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Das Schicksal ist ein Arschloch

 

Endlich hat der Regen aufgehört, das Gewitter ist abgeklungen. Nur aus der Ferne ist noch ein leises Donnergrollen zu hören. Langsam gehe ich den Weg zwischen den großen Kastanienbäumen entlang. Sie blühen nicht mehr, haben schon kleine, grüne Kügelchen angesetzt. Noch sind sie ganz glatt, haben keine Stacheln. Ich kenne sie in allen Variationen der vier Jahreszeiten. Kahle Äste, weiße Blütenkerzen, kleine grüne Kugeln, dicke, stachlige Bälle, aufgeplatzt und ihre glänzenden, braunen Früchte abwerfend.

 

Es ist still und friedlich hier, man hört nur das Zwitschern der Vögel. Ich begegne nur wenigen Menschen, sie alle haben das gleiche Ziel. Einige von ihnen tragen Blumen in der Hand, genauso wie ich. Mein Geburtstagsgeschenk für meinen Mann, auch wenn er diesen und die letzten vier davor, nicht mehr erlebt hat.

 

Ich biege am Ende des Weges nach links ab. Hier beginnt das Urnenfeld. Nur noch ein paar Schritte und ich stehe vor der kleinen, quadratischen Marmorplatte. Kein Name, keine Jahreszahlen. Nur der Spruch, den er sich damals noch im Krankenhaus ausgesucht hat. Als seine Kraft schon fast am Ende war.

 

 

Schau nicht so dumm! Ich würde jetzt auch lieber am Strand in der Sonne liegen!“

 

 

Jedes Mal wenn ich ihn lese, muss ich gleichzeitig lachen und weinen. Lachen, weil ich dann immer wieder den Mann vor mir sehe, den ich so sehr geliebt habe. Und weinen, weil ich ihn so sehr vermisse. Seinen Humor und seine Lebensfreude. Tag für Tag und Nacht für Nacht, seit fast sechs Jahren. Sehnsucht, die niemals mehr gestillt wird. Scheiß Schicksal! Scheiß Aids!

 

 

***

 

 

Kennengelernt haben wir uns im Sommer 1978. Damals hatte noch niemand etwas vom HIV-Virus gehört und niemand, weder ich noch meine Bekannten, benutzte Kondome beim Analverkehr. Allerdings gab es noch diesen Paragraphen, der homosexuelle Beziehungen verbot und erst viele Jahre später abgeschafft wurde. Deshalb mussten wir vorsichtig sein, doch auch damals gab es Treffpunkte, die verhältnismäßig sicher waren.

 

Glücklicherweise konnte ich mich schon immer auf meinen funktionierenden Gay-Radar verlassen. Und der schlug voll aus, als ich im Urlaub auf Fehmarn Christian begegnete. Für uns beide war es Liebe auf den allerersten Blick. Ich war mit meinem Bruder und seiner Familie für ein paar Tage an der Ostsee und er hatte zufällig den Strandkorb neben unserem gemietet. Als Christian damals so nass und braungebrannt aus dem Wasser kam, war es um mich geschehen. Ich hatte noch nie einen attraktiveren Mann gesehen. Groß, schlank, schmale Hüften, flacher Bauch, mein Traumtyp. Zum Glück lag ich gerade auf meiner Strandmatte und auf dem Bauch. Mein Ständer hätte sonst verdammt peinlich werden können. Ihm erging es übrigens bei meinem Anblick nicht viel besser, wie er mir zwei Tage später gestand. Wir waren schnell ins Gespräch gekommen und hatten uns zu einem Glas Bier in einer gemütlichen, kleinen Fischerkneipe verabredet. Es war der Beginn von unserer glücklichsten Zeit. Topf und Deckel hatten zueinander gefunden.

 

Seit diesem Urlaub waren wir unzertrennlich, es gab nie wieder andere Männer für uns. Fremdvögeln war absolut tabu. Da wir beide noch studierten, lebten wir offiziell in einer WG, in Wahrheit aber waren wir ein Paar. Christian hatte die Uni gewechselt und war zu mir nach Bochum gezogen.

 

1982 war ein schwarzes Jahr für uns, denn damals hatte er einen schweren Unfall. Beim Aussteigen aus dem Bus wurde er von einem heran rasenden Auto erwischt und lebensgefährlich verletzt. Wegen seines hohen Blutsverlustes erhielt er eine Transfusion. Glücklicherweise erholte er sich trotz einiger Komplikationen verhältnismäßig schnell und ohne bleibende Schäden.

