Cover

Guardian Angel

Hallo, mein Name ist Angelo und ich bin ein Engel. Aber wer jetzt an einen auf einer Wolke sitzenden und auf einer Harfe spielenden Typ im langen, weißen Gewand denkt, den muss ich leider enttäuschen. Von so einem friedlichen Dasein kann ich nämlich nur träumen, Denn ich bin ein Schutzengel. Genauer gesagt, ich bin Justins Schutzengel. Und wenn so etwas bei Engeln möglich wäre, dann würde mich dieser Kerl mit Sicherheit ins Grab bringen. Allerdings schaue ich manchmal in den Spiegel und kontrolliere vorsichtshalber, ob ich schon graue Haare bekomme. Das würde Luzi nämlich eine höllische Freude bereiten. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Ich hatte in der Vergangenheit schon viele Schützlinge, aber keiner von denen war so nervenaufreibend wie Justin. Wenn Krankheiten und Missgeschicke vergeben werden, schreit er immer besonders laut „Hier!“. Angefangen hat es mit Keuchhusten im Alter von zwei Monaten, danach ging es die gesamte Kindheit so weiter. Mittelohrentzündungen, Masern, Mumps, Röteln etc, etc. Nicht, dass jetzt jemand denkt, seine gestresste und besorgte Mutter hätte ihn nicht impfen lassen, das hat sie. Und auch alle Vorsorgeuntersuchungstermine hat sie mit ihm genau eingehalten. Aber entweder war der Impfstoff fehlerhaft, oder aber sein Immunsystem hat einfach nicht darauf reagiert. Allerdings habe ich den dringenden Verdacht, dass mir Luzi damit nur eins auswischen wollte, weil ich ihn immer wieder abblitzen lasse. Aber ich schweife schon wieder vom Thema ab.

 

Kaum konnte Justin laufen, wurde es erst so richtig anstrengend für mich. Mal eine kurze Pause einlegen, um ein wenig zu meditieren? Ersatzlos gestrichen! Schlafen? Undenkbar! Denn auch was Unfälle betraf, hatte Justin ein Dauerabo. Keine drei Schritte gelaufen, schon hatte er aufgeschürfte Knie und Hände. Manchmal bremste er auch mit dem Gesicht. Ein Wunder, dass er nicht aufgab und immer wieder aufstand. Nachts fiel er sogar im Schlaf aus dem Kinderbett. Schon damals hat mich seine Mutter manchmal verflucht. Aber hallo, was sollte ich denn machen? Ich kann mich ja wohl kaum sichtbar machen und als Schutzmatte dienen.

 

Später kamen dann gebrochene Arme und Beine dazu. Wer konnte mit seinen neuen Rollschuhen nicht anhalten? Wer brach auf Schlittschuhen auf dem zugefrorenen See im Eis ein? Wer kletterte auf einen Baum und fiel herunter. Dreimal dürft ihr raten. Aber nicht schummeln! Wer knallte mit dem Rodelschlitten mit anderen Kindern zusammen. Wer verursachte mit seinem Fahrrad beinahe einen Auffahrunfall nach dem anderen? Hat jemand eine Idee? Nicht dass jetzt noch jemand an meiner Ausbildung zum Schutzengel zweifelt, ich hatte reichlich damit zu tun, seinen Kopf und andere überlebensnotwendige Körperteile zu schützen. Die Knochen an Armen und Beinen heilen wieder. Außerdem hatte ich immer noch die Hoffnung, Justin wäre lernfähig und würde in Zukunft solche gefährlichen Aktionen unterlassen. War aber leider eine unerfüllte Hoffnung.

 

So verging langsam seine Kindheit, aber wer jetzt denkt, damit wäre es leichter für mich geworden, dem muss ich leider sagen – Pustekuchen! Denn kaum kam Justin in die Pubertät, da lief ihm Mike über den Weg. Und Amor machte sich den Spaß und verschoss einen seiner Pfeile. Treffer, versenkt!

