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Rettung am seidenen Faden

Im mega-turbo Mäusespeed schwinge ich mich geschickt von Baum zu Baum, von Laternenmast zu Laternenmast, von Haus zu Haus. Ist verdammt kalt heute Abend, schon seit Tagen herrscht Dauerfrost und vor zwei Stunden hat es angefangen zu schneien. Ich muss so schnell sein, sonst friert der Faden schon in der Luft und hält nicht mehr am Zielpunkt. Das kann dann unschön enden. Eigentlich kann ich ja auf Schlagzeilen in den Zeitungen verzichten, die von meinem Ableben künden. So in der Art: Spidermaus stürzt bei gewagten Kletter- und Flugmanövern aus fünftem Stockwerk in die Tiefe und verendet auf einem Autodach. Das wäre sicherlich nicht gut für mein Helden-Image. Dann doch lieber aufpassen und zur Not auch mal eine Hauswand hoch krabbeln anstatt am Faden empor zu schwingen. Jedenfalls solange, wie ich mir nicht die Pfoten abfriere.

 

Warum ich die Übungen bei der Saukälte mache und nicht lieber gemütlich in meiner warmen Butze ein Käsefondue genieße? Ich muss doch schließlich im Training bleiben. Winterschlaf ist nichts für so einen wie mich. Oder können Sie sich Spidermaus fett gefressen und träge vorstellen? Nein? Ich auch nicht! Also besiege ich mal wieder meinen inneren Schweinehund, oder ist es die innere Schweinemaus? Egal, Hauptsache, ich bleibe in Form.

 

Unterwegs begegne ich vielen Leut. Ich frage mich immer, warum die um diese Jahreszeit so hektisch werden. Besonders wenn der Weihnachtsmarkt beginnt, stürmen sie in die Geschäfte, um massenweise Geschenke zu kaufen. Manche von ihnen bummeln aber auch gemütlich an den Buden vorbei, zwei Männer stehen etwas abseits. Sie haben sich hinter einem Tannenbaum versteckt und knutschen. Als ich das sehe, muss ich unweigerlich an Robin denken. Er war jahrelang mein Partner, bis ihn eine Katze erwischt hat. Das Mistvieh hat ihn einfach vor unserem Zuhause abgelegt. Ich habe lange Zeit um ihn geweint. Seitdem bin ich allein.

 

 

Auf dem Rückweg zu meiner Butze muss ich an einem dunklen Innenhof vorbei. Irgendetwas scheint da nicht zu stimmen, denn in den Schatten huschen aufgeregt etliche Mäuse hin und her. Sie tragen winzige Nikolausmützen und kleine Kiepen. Jetzt erkenne ich sie auch. Das sind eindeutig Niko-Mäuse, die die Stiefel der Leut an Nikolaus mit Plätzchen und anderem Süßkram füllen.

 

Als ich mich näher heran schwinge, bemerken sie mich. Ich werde von erleichterten Rufen empfangen.

 

„Schaut nur, da kommt Spidermaus! Dem Mäusegott sei Dank!“

 

Ich seile mich schnell ab und im Nu werde ich von den Niko-Mäusen umringt, die alle gleichzeitig auf mich einreden. Ich verstehe erst einmal nur Bahnhof, bis ein weinender Mäuserich zu mir kommt. Die anderen Niko-Mäuse verstummen, als er mir berichtet, was vor wenigen Minuten passiert ist.

 

„Ich bin gerade mit meinem Freund aus unserer Butze gekommen, als plötzlich drei Leut aufgetaucht sind. Erschrocken bin ich zurück gelaufen, aber Felix hat es nicht mehr geschafft. Einer der Leut hat ihn mit einem Netz eingefangen, ich konnte ihm nicht helfen. Ich hab nur noch gesehen, wie sie ihn in einem Auto in einen Käfig gesperrt haben.“

 

Hier unterbreche ich den verzweifelten Freund von Felix. „Was war das für ein Auto? Konntest du etwas daran erkennen?“

 

„Ja“, schluchzt er. „Es war so ein weißer Lieferwagen und auf beiden Seiten stand Labor Tunichtgut.“

 

„Bist du dir sicher?“

 

Der Kleine nickt und beginnt wieder zu weinen.

