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Kleine Robbe




An einer sturmgepeitschten Küste fand er sie.
Normalerweise war es eine gute Stelle um Fische zu angeln, manchmal auch den ein oder anderen Seehund zu jagen. Es herrschten gute Wetterverhältnisse an diesem Tag, der Sommer ging zu Ende und das dunkle Wasser war kalt, aber immer noch legten sich die Seehunde auf die Felsen, um sich zu wärmen und man konnte sie gut überraschen und dann ohne viel Anstrengung töten.
Heute jedoch saßen auf dem Felsen keine Robben.
Nur ein kleines Mädchen.
Splitternackt, frierend, mit triefend nassem Haar, ganz alleine.
Angstvoll und verwundert starrten sie einander an. Das kleine, blasse Ding, die türkisgrünen Augen weitaufgerissen und der Mann, unrasiert, im mittleren Alter, aber mit einem Gesicht, das Zuneigung und Freundlichkeit versprach.
Dann fing das Mädchen an zu weinen.
Der Jäger wusste einen Moment, nicht was er tun sollte, dann ließ er hastig den Bogen fallen, zog seine warme Jacke aus und hüllte das Mädchen damit ein.
Jetzt hörte das Mädchen auf zu weinen, aber es schniefte immer noch vor sich hin und blickte hinaus in den weiten Ozean.
„Wer bist du?“, fragte der Mann, „Was machst du hier so ganz alleine?“
Es dauerte, bis sie den Mund aufmachte und er vermutete schon, dass sie seine Sprache nicht verstehen konnte. Dann erschauderte die Kleine und meinte leise:
„Schwimmen.“
„Du warst schwimmen?“, fragte der Mann, „Jetzt noch? Das Wasser ist doch viel zu kalt.“
„Nein“, sagte das Mädchen, sah ihn an und schüttelte den Kopf, „Nicht kalt. Nicht mit Fell.“
„Und wo sind deine Eltern?“
„Schwimmen“, erklärte das Mädchen verständnislos, „Jetzt kalt…“
Der Mann machte ein noch verständnisloseres Gesicht. Aber das Mädchen hatte Recht. Es gab Wichtigeres. Was sollte er jetzt mit ihr machen? Schließlich konnte er sie nicht einfach hier lassen.
Er dachte an seine Frau und seinen kleinen Sohn, die zuhause warteten, die es warm hatten und denen es nicht an Essen mangelte.
„Du kommst mit mir, in Ordnung? Bei mir zuhause ist es schön warm.“
„Schön warm“, wiederholte sie, „Mag warm.“
Der Jäger musste schmunzeln, als er sie hochhob, „Das habe ich mir schon gedacht. Wie ist eigentlich dein Name.“
„Name?“
Und er begriff, dass wer auch immer sie hier liegengelassen hatte, ihr kein Name gegeben hatte. Sie brauchte aber einen, wenn sie jetzt bei ihnen leben sollten…
Daher blickte er sich um und dachte an die Arbeit, die er sonst an diesem Ort verrichtete.
Er sah zu dem Mädchen in seinen Armen, das ihn freudig anlächelte,
„ Dann bist du jetzt ab diesem Tag meine kleine Robbe.“

All die Jahre lang sagte man ihr nach, dass sie ein hübsches, kleines Engelmädchen war und die Zeit verging und als sich Robbe ihrem siebzehnten Lebensjahr näherte, war eine schöne Frau aus ihr geworden.
Tatsächlich hielten viele junge Männer sie für anziehend. Sie und ihr dunkelblondes, welliges Haar und die faszinierenden Augen, in denen man scheinbar ertrinken konnte, wenn man zu lange hineinschaute.
All diese Komplimente kannte Robbe nur aus zweiter Hand oder aus dem Mund ihrer Ziehmutter, denn sie wollte nichts von diesen Worten oder überhaupt von den Bewohnern des Fischerdorfs wissen. Sie war die schweigsame Schöne, denn sie sprach nicht viel und wenn doch, dann mit einem Akzent, den ihr niemand abgewöhnen konnte und mit dem es sehr schwierig wurde, sie zu verstehen.
Wenn man trotzdem mit ihr reden wollte- und das hatten die meisten Männer schon aufgegeben- fand man sie auf den Felsen an der Küste, an der sich die Wellen brachen und der Wind einen umzuwerfen drohte. Hier fühlte sich Robbe am wohlsten.
Den ganzen Tag konnte sie in den düsteren Ozean schauen und wann immer sie das tat, zerriss es ihr beinahe das Herz aus einer derartigen Bewunderung und Sehnsucht, die sie nicht erklären konnte.
Sie lief auch gerne am Strand entlang, vergrub die nackten Füße in den sandigen Untergrund und beobachtete, wie das Wasser ihre Spuren hinfort wischte.
Selbst das Rauschen der Wellen war Musik in Ohren, dass sie niemals missen wollte.
Ihren Eltern gefiel dieses Verhalten nicht, aber als sie ihren Ziehvater einmal zu einem Markttag in einem größeren Dorf im Landinneren begleitet hatte, wurde sie plötzlich leichenblass und konnte kaum noch atmen.
Sie brauchte die Nähe zum stürmischen Meer und ihre Eltern versuchten seither nicht mehr, es ihr wegzunehmen.
Da Robbe ein kleines Mädchen war, gab es nicht viel Arbeit für sie und sie hatte viel Zeit, an
der sie an ihrem Lieblingsplatz sitzen und ins Meer starren sollte.
Jetzt allerdings war Robbe fast erwachsen und es war Zeit zu heiraten.
Es war ihr Ziehvater, der Jäger, der dieses Vorhaben an einem Abend ansprach, nach einem langen, windigen Tag, der ihn an den Tag erinnerte, an dem er sie gefunden hatte.
„Du wirst Lian ehelichen.“, sagte er und sah ins Feuer.
Die Vorstellung, sie wegzugeben, für immer zu verlieren, ängstigende ihn genauso wie sie selber. Aber er wusste, dass Robbe eher daran dachte, die Küste für immer zu verlassen, denn Lian hatte nicht vor in dem Fischerdorf zu bleiben und dort sein ganzes Leben zu verbringen.
„Nein“, sagte sie heftig, „Nicht. Nicht Lian.“
„Wir leben in schlechten Zeiten, kleine Robbe“, erklärte er ihr, „Viele Seehunde haben sich einen anderen Ort zum Sonnen ausgesucht. Es gibt immer weniger Beute, immer weniger Geld für Essen.“
„Geld“, wiederholte Robbe. Ihre Augen blitzen böse, „Lian. Wegen Geld.“
„Da hast du Recht“, sagte der Jäger, „Die Mitgift, die seine Familie zahlen wird, ist hoch.“
Robbe drehte sich um und begann zu weinen.
Der Jäger nahm sie in den Arm, „Nicht weinen, kleine Robbe. Nicht weinen. Lian wird dir ein guter Ehemann sein. Alles wird gut, kleine Robbe, du wirst schon sehen.“
Sie entwand sich seinen Armen und er sah ein, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, dass er beruhigen und herumtragen konnte, wie er es früher getan hatte.
„Nichts ist gut“, rief sie, „Nichts ist gut, wenn das Meer noch da ist und seine Robbe fort.“
Dann rannte sie weg.
Zur Küste wahrscheinlich, dachte er sich…

Doch die Heirat kam und weder Robbe noch der Jäger konnten es verhindern.
Die Zeiten waren wahrhaftig schlecht, zum Teil weil der Ziehvater immer älter, die Beute immer weniger wurde und die Preise dafür immer mehr sanken. Die Familie hatte keine andere Möglichkeit mehr, als die Tochter zu verkaufen und dafür selber zu überleben.
Trotz aller unbewussten Hintergedanken wurde es eine sehr schöne Hochzeit.
Robbe sah noch schöner aus als sonst, in ihrem weißen, langen Kleid und dem Schleier, der im Wind wehte und ihre Tränen verdeckte.
Auch der Jäger hatte Tränen in den Augen, als er sie in den Arm nahm und verabschiedete. Er hielt sie länger, als irgendjemand anderes.
Dann beobachtete er wie der Mann und das Mädchen, das wie eine Tochter geliebt hatte, zusammen den Hügel hinaufritten und in den von der Abendsonne beleuchteten Horizont verschwanden.
Er sollte sie schneller wiedersehen, als er dachte.
Nur drei Monate später kehrte der Mann namens Lian zurück und zwar mit der Leiche seiner frisch angetrauten Frau.
Sie waren in eine größere Stadt gezogen, weit weg von dem Fischerdorf, weit weg von Robbes geliebten Ozean.
Dort war sie krank geworden.
Sie hatte Kopfschmerzen und Husten gehabt, wie bei einer Erkältung, darauf waren dann Schwächeanfälle und Atembeschwerden gefolgt, bis sie am Schluss nur noch im Bett gelegen war und von ihrer Sehnsucht nach den Wellen gemurmelt hatte.
Lian hatte drei Ärzte zur Rate gesucht, aber keiner konnte ihm genau erklären, was mit Robbe geschehen war und ob sie je wieder so wie früher werden würde.
Am Schluss hatte sie nicht mehr gegessen oder getrunken, war nicht mehr aufgestanden und schließlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
Der Jäger war verzweifelt. Er hatte Robbe nicht geglaubt, als sie gesagt hatte, ohne das Meer nicht überleben zu können und daher wahrscheinlich am meisten Schuld an ihrem Tod.
Jetzt konnte er ihr nur noch die letzte Ehre erweisen und sie genau dort begraben, wo sie immer am liebsten gewesen war.
Das Rauschen des Ozeans sollte sie begleiten, wenn sie sich in die Geisterwelt aufmachte und der Meerlavendel sollte die Stelle bedecken, unter der ihr lebloser Körper lag.
Bevor er allerdings dazu kam, wurde er von einer alten Frau aufgesucht, die auch in dem kleinen Fischerdorf lebte und viele Sagen und Erzählungen kannte.
„Ich glaube, dass wir deine kleine Robbe wieder zum Leben erwecken konnte“, erklärte sie ihm, „Als Selkie, der Seehundmensch, der sie ist, wird sie das Leben haben, das sie hatte, bevor du sie am Strand gefunden hast. Vertrau mir.“

Da Robbe schon tot war und es nicht noch schlimmer werden konnte, beschloss der Jäger den Worten der alten Geschichtenerzählerin Glauben zu schenken.
An einem sonnigen Tag, ruderte er mit seinem Fischerboot, der alten Frau und der Leiche von Robbe hinaus auf den Ozean, wo das Meer tief und unergründlich dunkel war und die Frau sprach ihre Worte auf Altgälisch, während der Jäger sanft, den toten Körper in das Wasser legte und seiner Robbe einen allerletzten Kuss auf die Stirn gab.
Dann ließ er sie los und beobachtete wie der Körper langsam nach unten sank.
Lange Zeit geschah gar nichts. Keiner der beiden sprach ein Wort und sie hörten nur das Plätschern, wenn die Wellen gegen das Boot schlugen und spürten, wie es schaukelte.
Plötzlich bewegte sich etwas im Wasser.
Ein großer Fisch oder etwas Ähnliches schwamm unter dem Boot hinweg und der Jäger stand so schnell auf, dass das Boot zu kentern drohte und beugte sich über den Rand.
Er sah den bräunlichen Schatten unter dem Boot, dann tauchte nur wenige Meter entfernt ein Seehundkopf aus dem Wasser auf.
„Robbe?“, flüsterte der Jäger, dann breitete sich ein Lächeln auf seinen Gesicht aus, als er zu der alten Frau sah, „Ist sie…?“, er sah wieder zu dem Seehund, der jetzt schwimmend das Boot umrundete, freudig jaulte und mit der Schwanzflosse Wasser spritzte, „Robbe?“
„Sie wird nicht mehr ihre Seehundfell ablegen und ihre menschliche Gestalt annehmen können“, sagte die alte Frau leise, „jetzt ist es Zeit für sie, ihr anderes Leben kennenzulernen.“
Der Jäger nickte und mit Tränen in den Augen blickte er noch einmal zu dem Seehund, der jetzt näher heranschwamm und sich von ihm streicheln ließ. In seinen Augen erkannte er die kleine Robbe, die er großgezogen hatte.
„Das ist schon in Ordnung so“, flüsterte er. Der Seehund gab einen letzten Laut von sich, dann tauchte er unter und schwamm davon.
Der Jäger schloss die Augen und lauschte dem Rauschen des Windes und dem Tosen der Wellen. Er hörte das Lachen seiner Tochter darin.

Anmerkung


Anmerkung:
Meine Geschichte ist von den sogenannten Selkies inspiriert, keltische Sagenwesen, von denen es in Nordschottland, den Orkney Islands und an der irischen Küste einige Sagen gibt. Selkies sind Seehundmenschen(oft Frauen), die ihr Fell am Strand ablegen und dann eine Weile unter Menschen leben, bis sie ihr Selkieehemann zurückfordert oder sie die Sehnsucht zum Meer packt. Meine Geschichte ist zwar an diese Sage angelehnt, allerdings mit einigen veränderten Details. Die Seehundhaut, die manche Männer verwahren, um in Besitz einer Selkiefrau zu kommen habe ich beispielweise weggelassen und auch die „Heimweh-Krankheit“ nach dem Meer entspricht so nur meiner Vorstellung. Ich hoffe die Geschichte hat euch trotzdem gefallen und ihr hattet Spaß, als ihr sie gelesen habt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Schottland und Irland Fans;)

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