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Einleitung

1. Euripides als antiker Dichter.

2. Regisseur Lars von Trier.

3. Lars von Triers Verfilmung “Medea“.
Der Unterschied zur Version vom Euripides.
Die wichtigsten Motive und Symbole im Film:

3.1 Medeas Kleidung. Ein Symbol des Geschlechterkampfes.

3.2. Das Hochzeitsgeschenk. Ein Symbol des Leidens.

3.3. Das Pferd als Symbol des Todes von Glauke.

3.4. Die Trage als Symbol des Schicksals.

3.5. Tod der Kinder.

3.6. Das Ende.



Einleitung.



Die altgriechische Sage „Medea“ hat seit ihrer Entstehung Generationen von Schriftstellern und später auch Filmregisseuren beschäftigt. Exemplarisch wähle ich in der vorliegenden Arbeit den Tragödiendichter Euripides, der als erster die Sage in Schriftform festhielt und den modernen dänischen Regisseur Lars von Trier, der „Medea“ aus seiner Sicht an Euripides Medeastoff anlehnte.

Das Ziel dieser Arbeit ist es, die herausragenden unterschiedlichen Betrachtungsweisen, die im Film „Medea“ zum Ausdruck kommen, zu beschreiben, und zu begründen, warum Lars von Trier diese Darstellung gewählt hat. Im Anhang der Arbeit findet sich eine tabellarische Aufarbeitung der dargestellten Motive. Ich habe versucht die wichtigsten Unterschiede herauszustellen und zu beschrieben. Zusätzlich gebe ich Informationen über die Personen Euripides und Lars von Trier und deren Werke, die aus unterschiedlichen Epochen und dem Zeitgeist heraus entstanden sind.

Der hauptsächliche Unterschied in der thematischen Bearbeitung des Medea Stoffes bei Lars von Trier liegt in der Auswahl seiner Symbole und Metaphern, die er in stark verfremdeten Farbkompositionen umsetzt.

Lars von Trier lässt die Darsteller in spärlichen Dialogen agieren, wobei den kräftigen Bildern eine höhere Bedeutung zukommt. Da das gesprochene Wort zurückgedrängt wird, erscheint der Film als visuelle Orgie, die den Betrachter vollends in den Bann schlägt. In der vorliegenden Arbeit werde ich die Ausdruckskraft der verwendeten Metaphern verdeutlichen.


Euripides.



Euripides ist der Jüngste der drei großen griechischen Tragödiendichter, zu denen neben ihm Aischylos und Sophokles gezählt werden. Von den 92 Dramen, die Euripides zugeschrieben werden und von denen die Forschung des Altertums nur 75 als echt anerkannte, sind lediglich 19 seiner Werke bis in die heutige Zeit überliefert: 18 Tragödien und 1 Satyrspiel, der „Zyklop“.

Aus den äußerst spärlichen Information über sein Leben ist bekannt, dass Euripides um das Jahr 480 v. Chr., etwa zur Zeit der Schlacht von Salamis, vermutlich als Sohn eines Gutbesitzers, geboren wurde. Im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern - Aischylos und Sophokles - hat er sich in der Polis nie aktiv engagiert, kein staatliches Amt übernommen und in keinem der zahlreichen Kriege des 5. Jahrhunderts teilgenommen. Nachdem sein erstes Drama „Die Peliaden“ im Jahr 455 v. Chr. nach dem Tod des Aischylos inszeniert wurde, widmete er seine ganze Tätigkeit der Bühne. Er wurde fünf Mal mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Im Jahr 408 v. Chr. folgte Euripides der Einladung des makedonischen Königs Archelaos und ging nach Pella, wo er zwei Jahre später starb.

In seinen Werken setzt sich der Dichter bewusst von Aischylos und Sophokles ab, indem er das Individuum dem Chor gegenüber in den Vordergrund stellt. In diesem Aspekt kann man ein Zeichen für seine Distanz zum Kollektiven und damit zur Polis als Gemeinschaft sehen.

