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Ich kann das nicht mehr...

 

Beinahe wie blind renne ich durch den strömenden Regen. Es ist mitten in der Nacht und für Ende Juni ist es verdammt kalt. Nur noch 12°. Nach den vielen Gewittern der letzten Tage hat es sich empfindlich abgekühlt. Aber ich fühle die Kälte nicht, denn innerlich ist mir noch viel kälter. Da bin ich regelrecht zu Eis erstarrt. Ich spüre fast nichts mehr, außer dem Wasser auf meinem Gesicht. Sind das Regentropfen oder Tränen? Ich weiß es einfach nicht.

 

 

 

Und dabei hatte der Abend so schön begonnen. Kai und ich hatten beschlossen, nach dem Stress der letzten Zeit mal wieder auszugehen. Raus, abschalten, den Kopf frei bekommen. Schließlich hatten wir schon seit zwei Wochen nichts mehr gemeinsam unternommen. Zuerst waren wir im Kino, um uns einen tollen Actionfilm anzusehen. Danach gingen wir in unserer italienisches Lieblingsrestaurant, in dem wir glücklicherweise gestern noch kurzfristig einen Tisch reservieren konnten. Die Lasagne war wie immer ein Traum und der Rotwein, den Kai ausgesucht hatte, einfach lecker. Als Dessert wählten wir Tiramisu. Irgendwann würde ich mich wohl in die Schüssel setzen, scherzte mein Freund. Könnte glatt stimmen, das Zeug schmeckt einfach göttlich.

 

Zum Schluss sind wir dann noch in unserer Lieblingskneipe gelandet, ganz hinten in der Ecke war zum Glück noch ein Tisch frei mit einer brennenden Kerze darauf. Irgendwie ziemlich romantisch. Wir haben beide ein Bier getrunken und uns unterhalten. Über die erstklassigen Special-Effekte im Film, unsere Erlebnisse während der letzten Woche, einfach über alles, was uns gerade in den Kopf kam. Zwischendurch haben wir immer wieder innig miteinander geknutscht. Zwar nicht ganz so ausgiebig wie im Kino, aber das ist hier kein Problem, da es ein beliebter Schwulentreff ist. Es kommen auch viele Heteros hierhin, doch noch nie wurden wir angepöbelt. Ganz im Gegenteil, so manche der Frauen hatten Kai schon sehnsüchtige, aber traurige Blicke zugeworfen. Kein Wunder, denn mein Freund ist ein echtes Sahneschnittchen. Obwohl Kai das nicht hören will und immer behauptet, ich sähe viel besser aus als er.

 

Jedenfalls hielten wir gerade unter dem Tisch Händchen und ich schwebte mal wieder auf Wolke Sieben, als Kai mich ansah und plötzlich ganz unerwartet zu mir sagte: „Manuel, wir müssen dringend miteinander reden. Das mit uns… Ich kann das nicht mehr…“

 

Weiter kam er nicht, denn ich sprang wie von der Tarantel gestochen auf. Entsetzt starrte ich ihn an, am ganzen Körper zitternd. Schlagartig breitete sich eine Eiseskälte in mir aus, mein Herzschlag setzte kurz aus. In meinem Kopf war nur noch Platz für einen einzigen Gedanken – bitte nicht schon wieder!

 

Denn mit genau diesen Worten hatte sich vor drei Jahren mein Ex Raphael von mir getrennt. Nach fünf Jahren Beziehung, von der ich geglaubt hatte, sie würde nie enden. Mit dem ich mir eine Hochzeit irgendwo am Strand von Mallorca erträumt hatte. Stattdessen teilte mir mein Traummann gefühllos mit, dass er so einen Klammeraffen wie mich nicht länger ertragen könnte. Genau genommen, steckte dabei sein Schwanz noch in meinem Arsch.

 

Die Erinnerung daran und der Schmerz, der mich bei Kais Worten durchfuhr, ließen mich fast in die Knie gehen. Unter Schock drehte ich mich wortlos um und rannte zur Tür hinaus. Meine warme Jacke ließ ich unbeachtet zurück.

 

 

 

Noch immer laufe ich weiter. Nur nicht stehen bleiben, nicht denken, nicht fühlen, bloß keine Erinnerungen zulassen. Solange bis schließlich ein Auto angebraust kommt und mit quietschenden Reifen neben mir anhält. Die Fahrertür wird aufgerissen, Kai springt heraus und versperrt mir den Weg.

 

„Endlich hab ich dich gefunden! Sag mal Manuel, bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Ich hab fast einen Herzinfarkt bekommen, als du da gerade so kreidebleich aus der Kneipe gestürmt bist. Ohne Jacke, bei der Kälte und bei diesem Sauwetter. Was hast du dir nur dabei gedacht?“

 

Er sieht mich wütend an und greift nach meinem Arm.

 

„Verdammt, du bist ja eiskalt. Willst du dir etwa den Tod holen?“

 

Ich bin nicht in der Lage zu antworten, Kai ist stinksauer. Energisch zieht er mich zum Auto und ich habe keine Kraft mehr, um mich zu wehren. Völlig erledigt lasse ich mich widerspruchslos auf den Beifahrersitz fallen. Kai wirft die Tür hinter mir zu und steigt selbst schnell wieder ein.

 

„Schnall dich an!“, fordert er mich auf.

 

Als ich nicht reagiere, meine Finger sind viel zu steif gefroren, greift er zum Sicherheitsgurt und macht es selbst. Kopfschüttelnd lässt er den Motor an und fährt mit Vollgas los.

 

Bei seiner Wohnung angekommen, zieht er mich kurzerhand aus dem Wagen und ich folge ihm resigniert ins Treppenhaus. Anschließend schiebt er mich mehr oder weniger die paar Stufen bis zu seiner Tür hoch. Immer noch wie erstarrt, stehe ich in seinem Flur. Will immer noch nicht denken, nichts fühlen, Kai nicht ansehen, mich nicht bewegen.

 

Er nimmt mir die Entscheidung ab und zerrt mich sofort ins Bad.

 

„Du bist ja völlig durchnässt und durchgefroren! Ab mit dir in die Badewanne, aber schnell!“

 

Weil ich mich immer noch nicht rühre, lässt er das warme Wasser in die Wanne laufen und zieht mich kurzerhand aus. Ich lasse alles über mich ergehen, auch als er mich hochhebt und in die gefüllte Badewanne gleiten lässt. Scheiße, tut das weh! Ich schreie auf und Kai sieht mich erschrocken an. Hektisch kontrolliert er die Temperatur des Wassers.

 

„Alles okay, keine Angst, ist nicht zu heiß. Das liegt nur daran, dass du völlig ausgekühlt bist.“

 

 

 

Ich weiß nicht mehr, wie ich in sein Bett gekommen bin, kann mich nur noch schwach daran erinnern, dass Kai mir aus der Wanne geholfen und mich mit einem weichen Handtuch abgetrocknet hat. Danach hat er mir noch heißen Tee eingeflößt. Aber nun liege ich hier, eingewickelt in mehrere Decken. Immer noch zittere ich am ganzen Körper, mir wird einfach nicht wärmer. Irgendwann schlafe ich aber schließlich doch ein.

 

Als ich wieder aufwache, ist mir glühend heiß. Irgendwie bekomme ich die Augen aber nicht auf, mein Hals tut schrecklich weh und ich kann nicht durch die Nase atmen. Wie durch Watte höre ich gedämpfte Stimmen. Eine ist die von Kai, aber die andere? Moment mal, ich erkenne sie, ist das etwa mein Hausarzt? Anscheinend ja, denn er sagt irgendetwas von völliger Unterkühlung, leichter Lungenentzündung, hohem Fieber und Einweisung ins Krankenhaus. Dann schlafe ich einfach wieder ein.

 

 

 

Beim nächsten Aufwachen kann ich die Augen wieder öffnen. Verwirrt blinzle ich ins grelle Licht einer Leuchtstoffröhre. Alles um mich herum ist in sterilem Weiß gehalten und ich liege in einem fremden Bett. Jemand bewegt sich neben mir und erstaunt sehe ich meine Mutter und meine kleine Schwester neben dem Krankenbett sitzen. Erleichtert sieht Mama mich an.

 

„Dem Himmel sei Dank! Endlich bist du wieder wach, mein Schatz. Was machst du nur für einen Blödsinn? Stundenlang nur im Hemd durch den Regen laufen und das bei den Temperaturen! Ich bin fast vor Sorgen um dich gestorben und dein Freund Kai auch.“

 

Ich schaue sie mit schlechtem Gewissen an. Dass sie sich Sorgen um mich gemacht hat, glaube ich ihr sofort aufs Wort, aber bei Kai habe ich da so meine Zweifel. Kann ihm doch nur recht sein, wenn er mich los ist.

 

Doch bevor ich etwas antworten kann, springt Chrissy zu mir aufs Bett und umarmt mich stürmisch. Tadelnd will Mama sie schon herunterheben, aber ich lache nur.

 

„Ist schon gut, ich freu mich, dass ihr da seid.“

 

Chrissy kuschelt sich an mich und redet wie ein Wasserfall auf mich ein. Während ich ihr aufmerksam zuhöre, erzählt sie mir aufgeregt von Ärzten, Krankenschwestern, Fiebermessen und Medizin. Für sie ist das alles hier im Krankenhaus ein Abenteuer, denn schließlich ist sie erst vier Jahre alt.

 

Ich habe schrecklichen Durst und meine Mutter hilft mir dabei, ein Glas mit Wasser auszutrinken. Als ich wieder müde werde, verabschiedet sie sich mit einem Kuss auf die Stirn von mir.

 

„Bis morgen, mein Sohn. Schlaf dich aus und werd schnell wieder gesund. Und komm bloß nie wieder auf die Idee, mir so einen riesengroßen Schrecken einzujagen.“

 

Ich nicke stumm und sie seufzt leise. Arme Mama! Es tut mir wirklich leid, sie so besorgt zu sehen. Auch meine kleine Schwester gibt mir einen Kuss zum Abschied, auf die Wange. Dann hält sie mir zu meiner Überraschung ihren kleinen Glücksbringer hin.

 

„Hier für dich. Damit er auf dich aufpasst und du ganz schnell wieder gesund wirst. Aber er ist nur geliehen, nicht für immer.“

 

Ich muss grinsen und bedanke mich dafür, dass ich ihr Lieblingskuscheltier kurz behalten darf. Kermit, der Frosch. Den schleppt sie schon seit fast zwei Jahren ständig mit sich rum. Dementsprechend abgeliebt sieht er schon aus. Von dem weichen Plüschfell ist nicht mehr viel übrig, Mama musste ihn sogar schon mehrmals nähen. Sie setzt ihn auf das Nachtschränkchen und dann verlassen beide das Zimmer, nicht ohne mir an der Tür noch einmal zuzuwinken.

 

 

 

Als ich am späten Nachmittag erneut erwache, sitzt Kai neben mir auf dem Bett. Er ist kreidebleich und sieht mich aus rot umrandeten Augen forschend an. Hat er etwa geweint?

 

„Scheiße Manuel, was sollte das denn? Du läufst einfach weg, als ich mit dir reden will und dann muss ich solche Angst um dich haben, weil du fast krepierst vor Unterkühlung.“

 

Ich sehe ihm nicht in die Augen, als ist leise antworte: „Kann dir doch nur recht sein, schließlich willst du mich doch loswerden.“

 

„Wie bitte? Was redest du denn da für einen hirnrissigen Müll?“

 

„Ist doch wahr, oder hab ich mir etwa nur eingebildet, dass du gesagt hast, du könntest das mit uns nicht mehr?“

 

Ich sehe ihn immer noch nicht an, weil ich sonst erneut heulen muss. Und das will ich nicht vor ihm. Wieso tut es nur wieder so schrecklich weh? Langsam müsste ich doch daran gewöhnt sein, dass mich immer wieder die Männer verlassen, in die ich mich verliebt habe.

 

„Aber Manuel, so habe ich das doch gar nicht gemeint.“

 

Jetzt blicke ich Kai doch an. Er sitzt da wie vom Donner gerührt und starrt mich erschrocken und entsetzt an.

 

„Ach nein? Mit genau denselben Worten hat sich Raphael damals auch von mir getrennt…“

 

„Raphael? Dein Ex, dieses Arschloch? Erzähl mir bitte nicht, du denkst ich würde dich so im Stich lassen wie dieser elende Flachwichser es getan hat?“

 

Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht mehr, was ich denken soll und sehe Kai nur völlig verwirrt in die Augen. Und was ich darin sehe ist auch nicht gerade hilfreich. Wut, Empörung, Trauer, aber vor allem Liebe?

 

Plötzlich muss ich krampfhaft husten und meine Nase läuft auch. Mist, ich habe kein Taschentuch. Kai erkennt mein Dilemma und wühlt in seiner Hosentasche. Dann nimmt er grinsend Kermit vom Nachttisch und drückt dem ein irgendwie zusammen gewickeltes Tempo in die kleinen, grünen Arme. Anschließend hält er es mir hin.

 

„Hier, das ist für dich“, sagt er mit piepsender Stimme und wackelt mit dem kleinen Plüschtier vor meiner Nase herum.

 

Gegen meinen Willen muss ich lachen und greife nach dem Taschentuch. Als ich es gerade nehmen und mir damit die Nase putzen will, fällt etwas aus dem weißen Papier heraus und landet auf der Bettdecke. Überrascht starre ich den Gegenstand an. Das ist doch der Ring, den ich neulich im Schaufenster des Juweliers so bestaunt habe! Ein schlichter Silberreif mit eingearbeitetem blauem Stein rundum. So blau, wie Kais Augen. Ein wunderschöner Ehering für Männer.

 

Ich vergesse das Naseputzen und blicke fragend in Kais Augen, die mich ängstlich mustern.

 

„Das war es, was ich dir eigentlich sagen wollte. Ich kann so nicht mehr weitermachen, Manuel. Ich weiß ja, dass du nach Raphael keine enge Beziehung mehr zulässt, noch nicht einmal mit mir zusammenziehen willst, aber das ist nichts für mich. Ich will etwas Festes, mit dir. Ich möchte dich an meiner Seite, für immer. Mit dir aufwachen und einschlafen, lachen und weinen, für den Rest meines Lebens.“

 

Als ich ihn immer noch sprachlos anstarre, steht er auf und kniet sich dann vor mein Bett.

 

„Bitte Manuel, heirate mich!“

 

Ich schaffe es gerade noch so eben aus dem Bett, sinke mit auf die Knie und falle ihm geradezu um den Hals. Wie konnte ich nur so dumm sein zu glauben, dass Kai mich verlassen will?

 

Ich klinge etwas heiser, aber ich bin sicher, Kai versteht mich trotzdem.

 

„Ja, ja, ja! Ich liebe dich und ich will dich heiraten.“

 

Das Letzte, was ich sehe, bevor ich die Augen schließe und Kais zärtlichen Kuss erwidere, ist ein kleiner, grüner Frosch, der uns zuzulächeln scheint.

 

 

 

 

Ende

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Tag der Veröffentlichung: 03.07.2014

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