 

Oh, oh! Ich habe da einen ganz üblen Verdacht. Dieses Labor arbeitet für die Kosmetikindustrie und ist berüchtigt, wegen seiner Tierversuche. Jetzt heißt es schnell zu handeln!

 

Das besagte Labor befindet sich am anderen Ende der Stadt. Wenn ich Glück habe, bin ich noch vor dem Wagen der Entführer dort.

 

Eilig verabschiede ich mich von den Niko-Mäusen und verspreche ihnen, alles mir Mögliche zu tun, um Felix zu retten. Dann geht auch schon die Post ab, oder besser gesagt, schwinge ich mich mit einem Affenzahn durch die Straßen. Nur gut, dass ich mich hier perfekt auskenne. Die Abkürzung geht über verschneite Dächer, einmal rutsche ich zu meinem Schrecken auf der vereisten Fläche aus und kann mich nur noch im letzten Moment abfangen. Das kommt davon, wenn man in der Eile keinen Sicherheitsfaden benutzt. Über meine eigene Dummheit kann ich mich später noch in meiner warmen Butze ärgern, jetzt muss ich mich beeilen.

 

Als ich endlich vor dem verschlossen Tor ankomme, sehe ich gerade den Lieferwagen um die Ecke kommen. Schnell hangele ich mich zum Eingang des Labors und warte auf dem Vordach.

 

Zu meinem Glück hält das Auto direkt davor und die Entführer-Leut steigen aus. Dann beginnen sie, die Käfige auszuladen. Ich kann Katzen und Hunde erkennen. Für einen kurzen, wirklich nur ganz kurzen Moment wünsche ich mir beim Anblick der Katzen, dass Robins Mörder dabei ist. Doch dann werde ich gleich wieder professionell und konzentriere mich auf die Rettung von Felix.

 

Endlich stellt einer der Männer einen kleinen Käfig direkt vor die Treppe zum Eingang. Glück muss Maus haben! Ich kann die kleine Niko-Maus verängstigt in einer Ecke sitzen sehen. Das rote Mützchen hält sie fest in ihren Pfoten.

 

Dann beginnen die Leut die Käfige ins Gebäude zu tragen. Das ist meine Chance! Einsatz für Spidermaus!

 

Ich spinne einen festen Faden und ziele damit auf den Tragegriff des Käfigs. Schon fährt der Aufzug nach oben. Der Mäuserich ist so geschockt, dass er keinen Ton von sich gibt. Bevor einer der Leut wieder heraus kommt, habe ich das Minigefängnis schon zu mir in Sicherheit auf das Vordach gezogen.

 

Der Kleine zittert wie Espenlaub und starrt mich ungläubig aus seinen kleinen, schwarzen Knopfäuglein an. Ich bedeute ihm, still zu sein, dann öffne ich mit Hilfe eines weiteren Fadens den Riegel. Endlich kann Felix heraus. Ich schnappe ihn mir und nehme ihn Huckepack. Dann weise ich ihn an, sich gut festzuhalten. Er steht noch so unter Schock, dass er mir widerspruchslos gehorcht.

 

Ein gewagter Sprung am Seil in die Tiefe und schon sind wir auf der Flucht. Da es jetzt nicht mehr auf eine Stunde mehr oder weniger ankommt, wähle ich mit meiner Last auf dem Rücken den sichersten Weg.

 

Irgendwann unterwegs merkt Felix wohl, wer ihn da gerettet hat und beginnt zu jubeln und zu jauchzen. Besonders wenn ich mich mit ihm von Haus zu Haus schwinge, schreit er vor Begeisterung.

 

Schneller als gedacht, landen wir wieder im Innenhof, in dem die Niko-Mäuse-Schar auf uns wartet. Vorsichtig und langsam seile ich ihn ab. Sein Freund fällt ihm erleichtert um den Hals und die beiden umarmen und küssen sich, als gäbe es kein Morgen.

 

Ich zerdrücke ein Tränchen der Rührung und winke ihnen zum Abschied zu. Dankbar winken alle Angehörigen der Mäusekolonie zurück.

 

 

Ja, manchmal ist ein wirklich, wirklich, tolles Gefühl, Spidermaus zu sein!

 

 

 

 

Ende

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 19.12.2014

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