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Regenbögen auf Ibiza

Der schrille Weckton meines Handys reißt mich aus dem Schlaf. Genervt und mit geschlossenen Augen greife ich danach und schalte den Alarm aus. Am liebsten würde ich mich wieder in die Decke einwickeln und weiterschlafen. Aber das würde mir nur eine Riesenportion Ärger einbringen. Also quäle ich mich mühselig aus dem Bett und torkele noch im Halbschlaf in die Küche. Was ich jetzt zuerst brauche, ist eine große Tasse starker Kaffee, pur. Ich weiß, ich bin ein Kaffeejunkie wie er im Buche steht. Milch oder Zucker kommen mir nicht in die Tasse, das ist in meinen Augen eine Vergewaltigung meines Lieblingssuchtmittels. Während mein geliebter und viel zu teurer Vollautomat seine Arbeit tut und meine Rettung produziert, schaue ich auf die Küchenuhr. Es ist 6.07Uhr. Das verzeihe ich Dominik niemals!

 

Dominik Färber, mein bester Freund und gleichzeitig der einzige, der von unserer alten Clique, einst bestehend aus sechs Jungs, noch übrig ist. Die anderen haben irgendwann die Stadt verlassen, sei es für ein Studium oder aus sonstigen, privaten Gründen. Mit der Zeit ist der Kontakt dann leider abgebrochen. Ganz besonders vermisse ich immer noch Dennis, schließlich kannten wir uns schon seit dem Sandkasten. Als ich in die Pubertät kam und allmählich merkte, dass ich auf Jungs stand, war ich eine zeitlang heftig in ihn verknallt. Er aber leider nicht in mich, stattdessen hatte er ständig eine andere Blödtussi am Start. Mit der Letzten ist er dann auf und davon nach Stuttgart, für ein Kunststudium. Wahrscheinlich wollte er nur möglichst weit weg von mir. Ich habe damals nämlich irgendwann den Fehler gemacht ihn zu küssen und zu gestehen, dass ich in ihn verliebt bin. Dafür hat er mir beinahe eine reingehauen. Zufällig kam gerade Dominik dazu und konnte ihn noch so eben davon abhalten. Ich hatte deshalb noch lange Liebeskummer, die Abfuhr tat weh. Sehr weh. Aber was soll’s, das ist eindeutig Schnee von vorgestern.

 

Zum Glück ist endlich die dunkelbraune Flüssigkeit in der Tasse angekommen, verbreitet ihr köstliches Aroma und lenkt mich von meinen Erinnerungen ab. Genüsslich trinke ich vorsichtig den ersten Schluck. Schwarz wie die Nacht und heiß wie die Hölle, so muss Kaffee sein. Da mir die Zeit wegläuft, nehme ich die Tasse kurzerhand mit ins Badezimmer und trinke sie aus, während ich mich wasche und rasiere. Zehn Minuten später spüle ich die nun leere Tasse kurz aus und stelle sie auf die Abtropffläche. Jetzt noch schnell die am Abend bereit gelegten Klamotten anziehen und ich bin fertig.

 

Keine Minute zu früh, denn schon ertönt der Klingelton, den ich meinem Freund zugeordnet habe, aus dem Handylautsprecher. Ich überlege kurz einfach nicht ranzugehen, aber dann nehme ich doch seufzend das Gespräch an. Schon erklingt Dominiks fröhliche Stimme. Wie kann der Kerl nur um diese Uhrzeit schon so munter sein? Als erklärter Morgenmuffel habe ich dafür kein Verständnis.

 

„Hallo Thorsten! Ich hoffe, du bist schon wach und fertig angezogen. Wir sind unterwegs zu dir und werden in ungefähr 10 Minuten da sein. Jedenfalls laut Aussage des Taxifahrers. Und noch etwas - denke nicht einmal in Entferntesten daran, nicht mitzukommen.“

 

Mist, der Mann kennt mich einfach viel zu gut. Manchmal ist mir der Typ echt unheimlich. Kann der eigentlich Gedanken lesen? Im Hintergrund höre ich seine Frau Nicole leise lachen. Rasch bestätige ich, dass ich startbereit bin und lege auf. Schnell lasse ich noch alle Jalousien herunter und greife im Vorbeigehen meinen Rucksack und den fertig gepackten Koffer. Jetzt nur noch die Tür abschließen, schon bin ich auf der Treppe Richtung Erdgeschoss unterwegs.