 

Manchmal habe ich ja direkt Mitleid mit Justin. Schusselig, ungeschickt, immer noch schnell mal krank, schüchtern, schwul und unglücklich verliebt. Aber wie gesagt, nur manchmal. Denn die meiste Zeit bin ich so im Stress und damit beschäftigt auf ihn aufzupassen, dass ich zu meiner Schande gestehen muss, Mike schon mal zum Teufel gewünscht zu haben. Das behalte ich aber lieber für mich. Nicht auszudenken, wenn das meinem Chef Gabriel zu Ohren kommt. Die berechtigte Strafpredigt erspare ich mir lieber. Gabriel ist, was solche Wünsche anbelangt, leider absolut humorlos.

 

 

Als Justins Handy klingelt, schrecke ich aus meinen Erinnerungen auf. Mit wachsendem Entsetzen muss ich mit anhören, dass er sich für heute Abend mit seinen Freunden treffen will. Und bevor sich hier noch jemand wundert, Justin hat Freunde. Ziemlich viele sogar. Er ist zwar tollpatschig und zurückhaltend, aber alles in allem ein verdammt netter Kerl. Hilfsbereit und immer da, wenn jemand aus der Clique Hilfe braucht. Das ist übrigens ein bunt gemischter Haufen, Schwule, Lesben und Heteros, die sich schon seit über zwanzig Jahren, die meisten sogar aus dem Kindergartenalter, kennen. Mike gehört auch dazu, deshalb graut es mir jetzt schon vor dem Abend. Denn in seiner Nähe ist bei Justin auch noch der Rest seines Selbsterhaltungstriebs außer Funktion. Dafür sind dann andere Triebe dominant. Alle haben absolut nichts mit dem Gehirn zu tun, weshalb dann auch die Sprachfunktion, Fein- und Grobmotorik zum Opfer fallen. Seufzend sehe ich mit an, wie Justin das Gespräch beendet. Das wird heute Abend wieder Schwerstarbeit für mich. Mit Grauen denke ich noch an die Glasscherben vom letzten Treffen zurück. Mit Mühe und Not konnte ich noch verhindern, dass sich Justin damit die Pulsadern aufschlitzte. So waren es dann N U R drei blutige Finger. Keine Sorge, Justin ist nicht selbstmordgefährdet, obwohl ich da bei seinem Pech manchmal gar nicht so sicher bin. Es war nur so, dass ihm Mike eine Bierflasche anreichen wollte und Justins Hände so sehr zitterten, dass sie ihm auf den Boden fiel. Beim Einsammeln der Scherben ist es dann passiert. Nur gut, dass eine der Frauen schnell einen Handfeger und ein Kehrblech holte, sonst hätte das Ganze höchstwahrscheinlich mit Notarzt und Blaulicht geendet. Bei solchen Gelegenheiten verfluche ich dann immer wieder die Regel, die mir verbietet, sichtbar zu werden. Aber es ist bestimmt besser so, meine Anwesenheit in solchen Momenten, wäre wohl schwer zu erklären.

 

 

Am Abend macht sich Justin dann auf den Weg. Der Treffpunkt ist nur zwei Straßen weiter und er geht zu Fuß dahin. Ich schicke ein kurzes Dankgebet Richtung Himmel. Kein Fahrrad und kein Auto – H A L L E L U J A H !

 

Trotzdem kann ich nur noch in allerletzter Sekunde verhindern, dass er am Ende des Weges einen schmerzhaften Zusammenstoß mit einem Laternenmast hat. Und das alles nur, weil Mike noch vor dem Haus steht und eine Zigarette raucht. Denn den Typ sehen und totaler Hirnausfall gehören bei Justin eng zusammen. Aber egal – gerade noch mal gut gegangen und Ziel unverletzt erreicht.

