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Blutrot

 

1.

 

 

 

Verdammt, ich bin todmüde und mir tut mein Hintern tierisch weh. Ausgerechnet heute muss ich auf diesen harten Holzklappstühlen in der Vorlesung von meinem Lieblingsprof hocken. Aber ich konnte sie unmöglich sausen lassen. Schließlich habe ich morgen eine wichtige Klausur zu bestehen. Unruhig rutsche ich hin und her und versuche eine bessere Sitzposition zu finden. Lars, der neben mir sitzt, grinst mich fies an. Er ist ebenfalls schwul und weiß ganz genau, was mit mir los ist. Danke, du Scherzkeks! Ich lach mich demnächst auch kaputt, wenn es dir wieder mal so ergeht.

 

Meine Konzentration lässt immens zu wünschen übrig, denn immer wieder schweifen meine Gedanken ab zu der letzten Nacht. Ich muss mich regelrecht zwingen dem Vortrag zu folgen. Mein Freund Rashid hat gestern sein Architekturdiplom mit Auszeichnung bestanden und wir haben bis in die frühen Morgenstunden gefeiert. Er hat seine Freunde und Kommilitonen in unseren Lieblingsclub eingeladen und wir haben so richtig einen drauf gemacht. Ich hab noch meine Schwester angerufen um sie dazu zu überreden auch zu kommen, aber sie hat dankend abgelehnt. Sie mag Rashid nicht und die beiden gehen sich möglichst aus dem Weg. Liegt größtenteils auch daran, dass Rashid aus Saudi-Arabien stammt und ein gelinde gesagt etwas merkwürdiges Verhalten gegenüber Frauen an den Tag legt. Sie zählen ganz einfach nicht. Deshalb hatten wir auch schon öfters Streit. Ich mag nicht wie er sie behandelt, so von oben herab. Schließlich ist Mirja alles was mir noch von unserer Familie geblieben ist, nachdem unsere Eltern bei einem Autounfall gestorben sind. Besonders meine Mutter vermisse ich immer noch sehr. Sie war fast immer fröhlich und hatte für alle ein freundliches Lächeln übrig. In ihrer Gegenwart lösten sich Sorgen und Probleme einfach in Luft auf. Und sie hat immer zu mir gehalten. Auch als ich ihr gebeichtet habe, dass ich schwul bin. Mein Vater war ja nicht so begeistert davon, aber dank Mama hat er’s dann doch akzeptiert.

 

Jedenfalls haben meine Sitzprobleme definitiv mit Rashid zu tun. Er war megahappy darüber, dass er die Prüfungen hinter sich hat und wenn er glücklich ist, dann ist er irgendwie dauergeil auf mich. Wir sind schon länger zusammen und deshalb weiß ich das nur zu genau. Gestern hab ich dann die volle Packung abbekommen. Ingesamt hat er mich fünfmal in den Darkroom gezerrt. Dabei ging es ziemlich rau ab, aber ich habe mich nicht großartig gewehrt. Ich liebe meinen Freund und es ist schön zu wissen, dass er glücklich ist. Auch wenn er beim letzten Mal leider aufs Gleitgel verzichtete. Hatte er wohl vergessen, weil er schon zu besoffen war. Eigentlich mag ich es ja lieber sanft und zärtlich im Bett. Aber dafür ist er oft zu ungeduldig. Schade, aber ich hoffe immer noch, dass sich das noch ändert, auch dass ich immer nur unten liege. Damit komme ich aber klar. Allerdings möchte ich danach noch immer stundenlang kuscheln, so wie mit meinem ersten Freund. Leider steht Rashid immer sofort auf und geht ins Bad. Und anschließend nach einem flüchtigen Kuss in seine eigene Studentenbude. Wir wohnen zwar im selben Uni-Wohnheim, haben aber getrennte Wohnklos. Kann man nicht anders nennen, so klein sind die möblierten Zimmer. Aber mehr können wir uns trotz Bafög und Nebenjob nicht leisten. Meine Schwester unterstützt mich zwar, aber ich habe dann immer ein schlechtes Gewissen, Geld von ihr anzunehmen. Irgendwann zahle ich ihr jeden Cent zurück, das habe ich mir geschworen.

 

Mein Freund wird von seinen Eltern zwar auch finanziell unterstützt, aber viel ist das nicht. So viel ich weiß, war sein Vater nicht damit einverstanden, dass er in Deutschland studiert. Eigentlich komisch, denn genau das hat er selbst vor Jahren getan. Und dabei Rashids Mutter kennengelernt. Da steckt wohl noch etwas mehr dahinter, aber mein Freund erzählt nicht viel von seiner Vergangenheit. Da seine Mutter aus Deutschland stammt und mit ihren Kindern in ihrer Muttersprache spricht, beherrscht Rashid sie perfekt, neben englisch und arabisch.

 

Ich habe ihn schon öfter darum gebeten sich mit mir zusammen eine Wohnung zu suchen, eventuell auch ein Zimmer in einer WG. Aber er weigert sich konsequent, schließlich soll niemand aus seiner Familie davon erfahren, dass er schwul ist. Da haben seine Eltern und Geschwister wohl ein ziemliches Brett vorm Kopf. Ich weiß nicht viel darüber, aber ich vermute, dass sie ihn verstoßen würden, wenn sie es erfahren. Manchmal mache ich mir echt Sorgen um unsere gemeinsame Zukunft. Ich würde gerne irgendwann mit Rashid ein Architekturbüro eröffnen, natürlich zusammenziehen und wenn es gut geht mit uns, auch heiraten. Aber alles das ist noch in weiter Ferne. Erstmal muss ich noch zwei Semester hinter mich bringen. Dazu arbeite ich studienbegleitend in dem Betrieb meines Professors. So wie Rashid bis jetzt auch. Da habe ich ihn vor zwei Jahren auch kennengelernt und mich Hals über Kopf in ihn verknallt. Er sieht aber auch megamäßig aus. Ein toller Körper, schwarze Haare und dazu die fantastischsten blauen Augen, die man sich nur vorstellen kann. Wenn ich darin versinke fühle ich mich wie im Himmel.

 

Nach der Vorlesung laufe ich direkt nach Hause und schließe die Tür auf. Mein Blick fällt auf das vergilbte Namensschild an der Wand neben der Klingel. Frederick Hansen. Meine Schwester nennt mich immer liebevoll Ricky, aber Rashid mag diese Abkürzung nicht. Dabei gefällt sie mir viel besser als Frederick. Er nennt mich nie bei irgendeinem Kosenamen und möchte auch nicht, dass ich ihn mit Schatz oder sonstwie anspreche. Auch mit Liebeserklärungen hat er es nicht so wirklich. Ich seufze und hoffe mal wieder, dass sich auch das mit der Zeit noch ändert. Wir sind jetzt seit gut einem Jahr fest zusammen und ich sage ihm fast täglich, wie sehr ich ihn liebe. Muss doch mal ein Echo geben…

 

Am Nachmittag erhalte ich eine SMS von Rashid, in der er mir mitteilt, dass er heute nicht mehr zu mir kommt. Er will in Ruhe mit seinen Eltern und Geschwistern chatten, ihnen von seinem erfolgreichen Abschluss berichten. Da wäre ich gerne dabei, schreibe ihm aber nur ein kurzes „okay“ zurück und dass wir uns dann hoffentlich morgen sehen. Ist vielleicht ganz gut, so habe ich genügend Zeit, um noch für die Klausur zu lernen und mich vorher auszuschlafen.

 

 

 

***

 

 

 

Puh, mir fällt gerade ein Stein vom Herzen! Die Klausur hab ich mit Leichtigkeit geschafft, den Schein mit Sicherheit eingesackt. Weil ich so erleichtert bin, fahre ich am Nachmittag noch zu meiner Schwester. Mirja fällt mir vor Freude um den Hals und gratuliert mir, als ich ihr von der vermutlich bestandenen Prüfungsarbeit erzähle. Da ich heute nicht mehr arbeiten muss, machen wir es uns mit Kaffee und selbstgebackenen Keksen gemütlich. Sie hat mal wieder ein neues Rezept ausprobiert, denn im nächsten Monat ist schon Weihnachten. Wenn ich später eine vernünftige Wohnung und eine Küche mit Backofen habe, lasse ich mir von ihr garantiert das Backen beibringen. Ich liebe Plätzchen und anderes Gebäck, besonders zur Adventszeit. Wie überhaupt alles, das mit Weihnachten zusammenhängt. Unsere Mama hat dann immer die komplette Wohnung dekoriert. Wir Kinder durften mitmachen und Christbaumschmuck basteln. Am heiligen Abend hat Papa dann immer einen großen Tannenbaum aufgestellt und wir halfen dabei, ihn zu schmücken. Wenn wir dann abends aus der Kirche kamen, lagen wie von Zauberhand darunter dann die Weihnachtsgeschenke. Ich weiß bis heute nicht, wann unsere Eltern sie dort hingelegt haben. Natürlich haben sie immer behauptet, es wäre das Christkind gewesen.

 

Ich hänge diesen schönen Erinnerungen nach bis mich eine Frage von Mirja wieder in die Realität zurückholt. Sie erkundigt sich nach meinen Plänen fürs diesjährige Weihnachtsfest. Ich seufze und gebe zu, dass ich keine habe. Meine Schwester schüttelt nur mit dem Kopf und fragt ob das an Rashid liegen würde. Traurig nicke ich. Mein Freund feiert aufgrund seines Glaubens nicht Weihnachten und erwartet von mir, dass ich es auch komplett ignoriere. Das ist unfair, zumal er genau weiß wie viel mir das Fest bedeutet. Nicht aus religiösen Gründen, die sind mir eigentlich ziemlich egal. Aber eben als Erinnerung an unsere Eltern und meine schöne Kindheit.

 

Ich verabrede mit Mirja, an einem der Weihnachtfeiertage zu ihr zu kommen, zu feiern, DVD zu schauen und mich mit der traditionellen Weihnachtsgans vollstopfen zu lassen. Sie meint ohnehin immer, dass ich viel zu dünn bin. Dabei esse ich genug, liegt wohl an den Genen, ich nehme einfach nicht zu. Deshalb ist sie manchmal neidisch auf mich. Als sie fragt, ob Rashid mitkommen würde, schüttele ich zweifelnd den Kopf. Sie nickt nur und flüstert leise: „So ein Arschloch!“

 

Sie hat ja recht, aber ändern wird er sich wohl nicht mehr. Zumindest was das betrifft. Ansonsten gebe ich die Hoffnung nicht auf. Da es schon spät geworden ist und er sich nachher noch mit mir treffen will, verabschiede ich mich von Mirja und fahre dann mit dem Bus zurück zur Uni.

 

 

 

***

 

 

 

Pünktlich zum verabredeten Zeitpunkt klingelt es an der Tür. Ich öffne schnell und lasse meinen Freund herein. Als ich ihn liebevoll umarmen und küssen will, sieht er an mir vorbei und tritt zwei Schritte zurück. Erstaunt und leicht irritiert sehe ich ihn an. Was ist denn jetzt schon wieder los?

 

Die Antwort erhalte ich dann postwendend und sie haut mich ehrlich gesagt um. Er teilt mit nämlich eiskalt und völlig emotionslos mit, dass er am Wochenende nach Saudi-Arabien fliegt. Für immer. Seine Eltern würden darauf bestehen, dass er zurückkehrt und im nächsten Monat heiratet. Ein Mädchen, das sie schon vor Jahren für ihn ausgesucht hätten. Und nach seinem erfolgreichen Studium gäbe es nun keinen Grund mehr damit zu warten.

 

Ich starre ihn entsetzt an und kann nicht glauben, was ich da gerade gehört habe. Keinen Grund? Und was ist mit mir, mit uns? Das kann doch alles nicht wahr sein! Er ist doch schwul, da heiratet man doch keine Frau!

 

Blind vor Tränen schreie ich ihn an: „Sag mal, spinnst du jetzt total? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter! Und überhaupt, deine Eltern können dir doch nicht vorschreiben, wie du zu leben hast? Wenn sie deine Homosexualität nicht akzeptieren dann bleib einfach hier in Deutschland. Wir beide können doch…“

 

Weiter komme ich nicht weil er mich lautstark unterbricht.