 

Unten angekommen sehe ich durch die geöffnete Haustür bereits das Taxi anhalten. Der Fahrer steigt aus und öffnet den Kofferraum. Kurz denke ich an die Möglichkeit wieder zurückzugehen und den Urlaub auf meinem geliebten, kleinen Balkon zu verbringen, so wie in den letzten beiden Jahren auch. Doch ein Blick in Dominiks Gesicht, der nun neben mir steht und mich kurz umarmt, verrät mir, dass ich damit nicht durchkommen würde. Seufzend schwenke ich im Geist die weiße Fahne und kapituliere, dann hieve ich meinen Koffer und das Handgepäck ins Taxi. Anschließend setze ich mich vorne neben den Fahrer, während mein Freund sichtlich zufrieden wieder neben seiner Frau auf dem Rücksitz Platz nimmt. Nicole begrüßt mich nun auch herzlich und freut sich sichtlich darüber, dass ich nicht gekniffen habe.

 

Die beiden Nervensägen haben es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, mich endlich mal aus meinem Schneckenhaus zu locken. Originalton Dominik. Ein Schneckenhaus, das ich seit meiner Trennung von Timo zu meinem festen Wohnsitz erklärt habe.

 

 

 

***

 

 

Dass Timo mich verlassen hat, ist mittlerweile drei Jahre her. Manchmal begreife ich es immer noch nicht, wie ich mich in ihm so täuschen konnte. Es gab mal eine Zeit, da war ich davon überzeugt, dass wir zusammen alt und grau werden würden. Inklusive Trauschein, Adoptivkind und Hund.

 

Doch dann kam der 1. April, der Tag, an dem das Schicksal wohl meinte mich so richtig verarschen zu müssen. Gelacht habe ich nicht.

 

 

Wie immer war ich pünktlich im Krankenhaus, um meinen Dienst als Rettungssanitäter anzutreten. Mal wieder musste ich in den sauren Apfel beißen und die Nachtschicht übernehmen. Zunächst war alles ruhig und wir saßen im Pausenraum der Notaufnahme, um Karten zu spielen und uns die Zeit zu vertreiben. Mein Kollege Markus gewann wie üblich haushoch. Ich hab’ immer noch nicht herausbekommen, wie er das schafft, bin mir aber ziemlich sicher, dass er mogelt. Weshalb ich auch nie um Geld mit ihm spielen würde. Zwischendurch gesellte sich immer mal wieder Sascha zu uns. Eigentlich Dr. Bergenthal, aber wir duzen uns schon ewig. Ich kenne auch seinen Ehemann Ricky, die beiden sind ein tolles Paar.

 

Als wir gerade entspannt rumalberten, kam der Notruf herein. Eine Schlägerei in einer Kneipe mit einigen Schwerverletzten. Routiniert eilten wir zum Krankenwagen und waren innerhalb von fünf Minuten mit Blaulicht und Sirene unterwegs. Sascha fuhr gleich mit uns, denn es war auch ein Notarzt angefordert worden.

 

Dort angekommen, die Polizei war schon vor Ort, bot sich uns das leider wohlbekannte Bild. Prellungen, Schürfwunden, aber auch einige Knochenbrüche waren dabei. Die Einrichtung war beinahe vollständig demoliert worden. Da hatten die Herren sich so richtig ausgetobt. Wir versorgten die Patienten professionell und bereiteten sie für den Abtransport zur Unfallstation vor. Einer der Typen blutete stark und Sascha bat mich ihm behilflich zu sein, damit er die Blutung provisorisch stoppen konnte. Da war eindeutig eine Notoperation der Vene erforderlich. Ich kniete mich neben ihn, leider übersah ich dabei eine größere Glassscherbe. Jemand hatte vermutlich eine Bierflasche als Waffe benutzt. Jedenfalls griff ich in den scharfen Splitter und mein Gummihandschuh zeigte mir den Mittelfinger. Sascha reichte mir sofort eine der Kompressen zum Desinfizieren und eigentlich war es auch nur ein ganz kleiner Schnitt, der kaum blutete.

