Das war Anfang der Achtziger, als ich eine kurze Romanze mit einer meiner Professorinnen hatte. Es hat aber wohl nicht sein sollen. Sie hat … aber das tut hier nichts zur Sache. Jedenfalls habe ich keine Kinder. Ich bin sozusagen mit der Wissenschaft verheiratet.
Mike entschied sich, freundlich zu lächeln und das Thema zu wechseln. »Wie weit sind Sie denn mit Ihrer großen Veröffentlichung? Haben Sie den Artikel schon eingereicht?«
»Bis jetzt noch nicht. Er ist zwar fertig und ich wollte es eigentlich gleich am Anfang der Woche machen. Dann ist aber etwas passiert, das mich seitdem beschäftigt. Sie erinnern sich doch noch an Martin O’Connor?«
»Ein wenig. Ich kenne ihn ja nur aus Ihrer Erzählung damals in Chile und habe kein sehr klares Bild von ihm. Ist etwas passiert, das mit ihm zu tun hat?«
»In der Tat. Seine Nichte hat sich vor einigen Tagen auf eine freie Stelle in meiner Arbeitsgruppe beworben. Ich wollte es zuerst nicht glauben, aber ihre Unterlagen sind schlüssig.«
»Seine Nichte? O’Connor war doch blutjung.«
»Das stimmt. Trotzdem ist sie es wohl. Sie ist sogar etwas älter als er. Und sie hat seine mathematischen Fähigkeiten. Sie verstehen, daß mich das beschäftigt.«
Mike trank einen Schluck Kaffee. »Spannend! Das ist wohl eine der neuen Türen, die sich öffnen, nachdem jemand gegangen ist. Ich finde, sie sollten hindurchgehen. Wenn sie außerdem noch qualifiziert für die Arbeit mit Ihnen ist, haben Sie doch nichts zu verlieren, außer einigen unglücklichen Erinnerungen. So wie ich damals.«
»Ich habe Ihnen denselben Ratschlag gegeben, oder?«
»Und er hat funktioniert.«
»Dann sollte ich wohl meiner Intuition und meinem eigenen Ratschlag vertrauen«, sagte Walter, nachdem er eine Weile in seiner Tasse gerührt hatte. »Außerdem sagt mir mein Gefühl, daß ich das Richtige tue. Glauben Sie an die Belastbarkeit Ihrer Intuitionen?«
»Nicht immer.« Mike wirkte plötzlich verlegen. »Ich habe mich damit auch öfter in Situationen manövriert, die ich heute lieber vergessen würde. Aber ignorieren würde ich sie niemals.«
»Bei Ihnen habe ich seinerzeit auch meiner Intuition vertraut.«
Beide saßen einige Minuten wortlos zusammen und hingen ihren eigenen Gedanken nach. Dann verabschiedete Mike sich.
»Ich habe noch eine Verabredung mit … einer weiteren offenen Tür.«
Walter verstand den Wink. »Tun Sie nichts, was ich nicht auch tun würde«, sagte er herzlich, als er ihn nach draußen brachte.
»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Und dann will ich Ihren Artikel als Titelschlagzeile des 'Magazine' lesen. Warten Sie nicht zu lange mit der Veröffentlichung. Sonst schnappt Ihnen ein anderer die Geschichte vor der Nase weg. Ewig lassen sich die Ereignisse im CERN nicht unter Verschluß halten.«
»Das stimmt. Wenn da nur meine Intuitionen nicht wären …«
Mike ging zur Metrostation am Pont de Neuilly und fuhr zurück ins Marais. Dort hatte er sich im Cox mit Gilles verabredet. Jenem schüchternen Jungen, der eigentlich so gar nicht sein Typ war, mit dem er aber dennoch nach der Silvesterparty im Bett gelandet war. Sie hatten sich beim Neujahrsfrühstück in Mikes Wohnung nicht mehr allzuviel zu erzählen gehabt. Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker war wohl nicht so nach Gilles Geschmack. Er sagte kaum ein Wort und verabschiedete sich dann schnell unter einem Vorwand.
Vielleicht lief es heute abend ja besser. Gilles hatte sich an einen Stehtisch in einer ruhigen Ecke zurückgezogen und blickte kaum auf von seinem Bier. Mike stellte sich zu ihm und begrüßte ihn freundlich. Gilles verhielt sich auch heute wieder einsilbig. Er ließ sich die Würmer einzeln aus der Nase ziehen und nur seine tastende Hand an Mikes Hintern verriet, daß er überhaupt an dem Gespräch interessiert war.
»Wir könnten zu Dir gehen. Was meinst Du?«, fragte Mike schließlich, als ihm nichts mehr zum Erzählen einfiel.
Gilles errötete und schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht? Wohnst Du nicht allein?«
Er blickte nur in sein Glas Bier und sagte kein Wort.
»Du wohnst noch bei Deinen Eltern?«, riet Mike.
Gilles nickte zögernd und wirkte, als wolle er gleich im Erdboden versinken.
»Na gut. Dann gehen wir eben zu mir. Komm mit.«
Gilles gehorchte und folgte ihm. Mike zahlte ihre Biere am Tresen. Dann machten sich beide auf den Weg zu seiner Wohnung. Gilles hielt sich wortlos immer einen Schritt hinter ihm. Mike verstand allmählich, warum dieser Junge mit Maurice so gut zurechtkam. Gilles schien immer bereit zu sein und benötigte nur einige gut plazierte Anweisungen, um sich in ein Werkzeug zur Erfüllung von Bedürfnissen verschiedenster Art zu verwandeln.
Genau das brauchte Maurice. Deshalb hatte es zwischen ihnen beiden letztlich nicht funktioniert. Die ersten Wochen mit Maurice gehörten zu den schönsten seines Lebens. Aber sobald die rosa Wolken verflogen waren und etwas Alltag in ihr Zusammensein einkehrte, begannen sie sich auseinanderzuleben.
Mike hatte klare eigene Bedürfnisse und wollte letztlich nicht oft genug mitmachen, wenn Maurice Lust auf ihn hatte. So besuchten sie sich immer seltener und mittlerweile war Maurice kaum mehr als ein guter Bekannter für ihn, dem er gelegentlich im 'Le Club' über den Weg lief, wenn der wieder einmal jagte.
Auch wenn der Sex mit ihm Spaß gemacht hatte, würde es mit Gilles vermutlich ähnlich laufen. Mike brauchte jemanden, der auch Zeit für ihn hatte, wenn er abends aus der Redaktion kam und einfach nur vom Tag erzählen wollte. Jemanden, der auch mal zuhören konnte. Jemanden wie Séb, nur in schwul.
Sébastien Giroud, sein bester Freund aus der Studienzeit, wurde vor gut einem halben Jahr auf besonders brutale Art ermordet. Das Team der Kriminalpolizei, bei dem Maurice arbeitete, hatte den Fall zwar rasch klären können, aber der Verlust wog für Mike immer noch schwer. In intensiven Erinnerungsschüben, die ihn seit dieser Zeit begleiteten, spielte oft Séb eine Hauptrolle.
In seine Gedanken versunken bemerkte er erst auf den letzten Metern, daß sie schon fast zu Hause waren. Er schloß die Pforte auf, durch die er von der Rückseite an seinen Hauseingang herankam und ging mit seiner Eroberung den schmalen Gang zwischen der Mauer des Nachbarhauses und dem Kinderspielplatz entlang. Mike blickte abwesend zu Boden und wurde erst aufmerksam, als sein Begleiter hinter ihm ein komisches Geräusch machte.
Er drehte sich zu ihm um. Gilles Gesicht sah leichenblaß aus und er zitterte am ganzen Körper. Sein Blick ging starr auf etwas, das sich vor ihnen befand.
Maurice war mit einem Schlag nüchtern und sah, daß er in Schwierigkeiten steckte. »So sieht also ein Club aus, in den Omar nicht geht?«, fragte er Tahir.
»Ich habe gelogen. Genau wie Du.«
Maurice erkannte, wie recht Tahir hatte. Jetzt galt es, den Stier bei den Hörnern zu packen und möglichst heil aus dieser unangenehmen Situation wieder herauszukommen. Vielleicht wußten sie nicht alles. Er sah Omar direkt ins Gesicht, streckte ihm die Hand entgegen und versuchte erfolglos, dabei freundlich zu wirken.
»Hallo Omar.«
»Hallo Rice.« Omar erwiderte die Geste nicht und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust. Seine Gesichtszüge bildeten eine undurchdringliche Maske. »Wie gefällt Dir meine Neuerwerbung?« Sein Blick wanderte einmal in die Runde.
»Hübscher Laden. Jedenfalls bevor Du aufgetaucht bist.« Maurice erkannte, daß seine Freundlichkeit nicht ankam.
»Was willste hier? Flics haben hier nix verloren.«
»Ich bin nicht freiwillig hier«, antwortete Maurice mit einem Seitenblick auf Tahir.
»Du stellst Fragen nach Dingen, die Dich nix angehen, Rice.«
Aus Omars Mund klang sein Spitzname noch einmal so unangenehm. Er kräuselte die Lippen verächtlich und spuckte ihm die Wörter regelrecht vor die Füße.
»Was für Fragen gefallen Dir denn nicht?« Maurice versuchte Zeit zu gewinnen, um seine Flucht von hier zu planen. Daß er hier sonst nicht heil wieder herauskäme, war offensichtlich. Er fühlte sich noch etwas schwindlig, aber er konnte wenigstens wieder klar denken.
»Meine Geschäfte gehn Dich nix an. Du gehörst nicht mehr zu uns.«
»Ich bin nur ein Flic aus dem Vierten.«
»Rice, Du bist erbärmlich! Glaubst Du, ich weiß nicht, wo Du wirklich arbeitest?«
Maurice zog scharf die Luft ein. Er war also aufgeflogen. Anscheinend von Anfang an. Jetzt half nur noch die Flucht nach vorne, wenn er noch irgend etwas retten wollte.
»Ich glaube, Du weißt mehr über den Toten im ausgebrannten Auto bei Stalingrad.«
»Ich weiß viel. Daß Du im Justizpalast arbeitest zum Beispiel.« Maurice zuckte zusammen. »Aber mit dem Toten habe ich nix zu tun.«
»Lügner.«
»Niemand nennt mich ungestraft nen Lügner.« Omar redete so leise, wie es die Umgebungsmusik zuließ. Seine Stimme ließ aber trotzdem die Drinks
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Mike Gorden
Cover: Endless Creative
Satz: Endless Creative
Tag der Veröffentlichung: 18.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3216-7
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