 

„Wir beide? Du träumst wohl. Mir war von Anfang an klar, dass das mit uns nur eine kleine Episode am Rande war. War ja ganz nett mit dir, aber jetzt werde ich genau das tun, was meine Familie von mir erwartet. Heiraten und Kinder bekommen, so wie es für mich vorgesehen ist. In Saudi-Arabien steht auf Homosexualität die Todesstrafe.“

 

Ich falle ihm ins Wort: „Aber Rashid du musst doch keine Angst haben, hier in Deutschland…“

 

„Aber ich bleibe nicht in Deutschland, sondern kehre zurück in meine Heimat. Mit meinem abgeschlossenen Studium habe ich die besten Chancen…“

 

„Das kann unmöglich dein Ernst sein, du kannst mich doch nicht einfach verlassen, du liebst mich doch!“

 

Nie werde ich den Blick vergessen, mit dem er mich ansieht. Als würde ein Fremder vor mir stehen.

 

„Ich dich lieben? Das hast du dir nur eingebildet. Ich war nur scharf auf dich und du hast doch willig mitgemacht. Aber egal, das ist jetzt endgültig vorbei, such dir einfach einen anderen, der dich ran nimmt.“

 

Noch ehe ich etwas darauf erwidern kann, dreht er sich um und geht, die Tür knallt hinter ihm zu. Ich stehe noch immer mitten im Zimmer und bin wie gelähmt. Merke nicht, wie mir die Tränen übers Gesicht laufen. Irgendwann tragen mich meine Beine nicht mehr und ich sitze auf dem Boden. Dann kommt der heftige Schmerz, meine Brust ist irgendwie zu eng und ich hab das Gefühl, als hätte Rashid mein Herz herausgerissen und in kleine Stücke zerfetzt. Und langsam dämmert es mir, dass ich für den Mann den ich liebe, nur eine kostenlose Hure war. Benutzt und weggeschmissen.

 

Wie kann das nur sein und warum habe ich es nie gemerkt? War ich wirklich so blind vor Liebe, oder hat sich Rashid nur perfekt verstellt? Bin ich denn so wenig wert?

 

Ich versuche ihn telefonisch zu erreichen, aber er drückt mich weg. Danach ist sein Handy aus, nur die Mailbox springt an. Ich quatsche sie voll. In den nächsten Tagen meldet er sich auch nicht, sein Handy ist immer noch ausgeschaltet, er beantwortet keine meiner Nachrichten und SMS. Auch keine meiner Emails. Ich schlucke meinen Stolz herunter, schreibe ihm immer wieder, dass ich ihn liebe und dass es doch bestimmt einen Weg für uns gibt. Dass er doch unmöglich gemeint haben kann, was er mir da an den Kopf geworfen hat. Zuhause ist er auch nicht. Mehrmals laufe ich zu seiner Wohnung. Am dritten Abend öffnet sich dann auf mein Klingeln hin doch seine Tür. Vor mir steht ein blondes Mädchen, das mich überrascht ansieht. Besorgt fragt sie mich, ob es mir nicht gut gehe. Fast muss ich lachen. Ja, das kann man durchaus so nennen. Ich sehe wahrscheinlich aus wie ein Zombie. Die letzten Nächte hab ich kaum ein Auge zugemacht, immer wieder höre ich Rashids verletzende Worte und fühle mich wie der letzte Dreck.

 

Auf meine Frage nach meinem Freund antwortet sie mir, dass sie nur wisse, dass der Vormieter am Morgen abgereist sei und sie deshalb überraschenderweise am Nachmittag den Schlüssel zu dieser Wohnung vom Hausmeister erhalten habe. Ich bedanke mich bei ihr für die Auskunft und gehe langsam zurück in meine Bude. Keine Ahnung, wie ich es schaffe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Kaum angekommen rutsche ich an der Wand hinunter und beginne hemmungslos zu weinen. Rashid ist weg! Ohne ein einziges Abschiedswort für mich.

 

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort gesessen habe. Meine Augen brennen höllisch und auch alles andere tut mir weh. Dann fällt mein Blick auf mein Handy und wie in Trance wähle ich die Nummer meiner Schwester. Nachdem es ein paarmal geklingelt hat, meldet sich Mirja verschlafen: „Ricky? Weißt du eigentlich wie spät es ist? Wieso rufst du mich nachts um 3 Uhr an?“ Ich kann nicht antworten, schluchze nur. Sofort fragt sie mich besorgt, ob etwas passiert sei. Dann erzähle ich ihr alles. Von Rashids Trennung von mir, seiner Abreise und wie es dazu gekommen ist. Seine gemeinen Worte und was er mir damit angetan hat. Immer wieder unterbrochen von Weinkrämpfen. Mirja hört mir zu, versucht mich zu trösten: „Wegen diesem Wichser musst du doch nicht weinen, Ricky, der Dreckskerl ist es doch gar nicht wert.“

 

Als ich immer wieder nach Gründen für seine Handlungsweise suche und unter anderem die Todesstrafe in Saudi-Arabien erwähne, lässt sie mich nicht ausreden. „Eines kannst du mir glauben, Ricky. Wenn ich diesen Wichser in die Finger bekomme, dann ist der Galgen sein geringstes Problem!“

 

Fast muss ich lachen, aber dann siegt wieder die Traurigkeit. Ich vermisse ihn doch so sehr, warum war ich für ihn nur eine kleine Episode am Rande? Wie kann er so etwas nur zu mir sagen? Hab ich ihm denn nie etwas bedeutet? Es tut so furchtbar weh!

 

Mitten in unserem Gespräch gibt mein Akku dann den Geist auf - leer. Noch immer sitze ich auf dem Boden und weine verzweifelt. Ich habe solche Sehnsucht nach Rashid. Nach einer Weile bekomme ich Durst und übel ist mir auch. Ich wanke ins Bad, lasse Wasser in das Zahnputzglas laufen und trinke gierig. Dann fällt mein Blick auf die Ablage neben der Dusche. Dort liegen mein Nassrasierer und daneben eine neue Rasierklinge. Ich nehme sie in die Hand und entferne das Papier.

 

Mein Blick fällt auf mein linkes Handgelenk und ich sehe die Adern unter der Haut schimmern. Ich habe mal gelesen wenn man sterben will, dann sollte man nicht quer, sondern längs schneiden. Geht angeblich schneller. Das wäre doch die Lösung, nichts mehr fühlen, kein Schmerz und keine Sehnsucht mehr.

 

Wieder werde ich von einem Weinkrampf geschüttelt. Dann hebe ich die Klinge ans Handgelenk und schneide. Erst links und dann rechts. Das Waschbecken wird schnell rot. So viel Blut. Mein Pulsschlag dröhnt unnatürlich laut in meinen Ohren. Klingelt es gerade etwa an der Tür? Mir wird schwindelig. Ich merke noch, dass ich zu Boden falle.

 

Bin schon fast bewusstlos, da glaube ich noch die Stimme meiner Schwester zu hören, die meinen Namen ruft.

 

Dann wird alles schwarz…

 

 

 

 

2.

 

 

 

Ich schwebe. Unter mir sehe ich meinen Körper liegen, festgeschnallt auf einer Trage. Ein Mann im weißen Kittel werkelt an ihm herum. Was macht der da eigentlich? Ein anderer hält in seiner Hand einen Beutel mit roter Flüssigkeit. Ist das etwa Blut? Der Schlauch daran führt direkt zu meiner Halsschlagader und der Typ quetscht den Inhalt regelrecht hinein. Als er leer ist wirft er ihn in eine Schale und eine Frau reicht ihm den nächsten an. Danach schaut sie auf irgendein Gerät, das laut piepst.

 

„Verdammt, kein Puls!“

 

Ich höre wie der Typ mit dem Kittel wenig später schreit: „Zurücktreten!“

 

Dann bäumt sich mein Körper krampfartig auf und wieder ist alles schwarz...

 

 

Aber nicht für lange.

 

Schmerz!!!!! Ich möchte schreien, aber ich kann nicht.

 

 

Die Dunkelheit kehrt zurück.

 

 

Als sie verschwindet habe ich wieder das Gefühl zu schweben, aber ich kann nichts sehen, da ist nur noch Nebel. Und manchmal sind da auch gedämpfte Stimmen. So wie aus weiter Ferne gesprochen. Ab und zu höre ich einige Worte und auch Sätze.

 

Eine der Stimmen glaube ich zu erkennen. Ist das Mirja? Ich glaube, sie weint. Warum denn nur? Mir geht es doch gut. Es ist so schön friedlich hier.

 

Jemand hält meine Hand, streichelt sanft darüber. Doch die Stimme ist nicht die meiner Schwester. Sie hört sich gut an, so vertrauenserweckend, liebevoll und tröstend.

 

Ich verstehe aber nicht, was gesprochen wird. Die Stimme wird immer leiser. Dann ist vor mir auf einmal ein helles Licht und ich drifte langsam darauf zu. Es kommt immer näher. Doch noch bevor ich es erreiche, ist die Stimme wieder da. Lauter, deutlicher und ich kann sogar genau verstehen, was sie sagt. Es ist die Stimme eines Mannes. Aber es nicht die von Rashid. Sie klingt nun nicht mehr weich und sanft, sondern stinksauer.

 

„Wag es nicht, zu sterben! Glaub bloß nicht, dass ich dabei tatenlos zusehe! Ich will dass du lebst! Bitte, gib nicht auf, Ricky! Ich will nicht, dass sie in der Pathologie noch mehr an dir rumschnippeln. Bleib bei mir!“

 

„Ricky!!! Ricky!!! Hörst du mich???“

 

„Wir haben hier alles versucht, um dich zu retten! Komm bloß nicht auf die Idee einfach aufzugeben. Das nehme ich dir verdammt übel, da kannst du sicher sein! Bitte, Ricky! Du bist noch viel zu jung, um zu sterben.“

 

 

Er fleht mich geradezu an, umzukehren. Irgendetwas zerrt mich von dem Licht weg und wieder schwebe ich irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit.

 

 

Gelegentlich spüre ich Berührungen, mal mehr, mal weniger sanft. Einige davon tun mir weh, aber ich kann mich nicht wehren.

 

 

Dann kehren die Stimmen zurück, aber ich kann sie kaum unterscheiden. Manchmal verstehe ich allerdings Satzteile oder nur einzelne Worte.

 

 

„Erhöhen sie die Dosis! Eigentlich müsste er doch längst aufgewacht sein.“

„Ja, Herr Doktor!“

„Und vergessen Sie nicht, die Magensonde zu kontrollieren. Wie ist die Urinausfuhr?“

„Ich habe alles genau protokolliert. Die Angaben…“

 

„Komm ruhig näher, ich wechsele gleich die Verbände, dann siehst du wie viele Stiche nötig waren…“

 

„Bitte Brüderchen, wach wieder auf! Ich habe doch nur noch dich…“

 

„Draußen hat es vorhin geschneit, es wird Winter.“

 

„Wie konnte dieser Scheißkerl nur…“

 

„Verdammt!“

 

„Vorsichtig mit den Infusionen. Ich mache dir jetzt vor, wie du die Patienten waschen…“

 

„Ich war gerade auf dem Weihnachtsmarkt. Die Kerze hier, die ist für dich. Ihr Licht soll dir den Weg zeigen.“

 

„Auch wenn Mama und Papa irgendwo auf dich warten, lass mich nicht allein…“

 

„Mirja hat mir erzählt, dass du schwul bist. Ich bin es auch. Vielleicht können wir mal etwas zusammen unternehmen, wenn es dir wieder gut geht. Stell dir nur vor…“

 

„Was machst du denn da? Pass auf, damit du nicht…“

 

„Zum Sommer fange ich mit meinem Medizinstudium an, ich will nämlich Arzt werden…“

 

„Was hast du dir nur dabei gedacht, wegen diesem Arschloch…“

 

„Bitte wach doch wieder auf. Ich würde dich so gerne kennenlernen.“

 

„Ricky, bitte lass mich nicht allein.“

 

„Weißt du eigentlich wie toll du aussiehst? Selbst jetzt noch? So einen Mann wie dich hätte ich gerne als Freund.“

 

„Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen keine Hoffnung machen. Ihr Bruder…“

 

„Herr Doktor, kann man denn gar nichts tun?“

 

„… deine Studienkollegen haben sich nach dir erkundigt…“

 

„Ich würde so gerne mit dir über den Weihnachtsmarkt bummeln. Wir könnten Glühwein trinken und…“

 

„Gestern Abend war dein Prof bei mir…“

 

„Komm schon, wach auf. Es wäre doch so schön, wenn wir…“

 

„Ich hab heute von der Uni bescheid bekommen…“

 

„… bin zu spät gekommen, weil der Bus…“

 

„Es schneit wie verrückt, bin kaum… weiße Weihnachten…“

 

 

Zwischendurch ist immer wieder nur neblige Leere da. Und Stille. Dann ist da auf einmal wieder die Stimme des Mannes, er hält meine Hand und streichelt sie zärtlich. Die Stimme wird immer lauter und deutlicher.