 

Drei Stunden später waren alle Verletzten versorgt, einige stationär aufgenommen, der Rest wieder nach Hause geschickt worden Ich war völlig erschöpft und wollte es mir gerade im Pausenraum ein wenig gemütlich machen, als Sascha hereinkam. Er sah mich ernst an und bat mich, ihm in sein Sprechzimmer zu folgen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch trottete ich ihm hinterher. Kaum waren wir angekommen, schloss er hinter uns die Tür und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

 

„Setz dich lieber, ich habe leider eine schlechte Nachricht. Der Patient, den wir vorhin wegen der Venenverletzung versorgt haben, ist laut seiner Krankenakte HIV positiv.“

 

Nachdem ich mich auf den Stuhl gesetzt hatte, sah ich Sascha fragend an. „Ja und?“

 

Er seufzte. „Du bist mit dem Blut in Berührung gekommen, als du dich an der Glasscherbe verletzt hast. Ich möchte vorsichtshalber einen HIV-Schnelltest machen.“

 

Jetzt war ich heilfroh, dass ich saß. Nickend gab ich meine Zustimmung, obwohl ich das Ganze für übertrieben hielt. Ich hatte doch nur einen kleinen Schnitt am Finger, der noch nicht einmal genäht werden musste.

 

Als das Testergebnis dann vorlag, fand ich mich unvermittelt in meiner ganz persönlichen Hölle wieder. POSITIV. Natürlich war ich mir immer der Gefahr bewusst, aber ich hatte sie verdrängt. Und jetzt sollte so eine kleine Verletzung an einer bescheuerten Bierflasche alles verändern? Über die Infektionsgefahr nur theoretisch Bescheid zu wissen oder es selbst zu erleben, waren eindeutig zwei Paar Stiefel. Geschockt und mit zitternden Händen hörte ich Sascha zu, wie er mir erklärte, welche Medikamente ich in den nächsten Tagen einnehmen musste, um den Virus zu bekämpfen. Er gab sie mir gleich mit und schickte mich dann nach Hause. Da wollte ich auch nur noch hin, zu Timo und mich die nächsten Tage mit ihm in meinem Bett verkriechen.

 

 

Ich stand noch immer völlig neben mir, als ich die Wohnungstür aufschloss. Timo hatte mich gehört und kam verschlafen zu mir in die Küche. Ich war so froh ihn zu sehen und wollte mich einfach nur von ihm in die Arme nehmen und trösten lassen.

Mein Partner tat beides nicht. Kaum hatte ich ihm von der wahrscheinlichen HIV-Infektion erzählt, rastete er völlig aus.

 

„Sag mal, spinnst du eigentlich? Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich mit einem Aids-Kranken unter einem Dach leben will. Dafür hänge ich zu sehr an meinem Leben!“

 

Offensichtlich hing er nicht an mir und mein Leben war ihm scheißegal. Wie erstarrt sah ich zu, als er sich umdrehte, in unser Schlafzimmer rannte, einige seiner Klamotten in eine Tasche warf, um unsere gemeinsame Wohnung zu verlassen und in ein Hotel zu ziehen. Ich sah ihn nie wieder. Seine gesamte restliche Habe ließ er eine Woche später von einer Umzugsfirma abholen.

 

Als ich ihn am nötigsten brauchte, war er nicht mehr da. Nicht, als ich vor Liebeskummer und Verzweiflung Tag und Nacht heulte, nicht, als ich mir von der PEP beinahe die Seele aus dem Leib kotzte und auch nicht, als ich einfach nicht mehr weiterwusste und schließlich aufgab. Ich hatte die restlichen Tablettenpackungen schon in den Mülleimer geworfen, als Dominik zufällig vorbeikam. Wenn ich schon gedacht hatte, Timo wäre ausgerastet, dann durfte ich jetzt erleben was es wirklich bedeutete, jemanden auszurasten zu sehen. Nur halt in die entgegengesetzte Richtung. Mein Kumpel machte sich keine Gedanken über den ansteckenden Virus, für ihn zählte nur ich. Ein Wunder, dass mir Dominik keine gescheuert hatte, aber er sah wohl ein, dass mit mir Häufchen Elend nicht mehr viel los war. Stattdessen rief er Sascha an und der kam eine Stunde später um mir so richtig den Kopf zu waschen. Als er dann hörte, dass mich Timo verlassen hatte, war er allerdings still. Bis er mich fragte, ob ich etwa auch wegen einem egoistischen Arschloch einfach mein Leben wegwerfen wollte.

 

Erschrocken sah ich ihn an, er war ziemlich blass geworden. Da fiel mir schlagartig ein, was sein Ehemann mir vor langer Zeit erzählt hatte. Nämlich, dass er sich nach der Trennung von seinem Ex die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Fuck!

 

Das gab schließlich den Ausschlag, ich holte die weggeworfenen Schachteln wieder aus dem Mülleimer heraus und schluckte die vorgeschriebene Dosis Medikamente. Eine Woche danach ließ endlich die Übelkeit nach.