Euripides entnimmt seine Gestalten weiterhin dem Mythos, aber sie werden in ihrem Wesen und Handeln menschlicher, auch wenn sie, wie zum Beispiel Medea, Unmenschliches vollbringen. Die Menschen sind Spielbälle des unvorhersehbaren Willens der Götter, die sich, genau wie die Menschen, von ihren Leidenschaften treiben lassen. Die Götter sind der Kritik ausgesetzt, sie erscheinen oft als Prologfiguren oder bringen keine befriedigende Lösung der Konflikte. Dies steht im deutlichen Wiederspruch zu den Stücken seiner Vorgänger, die die Götter nicht in Frage gestellt hatten. Infolgedessen wurde ihm die Kritik einiger Zeitgenossen zugetragen und sogar eine Klage wegen Gottlosigkeit gegen ihn eingereicht, Aristophanes griff ihn in seiner Komödie „ Die Thesmophoriazusen“ stark an.

Euripides ändert gerne den Mythos, und entwickelt sich eigene dramatische Voraussetzungen. Sein Stil ist von Rhetorik und Philosophie beeinflusst: Die dialektischen Streitgespräche sind ein wesentlicher Bestandteil seiner Dramen.

Die Frauen werden bei Euripides zu starken dominanten Figuren. In der Tragödie „Medea“ zeigt der Dichter das Porträt einer starken Frau, derer unbändig leidenschaftliche Liebe zu Jason und dämonische Rachsucht zu einem tragischen Ende führt. Die entscheidende Änderung des Mythos ist, dass Medea zur Mörderin ihrer eigenen Kinder wird, die der Sage nach entweder von den Korinthern oder Ihren königlichen Verwandten getötet wurden. Damit glaubt Medea, sich für Jasons Untreue am besten rächen zu können, obwohl ihr das Ungeheuerliche ihrer Tat bewusst ist. Auf diese Weise führte Euripides in die Literatur die Figur Medea als kaltblutige Rächerin, Intrigantin und Kindermörderin ein.

Für diese Tragödie, die im Jahr 431v. Chr. aufgeführt wurde, erhielt Euripides den dritten Preis. Von all seinen Stücken wird „Medea“ am meisten gelesen und bewundert, und der Medea – Stoff ist wohl am häufigsten von allen antiken Stoffen behandelt worden, wie die Dichtungen von Ennius, Ovid, Seneca, Corneille, Grillparzer, Jahnn, Anouilh,Müller, Wolf und vielen anderen beweisen.


Lars von Trier.



Lars von Trier, der den Titel „von“ seinem Namen willkürlich beifügte, ist ein eigenwilliger dänischer Aufsteiger, der eine deutliche Sonderstellung im skandinavischen Kino einnimmt.

Er wurde 1956 in Kopenhagen in der Familie eines Sozialministeriumsbeamten geboren. Sein vermeintlicher Vater musste als Jude während des 2. Weltkrieges vor den Nationalsozialisten nach Schweden flüchten. Deshalb spielte Lars von Trier später aus Sympathie zu „seinem“ Volk in seinen eigenen Filmen einen Juden (The Element of Crime,1984; Europa,1991). Erst nach vielen Jahren erfuhr er am Sterbebett seiner Mutter, dass „sein Vater“ nicht sein leiblicher Vater war und er somit kein Jude ist. Aufgewachsen in einer streng atheistischen Familie konvertierte Lars von Trier später zur katholischen Kirche . Bereits als 12-jähriger spielte er in einer dänischen Kinderfernsehserie mit. Ab 1976 studierte er am Institut für Filmwissenschaft der Kopenhagener Universität und besuchte 1979 – 1982 die Dänische Filmhochschule, wo er 1983 sein Diplom machte. Im darauffolgenden Jahr legte der junge Regisseur mit dem sehr erfolgreichen Psychodrama – Thriller „Die Elemente des Verbrechens“ seinen ersten langen Spielfilm vor. Der Film schaffte den Sprung ins Festivalprogramm von Cannes 1984 und erregte internationale Aufmerksamkeit. Mit „Epedemik“ (1984), „Medea“ (1988), „Europa“ (1990), „Geister“ (1994) und mit dem „Dogma“ - Film „Die Idioten“ (1998) setzt er seinen Erfolg fort.