 

Als 1984 der HIV-Virus entdeckt wurde und als angebliche Schwulengeißel um die Welt ging, glaubten wir davor sicher zu sein. Schließlich waren wir beide treu, hatten nur miteinander Verkehr. Ohne Kondome, wie von Anfang an.

 

Für uns folgten glückliche Jahre voller Liebe und Glück. Beruflich machten wir uns selbstständig, hatten eine erfolgreiche Firma. 2001 waren wir eines der ersten Paare, die im Standesamt die gleichgeschlechtliche Partnerschaft eintragen ließen. Christian war nun auch offiziell mein Mann und ich der seine.

 

Im Winter 2005 dann begann mein bisher vor Gesundheit nur so strotzender Mann zu kränkeln. Erkältungen, die er früher nicht einmal zur Kenntnis genommen hatte, hauten ihn plötzlich total um. Kaum war eine überstanden, schon litt er unter der nächsten. Weil er so geschwächt war, riet unserer Hausarzt zur Blutuntersuchung, um eine schwere Infektion auszuschließen. Das Ergebnis war für uns niederschmetternd. Die Diagnose lautete AIDS.

 

Ich war geschockt und entsetzt. Wusste ich doch, dass ich meinem Mann immer treu gewesen war. Also musste er doch fremdgegangen sein. Gerade als er mich am nötigsten brauchte, schlitterten wir in eine schwere Ehekrise. Meinen Vorwürfen hatte er nichts entgegen zu setzen, beteuerte nur immer wieder unter Tränen, mich nie betrogen zu haben.

 

Doch auch mir zeigte das Schicksal, dieses Arschloch, ein paar Tage später den Mittelfinger. Auf dringenden Rat Dr. Feldmanns hatte ich mir auch Blut abnehmen lassen. Und was er schon befürchtet hatte, traf ein. HIV positiv. In der Nacht weinte ich mich alleine auf der Couch in den Schlaf. Als ich am Morgen erwachte, lag Christian neben mir und hielt mich in seinen Armen. Was dann folgte, kann man wohl durchaus als Verzweiflungssex bezeichnen.

 

Beim nächsten gemeinsamen Arztbesuch äußerte der Doktor die Vermutung, dass die Blutkonserve, die Christian damals nach seinem Unfall erhalten hatte, verunreinigt gewesen sein könnte, weil damals der verdammte Virus noch nicht erkannt worden war und Blutspender nicht getestet wurden. Unter Tränen bat ich Christian um Entschuldigung für mein Misstrauen. Und obwohl ich es eigentlich nicht verdient hatte, verzieh mir mein Mann meine gemeinen Verdächtigungen. Ich liebte ihn dafür nur umso mehr.

 

Machtlos musste ich mit ansehen, wie Christian in den folgenden Jahren dahinsiechte. Als er 2008 in meinen Armen starb, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Am letzten Tag versprach er mir, da, wo er jetzt hingehen musste, auf mich zu warten. Am Ende des Regenbogens sollte unser Treffpunkt sein. Weinend versprach ich nachzukommen. Es war das letzte Mal, dass ich mit Christian sprechen konnte. Er schlief erschöpft ein und wachte nicht mehr auf.

 

 

***

 

 

Alleine mit meinen Erinnerungen knie ich mittlerweile vor seinem Grab. Sanft streichele ich über die kühle Steinplatte und lege den Rosenstrauß darauf. Rote Rosen, für meine große Liebe.

 

Ich halte ein stummes Zwiegespräch mit meinem Mann. Schon bald wird er da, wo er jetzt ist, nicht mehr alleine sein. Ich war gestern beim Arzt, meine Viruslast ist außer Kontrolle. Ob es wohl irgendwo ein Wiedersehen für uns gibt? Ich wünsche es mir so sehr. Angst vor dem Tod habe ich nicht, ich habe Angst vor dem Leben ohne Christian.

 

Ich rappele mich mühsam wieder auf und blicke zum Himmel. Am Horizont leuchtet ein wunderschöner Regenbogen. Ein Versprechen, das mir Mut macht und mir Hoffnung gibt.

 

 

Christian und ich am Fuße des Regenbogens, irgendwo und irgendwann.

 

 

 

 

ENDE

 

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Tag der Veröffentlichung: 30.06.2014

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