 

 

Drei Monate später erhielt ich das nächste Testergebnis. NEGATIV. Weinend brach ich in Saschas Sprechzimmer zusammen. Entweder hatte die PEP voll angeschlagen, oder das erste Ergebnis war schlichtweg falsch gewesen. Ich war noch einmal mit dem Schrecken davon gekommen, doch das Schicksal hatte einen hohen Preis dafür verlangt. Der Mann, von dem ich geglaubt hatte, er würde mich lieben, hatte mich fallenlassen wie eine heiße Kartoffel.

 

 

 

***

 

 

Der Fahrer tritt plötzlich abrupt auf die Bremse und erschrocken stelle ich fest, dass wir schon am Flughafen angekommen sind. Während ich das Gepäck aus dem Kofferraum des Taxis hebe, bezahlt Dominik für die Fahrt. Es ist ein trüber, regnerischer Morgen. Von Sommerwetter keine Spur.

 

Kurze Zeit später checken wir ein und geben unser Gepäck auf. Wir warten in der Abfertigungshalle bis unser Flug aufgerufen. Der Flug mit dem Ziel Ibiza.

 

Ibiza deshalb, weil Dominiks Eltern sich dort vor einiger Zeit ein kleines Ferienhaus gekauft haben. Da sein Vater eine erfolgreiche Anwaltskanzlei besitzt, können sie sich das locker leisten. Mein Freund und seine Frau machen da nicht zum ersten Mal Urlaub und haben mir schon öfter von der beliebten Ferieninsel im Mittelmeer vorgeschwärmt. Bislang habe ich alle Einladungen ausgeschlagen, aber dieses Mal akzeptierte Dominik keine meiner Ausreden.

 

Endlich dürfen wir einsteigen. Die beiden haben mir den Fensterplatz überlassen, da ich noch nie geflogen bin. Ich habe zwar keine Flugangst, aber es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, als der Pilot das Flugzeug langsam auf die Rollbahn steuert, beschleunigt und wir abheben. Leider ist es zu diesig, um viel zu erkennen, trotzdem genieße ich die Aussicht auf die Stadt, die schnell immer kleiner wird.

 

Das Wetter bleibt während unseres Flugs über Deutschland diesig und ändert sich erst, als wir die Alpen überqueren. Von einer Minute zur anderen liegen die hohen Berge mit den schneebedeckten Gipfeln unter uns im gleißenden Sonnenlicht. Ein überwältigender Anblick. Begeistert sehe ich aus dem kleinen Fenster. Ich weiß auch nicht warum, aber plötzlich muss ich an einen älteren Song von Reinhard Mey denken - Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Genau so fühle ich mich gerade - frei. Noch getoppt wird das ganze dann einige Zeit später durch ein strahlendes Blau unter uns. Das Mittelmeer zeigt sich von seiner schönsten Seite und endlich stellt sich auch bei mir so etwas wie Urlaubsfreude ein. Als dann am Horizont unser Ziel auftaucht, bin ich sprachlos. Was für eine Aussicht auf die Insel!

 

Ich genieße den Landeanflug mit meinen Freunden. Routiniert setzt der Pilot das Flugzeug auf. Kaum ist es ausgerollt, beginnt um uns auch schon die Hektik. Irgendwie will jeder zuerst aussteigen, weshalb wir uns Zeit lassen, schließlich sind wir im Urlaub und nicht auf der Flucht. Während die meisten Passagiere zu den großen Reisebussen der Hotels eilen, holt Dominik am Infoschalter den Schlüssel für den vorbestellten Mietwagen ab. Unser Gepäck haben wir schon vom Förderband gefischt, jetzt schlendern wir gelassen zum Ausgang.

 

Draußen ist es herrlich warm, welch ein Unterschied zum verregneten Deutschland. Und erst die Luft, es duftet nach tausenden von Blüten. Herrlich. Der Mietwagen steht ganz in der Nähe des Eingangs auf einem Parkplatz. Wir müssen nur noch unser Gepäck in den Kofferraum werfen und schon geht es los. Während der Fahrt bin ich überwältigt von den vielen Eindrücken. Dankbar lächele ich Dominik und Nicole an. Die beiden amüsieren sich über meine Begeisterung und freuen sich, dass ich endlich einmal mitgekommen nach Ibiza bin. Ich auch.

 

Eine Stunde Autofahrt später erreichen wir das Haus der Färbers. Besser, ich frage mich nicht, was es wohl gekostet hat. Ich bin jedenfalls begeistert, nicht nur von dem Gebäude mit dem mediterranen Flair, sondern auch von den blühenden Büschen und Zitronenbäumen, an denen reife Früchte hängen, rund um das Haus herum. Das Grundstück liegt auf einer kleinen Anhöhe, von der aus man das Mittelmeer sehen kann. Drei Wochen Urlaub, die mir anfangs noch als viel zu lange erschienen. Doch eine vage Ahnung sagt mir gerade, dass sie viel zu schnell vorbei sein werden.