 

 

„… Gestern war übrigens Heiligabend. Meine Eltern haben einen riesengroßen Tannenbaum im Wohnzimmer aufgestellt. Der würde dir bestimmt gefallen. Mirja hat mir erzählt, wie gerne du Weihnachten magst. Nur Pech dass der Baum nicht ins Zimmer gepasst hat. Deshalb musste mein Vater ein Stück der Spitze abschneiden. Das sieht vielleicht beschissen aus! Ich hab mich kringelig gelacht und Mama hat fast geheult. Aber Papa hat sie getröstet und beim Abendessen war es ihr schon egal. Jedenfalls war genug Platz für die Geschenke unterm Weihnachtsbaum... … meine Großeltern waren auch da. … Opa kommt nicht so gut damit klar, dass ich schwul bin, aber meine Oma hat mal gesagt, dass sie mich verstehen kann. Ihr wären die Jungs auch immer lieber gewesen als die Mädchen. Da hat dann sogar mein Opa gelacht. Meine Mutter hätte die Weihnachtsgans übrigens beinahe zu lange im Ofen…“

 

 

Urplötzlich ist der Nebel weg, und ich blinzle in eine grelle Lampe. Die Gestalt an meinem Bett, ich glaube jedenfalls, dass ich in einem liege, kann ich nur ganz wage und schemenhaft erkennen.

 

Der Mann verstummt überrascht mitten im Satz, dann greift er über meinem Kopf und drückt anscheinend auf irgendeinen Schalter. Leider lässt er dabei meine Hand los. Kurze Zeit später stürmt ein Mann mit einem weißen Kittel ins Zimmer. Ist das ein Arzt? Leider schickt er den anderen raus. Schade, ich habe ihn nämlich noch immer nicht deutlich gesehen.

 

Dann untersucht der Doktor mich, stellt mir tausend Fragen. Wie ich heiße und ob mir etwas weh tut. Ich nicke. Der Hals. Das Sprechen fällt mir schwer. Meine Stimme klingt ganz komisch. So rau und heiser. Außerdem habe ich Durst. Eine Krankenschwester reicht mir ein halb gefülltes Glas mit Wasser, aber ich bin zu schwach, um es zu halten. Sie stützt mich und hilft mir, daraus zu trinken.

 

Ich bin hundemüde und schlafe noch während der Untersuchung erschöpft ein.

 

 

 

***

 

 

 

Als ich wieder wach werde, will ich aufstehen. Vorsichtig setze ich mich hin. Aber Pustekuchen! In meinem linken Unterarm steckt eine Infusionsnadel, die dazugehörige Plastikflasche baumelt über meinem Kopf an einem Metallständer. Außerdem hängt an dem Bettrand ein Beutel mit einer gelblichen Flüssigkeit. Ach du Scheiße! Das ist wohl ein Blasenkatheter.

 

Dann fällt mein Blick auf meine Arme. Ich trage nur ein Krankenhausnachthemd und so sehe ich deutlich die langen, roten Narben an meinen Handgelenken mit den vielen, erst schwach verheilten Stichen.

 

Schlagartig ist die Erinnerung wieder da.

 

Rashid!

 

Er hat mich verlassen und ich habe versucht mich umzubringen. Offensichtlich erfolglos, sonst würde ich doch nicht hier rumliegen. So war das nicht geplant!

 

Mein Freund ist weg und es tut immer noch so schrecklich weh. Warum liege ich denn jetzt hier? Ich wollte doch sterben. Warum bin ich denn nicht tot? Was hat er noch gesagt? Ich wäre nur eine kleine Episode am Rande gewesen? Er hat mich nie geliebt.

 

Bei der Erinnerung daran kommen mir die Tränen und ich schluchze in mein Kissen. Ich fühl mich so einsam und allein. Weggeworfen wie den letzten Dreck.

 

 

Auf einmal geht die Tür auf und Mirja kommt herein. Als sie mich sieht und bemerkt, dass ich wach bin, stürzt sie regelrecht auf mich zu.

 

„Zum Glück, du bist endlich aufgewacht! Ich konnte es gar nicht glauben als der Anruf vom Krankenhaus…“ Weiter kommt sie nicht, denn sie kann nicht mehr sprechen, weil sie laut zu weinen beginnt.

 

Als sie bemerkt, dass ich mich mühsam aufsetzen will, betätigt sie einen Hebel und das Kopfteil des Bettes geht nach oben. So ist es schon besser.

 

Zuerst sagt sie mir, wie sehr sie sich freut, dass ich noch lebe und welch große Angst sie um mich hatte. Dann macht sie mir heftige Vorwürfe. Was ich mir denn nur dabei gedacht hätte, mir die Pulsadern aufzuschneiden? Und das wegen so einem Riesenarschloch wie Rashid. Der wäre es doch gar nicht wert, wegen ihm zu sterben. Sie redet sich immer mehr in Rage.

 

Sie versteht es wohl wirklich nicht. Nicht den Schmerz und die Verzweiflung über seine Trennung von mir. Ich weine und flüstere traurig: „Warum habt ihr mich denn nicht einfach sterben lassen? Ohne ihn will ich nicht mehr leben, ist doch alles so sinnlos…“

 

 

Ohne Vorwarnung schlägt Mirja zu!

 

 

Erschrocken halte ich die Hand an meine brennende Wange.

 

Meine Schwester bricht erneut in Tränen aus und schreit mich an: „Hast du dir gar keinen Gedanken darüber gemacht, was du mir mit deinem Selbstmordversuch angetan hast? Gott, Ricky, ich würde dich am liebsten erwürgen dafür! Ich habe doch nur noch dich, wie kannst du mich nur allein lassen wollen? Du bist doch mein kleiner Bruder und ich liebe dich über alles. Warum hast du denn nur nichts gesagt? Ich hätte doch…“

 

Sie sieht mich an und bemerkt, dass ich mir immer noch die Wange halte.

 

„Scheiße, Ricky! Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich hab doch solche Angst um dich…“

 

Dann fällt sie mir quasi um den Hals und drückt mich an sich. Jetzt heulen wir beide und klammern uns aneinander fest. Es tut mir so leid, ihr so einen Kummer gemacht zu haben. Aber daran habe ich gar nicht gedacht.

 

 

Während wir immer noch laut schluchzen, öffnet sich plötzlich die Zimmertür erneut und jemand kommt herein.

 

„Oh sorry, wenn ich störe, aber ich habe geklopft und als keiner geantwortet hat…“

 

 

 

Die Stimme kenne ich doch!

 

 

 

 

3.

 

 

 

Ich blicke erschrocken auf den Mann, der gerade ziemlich hilflos in der geöffneten Tür steht. Meine Augen sind zu verheult um mehr als einen Umriss zu erkennen. Bevor ich reagieren kann, dreht er sich um und will schon gehen. Doch Mirja hält ihn zurück.

 

„Gut, dass du kommst, Sascha. Ricky hat mich gerade gefragt, warum wir ihn nicht einfach haben sterben lassen. Bitte, sag mal was dazu!“

 

Sascha! Endlich hat die Stimme aus meinen Träumen einen Namen. Und gleich darauf auch ein Gesicht. Denn er dreht sich wieder um und schließt die Tür. Dann kommt er langsam zu mir ans Bett.

 

Und trotz Tränen in den Augen kann ich nun erkennen, dass er jünger ist, als ich vermutet habe. Groß, schlank, dunkelblonde Haare und grau-grüne Augen, die mich erschrocken und besorgt mustern. Ich bin selbst nicht unbedingt klein mit meinen 1,75m, aber Sascha ist schätzungsweise noch 15 Zentimeter größer.

 

Als er direkt neben mir steht hält er mir die Hand hin: „Hallo Ricky! Schön dass du endlich aufgewacht bist. Mein Name ist Sascha Bergenthal und ich bin hier im Krankenhaus einer der Zivis.“

 

Zögernd ergreife ich die dargebotene Hand. Sie fühlt sich warm und fest an. Genau wie in meiner Erinnerung. Am liebsten würde ich sie nie mehr loslassen. Was ist nur mit mir los? Hat das Koma etwa doch Hirnschäden hinterlassen? Eigentlich kenne ich ihn doch gar nicht. Außerdem bin ich immer noch in Rashid verliebt. Und Sascha ist rein äußerlich das genaue Gegenteil von ihm. Nicht wirklich mein Typ, obwohl er alles andere als schlecht aussieht. Bestimmt kann er sich vor Verehrern nicht retten, wenn er durch die Clubs zieht.

 

Doch da lässt er meine Hand auch schon los, sieht mir aber weiterhin intensiv in die Augen. Als ich merke, dass ich rot werde, senke ich den Blick und starre auf die weiße Bettdecke.

 

„Hast du allen Ernstes gefragt, warum wir dich nicht einfach sterben ließen?“ Seine Stimme klingt seltsam hohl. So als würde er sich bewusst bemühen, ruhig und langsam zu sprechen.

 

Als ich immer noch nicht antworte, übernimmt das meine Schwester für mich.

 

„Ja hat er. Und ich habe ihm deshalb schon eine gescheuert.“ Sie wendet sich wieder an mich. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mich das gefragt hast. Du weißt doch genau, wie wichtig du mir bist. Glaubst du Idiot, ich würde tatenlos daneben stehen, während du verblutest?“ Mirja beginnt wieder zu weinen und ich schäme mich für meine Worte.

 

Da ist plötzlich eine Hand unter meinem Kinn und mit sanftem Druck zwingt mich Sascha, ihn anzusehen.

 

„An dem Morgen, als sie dich mit Blaulicht hier eingeliefert haben, hatte ich Frühdienst. Ich habe dabei zugesehen, wie sie dich reanimiert haben, weil dein Herz nicht mehr schlug. Wie um dein Leben gekämpft wurde. Und auch wenn du noch so gute Gründe hattest zur Rasierklinge zu greifen, bitte mach so etwas nie wieder. Deine Schwester liebt dich über alles, das hört man aus jeder ihrer Erzählungen von dir heraus. Sie hatte eine wahnsinnige Angst um dich.“

 

Mittlerweile heule ich wieder und versuche meinen Kopf wegzudrehen, aber Sascha lässt mich nicht los.

 

„Ich kenne deinen Freund nicht und verstehe auch nicht die Gründe, weshalb er dich verlassen hat. Aber wenn du es zulässt, dann werden wir dir gerne helfen.“

 

Er sieht mich eindringlich an und ich kann seinem Blick nicht ausweichen.

 

„Beim Sterben zusehen gehört nicht dazu. Hast du das verstanden?“

 

Zögernd nicke ich. Oh, Mann. Da ist wohl jemand echt angefressen.

 

Ich lehne mich erschöpft zurück und Sascha stellt das Oberteil des Bettes wieder flach. Ein komisches Gefühl in der Bauchgegend lässt mich mit der Hand darüber fahren. Was ist denn das?

 

Mirja folgt meiner Hand mit den Augen und bevor ich noch fragen kann sagt sie: „Keine Angst Ricky, das ist nur der Zugang der PEG. Der Doktor hat veranlasst, dass du künstlich ernährt wurdest, während du im Koma gelegen hast.“

 

Ich werde wohl gerade ziemlich blass, doch dann ist da wieder Saschas Hand, die meine sanft drückt.

 

„Mach dir keinen Kopf, sobald du wieder alleine essen kannst, kommt sie weg. Ist nur ein ganz kleiner Eingriff.“

 

Aufmunternd lächelt er mich an. Dadurch wirkt er noch attraktiver. Ich hab wohl doch einen Dachschaden davongetragen, sonst würde ich nicht so einen Scheiß denken. Ich schließe ergeben die Augen. Während ich wieder einschlafe merke ich noch, dass Sascha meine Hand noch immer festhält.

 

 

 

Als ich wieder aufwache steht auf meinem Nachtschränkchen ein kleiner, leuchtender Weihnachtsbaum. Erstaunt sehe ich mich im Zimmer um, aber da ist niemand. Einige Minuten später öffnet sich leise die Tür und Sascha kommt zurück.

 

„Hey, du bist schon aufgewacht? Ich habe jetzt Dienstschluss und wollte nur noch kurz nach dir sehen.“

 

„Danke. Sag mal warst du das, mit dem Tannenbaum?“

 

Er grinst mich vielsagend an. „Den hab ich im Schwesternzimmer gemopst. Schließlich ist Weihnachten und da sollst du doch auch etwas von haben.“

 

So ein verrückter Kerl! Ich beginne schon wieder zu weinen. Wenn auch aus einem anderen Grund. Offensichtlich entwickle ich mich gerade zur Heulsuse. „Danke!“

 

„Nicht dafür. Kopf hoch, Ricky! Alles wird gut, wenn du es nur willst.“ Dabei verpasst er mir einen zärtlichen Stups auf die Nase und ich muss trotz meiner Tränen lächeln. Was macht dieser Kerl nur mit mir?

 

Da fällt mir noch etwas ein.

„Bekomme ich eigentlich mein Handy?“

 

„Was willst du denn damit? Wenn es dir darum geht deinen Freund anzurufen, das hat Mirja schon täglich versucht. Er nimmt nicht ab.“

 

Er mustert mich aufmerksam und fragend. Doch als ich das höre, schüttele ich mit dem Kopf. Hat doch alles keinen Sinn. Rashid will nichts mehr mit mir zu tun haben, noch nicht einmal mit mir reden. Da helfen kein Handy und auch kein Internet. Aber furchtbar weh tut es mir trotzdem. Und ich weiß gerade nicht, wie ich das aushalten soll. Da Sascha hier ist reiße ich mich zusammen. Ich glaube, er macht sich schon so genug Sorgen um mich, auch ohne dass ich mich als das Häufchen Elend präsentiere, das ich im Moment wohl bin.

 

Nach einer halben Stunde verabschiedet sich mein Besucher dann. Schließlich ist der zweite Weihnachtsfeiertag und seine Eltern warten auf ihn. An der Tür winkt er mir zum Abschied zu, dann verlässt er das Zimmer und ich bin wieder allein.

 

Mein Blick wandert zu dem kleinen Tannenbaum. Rashid wollte mit mir nicht Weihnachten feiern… Ich weine mich in den Schlaf.

 

 

 

***

 

 

 

In den nächsten Tagen kommt Sascha in seinen Pausen und nach Feierabend regelmäßig zu mir. Er und Mirja versuchen mich abwechselnd aufzumuntern. Klappt auch ganz gut. Nur wenn ich alleine bin denke ich ständig an Rashid und frage mich, was ich falsch gemacht habe. Warum ich nicht merkte, dass er meine Gefühle nicht erwiderte. Und ich war mir doch so sicher, dass er mich auch so sehr geliebt hat, wie ich ihn. Doch zu Mirjas und Saschas Erleichterung, habe ich den beiden versprochen, den Selbstmordversuch nicht zu wiederholen. Obwohl ich mir da anfangs gar nicht so sicher war. Aber für ein zweites Mal fehlt mir gerade ohnehin der Mut. Außerdem hat Mirja wohl irgendwie recht. Der Scheißkerl ist es nicht wert für ihn zu sterben. Jedenfalls sagt sie mir das immer wieder. Vielleicht glaube ich es irgendwann noch selbst. Aber jetzt noch nicht… Jetzt vermisse ich ihn. So sehr…

 

 

 

Ich kann übrigens seit drei Tagen wieder etwas essen. War anfangs nicht so einfach, mein Magen hat sich heftig gewehrt. Doch nun habe ich ein anderes Problem. Bauchschmerzen, weil ich einfach nicht auf dieser bekloppten Bettpfanne machen kann. Ist schon schwer genug in die Plastikflasche zu pinkeln, denn glücklicherweise bin ich den Urinkatether wieder los. Um ins Bad zu gehen bin ich leider immer noch viel zu schwach. Bin ja schon heilfroh, dass ich inzwischen selbstständig ein Glas halten und etwas trinken kann. Sascha und Mirja füttern mich manchmal. Die Krankenschwestern haben nur sehr wenig Zeit für so etwas.

 

Wie auf Kommando geht die Tür auf und Sascha kommt herein. Lächelnd begrüßt er mich, aber dann stutzt er und fragt besorgt, ob etwas nicht mit mir stimmen würde. Sieht man mir mein Problem etwa schon an? Na ja, wahrscheinlich, so verkrampft, wie ich gerade im Bett lieg. Also jammere ich ein bisschen und sage ihm, warum ich Bauchschmerzen hab.

 

„Aber sitzen kannst du doch schon wieder alleine, oder?“

 

„Ja, warum?“

 

Er geht zur Tür vom Bad und öffnet sie. Dann kommt er zurück zu mir.

 

„Halt dich an mir fest.“

 

Erstaunt blicke ich ihn an. Doch da hebt er mich zu meiner Überraschung schon problemlos hoch und trägt mich zur Toilette. Ich wiege immer noch viel zu wenig. Dort angekommen stellt Sascha mich hin, aber er hält mich dabei fest, damit ich nicht umfalle. Er hilft mir den Slip runterzuziehen und mich auf die Toilette zu setzen. Da sind zwei große Griffe wie Bügel auf beiden Seiten, an denen ich mich festhalten kann.

 

„Soll ich dich alleine lassen? Aber wenn dir schwindelig wird, oder sonst was ist, ruf mich sofort. Ich warte draußen.“

 

Ich nicke nur und er geht raus und schließt die Tür.

 

Als ich endlich fertig bin, kann ich mich vor lauter Schwäche kaum mehr aufrecht halten. Und auch nicht den Hintern abwischen. So ein Mist, was mach ich denn jetzt?

 

Da klopft Sascha an die Tür: „Ricky, geht es dir gut? Bist du fertig?“

 

„Ja, aber ich kann nicht…“

 

Da öffnet er schon die Tür und kommt herein. Ich würde gerade liebend gern im Boden versinken. Hier drin riecht es gerade nicht gut und ich hab keine Kraft zum Klopapier zu greifen. Natürlich erkennt Sascha mein Problem.

 

„Lehn dich einfach ein bisschen vor, damit ich dich sauber machen kann.“

 

Ich werde knallrot vor Scham. „Aber das geht doch nicht…“

 

„Sicher geht das, oder willst du lieber hier sitzen bleiben, bis du umkippst?“

 

Und dann macht er das, wozu ich nicht in der Lage bin. Anschließend trägt Sascha mich wieder zurück in mein Bett. Mein Kopf hat mittlerweile bestimmt die Farbe einer Tomate und ich kann ihn gar nicht ansehen, so sehr schäme ich mich.

 

„Was ist los Ricky? Ich dachte, du bist auch schwul. Da dürftest du es doch nicht so schlimm finden, dort angefasst zu werden.“

 

Dieser Mistkerl! Und dann schmunzelt er dabei auch noch. Wie fies ist das denn? Am liebsten würde ich ihn gerade erwürgen! Das sag ich ihm auch und er beginnt doch tatsächlich zu lachen.

 

„Mach dir keinen Kopf, du bist nicht der einzige, dem es hier so ergeht. Dafür sind wir doch da. Um Patienten, die zu schwach sind, zu helfen. Kein Grund sich dafür zu schämen. Ich bin so froh, dass es dir wieder besser geht. Und bald kannst du wieder alleine zur Toilette gehen.“

 

Dabei sieht er mich aufmunternd an und ich beginne zu kichern. Kurze Zeit später lachen wir alle beide laut. Mit Sascha zu lachen fühlt sich irgendwie gut an. Als ich wieder Luft bekomme, bedanke ich mich bei ihm.

 

„Kein Ding. Versprich mir, dass du mir sagst, wenn du wieder Hilfe brauchst.“

 

„Wenn du mich so fragst, wäre toll, wenn du mir mal helfen könntest zu duschen.“

 

„Okay, aber nicht mehr heute. Ruh dich jetzt erstmal aus. Das gerade war anstrengend genug für dich.“

 

 

 

Am nächsten Tag macht er dann sein Versprechen wahr. Zusammen mit Jens, einem der Krankenpfleger, trägt er mich zur Dusche und setzt mich dort auf einen Stuhl. Dann helfen mir die beiden dabei mich zu säubern und auch die Haare zu waschen. Als ich hinterher wieder in meinem Bett liege fühle ich mich wie neugeboren. Und irgendwie bin ich es wohl auch.

 

 

 

***

 

 

 

Was nun in den nächsten Wochen folgt ist die reinste Tortur. Ich kann anfangs nicht alleine essen, zur Toilette gehen, mich waschen. Ich bin sogar zu schwach um mich hinzustellen. Folglich erhalte ich eine Physiotherapie um die Muskeln wieder aufzubauen. Mein behandelnder Arzt und Sascha haben mich ermutigt, zudem mit einem Psychotherapeuten zu reden. Denn körperlich und seelisch bin ich ein Wrack. Wie kann einen die Liebe nur so kaputt machen? Immer wenn man von ihr spricht, stellt man sie sich wunderschön und perfekt vor. Nur scheiße, wenn sie einseitig ist.

 

 

 

Es ist eine harte Zeit für mich, aber immer wenn ich in ein tiefes Loch zu fallen drohe, sind Mirja und Sascha da und fangen mich auf. Ich hatte eigentlich nie einen besten Freund, aber ich glaube, jetzt habe ich einen. Fühlt sich jedenfalls so an. Wir verstehen uns verdammt gut und haben schon viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Sascha verbringt immer noch viel Zeit mit mir und ich bin ihm unendlich dankbar dafür. Ohne ihn würde mir vermutlich längst die Decke auf den Kopf fallen vor Langeweile. Er hat mir schon etliche Bücher geliehen. Anscheinend haben wir auch dabei die gleichen Vorlieben. Fantasy und Krimis. Idealerweise mit einem schwulen Paar. Auf zuckerwattehaltige Lovestorys kann ich gerade sehr gut verzichten. Aber die bringt er mir auch gar nicht mit. Obwohl ich den Verdacht habe, dass er eine ausgesprochen romantische Ader hat. Hört man so raus aus den Gesprächen, die wir führen. Und eigentlich macht ihn mir das nur noch sympathischer.

 

 

 

Mein Professor und einige meiner Mitstudenten besuchen mich ab und zu. Auch sie haben sich Sorgen um mich gemacht und freuen sich nun, dass ich über den sprichwörtlichen Berg bin. Das nächste Semester kann ich trotzdem knicken. Aber glücklicherweise darf ich meinen Job behalten. Ich freue mich sehr darüber und verspreche, so schnell wie möglich wieder weiter zu machen. Über Rashid reden sie nicht mit mir, ist auch besser so. Ich wüsste ohnehin nicht, was ich sagen soll, wenn sie nach ihm fragen sollten.

 

 

 

So vergeht die Zeit und mittlerweile bin ich auch die PEG wieder los. Ist nur noch eine kleine Narbe von zu sehen. Die an den Handgelenken sind viel länger.

 

Als ich zum ersten Mal am Arm von Sascha langsam über den Krankenhausflur gehe, heule ich ein bisschen vor Erleichterung und Freude. Er übrigens auch.

 

Schwester Birgit, die zufällig gerade an uns vorbeigeht, flüstert leise: „Wie süß.“

 

Manchmal hat es eindeutig auch Vorteile, schwul zu sein.

 

 

 

 

4.

 

 

 

Seit gefühlten zehn Minuten stehe ich jetzt schon bewegungslos am Ende des langen Flurs vor der letzten Tür. Vielleicht sollte ich einfach mal den Schlüssel ins Schloss stecken und aufschließen? Hab’ nicht damit gerechnet, dass es mir so schwer fällt, zurück zu kommen. Nach Hause. In meine kleine Studentenbude.

 

Für mich ist es der reinste Horror. Beim Aussteigen aus dem Bus der Anblick des Hauses, die Wege, die ich so oft mit Rashid gegangen bin. Die vielen Erinnerungen an uns. Dass ich angefangen habe zu weinen ist mir erst viel zu spät aufgefallen. Das muss endlich aufhören! Er hat mich auf mieseste Art verlassen, basta und Punkt. Ende der Vorstellung! Und zur Krönung des Ganzen hat mir der Psycho-Heini vom Krankenhaus auch noch vor zwei Tagen geraten, die Behandlung fortzusetzen, mich mit dem Geschehen und meinen Gefühlen dabei intensiv zu beschäftigen. Damit ich irgendwann wieder bereit bin für eine neue Beziehung. Der hat doch den Knall nicht gehört! Ich und noch einmal eine Beziehung? Nein danke, eher friert die Hölle zu! Ist ja nicht so, als hätte mich die letzte fast umgebracht. Ich wollte ihm schon raten, sich selbst mal „intensiv“ mit einem Kollegen zu unterhalten, hab’s dann aber doch sein gelassen. Weiß der Teufel, was ich mir dann noch wieder alles an Klugscheißerei hätte anhören müssen.

 

 

Jedenfalls war ich sehr erleichtert, als mir der Stationsarzt gestern Nachmittag mitgeteilt hat, dass ich heute entlassen werde. Als Sascha am Abend zu mir kam und ich ihm davon erzählte, hat er mir sofort angeboten, mich abzuholen und nach Hause zu begleiten. Aber das wollte ich nicht, deshalb habe ich das Angebot von ihm dankend abgelehnt. Im Augenblick bin ich heilfroh darüber. Denn seinen besorgten Blick könnte ich Moment nicht ertragen. Er macht sich ohnehin immer noch viel zu viele Gedanken um mich. Da kann ich noch so oft beteuern, dass es mir wieder gut geht. Ich bezweifele, dass er mir glaubt. Denn er schafft es problemlos, hinter meine Maske zu sehen. Keine Ahnung, wie er das macht. Ich bin glücklich, ihn als Freund zu haben. Irgendwie verstehen wir uns auch ohne Worte.

 

Manchmal habe ich aber schon ein schlechtes Gewissen. So oft wie er mich besucht hat und seine Freizeit für mich geopfert hat. Das kann ich doch nie mehr wieder gutmachen. Als ich ihn einmal darauf angesprochen habe, hat er nur lächelnd abgewinkt und geantwortet, dass er das doch gerne machen würde. Mein kleiner Samariter-Kumpel hab’ ich ihn genannt und er hat nur gelacht. Übrigens ist sein Zivildienst im Krankenhaus beendet und er hat im Moment keinen Job. Er wohnt noch bei seinen Eltern und deshalb kann er es sich leisten bis zum Semesteranfang im April eine Auszeit zu nehmen.

 

Das erinnert mich an meine eigene finanzielle Situation. Mehr als mein Wohnklo kann ich mir nicht leisten, deshalb sollte ich wohl besser die Vergangenheit vergessen und endlich die Tür öffnen. Und genau das mache ich jetzt.

 

 

Ist schon ein komisches Gefühl wieder hier zu stehen. Im Badezimmer, aus dem sie mich vor etlichen Wochen rausgetragen haben. Mirja hat offensichtlich alles sauber gemacht. Jedenfalls ist nichts mehr von all dem Blut zu sehen. Danke, Schwesterlein!

 

Als ich mich umsehe fällt mir auf, dass mein Nassrasierer fehlt. Und auch die Ersatzklingen. Dafür liegt im Regal eine Packung mit diesen komischen Einmaldingern. Solche, wie ich sie auch im Krankenhaus benutzt hab. Na ja, ist vielleicht im Moment auch besser. Nicht weil ich immer noch Selbstmordgedanken habe, sondern damit sie beruhigt ist. Irgendwann werde ich sie wieder austauschen. Oder einfach meinen alten Trockenrasierer reparieren lassen.

 

Viel schlimmer ist es, als ich Minuten später vor meinem Bett stehe. Denn auch wenn ich nicht will, automatisch ist die Erinnerung an Rashid wieder da. Wie oft haben wir uns in meinem Bett geliebt...

 

Stopp Ricky, ganz, ganz falsch! Du hast ihn geliebt, aber er hat dich nur gefickt! Wie hat er dich noch genannt? Ach ja, eine kleine Episode am Rande! Du warst für ihn nur eine kostenlose Hure!

 

Scheiße, scheiße, scheiße! Ich weiß das doch, warum zittere ich denn dann so? Und warum liege ich plötzlich auf dem Bett und schluchze ins Kopfkissen? Ich komme mir so jämmerlich und erbärmlich vor. Weil mein dummes Herz es einfach nicht wahrhaben will und ich ihn trotz allem immer noch vermisse…

 

 

Als mein Handy klingelt, erkenne ich am Ton, dass es Sascha ist, der mich anruft. Aber ich gehe nicht ran. Kann gerade nicht mit ihm sprechen. Denn dann würde er sofort hören, dass es mir nicht gut geht und herkommen. Aber da muss ich jetzt alleine durch. Ich hab ihn schon lange genug ausgenutzt. So geht das nicht weiter! Ich muss mein Leben wieder in den Griff bekommen, ohne ständig als heulendes Elend bei ihm Trost zu suchen.

 

 

 

***

 

 

 

Seit einem Monat arbeite ich wieder bei meinem Prof. Er hat mir sogar angeboten mir die Protokolle von den versäumten Vorlesungen zu geben und die Klausuren nachzuschreiben. Damit ich die mir noch fehlenden Scheine erhalte und das Semester nicht umsonst war. Natürlich habe ich freudig zugestimmt und lerne seitdem wie bekloppt. Glücklicherweise fällt es mir leicht, den Lehrstoff zu verstehen und anzuwenden. Alles was Architektur betrifft, interessiert mich brennend und ich habe wohl auch Talent dafür. Mit den Kollegen komme ich immer noch sehr gut klar. Alle nehmen Rücksicht auf mich und niemand erwähnt meinen Selbstmordversuch. Dafür bin ich ihnen mehr als dankbar. Ist ja nicht selbstverständlich.

 

Meine Schwester Mirja freut sich sehr für mich und ist ganz begeistert von meinem Professor. Würde auch nicht jeder für seinen Studenten machen. Schließlich bedeutet es auch für ihn eine Menge an Mehrarbeit.

 

Leider habe ich bei dem ganzen Stress kaum Zeit für Sascha. Als ich mich dafür entschuldigt habe, hat er mir versichert, dass er das verstehen würde. Wenn erst einmal sein Studium beginnt, wäre es auch für ihn vorbei mit der vielen Freizeit. Kann ich mir vorstellen, Medizin zu studieren wird sicherlich kein Zuckerschlecken. Aber bis dahin dauert es noch ein paar Wochen.

 

Trotzdem haben wir uns ein paar Mal getroffen. Abwechselnd bei mir und bei seinen Eltern. Sie besitzen ein schönes Haus mit einem großen Garten. So ähnlich habe ich mir immer mein Traumhaus vorgestellt, in dem ich mit Rashid leben wollte. Das hat sich jetzt erledigt, Mietwohnungen haben auch Vorteile. Wenn es einem da nicht mehr gefällt, kann man umziehen. Ja genau, immer schön positiv denken! Einer der wenigen guten Ratschläge vom Psycho-Doc.

 

Sascha hat mir bei einem meiner Besuche seine Eltern vorgestellt. Sie sind sehr freundlich zu mir gewesen und ich weiß nun auch, von wem Sascha sein Lächeln geerbt hat. Von seiner Mutter. Das Aussehen hat er aber eindeutig von seinem Vater. Der sieht für sein Alter noch sehr attraktiv aus. Da hat mein Freund gute Gene mitbekommen. Ehrlich gesagt verstehe ich gar nicht, wieso er immer noch solo ist. Als ich ihn eines Abends beim Konsolen-Spielen darauf angesprochen habe, meinte er nur dass es da wohl jemanden geben würde, der ihm gefällt. Wäre aber leider eine schwierige Situation. Und vielleicht einseitig. Hab’ dann nicht weiter nachgefragt, von einseitiger Zuneigung kann ich bekanntermaßen ein Liedchen singen.

 

 

Verbesserungsvorschlag an Amor - wenn du schon mit deinen bescheuerten Pfeilen auf ahnungslose Menschen schießt, dann ziele wenigstens genau und triff beide.

 

Nachtrag: Aber verschone mich in Zukunft mit dem Quatsch!

 

 

 

***

 

 

 

Drei Wochen später stehe ich an einem Samstagabend vor meinem fast leeren Kleiderschrank. Der Inhalt liegt nämlich nicht gerade ordentlich auf meinem Bett. Ich bin immer noch viel zu dünn und die meisten meiner Klamotten sind mir zu weit. Doch ganz hinten unter einem Pulloverstapel habe ich noch eine alte, schwarze Jeans gefunden. Die war mir eigentlich zu eng, aber jetzt passt sie perfekt. Knalleng am Po und der Bund endet ein Stück unter dem Nabel. Dazu ziehe ich ein hautenges, rotes Shirt an, das nicht ganz bis zum Hosenbund reicht. Ich will sexy aussehen, denn heute soll mein unfreiwilliges Zölibat enden. Ich treffe mich nachher mit meinen Kollegen im angesagtesten Club der Stadt, dem „Rainbow“. Ist eigentlich ein Gayclub, aber so genau nimmt es dort keiner. Jedenfalls hat uns Manuel eingeladen, der hatte gestern Geburtstag und heute wird gefeiert. Sascha kommt später nach, er ist noch mit seinen Eltern unterwegs von einer Familienfeier. Er hat mit etwas von Silberhochzeit einer Tante erzählt. Da konnte er nicht durch Abwesenheit glänzen. Mal sehen, ob ich ihn nicht nachher mit irgendeinem heißen Typen verkuppeln kann. Vielleicht klappt es ja und er findet etwas für einen One-Night-Stand. Und ich auch. Mal zur Abwechslung keinen Do-it-yourself Handjob. Allerdings nehme ich garantiert keinen zu mir nach Hause. Zur Not reicht auch der Darkroom.

 

 

 

***

 

 

 

Als ich den Club betrete, dröhnen mir schon im Eingangsbereich die Bässe entgegen. Ich gebe meine Jacke an der Garderobe ab und stecke den Plastikchip mit der Hakennummer in meine Geldbörse. Ist sicherer. Hab’ mal einen verloren, das war danach ein Heidentheater meine Jacke zurückzubekommen. Ich konnte sie erst am nächsten Abend abholen, glücklicherweise war sie hängen geblieben.

 

Kurz vor der Treppe bleibe ich stehen und sehe mich um. Von hier oben hat man einen tollen Ausblick auf das Geschehen unten auf der Tanzfläche. Die Scheinwerfer erleuchten die Szene und die Discokugeln erzeugen raffinierte Lichtreflexe. Es ist rappelvoll. Männer aller Altersstufen bewegen sich im Takt der Musik, viele mit nacktem Oberkörper. Oh Mann, da sind ein paar megaheiße Typen dabei. So wie ich auf der Suche nach unverbindlichem Sex. Da werde ich bestimmt nachher einen finden, um mich mit ihm zu vergnügen. Aber zuerst suche ich meine Kollegen.

 

In die Nischen am Rand kann man erst sehen, wenn man daran vorbeigeht. In den meisten sitzen knutschende Pärchen. Nicht nur Schwule, auch etliche Lesben kann ich erkennen. Hetenpaare übrigens auch. Stört hier keinen, ein friedliches Miteinander. Das „Rainbow“ ist total beliebt und gerade am Samstag immer überfüllt. Als ich mich durch die Menge schiebe, merke ich erst wie sehr ich das hier vermisst habe. Seit ich mit Rashid zusammen war, bin ich nicht mehr hier gewesen. Alleine machte es mir keinen Spaß und er kam nie mit. Hätte ja jemand auf die Idee kommen können, er wäre womöglich schwul. Arschloch!

 

Endlich habe ich meine Kumpels entdeckt und sie winken mir zu. Ich kämpfe mich zu ihnen durch und lasse mich auf einen der freien Stühle fallen. Freudig werde ich begrüßt. Sofort schiebt mir einer eine Bierflasche rüber und ich trinke gierig einen großen Schluck. Wird heute nicht meine letzte bleiben. Alle der Anwesenden kenne ich nicht, denn natürlich sind auch einige von Manuels persönlichen Freunden dabei.

 

Lange bleibe ich aber nicht bei ihnen sitzen, stattdessen zieht es mich auf die Tanzfläche. Der Rhythmus lässt den Boden beben und ich bewege mich im Takt der Musik. Immer wieder werde ich angetanzt, doch ich lasse mir Zeit. Die meisten der Typen kann man unschwer als Tops erkennen und daran habe ich kein Interesse. Ich halte garantiert für keinen mehr den Arsch hin.

 

Am Rande der Tanzfläche erkenne ich nach einer Weile Tom, den hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wir sind ein paarmal im Bett gelandet, das war noch vor meiner Zeit mit Rashid. Ist aber nichts aus uns geworden, allerdings weiß ich, dass er am liebsten passiv ist. Ich tanze zu ihm rüber und begrüße ihn. Er freut sich total, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Als ein langsamer Song gespielt wird, tanzen wir eng umschlungen und er beginnt mich zu küssen. Ich spüre, wie er hart wird und mir geht’s auch nicht anders. Nach kurzer Zeit nimmt er mich an die Hand und zieht mich Richtung Darkroom. Als wir an der Bar vorbei kommen, steht auf einmal Sascha vor uns. Scheiße, den hab’ ich ja ganz vergessen!

 

„Hey, bist du schon lange hier?“, frage ich ihn. Muss ganz schön schreien, damit er mich bei der lauten Musik überhaupt versteht.

 

Er schüttelt den Kopf und sieht fragend auf Tom, der noch immer meine Hand hält. Als er darin zieht, schaue ich entschuldigend zu Sascha.

 

„Warte einen Augenblick, wir sind gleich wieder da.“ Ich grinse anzüglich, aber Sascha sieht mich nur erschrocken an. Er ist irgendwie ziemlich blass, ob er wohl krank ist? Doch bevor ich Gelegenheit habe, ihn danach zu fragen, sieht er mich an.

 

„Ist das dein neuer Freund?“

 

Ich lache. „Tom? Nein, wir gehen nur mal kurz in den Darkroom. Ein bisschen Spaß haben.“

 

Im ersten Moment scheint meine Antwort ihm glatt die Sprache verschlagen zu haben. Dann fragt er so leise, dass ich ihn wegen der Musik kaum verstehen kann: „Bist du denn in ihn verliebt?“

 

Jetzt bin ich baff. Dann antworte ich ihm: „Verliebt? Ich? Ganz bestimmt nicht! Eines kannst du mir glauben, Sascha, bevor ich mich noch einmal verliebe, springe ich eher vom nächsten Hochhaus! Damit es diesmal auch wirklich klappt!“

 

Sascha sieht mich völlig entsetzt an. Aber ich habe jetzt keine Lust mit ihm über diesen Albtraum namens Liebe zu diskutieren. Außerdem zieht mich Tom nun energisch weiter. Ich winke Sascha noch kurz zu und verschwinde dann hinter dem Vorhang, der zum Darkroom führt.

 

Was nun folgt ist haargenau das, was ich mir für diesen Abend vorgestellt habe. Tom ist willig und heiß. Er streift mir das Kondom über und schon geht es zur Sache. Nachdem wir gekommen sind, ziehen wir uns wortlos wieder an und gehen zurück in den Club. Eigentlich müsste es mir jetzt doch gut gehen. Warum fühlt es sich dann nicht richtig an, so als würde etwas Entscheidendes fehlen? Und warum sehe ich immer noch Saschas entsetzten Blick vor mir?

 

 

Als ich Minuten später, wieder an der Theke stehe, kann ich Sascha nirgends entdecken. Rico, der Barmann spricht mich an.

 

„Falls du den großen Dunkelblonden suchst, der ist gleich nachdem ihr im Darkroom verschwunden seid, rausgerannt als wäre der Teufel hinter ihm her.“

 

„Wieso das denn?“

 

„Hat er nicht gesagt, aber er war wohl nicht begeistert darüber, dass du einen anderen Typen abgeschleppt hast.“

 

„Sascha?“

 

„Keine Ahnung wie er heißt, aber er sah nicht so aus, als wäre es ihm gleichgültig. Seid ihr etwa zusammen?“

 

„Nein, wie kommst du denn darauf? Wir sind nur befreundet.“

 

„Das wirkte gerade aber ganz anders aus. Eher so, als wäre er total in dich verknallt. Er war auf einmal kreidebleich, als würde er gleich umkippen. Ich glaube, er hatte sogar Tränen in den Augen.“

 

 

 

Bitte was??????

 

 

 

 

5.

 

 

 

5.17Uhr.

 

 

Ich kann nicht einschlafen. Dabei bin ich hundemüde, doch in meinem Kopf tanzen die Gedanken mit vielen Erinnerungen und längst vergessen geglaubten Gefühlen Polka. Schon seit Stunden liege ich wache und starre zwischendurch immer wieder auf die Digitalanzeige meines Weckers, die sich nur quälend langsam verändert. Der nächste Morgen dämmert allmählich. Der Morgenröte nach zu urteilen wird es wohl ein Tag, der seinem Namen alle Ehre machen wird. Sonntag.

 

Ich weiß das deshalb so genau, weil ich mittlerweile am offenen Fenster stehe. Hab’ es im Bett nicht mehr ausgehalten. Herrlich frische Luft mit Blütenduft strömt zu mir herein, die Vögel sind auch schon wach und singen ihr Morgenlied. Man merkt, dass der Frühling begonnen hat.

 

Mir ist nicht nach singen zumute. Eher nach heulen, schreien, um mich schlagen. Die halbe Nacht habe ich versucht, Sascha telefonisch zu erreichen. Ich wollte nur kurz mit ihm reden und einiges klarstellen. Doch der Arsch hat sein Handy ausgeschaltet und ich habe ihm gefühlte hundertmal auf die Mailbox gequatscht. Dass er sich bitte sofort bei melden soll. Hat er aber nicht. Es herrscht absolute Funkstille zwischen uns. Und das macht mir mehr Angst, als ich mir eingestehen will.

 

Es ist noch kühl so früh am Morgen und ich fange an zu zittern. Deshalb schließe ich das Fenster und gehe ins Bad um zu duschen. Muss mich ohnehin fertig machen, denn Mirja hat mich zum Frühstück eingeladen. Und da ich schon mehrere unserer gewohnten Sonntagstreffen abgesagt habe, hat sie diesmal keine Ausrede mehr gelten lassen. Kein Lernen, kein dringendes Ausschlafen und erst recht nicht einen Kater durch zuviel Alkoholkonsum. Obwohl ich gar nicht so viel getrunken habe. Denn als mir der Barkeeper von Saschas überstürztem Abgang berichtet hat, habe ich mich nur kurz bei den Jungs verabschiedet und bin ihm dann hinterher gelaufen. Natürlich war er schon weg. Da habe ich das erste Mal seine Rufnummer gewählt. Und weil er nicht auf das Klingeln reagiert hat, bin ich dann noch mit dem Taxi zu dem Haus seiner Eltern gefahren. Aber alles war dunkel und still, niemand hat die Tür geöffnet. Nur gut, dass der Taxifahrer gewartet hatte, hab’ mich dann von ihm nach Hause fahren lassen.

 

 

 

***

 

 

 

Eigentlich ist es noch viel zu früh, als ich vor der Tür meiner Schwester stehe und auf den Klingelknopf drücke. Unser Lieblingsbäcker hatte schon geöffnet und deshalb habe ich eine große Tüte voller frischer Brötchen dabei. Hat lecker geduftet im Verkaufsraum. Allerdings war mir weniger nach essen, als viel mehr nach kotzen zumute. Aber Mirja hat bestimmt Hunger.

 

 

Nach fünf Minuten klingt ihre Stimme verschlafen aus der Sprechanlage.

 

„Wer ist da?“

 

„Ich!“

 

„Und wer ist ich?“

 

Hahaha, verarschen kann ich mich selber!

 

„Na ich!“

 

„Ricky? Hast du mal auf die Uhr geschaut? Was willst du denn schon hier?“

 

„Wie wäre es wenn du mich erst einmal hereinlässt, bevor du mir weitere Fragen stellst?“

 

Endlich summt der Türöffner, ich betrete das Treppenhaus und laufe die paar Stufen bis zu ihrer Wohnung hoch. Mirja steht total verpennt und im Pyjama in der geöffneten Tür.

 

Als sie mich sieht, fragt sie erschrocken: „Wie siehst du denn aus, Ricky? Ist etwas passiert?“

 

Seh’ ich wirklich so scheiße aus? Anscheinend ja, denn sie mustert mich besorgt. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.

 

„Ist gestern ziemlich spät geworden.“

 

„Du siehst aber aus, als wäre es heute ziemlich früh geworden.“

 

Grinsend gebe ich zu: „Oder das!“

 

 

Nachdem Mirja geduscht hat und ich Kaffee gekocht und den Tisch gedeckt habe, sitzen wir uns nun gegenüber. Schweigend, denn mir ist gerade nicht nach reden. Auch noch immer nicht nach essen, deshalb halte ich mich nur an meiner mittlerweile leeren Kaffeetasse fest.

 

Mirjas Blick ruht fragend und beunruhigt auf mir. Dann seufzt. sie.

 

„Also Ricky, was ist los? Heraus mit der Sprache! Du hast mich doch nicht an meinem einzigen freien Tag in der Woche in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geworfen, um stumm wie ein Fisch an meinem Tisch zu sitzen.“

 

Auffordernd sieht sie mich an und ich weiß, dass ich keine Chance habe, um ihrer Frage auszuweichen.

 

„Glaubst du, dass Sascha in mich verliebt ist?“, falle ich mit der Tür ins Haus.

 

Sie lacht.

 

„Ach herrje! Hat er etwa endlich den Mund aufgemacht und es dir gestanden?“

 

Ich bin geschockt und starre sie an, als hätte sie in einer mir unverständlichen Sprache gesprochen. Dann schüttele ich mit dem Kopf.

 

„Nein, aber gestern im Club…“

 

„Ihr wart zusammen weg?“

 

„Nicht direkt…“

 

„Was bedeutet das denn Ricky? Kannst du mir bitte mal genauer erklären, was da passiert ist?“

 

 

Und genau das mache ich dann. Ich lasse rein gar nichts aus. Als ich fertig bin, sieht mich Mirja entsetzt an.

 

„Das fasse ich nicht! Sag mal, bist du total bescheuert Ricky? Wie kannst du nur Sascha so etwas antun? Bist du denn wirklich so blind? Was er für dich empfindet sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock! Und dann sagst du ihm auch noch, dass du dich lieber von dem Dach eines Hochhauses stürzt, als dich noch einmal zu verlieben?“

 

Ich weiß nicht, was ich ihr darauf antworten soll, aber das muss ich auch gar nicht. Denn sie ist noch nicht fertig mit mir.

 

„Was ist nur los mir dir? Hast du wirklich Angst, Sascha könnte dich so behandeln wie Rashid?“

 

Sie sieht mich ziemlich wütend an und ich werde rot. Ertappt!

 

„Das glaube ich jetzt einfach nicht! Du vergleichst wirklich das Verhalten von Sascha mit dem von diesem Riesenarschloch? Das kann unmöglich dein Ernst sein! Sascha, der stundenlang an deinem Bett gesessen und deine Hand gehalten hat. Der immer wieder mit dir gesprochen hat. Der nie die Hoffnung aufgegeben hat, dass du wieder aufwachst. Und überhaupt, was sagt eigentlich dein Psychotherapeut dazu, dass du noch immer Angst vor deinen eigenen Gefühlen hast? Der müsste dir doch eigentlich schon weitergeholfen haben in den vielen Wochen seit deinem Aufwachen aus dem Koma. Also, was ist nun damit?“

 

Unruhig rutsche ich auf dem Stuhl herum. Sie sieht mich forschend an. Dann gebe ich leise zu, dass ich die Therapie abgebrochen habe. Weil ich eben ohne den ganzen Gefühlsscheiß viel besser dran bin.

 

Mirja sieht aus, als würde sie mich am liebsten verprügeln. Sie macht es nicht, dafür hält sie sich aber verbal nicht so zurück.

 

„Was soll das heißen, du hast die Therapie abgebrochen? Ich kann ja verstehen, dass es dir schwer fällt, mit dem Erlebten klarzukommen, darüber zu reden. Aber das ist doch kein Grund…“

 

Kopfschüttelnd bricht sie ab und blickt mich entgeistert an.

 

„Weißt du Ricky, seit Wochen versuche ich das Thema zu meiden wie der Teufel das Weihwasser. Weil ich denke, dass dein Therapeut dir besser helfen kann als ich. Sage nichts dazu, wie sehr du dich verändert hast, dass du nicht mehr du selbst bist. Dass ich dich nicht mehr wiedererkenne. Frage nicht, was aus meinem Bruder geworden ist, aus diesem warmherzigen, gefühlsbetonten Menschen, den ich liebe.“

 

Als ich immer noch nicht antworte und nur auf den Tisch starre, verliert sie endgültig die Geduld.

 

„Du suhlst dich so in deinem Selbstmitleid, dass du schon genau so wirst wie Rashid! Gefühlskalt und egoistisch! Und eins noch, ich hab ganz bestimmt nicht deine zerschnittenen Arme abgebunden und den Notarzt alarmiert, um hinterher einen gefühlsamputierten Zombie als Bruder zu haben. Ich will meinen kleinen Bruder zurück haben!“

 

Mirja weint inzwischen. Und ich auch.

 

„Aber Sascha…“

 

„Mach dir darüber nicht zu viele Gedanken. Was Sascha betrifft, er wird dich mit Sicherheit verstehen und dir verzeihen. Denn er liebt dich. Das weiß ich ganz genau. Und ich liebe dich auch. Nur anders eben. Bitte Ricky, geh wieder zur Therapie. Lass dir helfen.“

 

Sie bettelt jetzt schon fast.

 

Ich kann gerade nicht darauf antworten, stehe wortlos auf und verlasse ihre Wohnung.

 

 

 

***

 

 

 

Die Worte von Mirja haben mich total überfordert. Verwirrt und seelisch am Ende irre ich durch die nur schwach bevölkerten Straßen. Bin ich das wirklich geworden? Ein gefühlsamputierter Zombie? Der nicht mehr in der Lage ist zu lieben und deshalb andere verletzt. Sascha verletzt. Sascha… Was empfinde ich eigentlich für ihn? Ist er nur mein bester Freund, oder schon so viel mehr? Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich finde keine Antwort. Vielleicht habe ich aber nur Angst vor ihr.

 

 

Wie bin ich eigentlich hierhin gekommen? Und wie habe ich mich an die Adresse erinnert? Ich war doch noch nie hier.

 

Das weiße Praxisschild leuchtet mir entgegen als ich das Tor öffne und den kurzen Weg durch den Vorgarten bis zur Eingangstür gehe. Dr. Köster hat mir vor Wochen im Krankenhaus erzählt, dass er hier eine eigene Praxis hat. Im Krankenhaus ist er nur stundenweise in der Woche, ganz nach Bedarf der jeweiligen Patienten. Wie von selbst hebt sich meine Hand und ich drücke auf den Klingelknopf…

 

 

 

 

***

 

 

 

Inzwischen ist es Sommer.

 

 

Mir geht es wieder besser. Dr. Köster hat mir übrigens an dem Sonntagmorgen überrascht die Tür geöffnet. Auch wenn er eigentlich frei hatte, wurde ich nicht von ihm weggeschickt. Er hat mich nur angesehen und mich herein gebeten. Dann habe ich drei Stunden lang nur gequatscht und er hat mir zugehört. Zwischendurch nur die eine oder andere Frage gestellt und sich Notizen gemacht. Als ich um seine Hilfe bat, hat er erfreut zugestimmt. Nur einmal hat er geschmunzelt, als ich ihm berichtet habe, dass meine Schwester mich einen gefühlsamputierten Zombie genannt hat. Ich glaube, er mag sie.

 

Jedenfalls gehe ich seitdem regelmäßig einmal pro Woche zur Therapiesitzung. So langsam begreife ich, was ich mir mit meinem Verhalten selbst angetan habe. Und auch, dass ich mich meinen Gefühlen stellen muss, anstatt sie zu verdrängen.

 

Es war eine harte Zeit und nicht einfach für mich. Ich weiß nicht mehr, wie viele Nächte ich weinend in meinem Bett lag und am liebsten wieder aufgegeben hätte. Aber ich habe durchgehalten. Für mich, meine Schwester und auch für Sascha.

 

 

Wir sind übrigens zu meiner Erleichterung noch immer eng miteinander befreundet. Ich habe mich für mein idiotisches Verhalten bei ihm entschuldigt und er hat mir verziehen. Er war total erleichtert, als ich ihm erzählte, dass ich wieder zur Therapie gehe. Ich habe ihn auch danach gefragt, ob er in mich verliebt sei. Sascha hat nur geantwortet, dass ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen soll. Jetzt sei es erst einmal wichtiger, dass ich mit der Vergangenheit klarkäme. Ich weiß, er will mich nicht unter Druck setzen. Aber er hat auch nicht gesagt, dass er mich nicht liebt…

 

 

Jedenfalls haben wir es geschafft, wieder normal miteinander umzugehen. Und auch wenn wir mit unserem Studium und dem damit verbundenen Lernen wenig Zeit füreinander haben, treffen wir uns regelmäßig. Gehen zusammen ins Kino, schauen DVDs oder verbringen unsere spärliche Freizeit mit anderen gemeinsamen Interessen. Und davon haben wir reichlich.

 

 

Für heute sind wir auch wieder verabredet. Zufällig haben wir zur gleichen Uhrzeit die letzte Vorlesung. Deshalb warte ich gleich am vereinbarten Treffpunkt in der Uni auf Sascha.

 

Mein Psychodoc hat mich letzte Woche gefragt, ob ich mir schon vorstellen könnte, Sascha auf meine Gefühle für ihn anzusprechen. Ich habe nicht geantwortet und er hat mich natürlich auch nicht weiter gedrängt. Er weiß, dass ich mich in meinen besten Freund verliebt habe. Mirja weiß es auch. Beim letzten Sonntagsfrühstück hat sie mich gefragt, seit wann ich denn so feige wäre. Mein Schulterzucken hat ihr als Antwort gereicht.

 

Mir nicht. Auch deshalb stehe ich jetzt hier und warte. Hoffentlich hält mein Mut an, denn ich will endlich mit Sascha reden. Wenn er nicht bald kommt mach ich mir bestimmt vor Angst in die Hose.

 

 

Ich sehe ihn schon von weitem kommen. Sein Anblick lässt mein Herz schneller schlagen und in meinem Bauch erwacht ein Schwarm von Schmetterlingen.

 

Als er mich erreicht, fragt er mich, ob ich etwas Bestimmtes vorhabe. Noch leicht weggetreten schüttele ich nur mit dem Kopf.

 

„Dann lass uns erstmal zu mir nach Hause gehen. Uns fällt bestimmt etwas ein.“

 

Ich nicke zustimmend, reden geht gerade irgendwie nicht. Dafür bin ich viel zu nervös und unsicher.

 

Er sieht mich lächelnd an und gemeinsam machen wir uns auf den Weg. Gerade haben wir knapp die Hälfte der Strecke geschafft, da beginnt es auf einmal zu regnen. Anfangs sind es nur ein paar Tropfen, doch dann schüttet es los wie aus Eimern.

 

 

Na toll, ein Sommergewitter!

 

 

 

 

6.

 

 

 

Wir laufen durch die Straßen, werden dabei immer schneller. Es blitzt und donnert jetzt fast ununterbrochen. Bei einem besonders lauten Krachen zucke ich erschrocken zusammen und stolpere. Glücklicherweise kann ich mich gerade noch an einem Gartenzaun festhalten. Scheiße, ich habe Angst vor Gewittern! Sascha bemerkt meine Reaktion, lächelt mich aufmunternd an und greift nach meiner Hand. Sofort fühle ich mich besser, irgendwie beschützt. Zusammen rennen wir weiter, er lässt mich nicht mehr los. Es sind nur noch zwei Straßen bis Saschas Zuhause, als der Regen endgültig in einen Wolkenbruch übergeht. Selbst wenn es hier die Möglichkeit sich irgendwo unterzustellen geben würde, wir sind innerhalb von Sekunden schon nass bis auf die Haut. Unsere Schuhe geben quietschende Geräusche von sich, deshalb machen wir uns nicht mehr die Mühe den Pfützen auszuweichen. Der Gehweg gleicht ohnehin schon einem kleinen See, die Gullis können die Wassermassen nicht mehr aufnehmen. Toller Start ins Wochenende!

 

Endlich sind wir am Gartentor angelangt, laufen das kurze Stück bis zur Haustür. Sascha zieht mich mit unter das Vordach, aber das hilft nun auch nicht mehr. Er schließt die Tür auf und wir stolpern in den Eingangsbereich. Glücklicherweise ist hier kein Laminat verlegt worden, sondern strapazierfähige Bodenfliesen. Saschas Mutter würde uns sonst höchstwahrscheinlich killen.

 

„Zieh schnell die Schuhe aus und lass sie hier stehen, dann ab mit dir ins untere Badezimmer und raus aus den klatschnassen Klamotten!“

 

„Gute Idee! Aber was sagen deine Eltern dazu?“

 

„Die sind übers Wochenende nach Stuttgart gefahren. Zu einer Ballettaufführung.“

 

Sascha grinst vielsagend. Na, da hat sein Vater wieder zu leiden. Seine Mutter liebt Ballettaufführungen und schleppt ihren Mann immer gnadenlos mit. Ohne Chance auf Gegenwehr. Aber ich habe ja den Verdacht, dass er nur bewusst den Anschein erweckt, als würde sie ihm damit Schreckliches zumuten. Ihm fällt da bestimmt etwas ein, womit sie das wieder gutmachen kann. Die beiden sind für mich ein ideales Paar. Auch nach so vielen Jahren Ehe spürt man auch als Außenstehender, wie sehr sie sich lieben.

 

Schnell gehe ich Richtung Bad, Sascha wendet sich zur Treppe und will nach oben gehen. Ich lache, als ich mich noch einmal umdrehe und die Wasserlache zu seinen Füßen sehe.

 

„Komm lieber mit, oder willst du das ganze Haus fluten?“, warne ich ihn.

 

Er dreht sich um und sieht die Bescherung.

 

„Das ist ein gutes Argument. Hoffentlich sind genug Handtücher da.“

 

 

Sascha betritt direkt nach mir das Badezimmer seiner Eltern. Schnell ziehe ich mir das T-Shirt über den Kopf und werfe es in die Wanne. Dann versuche ich die nasse Jeans loszuwerden. Sie klebt an meinen Beinen und lässt sich nur schwer ausziehen. Endlich kann ich sie runterstrampeln. Hose, Socken und Pants folgen dem Shirt, leisten Saschas Klamotten Gesellschaft.

 

Ich ziehe ein Handtuch aus dem Regal und beginne mich damit abzutrocknen. Zuerst die tropfenden Haare, da höre ich von Sascha einen Ton, der fast wie ein leises Wimmern klingt. Ich drehe mich überrascht um. Sascha steht drei Schritte von mir entfernt, er zittert. Aber anscheinend nicht vor Kälte. Er starrt mich an, mein Blick gleitet über seinen Körper, verweilt in seinem Schritt. Er ist hart.

 

Sekundenlang rührt er sich nicht, dann flüstert er: „Entschuldigung!“ Dabei dreht er sich um und will das Bad verlassen.

 

Doch ich bin schneller. „Nein, bitte geh nicht!“

 

Er wendet sich mir wieder zu, ich bin mittlerweile genau so erregt wie er. Sascha traut sich wohl nicht näher zu kommen, deshalb mache ich die wenigen Schritte auf ihn zu. Wir stehen so dicht voreinander, dass sich unsere Erektionen berühren. Ein Stöhnen dringt an mein Ohr, bin ich das oder ist es Sascha? Egal!

 

Auf einmal sind da Saschas Hände, die mein Gesicht streicheln, es sanft liebkosen. Seine Lippen legen sich zögernd auf meine. Unser erster Kuss. Ich vergesse alles um mich her, erwidere seine Zärtlichkeiten. Die Handtücher liegen vergessen auf dem Boden.

 

 

 

 

***

 

 

 

Meine Kniekehlen stoßen an die Bettkante und ich lasse mich nach hinten fallen, ziehe Sascha mit. Wie sind wir eigentlich hierhin gekommen. Wie die Treppe rauf? Ich erinnere mich nur noch an eine zufallende Badezimmertür. Saschas Zunge, die mit meiner spielt. An eine Wand in meinem Rücken, Hände die Halt an einer Kommode finden. Sascha, der vor mir kniet, mich mit dem Mund verwöhnt bis ich vor Lust vergehe. Bis ich ihn wieder zu mir hoch ziehe und ihn küsse.

 

So gierig wie jetzt, meine Hände gleiten über seinen Körper, lassen keine Stelle aus. Er stöhnt laut als ich seine Eichel berühre, ihn noch mehr reize. Sascha dreht sich zur Seite, öffnet eine Schublade seines Nachtschränkchens. Dann hält er mir Gleitgel und ein Kondom hin.