Mit seinen Filmen bietet Lars von Trier keine leichte Kost an. Dies ist auf den Einfluss der von ihm verehrten Carl Theodor Dreyer und Andrej Tarkowskij zurückzuführen, allerdings übersetzt er Bilder der gesamten Filmgeschichte in seine spezifische Filmsprache, indem er ihnen weitere Bedeutungsschichten zufügt . Von seinen Vorgängern und Lehrern - wie er sie selbst nennt - hat von Trier die Liebe zu den Grossaufnahmen der Gesichter, kontrastreiche Teilung von Licht und Schatten und fließenden, lang hingezogenen Kamerabewegungen übernommen. Viele Figuren in den Filmen sind wie Statuen, sie sprechen langsam und leise – das ist die für Dreyer typische theatralische Stilisierung. In seinen Filmen setzt Lars von Trier Dreyers Portrait der Frauen fort, die Frau zugleich als eine starke Heldin und als ein Opfer zustellen. Von Tarkowskij übernimmt der Däne dominierende Bildmetapher.

Die Filme Lars von Triers kennzeichnen insgesamt die Kreativität und Virtuosität der technischen Seite des Films. Neben seiner Rolle als Regisseur nimmt er auch den Platz des Kameramannes ein. Mit der Handkamera erreichte er elegante und bewegliche Bilder. Im Film „Medea“ benutzte er, zum Beispiel, eine ungewöhnliche Technik: Die Szenen wurden auf Video aufgenommen, der fertige Film auf die Leinwand projiziert und noch mal auf Video abgefilmt . Damit befreite von Trier den Film von dem „Video – Look“, der ihm nicht zusagte.


Die Symbole -Kleidung.



Im Werk von Euripides wird Medea niemals in der äußeren Erscheinung beschrieben. Trägt sie Königinengewänder, trägt sie Schmuck, wie ist die Frisur? Dazu gibt es keinerlei Hinweis. Der Leser kann nur die unterschiedlichen Assoziationen zum Erscheinungsbild Medeas haben. Lars von Trier zeigt Medea in der einfachen, erdfarbenen und schmucklosen Kleidung des Volkes. Keine Spur von königlichem Auftritt. Als besonderes Symbol der unterdrückten Sexualität sieht man sie im gesamten Film mit einer Kappe, die ihr Haar restlos bedeckt. Lars von Trier stellt Medea mit der von ihm gewählten Kleidung als vermännlichte und geschlechtsneutrale und damit als unweibliche stärkere Person in den Vordergrund.

Der Kontrast zur Glauke, der jüngeren Nebenbuhlerin, und damit die Unterstreichung der unterschiedlichen Lebensalter wird durch die Wahl der Kleidung deutlich hervorgehoben. Hier gilt dunkle Kleidung als Betonung von Altsein.

Lars von Trier lässt Medea durch Maskulinisierung als gleichberechtigten Partner im Kampf gegen Jason bestehen. Ihre erdfarbene Kluft lässt sie mit der Landschaft im Film förmlich verschmelzen. Sie wird damit ein Teil der Natur. Dies zeigt sich deutlich in der Moorszene, in der sie die Beerengiftmischung sammelt. Die Farbe ihrer Kleidung entspricht der sie umgebenden Flora von Binsen, Schilf und Sträuchern. Im gesamten Film bleibt Medea in dieser erdfarbenen Kleidung. Gleichsam ist diese Verkleidung ein Panzer gegen Gefühle, der ihr wahres Inneres verhüllt.

Wie stark die Kappe als Symbol einer vermeintlichen Männlichkeit den ganzen Film durchzieht, erkennt man in der Schlussszene besonders deutlich. Medea löst die Kappe - ihre Schutzkleidung, das fallende Haar wird zum neuen Symbol: Sie präsentiert sich als eine neue Figur. Ein anderes Leben beginnt. Medea ist Frau geworden, sie ist zu ihren weiblichen Wurzeln zurückgekehrt.

Es scheint als habe Medea mit dieser Filmeinstellung ein Visier hochgeklappt, welches die verletzte Frau, die Schuldbeladene, zeigt. Das Ausmaß ihrer Taten und deren Folgen durchdringen ihr Bewusstsein und spiegeln sich in ihrer Mimik wider.

Dennoch liegt im Ende des Films ein Stück Hoffnung des Neubeginns - eines anderen Lebens. Medea segelt mit aufsteigender Flut der Zukunft entgegen. Offensichtlich hat der Regisseur der Kleidung Medeas einen höheren Stellenwert gegeben: Kleidung als Metapher für den beschriebenen Geschlechterkampf.

Geschenk-Krone.



Im Ursprungstext der Tragödie von Euripides wurde der gewaltsame Tod Glaukes durch ein vergiftetes Hochzeitsgewandt herbeigeführt. Wie durch Zauberhand entflammte das Kleid, als Glauke es zum Festtag ihrer Heirat überstreifte. Glauke und ihr Vater Kreon, der ihr zur Hilfe eilte, verbrannten bis zur Unkenntlichkeit.

Lars von Trier hingegen wählt als Mordinstrument eine vergiftete Hochzeitskrone, die Medea einst trug. Diese Krone, mit Dornen besetzt, ähnelt der Dornenkrone Christi. Medea selbst hat diese Krone mit einer eigens hergestellten Giftmixtur bestrichen.

Da sich in der Figur der Glauke die Unschuld manifestiert, assoziiert der Betrachter das Leiden Christi, Auch Christus durchlitt als Unschuldiger Qualen und Schmerzen. Beide fanden den Märtyrertod.

Da Medea ihre eigene Hochzeitskrone verschenkt, scheint die Krone magische Kräfte zu besitzen. Denn als der jüngste Sohn Jasons, der Glauke die Krone als Geschenk übergibt, mit dieser Krone spielt, geschieht ihm nichts. Zauberkräfte sollen lediglich Glauke den Tod bringen. Ihr Tod hingegen wird stellvertretend durch ein sterbendes Pferd dargestellt.

Warum wählt Lars von Trier ausgerechnet die Dornenkrone als Hochzeitsgeschenk an Glauke? Sie stellt das Band zwischen Lebenden, nämlich Jason und Medea, dar. Da deren Liebe zerbrochen ist, trennt sich Medea von der Krone und lässt sie zu Tötungszwecken als Hochzeitsgeschenk überreichen. Weil geteiltes Leid halbes Leid ist, glaubt Medea, Ihr Leid verringern zu können. Sie leidet psychisch stark unter der Trennung von Janson. Da sie ihm die neue Verbindung zu Glauke neidet, soll die Nebenbuhlerin ebenfalls leiden.

Medea scheut nicht vor einem Mord zurück. Sie verkleinert aber ihr Leid dadurch nicht, sondern vergrößert es, indem sie auch ihre geliebten Kinder umbringt.

Wenn einerseits die Krone als Symbol der Liebe gilt, so zeigt sie andererseits die starke Nähe von Verletzung und Verderben. Ausgerechnet am Hochzeitstag schlägt die Freude in jähes Grauen um. Die Krone symbolisiert hier das Leiden der Frauen, ein Thema, das Lars von Trier in all seinen Filmen thematisiert und dramatisiert.


Das Pferd als Symbol des Todes von Glauke.



Der Tod der Glauke wird bei Lars von Trier in keiner Szene des Filmes gezeigt, im Gegensatz zu Euripides, der den Tod Glaukes sehr ausführlich und eindringlich geschildert hat. Er stellt ihre Qualen sehr plastisch heraus, in dem er wortreich von ihrer Verbrennung berichtet.
Bei Euripides erscheint diese Szene als Wendepunkt des Dramas hin zum bösen Ende. Lars von Trier hat diese Schlüsselszene in seinem Film sehr gedämpft dargestellt. Er deutet den Tod Glaukes lediglich an, indem er ein Pferd stellvertretend für Glauke sterben lässt. In rasch auf einander folgenden Szenen sieht man, wie das Pferd und dann Glauke versehentlich mit der vergifteten Dornenkrone verletzt werden. Nur wird hier nicht das Leiden und der Tod Glaukes gezeigt, sondern der Todeskampf drückt sich in der vergeblichen Flucht des Schimmels aus. Er flieht ins Watt und bricht sterbend zusammen. Eine Aufnahme von oben zeigt den rasanten Galopp, der abrupt mit dem Tod des Pferdes endet. Der Tod Glaukes soll hiermit zum Ausdruck gebracht werden. Das Pferd ist aber nicht nur das Symbol des Todes, seine Farbe Weiß steht auch symbolisch für Reinheit und Unschuld der Glauke. Ihr gesamtes tragisches Leiden wird bei Lars von Trier auf die Symbolfigur des Pferdes übertragen und findet lediglich in unblutigen Bildern seinen starken Ausdruck.