 

Im Haus zeigt mir Dominik zuerst das Gästezimmer, ich habe sogar ein eigenes kleines Bad zu Verfügung. Ich bin so erledigt, dass ich nur kurz dusche und mich dann ins Bett lege. Kaum berührt mein Kopf das Kissen, schlafe ich auch schon ein.

 

 

***

 

 

Die erste Woche ist wie im Flug vergangen. Wir liegen stundenlang in der Sonne und schwimmen im hauseigenen Pool. Unsere Lebensmittel besorgen wir auf dem nahe gelegenen Markt oder direkt am Hafen. Abends wird gegrillt. Ich habe noch nie so leckeren Fisch gegessen, wie ihn Nicole zubereitet. Dazu Salate mit Olivenöl und reifen Zitronen direkt vom Baum. Wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich am Urlaubsende bestimmt meine Hosen nicht mehr zu.

 

Für heute haben wir uns einen Bootsausflug vorgenommen. Die Färbers besitzen ein kleines Motorboot, das wir benutzen dürfen. Es liegt vertäut in einem kleinen Yachthafen. Als wir dort ankommen, bewundere ich die Boote an den benachbarten Anlegern. Manche sind riesig und bestimmt alles andere als billig. Gerade lenken ein paar junge Männer eines der Segelboote aus dem Hafen. Ein wenig neidisch sehe ich ihnen dabei zu. Ich wollte früher mal segeln lernen, hat aber irgendwie nie geklappt.

 

An Bord des kleinen Motorbootes der Färbers schwärmt mir Nicole mal wieder von unserem Ziel, dem großen Hippiemarkt am anderen Ende der Insel, vor. Die Fahrt dahin ist traumhaft schön. Blaues Meer, soweit das Auge reicht und dazu die malerische Kulisse der Insel. Ich bin so froh darüber, dass ich zum Mitkommen genötigt wurde. Das hier ist so viel besser als mein einsamer Balkon. Dominik lenkt das Boot in einen kleinen Hafen und wir drei laufen langsam durch den belebten Ort.

 

Auf dem beliebten Markt angekommen, werden wir von dem bunten Treiben um uns herum beinahe erschlagen. Ich weiß gar nicht, wo ich bei der Masse der angebotenen Waren zuerst hinsehen soll. Dazu die Atmosphäre hier, es ist einfach unbeschreiblich. Wir lauschen dem fröhlichen Spiel der Straßenmusikanten und machen immer mal wieder eine Pause, um etwas zu trinken und uns auszuruhen. Zwei Stunden später laufen wir immer noch bewundernd durch die Reihen der Verkaufsstände, inzwischen voll beladen mit Einkaufstüten. Hauptsächlich die Beute von Dominiks Frau, aber auch ich habe mir eine neue Hose und drei bunte T-Shirts gegönnt.

 

An einem der letzten Stände mit wundervoll gebatikten, in allen Farben des Regenbogens schillernden Stoffen, unterhält sich Nicole lange mit einer der Verkäuferinnen.

 

Strahlend kommt sie danach zu uns zurück und berichtet begeistert, dass sie erfahren hat, dass ganz in der Nähe ein kleines Künstlerdorf ist, der Geheimtipp schlechthin. Anscheinend leben die Menschen dort in einer Art Kommune. Nicole ist so begeistert von der Idee, dass wir spontan beschließen, uns dort morgen einmal umzusehen. Ohne Auto klappt es heute nicht mehr und bis wir zurück sein werden, ist es schon zu spät.

 

Auf der Rückfahrt umrunden wir die Insel von der anderen Seite. Dominik ankert auf halber Strecke in einer kleinen, abgelegenen Bucht und wir nutzen die Gelegenheit für ein Bad im Meer. Jetzt steht es endgültig fest, ich will nicht mehr nach Hause zurück. Als ich diesen Wunsch lachend meinen Freunden gestehe, nicken sie nur wissend und ich frage mich, wie ich nur so dumm sein konnte, ihre Einladungen nicht schon viel eher angenommen zu haben.

 

 

 

***

 

 

Am nächsten Morgen brechen wir gleich nach dem Frühstück auf. Die Fahrt geht einmal quer durch die Insel. Die Landschaft ist atemberaubend und ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinsehen soll. Zwischendurch passieren wir immer wieder malerische Dörfer. Wie schön muss es sein, hier leben zu können. Kein Vergleich mit der Großstadthektik zu Hause.