 

Lange bleibt mir nicht, um erleichtert aufzuatmen. Denn kaum betreten wir die Wohnung des Gastgebers, da sehe ich schon Luzi lässig an einer Wand lehnen. Zum Teufel aber auch! Was will der denn hier? Um Missverständnissen vorzubeugen – Luzi ist Satans jüngster Sohn und genauso schwul wie ich. Zu meinem Pech muss ich zugeben, dass er höllisch gut aussieht. Heißer noch als das Höllenfeuer. Wieder einmal bedauere ich es sehr, dass er auf der falschen Seite steht. Satan hält ihn übrigens für zu weich. Mit dem Schwulsein an sich hat er kein Problem, in der Hölle fickt ohnehin jeder mit jedem. Weil er aber der Jüngste ist, hat sein Vater wohl Nachsicht mit ihm. Mir sollte es ja eigentlich egal sein, aber seit ich weiß, dass er hinter mir her ist, hoffe ich manchmal, er würde die Seiten wechseln.

 

Jedenfalls bin ich heute Abend durch seine Anwesenheit ziemlich abgelenkt. Deshalb höre ich den Gesprächen auch nur mit halbem Ohr zu, genau gesagt bis das Wort „Mutprobe“ fällt. Verdammter Mist! Aber dann ist es auch schon zu spät zum Eingreifen. Alle schreiben ihren Namen auf einen Zettel und Lisa mischt sie, um dann zwei aus der Schüssel zu ziehen. Die sollen dann nämlich etwas gemeinsam unternehmen. In einer anderen Schüssel sind Zettel mit den verschiedenen Mutproben. Immer noch unter Schock, bemerke ich gerade noch, wie Luzi Lisa etwas ins Ohr flüstert, während er mich diabolisch angrinst. Und die zieht dann prompt die Namen von Justin und Mike und Fallschirmspringen. Bitte, bitte, Herr! Lass mich Luzi abmurksen! Ich mach’s auch wieder gut, egal wie schwer die Buße ist! Der Mistkerl weiß nämlich ganz genau, dass Justin Flugangst hat und Mike ein begeisterter Fallschirmspringer ist.

 

 

Langer Rede kurzer Sinn, eine Woche später stehe ich mit Justin und den anderen aus der Clique am Flughafen und er ist ganz grün im Gesicht. Gekotzt hat er heute Morgen schon direkt nach dem Frühstück, aber vermutlich macht er sich gleich in die Hose. Natürlich gibt er Mike gegenüber seine Angst nicht zu. Nur gut, dass dieser ein erfahrener Springer ist und schon oft Tandem gesprungen ist. Das hat er nämlich auch mit Justin vor, quasi auf den Rücken geschnallt. Ich stehe nur hilflos daneben und kann nichts tun, außer abwarten. Denn leider darf ich meinem Schutzbefohlenen nichts antun. Sonst würde ich ihn nämlich grün und blau prügeln, so stinksauer bin ich auf ihn.

 

Eine Stunde später ist Justin sicher verschnürt und fachmännisch verpackt. Dann startet der Pilot das kleine Flugzeug. Ich überlege kurz, ob ich nicht vielleicht den Motor sabotieren soll, lasse es aber dann bleiben. Das würde das Drama vermutlich nur aufschieben. Wider Erwarten geht alles gut bis zum Sprung. Ich schwebe knapp unter den beiden in Richtung Erde, meine Flügel zum Schutz weit aufgespannt. Dann wird es Justin offenbar doch zu viel, denn er beginnt erst einmal laut zu schreien und verliert kurz danach das Bewusstsein. Mike ist völlig erschrocken und entsetzt. Er vergisst beinahe, den rettenden Fallschirm zu öffnen. Plötzlich ist Luzi neben mir, in seiner Hand hält er ein kleines Messer. Dieser elende Dreckskerl! Ich ahne Schreckliches.