 

Nein, so will ich das nicht. Deshalb schüttele ich mit dem Kopf. Ich merke an seiner Reaktion, wie verwirrt und enttäuscht er ist. Doch bevor er das hier falsch versteht, drücke ich ihm die zwei Gegenstände in die Hand.

 

„Du bist oben.“

 

„Aber du hast doch gesagt, du willst nie wieder…“

 

Ich halte ihm schnell den Mund zu und schüttele mit dem Kopf. Will nicht darüber nachdenken, wie es mit Rashid war. Und erst recht nicht, darüber reden. Ich weiß, dass ich gerade feige bin, aber das ist mir egal.

 

„Jetzt mach schon, ich halte es nicht mehr lange aus.“

 

„Bist du dir wirklich sicher?“

 

„Wonach sieht’s denn aus?“

 

Weiter komme ich nicht, denn Sascha küsst mich erneut. Ich bin nicht mehr fähig zu denken, kann nur noch fühlen. Hände, die mich liebkosen, die Kühle des Gleitgels, Finger, die in mich eindringen, mich ganz langsam und vorsichtig weiten.

 

Als ich das Aufreißen der Kondompackung höre, drehe ich mich auf den Bauch. Doch noch bevor ich mich hinknien kann, dreht mich Sascha zurück auf den Rücken.

 

„Nicht so Ricky, ich will dir dabei in die Augen sehen.“

 

Ich nicke, hebe mein Becken an, um Sascha mehr Platz zu geben. Ich spüre sein Eindringen, es tut überhaupt nicht weh. Ganz anders als bei Rashid, der meist zu ungeduldig war und nur schnell fertig werden wollte. Sascha vögelt mich nicht nur, da ist so viel mehr zwischen uns. Gefühle melden sich zurück, die ich längst verloren glaubte. Immer wieder küsst er mich, bewegt sich dabei in mir, bis ich vor Lust schreie. Als er kurz nach mir kommt, stöhnt er laut und raunt mir ins Ohr: „Ich liebe dich, Ricky!“

 

Ich glaube, ich sterbe. Hier in diesem Bett, in Saschas Armen.

 

 

 

***

 

 

 

So fühlt es sich also an von einem Mann geliebt zu werden. Nicht nur ein Fick zu sein, sondern so viel mehr als schneller Sex zur bloßen Befriedigung.

 

Sascha hält mich immer noch in seinen Armen, mein Kopf liegt auf seiner Brust. Ich höre seinen Herzschlag, der allmählich wieder langsamer wird. Genau so wie meiner. Ich glaube meine Pumpe hat gerade einen Geschwindigkeitsrekord aufgestellt. Seine auch.

 

Eng aneinander geschmiegt liegen wir in seinem Bett, verschwitzt und klebrig. Völlig erschöpft. Ich rechne damit, dass er aufsteht und ins Bad verschwindet, um mein Sperma sofort abzuwaschen und mich alleine zu lassen. So wie Rashid das immer machte.

 

Er tut es nicht.

 

Hält mich fest umschlungen und streichelt mich zärtlich. Bis ich irgendwann einschlafe.

 

 

 

***

 

 

 

Als ich wieder aufwache, liege ich immer noch in Saschas Armen. An seinen ruhigen Atemzügen höre ich, dass er noch immer schläft. Vorsichtig rutsche ich etwas höher, küsse ihn auf den Mund. Er lächelt im Schlaf. Das sieht so niedlich aus, dass ich grinsen muss. Dann küsse ich ihn auf die geschlossenen Lider. Er blinzelt und wird wach. Meine Lippen finden erneut die seinen. Keine Ahnung, woher ich auf einmal den Mut habe, aber ich muss das jetzt sagen. Sehe ihm dabei tief in die Augen.

 

„Ich glaube, nein ich…“

 

Sascha verzieht plötzlich das Gesicht, als hätte er Schmerzen.

 

„Bitte sag es nicht Ricky, mach es nicht kaputt. Ich weiß ja, dass du nichts für mich empfindest, dass du dich nie wieder verlieben willst. Und dass du meine Gefühle nicht erwidern kannst…“

 

„Lässt du mich jetzt vielleicht erst einmal ausreden? Bitte keine übereilten Diagnosen, bevor sie nicht alle Fakten kennen, Herr Doktor.“

 

Ich stupse ihm neckend mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze. Er sieht mich erwartungsvoll an. Dann küsse ich ihn wieder zärtlich auf den Mund.

 

„Ich bin in dich verliebt, Sascha, und das nicht erst seit gestern.“

 

Seine Augen lassen mich nicht mehr los.

 

„Ach nein? Und seit wann denn dann, wenn ich fragen darf?“

 

Ich grinse.

 

„Schwer zu sagen, aber ich schätze, ich habe mich schon im Koma in deine Stimme verliebt. Noch bevor ich wusste, zu welch einem tollen Typen sie gehört.“

 

Er schüttelt ungläubig den Kopf.

 

„Das hast du aber bisher gut verborgen.“

 

Ich nage an meiner Unterlippe. Zwangsläufig muss ich wieder an die Szene im Club denken und mein schlechtes Gewissen meldet sich laut.

 

„Hab wohl vieles verbockt, aber was denkst du? Kannst du mir noch eine Chance…“

 

„Eine Ricky? Du kannst so viele bekommen, wie du willst. Ich liebe dich…“

 

Diesmal lasse ich ihn nicht weiter sprechen. Gibt wichtigeres zu tun. Küssen zum Beispiel. Und uns fällt bestimmt auch noch mehr ein. Schließlich hat das Wochenende gerade erst begonnen. Zwar mit Blitz und Donner, aber einer der Blitze hat eindeutig eingeschlagen. Oder war es vielleicht doch ein Pfeil?

 

 

 

 

7.

 

 

 

Unser erstes Mal, ich erinnere mich noch so genau daran, als wäre es gestern gewesen. Dabei sind seitdem schon fast zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre, in denen ich gelernt habe, was Liebe und glücklich sein wirklich bedeuten. Was es heißt einen Freund zu haben, der offen zu mir steht, ohne Heimlichkeiten, Verstecken und Verleugnen. Der allen zeigt, dass wir zusammen sind. Der meine Hand hält und auch nicht loslässt, wenn wir durch die Stadt gehen. Der mich küsst, egal wo. Ob im Kino, in der Uni, beim Einkaufen oder im Restaurant. Dem es scheißegal ist, ob andere Leute pikiert sind oder nicht. Bei dem ich gelernt habe, dass die Gleichberechtigung auch im Bett funktioniert. Der mir die schönsten Liebeserklärungen macht. Und bei unserem ersten gemeinsamen Urlaub an einem einsamen Strand, mit einer roten Rose in der Hand, einen Heiratsantrag.

 

Ich weiß bis heute noch nicht, wie er die Blume in seinen Rucksack geschmuggelt hat. Aber ich erinnere mich noch sehr genau an mein unter Freudentränen geflüstertes ja und an Saschas Reaktion darauf. Wie er mich glücklich herumgewirbelt hat, geküsst bis ich keine Luft mehr bekam und wir uns zwischen den hohen Dünen geliebt haben. Dabei haben wir nebenbei gelernt, dass Sand an und in gewissen Körperteilen nicht unbedingt empfehlenswert ist.

 

Anfangs war ich zugegebenermaßen noch etwas skeptisch, was den Termin unserer Hochzeit betraf. Schließlich sind wir beiden noch nicht mit dem Studium fertig, aber Sascha hat mich davon überzeugt, dass es völlig egal ist. Wir lieben uns und sind uns sicher, dass wir zusammengehören, zusammen alt werden wollen.

 

Nur ein einziges Mal in unserer Beziehung war Sascha stinksauer auf mich, weil ich die Psychotherapie wieder abbrechen wollte. Damals hat er mich heftig in den Hintern getreten. Natürlich nur in den sprichwörtlichen. Er würde mir nämlich mit absoluter Sicherheit kein Haar krümmen. Na jedenfalls hat es genutzt und ich bin solange zu den Sprechstunden gegangen, bis ich die Vergangenheit und auch Rashid überwunden habe.

 

 

Saschas Lachen holt mich aus meinen Träumen und Erinnerungen zurück in die Gegenwart. Er steht zwei Meter von mir entfernt bei seinen Eltern und scherzt mit ihnen. Mein Blick fällt auf meine rechte Hand und auf den schlichten Platinring an meinem Finger. Den hat mir mein Mann vor wenigen Stunden auf den Ringfinger gesteckt. Wir haben heute Vormittag im Standesamt des Rathauses geheiratet. Seitdem heiße ich nicht mehr Hansen, sondern Bergenthal. Ein letzter und konsequenter Schritt die Vergangenheit endgültig hinter mir zu lassen. Mirja und ihr Freund Olaf waren unsere Trauzeugen. Der Standesbeamte hat uns mit einer kleinen Ansprache und ein paar freundlichen Worten verpartnert.

 

Wenn ich das Wort schon höre, „verpartnert“, möchte ich laut schreien. Ich werde den Teufel tun, Sascha als meinen Lebenspartner zu bezeichnen! Für mich ist er mein Ehemann und wir miteinander verheiratet. Und nur, weil ein paar homophobe Politiker, die zufällig unser Land regieren, ein „komisches Bauchgefühl“ haben oder sich aus angeblich christlichen Gründen, auf einen Satz in einem Buch mit uralten Bauerngeschichten, irgendwo zwischen der sprechenden Schlange und der schwangeren Jungfrau berufen, ist unsere Liebe nicht weniger wert als die von Hetero-Paaren.

 

Wegen mir wird Sascha auch nie als Arzt in einem kirchlich geführten Krankenhaus arbeiten dürfen. Aber das ist ihm scheißegal. Er will sowieso lieber einen Job im Uniklinikum. Hoffentlich klappt es, sonst müssen wir eben irgendwann umziehen. Hauptsache, wir sind zusammen.

 

Als wir das Standesamt verließen, wurden wir schon von unseren Kommilitonen erwartet. Meine waren noch harmlos, haben uns nur viel Glück gewünscht und mit Reis beworfen. Saschas waren da erheblich kreativer. Er musste uns den Weg durch Unmengen von Mullbinden freischneiden. Natürlich stilgemäß mit einem Skalpell.

 

 

Ich stelle mich zu den anderen, Mirja reicht uns ein großes Messer und gemeinsam mit meinem Mann schneide ich die Hochzeitstorte an. Das erste Stück landet beinahe auf dem Fußboden, anstatt auf dem Kuchenteller. Aber unsere Trauzeugin kann es noch so eben retten. Sascha füttert mich liebevoll und hält mir ein Stück der Sahnetorte auf der Kuchengabel hin. Grinsend lasse ich es mir in den Mund stecken. Dabei schaue ich ihm tief in die Augen und küsse ihn noch kauend auf den Mund. Die Anwesenden applaudieren. Dann müssen wir erst einmal dafür sorgen, dass alle ein Stück der Torte abbekommen. Während wir uns mir dem Messer rumquälen schaue ich auf das kleine Hochzeitspaar ganz oben auf dem Kuchen. Zwei Bräutigame und davor ein kleiner Amor mit Pfeil und Bogen.

 

Still und heimlich leiste ich bei dem kleinen Liebesgott Abbitte. Dafür, dass er mich nicht außen vorgelassen hat, als er mal wieder seine Pfeile verschossen hat. Und ich danke ihm dafür, dass er so gut gezielt hat und bei uns beiden direkt ins Herz getroffen hat.

 

 

Anschließend sitze ich mit meinem Mann und unseren Gästen am festlich gedeckten Tisch, trinke Kaffee und esse dazu den leckeren Kuchen. Saschas Eltern haben es sich nicht nehmen lassen, unsere Hochzeit in ihrem Garten zu feiern. Sie haben das Catering bezahlt und auch die Blumendekoration.

 

Der Florist hat ganze Arbeit geleistet. Lächelnd blicke ich auf das große Blumengesteck vor uns auf der weißen Tischdecke.

 

 

Blutrote Rosen, so rot wie das Blut, das durch meine Adern fließt. Und auch wenn es nur noch zu einem geringen Teil mein eigenes ist, es sorgt dafür, dass mein Herz weiter schlägt. Mein Herz, das nur noch für einen Mann schlägt, für meinen Mann.

 

Für Sascha!

 

 

 

Ende

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

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