 

Unser Weg führt uns ständig bergauf, so dass wir die Aussicht auf das Meer genießen können. Die Boote und Schiffe wirken von hier oben wie Spielzeuge. An unserem Ziel angekommen, halten wir auf einem kleinen Parkplatz. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weiter. Als der Weg endet, stehen wir plötzlich vor einer langen Treppe. Beinahe ehrfürchtig sehen wir sie uns an, denn das ist keine normale Treppe. Oder eigentlich doch, aber jemand hat sie kunstvoll bemalt. Nicht die Trittflächen selbst, aber die senkrechten Flächen der Stufen. Alle zusammen fügen sich zu einem einzigartigen Motiv zusammen. Als hätte jemand ein Gemälde auf die Steine gebannt. Am Kopf der Treppe endet das Ganze in einem wunderschönen Regenbogen aus leuchtenden Farben.

 

Oben angekommen sehen wir einige Meter entfernt ein großes Schild quer über dem Weg.

 

 

Rainbow - Village

 

 

Der Name passt haargenau, denn das ganze Dorf ist so bunt wie ein Regenbogen. Die Häuser wurden in leuchtenden Farben angestrichen. Der ganze Ort strahlt eine unbändige Lebensfreude aus.

 

Als wir näher kommen erkennen wir, dass sich in den Häusern kleine Läden befinden, in denen die unterschiedlichsten, selbst hergestellten Kunsthandwerksgegenstände angeboten werden. Schmuck, Kleidung aus handgebatikten Stoffen, Getöpfertes, Körbe, Kinderspielzeug aus Holz, Kleinmöbel, Kissen, Kerzen und noch so vieles mehr. Immer wieder findet sich auf den liebevoll gefertigten Dingen das Hauptthema des Dorfes wieder, der Regenbogen.

 

Wir sind nicht die einzigen, die davon hellauf begeistert sind. Scharenweise drängeln sich die Urlauber in den schmalen Gassen. Immer wieder müssen wir in einer der langen Schlangen warten, bis wir in die kleinen Geschäfte hineingehen können. Das Dorf ist eine regelrechte Touristenattraktion. Nicole und Dominik können nicht verstehen, wie ihnen diese Sehenswürdigkeit bisher entgehen konnte.

 

Zum Glück für mich reden die meisten der jungen Künstler englisch, bei spanisch hätte ich leider passen müssen. An einem Stand mit wunderschön gemalten Landschaftsbildern erfahren wir, dass Dan Ramirez sich zurzeit in seinem Atelier im Dorf aufhält. Nicole kann einen Begeisterungsschrei nicht unterdrücken und ich sehe sie fragend an.

 

„Das glaube ich einfach nicht“, jubelt sie begeistert. „Kennst du das wunderschöne Gemälde von Ibiza im Büro meines Schwiegervaters?“

 

Ich nicke, denn das kenne ich in der Tat. Ist mir sofort aufgefallen, als mich Dominik einmal kurz mitgenommen hatte, um etwas bei seinem Vater abzuholen.

 

„Stell dir nur vor, das ist von Dan Ramirez. Meine Schwiegereltern schwärmen geradezu von dem erfolgreichen Künstler. Nur schade, dass er noch nie eine Ausstellung in Berlin hatte.“

 

Dominik nimmt Nicole lachend in den Arm. „Willst du uns damit etwa sagen, dass du dir unbedingt sein Atelier ansehen möchtest“, neckt er sie liebevoll.

 

„Da kannst du Gift darauf nehmen, mein Göttergatte“, erwidert sie kichernd.

 

Dominik spielt den Empörten. „Hast du das gehört, Thorsten? Jetzt wird mir schon mit einem Giftanschlag gedroht. Das kommt davon, wenn man verheiratet ist.“

 

Ausgelassen beginnen wir drei laut zu lachen, dann machen wir uns auf den Weg zum Dorfrand. Nicole hat sich den Weg genau beschreiben lassen, damit wir das Haus nicht übersehen.

 

 

Zwanzig Minuten später stehen wir vor dem Eingang. Die Tür steht weit offen und uns kommen einige Leute entgegen, die vorsichtig verschiedengroße, sorgfältig verpackte Leinwände tragen.

 

Nacheinander betreten wir das lichtdurchflutete Atelier. Die Bilder, die hier zum Kauf angeboten werden, sind der reinste Traum. Ehrfürchtig bewundern wir die ausgestellten Arbeiten, die Farbwahl ist einfach überwältigend und die Motive wirken völlig lebensecht.

 

Am Ende des Raumes steht der Künstler und unterhält sich mit potenziellen Kunden. Ich sehe ihn im Moment nur von hinten. Groß, schlank, mit einer nur bis zu den Waden reichenden Jeans, Flipflops und einem bunten Kaftan, der offensichtlich eine eingehende Bekanntschaft mit den verwendeten Ölfarben hinter sich hat. Seine blonden Haare reichen Señor Ramirez bis zu den schmalen Hüften, weshalb er sie mit einem Tuch zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hat. Er lehnt sich gerade etwas vor, um einem Kunden eines seiner Werke zu zeigen und ich starre ihm ungeniert auf den kleinen, straffen Hintern.

 

Ich habe mich schon ewig für keinen Mann mehr interessiert und bemerke verblüfft, wie meine Libido aus ihrem langen Winterschlaf erwacht und mir aufgeregt zuwinkt. Oh Mann, wie peinlich! Das fehlt mir gerade noch, dass ich hier mitten unter all den Fremden einen Ständer bekomme.

 

Als der Maler sich schließlich zu uns umdreht, stolpere ich völlig überrascht über meine eigenen Füße. Neben mir ruft Dominik erstaunt: „Bist du das etwa, Dennis?“

 

 

 

***

 

 

Eine Stunde später sitzen wir alle zusammen im Garten unter einem riesigen Sonnenschirm und trinken köstliche, eisgekühlte Zitronenlimonade, die uns Dennis angeboten hat.

 

Dan Ramirez ist wirklich unser alter Schulfreund, ich kann es immer noch nicht richtig glauben. Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er noch raspelkurze Haare. Ansonsten hat er sich kaum verändert, sieht man einmal von der herrlich gebräunten Haut ab. Ausgerechnet hier auf Ibiza laufen wir uns nach all den Jahren wieder über den Weg. Ich kann es immer noch nicht glauben. Dominik fragt ihn gerade, wie er denn zu dem Künstlernamen kam.

 

„Das ist kein Künstlername, sondern mein richtiger Name. Ich habe damals bei unserer Hochzeit den Nachnamen meines Mannes angenommen. Ramirez klingt so viel besser als Böcker.“

 

Ich verschlucke mich glatt an der Limo. Als ich aufhöre zu husten und wieder einigermaßen atmen kann, frage ich: „Dein Mann? Bist du denn...?“

 

Danny grinst mich an. „Schwul? Ganz eindeutig, ja.“

 

„Aber du hast doch...“

 

„Es abgestritten, nicht wahr haben wollen? Zuerst etliche Fehlversuche mit Frauen, später erkannt, dass ich mir nur etwas vormache? Weil ich zu feige war, zu meinen Gefühlen zu stehen? Ja, sieht ganz so aus. Erst durch Juan habe ich erkannt, wer ich wirklich bin und gelernt, zu meiner Homosexualität zu stehen.“

 

Nicole mischt sich ein: „Und wo steckt denn dein Juan eigentlich?“

 

Das Lächeln verschwindet urplötzlich aus Dannys Gesicht. Stattdessen wirkt er auf einmal sehr traurig. „Mein Mann lebt leider nicht mehr. Er ist im letzten Herbst gestorben.“

 

Wir sehen ihn erschrocken an und bekunden unser Beileid. Ich will eigentlich nicht neugierig sein, aber dann frage ich doch nach dem Grund für seinen Tod.

 

Danny sieht mich ernst an. „Er starb an Aids. Mit dem Virus hatte er sich schon vor Jahren angesteckt, noch lange bevor wir uns kennenlernten. Anfang des Jahres brach dann die Krankheit aus.“

 

Ich stottere: „Und bist du auch...?“

 

„HIV-positiv? Nein. Zu was gibt es denn Kondome?“

 

„Und du hast ihn bis zum Schluss gepflegt?“, fragt Dominik.

 

„Aber selbstverständlich! Nicht umsonst heißt es doch, in guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und Krankheit.“

 

 

Wir sitzen noch bis zum späten Nachmittag im Garten und schwelgen in Erinnerungen. Als Danny mich nach meiner Vergangenheit fragt, erwähne ich Timo und seinen unrühmlichen Abgang. Mein alter Freund ist sichtlich schockiert über sein Verhalten mir gegenüber.