Der von Lars von Trier vorgegebene Fluchtweg des Tieres in die unendliche Weite des Wattes deutet zusätzlich auf die Unentrinnbarkeit vor dem Schicksal hin. Für den Schimmel bedeutet das Watt Sterbelage, Todeszone und Verlust des Lebens. Aus dieser Szene folgt, dass menschliches denkendes Handeln dem tierischen Instinkt gleich steht. Jede Kreatur geht den Weg alles Irdischen, wird ausgelöscht mit oder ohne Schuld.


Die Trage als Symbol des Schicksals.




Zu Lars von Triers Eigenschaften als Regisseur gehört es, alle Frauengestalten in seinen Filmen als leidende Kreaturen darzustellen. So passt das Frauenbild Medeas exakt in dieses von ihm geprägte Denkschema . Besonders deutlich wird es in einer Szene , in der Medea durch eine leere und windige Strandlandschaft eine Trage / Bahre als vorgenommenes Symbol schleppt. Diese Szene , die bei Euripides nicht auftaucht, hat der Regisseur willkürlich eingeführt. Lars von Trier zeigt Medea nicht als aggressive Rachegöttin oder als überlegene Zauberin, sondern als leidendes weibliches Wesen, das durch Not und Elend hindurch das ihr auferlegte Joch bis zum bitteren Ende trägt.

In der Szene wird dies akustisch durch heftige Stöhnlaute unterstrichen. Die düstere Farbgebung verstärkt die Assoziation zum Leiden Christi und seinem Leidensgang mit dem Kreuz zum Richtplatz. Auch Medea erscheint als Leidensfrau, die stellvertretend die Last der Frauen auf Ihren Schultern trägt .
Schwer atmend bleibt Medea stehen. Erst jetzt erkennt der Zuschauer, welche Last sie da, auf einer Trage, die auch ein Holzschlitten sein könnte, geschleppt hat: Ihre eigenen Kinder. Dies erschreckt die Zuschauer, die eigenen Kinder als Last zu haben.

Die Lasttrage ist ein Symbol vieler Frauenschicksale. Die besondere Tragik Medeas, ihr besonderes Schicksal wird deutlich, wenn der Zuschauer in der Ferne die Richtstätte ihrer eigenen Kinder – einen Todesbaum -- erkennt. Das Schicksal der Kinder nimmt seinen Lauf - die letzte Lebensstation ist erreicht.


Tod der Kinder.



„Ich fand es effektvoller und konsequenter, die Kinder zu erhängen. Entweder bringt man sie nun um oder nicht“ – das ist die wörtliche Aussage in einem Interview, das Lars von Trier geführt hat.

Im Gegensatz zur klassischen Vorlage von Euripides, in der der Tod der Kinder nur angedeutet wurde, hat sich Lars von Trier zur brutalsten Darstellung entschlossen. Die Szene zeigt eine Sommerwiese, aber nicht in natürlichen Farben, sondern als unnatürlich goldbraun eingefärbte Landschaft, in der der abgestorbene Baum als Galgenzeichen emporragt. Lars von Trier arbeitet überdeutlich heraus, das es hier bei diesem Motiv um ein „archaisch- religiöses Blutopfer“ geht, in dem er den älteren Sohn zum aktiven Helfer der Mutter werden lässt . Der ältere Junge bringt seinen kleinen Bruder zurück, der übermütig über die Wiese davongerannt ist, dann hängt er sich an dessen Beine, nachdem Medea dem Kleinen die Schlinge um den Hals gelegt hat. Der ältere Sohn wisse „was geschehen soll“. Damit begibt er sich in Medeas Hand und nimmt sein unausweichliches Schicksal an. Er bittet die Mutter förmlich: „Hilf mir, Mutter!“. Er lässt sich von ihr hochheben, knotet dann selbst das Seil an den Ast und zieht sich die Schlinge über den Kopf. Nun wird Medea zugleich Opfer ihrer eigenen Rache. Verzweifelt drückt sie den Körper des älteren Sohnes nach oben, um sein Leben zu erhalten, doch nachlassende Kräfte zwingen sie zur Aufgabe. Später sieht man die beiden Kinderleichen am Todesbaum hängen.

In der ersten ursprünglichen Version sollte diese Szene anders aussehen. „Dreyer wollte es anders: Ich glaube, meine Version hat überhaupt mehr Biss“ .

In dieser Dramaturgie zeigt sich die schicksalhafte Versprechung von Mutterliebe und ein Kindesmord. Der qualvolle Weg bis zur Hinrichtung lässt Medea an ihrem Tun verzweifeln. Sie hat die Last abgeworfen und sich eine Neue aufgebürdet. Sie bleibt gestempelt als Mörderin und tragische Gestalt und lebt weitert – doch zu welchem Preis?

Das Ende.



In dem Stück von Euripides bezichtigen sich Jason und Medea gegenseitig der Täterschaft
und schieben sich damit die Schuld am Tode der gemeinsamen Söhne zu. Medea verweigert ihrem Mann den letzten Liebesdienst an seinen Kindern, indem sie deren Leichen mit sich fortträgt. Somit ist Jason sogar die Grabpflege missgönnt:
Jason sieht dieses Verweigern als letzten Racheakt an ihm. Rasche Dialoge deuten die dynamische Kraft dieser Szene an.

Im Gegensatz dazu lässt Lars von Trier das Paar keinen Dialog führen. Es kommt zu keiner klärenden Aussprache. Stumm leiden die Akteure.

Jason versinkt ohnmächtig in atemloser Verzweiflung im Dünengras. Der Zuschauer beobachtet Jasons rasende Suche nach Medea aus der Vogelperspektive, wobei das Dünengras als bewegtes Meer erscheint, das Jason zu verschlingen scheint. Währendessen segelt Medea bei aufsteigender Flut mit Ägeus fort. Lars von Trier lässt die Hoffnungslosigkeit in dieser Szene stark auf den Zuschauer wirken. Die Zukunft bleibt im Dunklen, eine Versöhnung über den Gräbern der Kinder scheint ausgeschlossen. Durch die bestehenden Fronten bleibt auch der Zuschauer in offensichtlicher Ratlosigkeit zurück.
Der Regisseur steigert durch den cineastischen Kunstgriff des Fortlassen der Dialoge, die Spannung dramatisch.

Jason bleibt sich selbst überlassen. Die Schwere seiner Schuld trägt er alleine und ohne Hilfe. Weil Medea ihn ignoriert, trifft ihn die Verlassenheit mit voller Wucht. Lars von Trier wendete hier einen psychologischen Trick an: Die übliche Darstellung der dialogsuchenden Frau, die als kommunikativer gilt, wird ins Gegenteil verkehrt. Der Regisseur zeichnet Medea in männlich verschlossenen Zügen. Die Gesprächvermeidung ist hier ein Mittel, um Jason doppelt zu bestrafen.

Im Gegensatz zu Euripides zeigt Lars von Trier Medea in der Abschlussszene des Films als eine von der seelichen Last befreite Frau. Dies drückt er versinnbildlicht durch das Öffnen der die Haare fest umschließenden Kappe an. Die Haare fallen frei herab. Medea ist frei, trotz des Doppelmordes an ihren Kinder, welches durch ein doppeltes Niederlassen der blutroten Segel angedeutet wird.

Lars von Trier verkehrt das Geschehen bei Euripides ins Gegenteil. Er erteilt der Mörderin volle Absolution und bürdet Jason die alleinige Schuld auf. Der Regisseur sieht in der Frau eine Gewinnerin und Siegerin.


Impressum

Texte: autor & anonymos
Bildmaterialien: COVER / FOTO : autor
Lektorat: deutschsprachige unterstützung : autor
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2012

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