 

Dann flüstert er mir ins Ohr: „Eine Nacht mit mir in meinem Bett oder der Fallschirm reißt gleich aus unerklärlichen Gründen.“

 

Mir bleibt nur die Wahl in sein selbstgefälliges Grinsen zu nicken. Minuten später landet Mike sicher mit seiner reglosen Last auf dem Boden. Was sich dann in der nächsten halben Stunde abspielt, hätte ich nie für möglich gehalten. Kaum ist Justin wieder bei Bewusstsein, fällt Mike regelrecht über ihn her. Nicht etwa, dass er ihn anschreit und Vorwürfe macht. Nein, er ist erleichtert, dass es Justin gut geht und er lebt. Er hält ihn schützend fest in den Armen und dann küsst er ihn auf einmal hingebungsvoll. Ich glaub, ich seh nicht recht! Da schmachtet Justin jahrelang hinter ihm her, leidet Höllenqualen, und dabei werden seine Gefühle schon längst erwidert. Das gesteht ihm Mike nämlich gerade. Justin strahlt dabei, als ob er direkt im Paradies wäre.

 

Ich stehe hier wohl gerade mit einem selten dämlichen Gesichtsausdruck in der Gegend rum, denn Luzi lacht mich aus. Dann erwähnt er höhnisch, dass ich meinen Job wohl nicht gründlich genug machen würde. Wahrscheinlich hat er sogar recht damit, aber bei dem ständigen Verhindern von Unfällen und anderen Missgeschicken, ist mir diese Entwicklung völlig entgangen. Justin und Mike ein Paar. Klingt ganz so, als hätte ich in Zukunft auch mal so etwas wie Freizeit.

 

Auf einmal zuckt Luzi neben mir heftig zusammen. Aus den Wolken über uns höre ich ein leises Kichern und sehe gerade noch, wie Amor seinen Bogen sinken lässt. Der Pfeil steckt noch in Luzis Herz! Autsch! Was wird das denn jetzt? Und schon wieder zielt der kleine Liebesgott, diesmal auf mich. Ich zeige ihm den Mittelfinger und beleidigt lässt er den Bogen wieder sinken. Spinnt der jetzt total? Ich glaube fast, der ist im falschen Film, Theaterstück, Musical, oder was auch immer. Ist der vielleicht lebensmüde? Wenn Satan ihn in die Finger bekommt, kann er endgültig einpacken. Ein verliebter Teufelssohn, das klingt nach massenhaft Ärger! Hier geht es um Himmel und Hölle und nicht um die Montagues und Capulets. Und wir sind auch ganz bestimmt nicht Romeo und Julia, oder besser gesagt, Julian.

 

So wie es aussieht, denkt Luzi allerdings eher an das betreffende Ballett. Denn er verbeugt sich galant vor mir.

 

„Darf ich um den Tanz bitten?“

 

Ich kann ganz einfach nicht anders und beginne laut zu lachen. Dann reiche ich ihm meine Hand zum Tanz mit dem Teufel. Diese Nacht werde ich genießen, egal was morgen ist. Vielleicht kann ich Luzi doch noch davon überzeugen, dass es auf meiner Seite gar nicht mal so schlecht ist.

 

An morgen denke ich dabei lieber nicht. Denn was das dann für ein Tanz wird, wenn der Herr und Satan erfahren, dass wir zusammen sind, mag ich mir lieber nicht vorstellen. Ich würde mal vermuten, dann ist im Himmel die Hölle los. Im Notfall schieben wir die Schuld einfach auf Amor. Armer Kerl! Ich möchte lieber nicht in seiner Haut stecken, wenn Satan ihn zu sich befiehlt und ihn anschließend genüsslich über offener Flamme grillt.

 

 

Im Moment aber tanzt Luzi mit mir zu einer imaginären Melodie immer höher hinauf, bis in den Himmel. So wie er mich dabei ansieht, wird diese Nacht wohl unvergesslich werden für uns beide. Ich bin so abgelenkt von Luzi, dass ich überrascht werde von einem kurzen stechenden Schmerz. Ich sehe erschrocken auf meine Brust. Vielen Dank für den Pfeil, kleiner Liebesgott. Ich hoffe, sie bestrafen dich dafür nicht zu sehr.

 

 

 

 

ENDE

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /