Wieder einer dieser Adventssonntage, die einfach kein Ende nehmen wollen. Dabei hab ich gedacht mit dem trüben November, dem Nebel und seinen Trauertagen hätte ich das Schlimmste schon überstanden. Doch weit gefehlt. Ich war wieder auf dem Friedhof. Hab auf das Grabgesteck zu meinen Füßen gestarrt und ein bisschen geweint. Weil ich ihn immer noch so sehr vermisse. Das Gesteck hab ich übrigens speziell für ihn anfertigen lassen. Mit getrocknetem Lavendel. Die Frau in der Blumenhandlung hat mich angesehen als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank als ich dort mit dem dicken Strauß aufgetaucht bin. Als ich ihr dann aber erzählte wie sehr er Lavendel geliebt hat sah sie mich nur mitleidig und verständnisvoll an. Drei Tage später konnte ich die Bestellung dann abholen. Sie hat sich wirklich ins Zeug gelegt und das Ergebnis war nicht zu verachten. Mir gefiel es jedenfalls sehr. Und es duftete herrlich nach Nobilistanne und Lavendel. Sie hat es auf meinen Wunsch hin ganz schlicht gestaltet, nur zusätzlich mit ein paar großen Tannenzapfen und einer lila Schleife.
Da ich einfach noch nicht zurück in das leere Haus wollte schlendere ich nun schon seit einer halben Stunde über den Weihnachtsmarkt. Es ist ziemlich voll hier, so viele glückliche Paare. Kinder, die mit großen Augen alles bestaunen. Schön zu sehen, wie sie sich freuen. Besonders auf dem kleinen Karussell mit den Miniautos und Holzpferden strahlen sie um die Wette. In der Mitte des Platzes wurde eine Bühne aufgebaut und ein Chor singt Weihnachtslieder. In der nächsten Budenreihe kommen mir zwei Frauen entgegen, von denen die eine lange, rote Haare hat. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß im Moment nicht woher. Vielleicht eine Tierhalterin? Jedenfalls halten sich die beiden an den Händen, sehen sich verliebt an und die Blonde küsst ihre Freundin kurz auf den Mund. Ich sehe weg, denn schlagartig sind die Erinnerungen an ihn wieder da und sie tun immer noch weh.
Gelegentlich werde ich erkannt und gegrüßt. Und auch mal angebellt. Von Patienten, die von „ihren Menschen“ an der Leine ausgeführt werden. Eigentlich mögen Hunde mich, jedenfalls solange ich sie nicht auf dem Untersuchungstisch habe und ihnen eine Spritze geben muss. Aber da sind Menschen und Tiere eben gleich, wer lässt sich schon gerne mit einer Nadel in den Oberschenkel pieksen? Doch meistens verzeihen sie mir schnell wieder wenn sie nach der Behandlung einen Hundekeks von mir bekommen. Die backt meine Sprechstundenhilfe Lisa immer selbst. Sie ist ein Schatz. Und ich weiß genau was in dem Gebäck drin ist. Im Gegensatz zu den Kauf-Leckerlis. Ihr Rezept ist bei den Hundebesitzern übrigens heiß begehrt. In einem Körbchen liegen immer ein paar Ausdrucke griffbereit. Ich hab sogar mal einen der Kekse probiert. Hat mir gar nicht mal übel geschmeckt. Obwohl ich eindeutig lieber süße Kekse esse.
Langsam beginne ich nun doch zu frieren, ist heute aber auch verdammt kalt. Durch Zufall gehe ich grade an einem Glühweinstand vorbei. Ich bleibe stehen und bitte um eine Tasse. Nach dem Bezahlen stelle ich mich an einen der kleinen Tische. Das heiße Getränk wärmt mich wieder ein wenig. Nur der Geschmack ist nicht grade berauschend. Viel zu süß. Basti, eigentlich Sebastian, so hieß mein verstorbener Freund, hat den früher immer selbst gemacht. Aus einfachem Rotwein, Orangen- und Zitronensaft und seiner geheimen Würzmischung. Ich muss bei der Erinnerung daran wehmütig lächeln. Wie oft sind wir in der Vorweihnachtszeit am Wochenende nach ausgiebigem Genuss seiner Kreationen mehr als nur beschwippst kichernd ins Schlafzimmer getorkelt und haben uns auf dem breiten Bett geliebt? Auf dem Bett, das jetzt so schrecklich leer ist.
Als ich merke dass meine Augen schon wieder feucht werden, trinke ich schnell aus. Ich lasse mir noch das Pfandgeld für die Glühweintasse zurückgeben und verlasse dann den Weihnachtsmarkt. Mittlerweile hat es angefangen zu schneien, die dicken Schneeflocken tanzen durch die Luft. Weiße Weihnachten. Scheint in diesem Jahr wohl doch noch damit zu klappen.
Zuhause angekommen mache ich es mir vor dem Fernseher bequem und zappe ein wenig durchs Programm. Aber es läuft nur irgendein Mist. Also schalte ich wieder aus und gehe ans Bücherregal um mir ein Buch zum Lesen auszusuchen. Dabei fällt mein Blick auf das Fotoalbum. Wie von selbst landet es in meiner Hand und ich setze mich damit auf die Couch. Ich schlage es auf und beginne zu blättern. So viele Aufnahmen, so viele Erinnerungen.
Während ich so vor mich hinträume fällt mein Blick auf ein bestimmtes Foto. Aufgenommen an Weihnachten vor drei Jahren. Basti kniend vor dem von uns gemeinsam geschmückten Tannenbaum, an dem natürlich etliche rote und grüne Lavendelsäckchen hingen. Erwartungsvoll Geschenke auspackend. Auf dem Kopf trägt er eine Nikolauszipfelmütze mit einem kleinen Glöckchen und einem Rentiergeweih. Die hatte er sich zwei Tage vorher noch auf dem Weihnachtsmarkt gekauft. Als er sie sich an dem Stand aufsetzte hab ich so gelacht, dass ich Bauchschmerzen bekam. Doch er meinte breit grinsend, er wäre jetzt Rudolf Rotnase. Und ich hab nur geprustet: „Na, dann darf ich dann wohl auf dir reiten?“ Er hat mich verführerisch angesehen und mir ins Ohr geraunt: „Nichts dagegen.“ Wir hatten es dann ziemlich eilig nach Hause zu kommen.
Auf dem nächsten Foto hält er dann die Reisetickets in der Hand. Mein Geschenk. Schlagartig fällt mir wieder ein woher ich die rothaarige Frau vom Weihnachtsmarkt kenne. Sie hat sie mir in dem kleinen Reisebüro verkauft. Ich war total unentschlossen als ich es damals betrat, konnte mich einfach nicht entscheiden. Um mir zu helfen fragte sich mich ein wenig aus. Was mir und meiner Frau denn so gefallen würde, ob wir irgendwelche besonderen Hobbys hätten. Hab mich leicht verlegen geräuspert und leise „meinem Mann“ geantwortet. „Also ich weiß genau auf was meine Frau so steht.“ Ich sah sie angenehm überrascht an und lachte. „Hat er denn bestimmte Vorlieben, einen süßen Tick?“ „Ja, also er steht total auf Lavendel!“ „Na dann habe ich die perfekte Lösung für Sie beide. Ich war dort im letzten Jahr mit meiner Freundin. In einer kleinen Pension, in der man absolut keine Probleme damit hat wenn sich ein gleichgeschlechtliches Paar ein Zimmer teilt.“ Anschließend zeigte sie mir Bilder von der Provence. Mit ihren riesengroßen Lavendelfeldern. Die Entscheidung fiel mir auf einmal gar nicht mehr schwer und ich buchte für den Sommer eine Unterkunft für uns.
Wieder schaue ich auf das Foto und bin in Gedanken an dem bewussten Heiligabend. Ich weiß es noch wie heute - beinahe hätte ich es nicht pünktlich geschafft nach Hause zu kommen. Denn Tiere machen sich keine Gedanken um irgendwelche Feiertage, auch nicht am Heiligabend. In diesem Fall hatte eine Kuh Probleme beim Kalben und ich musste nachhelfen. Als das Kälbchen dann endlich im Stroh lag war ich völlig fertig. Tierarzt zu sein kann manchmal ein echter Knochenjob sein. Und irgendwie war das Schicksal an diesem besonderen Abend anscheinend gegen mich. Kaum war ich auf der Autobahn stand ich schon im Stau. Ich hätte ja genau so gut über die Landstraße fahren können. Aber ich dachte so ginge es schneller. Pustekuchen! Ich konnte noch nicht einmal Sebastian bescheid geben da der Akku von meinem Handy leer war. Meine Flüche darüber möchte ich jetzt lieber nicht wiederholen.
Nach knapp zehn Minuten ging es endlich weiter, wenn auch nur im Schneckentempo. Wie ich erst beim Vorbeifahren sah lag es nur an einer kleinen Baustelle und die Fahrbahn wurde einen Kilometer lang einspurig. Ich werde nie begreifen warum es so viele Leute nicht schaffen zügig im Reißverschluss-System einzufädeln. Dadurch bliebe doch allen die lange Wartezeit erspart.
Als ich dann endlich mit schlechtem Gewissen nach Hause kam duftete es schon herrlich aus der Küche. Mein Freund hatte für uns gekocht. Freudig kam er mir entgegen, zog mich in einen langen Kuss. Entschuldigend sah ich ihn danach zärtlich an: „Sorry, ich…“ Doch er hielt mir nur liebevoll den Mund zu. „Du musst dich nicht entschuldigen, jetzt bist du ja hier. Ich kenne doch deinen Job und liebe dich dafür dass du Tieren in Not jederzeit hilfst. Das bist eben du und anders will ich dich gar nicht haben.“ Wir haben dann erst eine Stunde später gegessen. Hatten es plötzlich nicht mehr eilig damit. Bis wir im Schlafzimmer waren hatten wir unterwegs schon alle Klamotten verloren. Wir waren sehr hungrig, aber nicht auf das Essen sondern auf uns. Okay, auf das leckere Essen später nach dem Duschen dann auch. Gänsekeulen mit Rotkohl und Klößen. Ein Hoch auf die Mikrowelle - lol!
Nie werde ich die freudige Überraschung in Bastis Augen vergessen als er dann bei der Bescherung die Tickets auspackte und das Reiseziel sah. Er meinte damals es wäre das allerschönste Weihnachtsgeschenk, das er jemals erhalten hätte.
Im Sommer sind wir dann mit meinem Auto nach Frankreich gefahren, in die Provence. Die kleine Pension, die mir die nette Frau aus dem Reisebüro empfohlen hatte, war ein absoluter Traum. Wir verbrachten dort glückliche Tage. Genossen das gute Essen und den köstlichen Rotwein. Niemand störte sich daran, dass wir ein Paar waren und wir liebten uns manchmal bis zum Morgengrauen, bis wir völlig erschöpft einschliefen. Natürlich machten wir auch lange Ausflüge. Sahen uns die Sehenswürdigkeiten der Umgebung an, schlenderten Hand in Hand durch schmale Gassen. Küssten uns immer wieder auf versteckten Hinterhöfen. Aber alles verblasste gegen die unendlich langen Reihen Lavendel auf den sonnigen Feldern. Und Basti mitten darin. Jauchzend. Strahlend vor Glück. So voller Lebensfreude.
Ich habe mittlerweile im Album die betreffenden Fotos aufgeschlagen. Auf einem liegen wir mitten in einem der duftenden, blau-lila Felder. Hab die Kamera in die Höhe gehalten und uns fotografiert. Lachend, glücklich und so verliebt. Erst als einige Tropfen auf die Fotos fallen merke ich dass ich wieder weine. Erschrocken wische ich die Tränen weg und lege das Album zur Seite.
Anschließend gehe ich zum Wohnzimmerschrank, nehme den Karton mit dem Weihnachtsschmuck heraus. Ganz oben auf dem ganzen Dekokram liegen die kleinen Säckchen mit den getrockneten Lavendelblüten. Und gleich darunter Bastis Zipfelmütze. Ich nehme sie heraus und stelle den Rest wieder zurück in den Schrank. Mit dem roten Filz in der Hand gehe ich ins Schlafzimmer. Dann lege ich die Mütze auf mein Kopfkissen und umarme es. Ich rieche den intensiven Duft des Lavendels und schließe meine Augen. Während draußen die Schneeflocken langsam zur Erde rieseln träume ich mich zurück in die Provence, zurück in diesen wunderschönen Sommer, zurück in Bastis Arme…
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2014
Alle Rechte vorbehalten