 

Er drückt kurz meine Hand. „Ich kenne ihn zwar nicht, aber du solltest ihn besser vergessen. Ein Mann der so reagiert, hat dich nie wirklich geliebt.“

 

Ich sehe in seine blauen Augen und weiß, dass er Recht damit hat. Auch wenn die Erkenntnis immer noch schmerzt. Deshalb kann ich nur wortlos nicken.

 

 

 

***

 

 

Den Rest des Urlaubs verbringe ich größtenteils bei Danny. Dominik hat mir den Leihwagen geradezu aufgedrängt, damit ich fast täglich ins Regenbogen-Dorf fahren kann. Wir quatschen stundenlang und kommen uns dabei immer näher. Manchmal könnte ich glatt vergessen, dass seit unserem missglückten Kuss inzwischen viele Jahre vergangen sind.

 

In der letzten Woche meines Ibiza-Aufenthalts komme ich dann doch noch zu meiner ersehnten Segeltour. Einige von Dannys neuen Freunden haben ein Boot gemietet und uns angeboten mitzukommen. Durch Zufall ist es an dem Tag ziemlich stürmisch und wir rasen nur so über das Wasser. Ich stehe lachend am Bug und komme mir vor, wie Kate Winslet auf der Titanic. Die Gischt spritzt mir ins Gesicht, Danny steht dicht hinter mir und hält mich in seinen Armen, damit ich nicht über Bord falle. Ihn so nahe zu spüren, lässt mich glücklich grinsen und mein Herz schneller schlagen.

 

Zurück im Dorf sitzen wir alle gemeinsam in einer kleinen Taverne. Abwechselnd bestellen wir uns Karaffen mit Sangria und taumeln in der Nacht zurück in die Häuser. Auto fahren ist heute keine gute Idee mehr, weshalb mir Danny anbietet, bei ihm zu schlafen. Erfreut stimme ich zu.

 

 

***

 

 

Epilog

 

 

Erschrocken zucke ich zusammen, als es plötzlich ohrenbetäubend kracht. Den ganzen Tag lang war es schon drückend schwül, das Gewitter längst überfällig. Hektisch greifen Danny und ich nach den Leinwänden, die wir zum Verkauf an die Straße gestellt haben, um sie noch rechtzeitig ins Haus zu tragen und vor dem einsetzenden Regenguss zu schützen. Mittlerweile habe ich mich an die Wetterbesonderheiten hier auf Ibiza gewöhnt, schließlich lebe ich jetzt schon seit beinahe fünf Jahren hier. Zusammen mit Danny, meinem Mann. Dennis und Thorsten Ramirez. Dominik und Nicole waren unsere Trauzeugen.

 

Seit meinem ersten Aufenthalt auf Ibiza ist viel passiert. Wenn auch nicht in unserer ersten gemeinsamen Nacht, auch nicht am darauf folgenden Morgen. Unseren ersten gemeinsamen Sex hatten wir erst ein Jahr später und von da an waren wir unzertrennlich. Es war anfangs nicht leicht für uns. Jeder, der schon einmal eine Fernbeziehung hatte, kann das sicherlich nachvollziehen. Aber schließlich haben wir es geschafft, ich habe meinen Job gekündigt und zusammen mit meinem Ehepartner einen Neuanfang gewagt.

 

Wir haben kaum die Bilder abgestellt, schon beginnt es draußen wie aus Eimern zu schütten. Es blitzt und donnert in einer Tour und ich flüchte mich mal wieder in Dennis Arme. Ich gebe zu, ich habe Angst vor Gewittern. Er hält mich fest und streicht mir beruhigend über den Rücken.

 

Dennis sieht mich zärtlich an und flüstert in mein Ohr: „Ist ja gut, mein Schatz. Es ist bestimmt gleich wieder vorbei.“

 

Er hat natürlich recht und kurze Zeit später kommt schon wieder die Sonne hinter den dunklen Wolken hervor. Wir gehen hinaus in den Garten und genießen die frische Gewitterluft.

 

Wenig später sehen wir uns überrascht an. Es ist, als ob die Welt um uns herum plötzlich in allen Farben schillert. Wir stehen direkt am Fuße eines wunderschönen Regenbogens.

 

Dennis lacht: „Jetzt musst du nur noch eine Schaufel holen um den Goldtopf zu finden.“

 

Kopfschüttelnd sehe ich ihn an und ergreife seine Hand. „Was soll ich denn mit einem Topf voller Gold? Mein allergrößter Schatz steht doch direkt neben mir.“

 

Dann küssen wir uns innig inmitten des Farbenmeers.

 

 

 

 

Ende

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Tag der Veröffentlichung: 29.05.2015

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