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1. Platz: „Roter Schnee“ von fabiana



Nach einer wahren Begebenheit



Das Klappern ihrer Absätze hallte durch die nächtliche Stille.
Sechs Kilometer durch die Stadt. In hochhackigen Tanzschuhen, auf holprig gepflasterten Bürgersteigen, die stellenweise von schmutzigen Eiskrusten überzogen waren.
Schon nach dem ersten Kilometer brannten ihre Füße wie Feuer. Doch Wut schluckt Schmerz und sie war sehr wütend. Dabei hatte der Abend begonnen, wie ein Abend eben beginnen sollte, wenn man verliebt ist. Himmel, Hintern und zugenäht ... konnte sie denn nicht ein einziges Mal auf einen ganz normalen Mann treffen? Sein hinreißend schelmisches Lächeln vor Augen, wäre sie um ein Haar in Tränen ausgebrochen. "Reiß dich zusammen, das ist der Idiot nicht wert." Die Peinlichkeit der gerade erlebten Situation ließ sie mehr frösteln als die klirrende Kälte. Uwe hatte Beziehungsprinzipien und diese lebte er fast verbissen. 'Hand in Hand' und 'Halbe Halbe' lauteten seine Parolen. Was ihn bisher zum Sechser im Lotto machte, degradierte ihn heute zum Dämlack des Jahres. Als allein erziehende Mutter zweier Kinder war Geldmangel an der Tagesordnung. Sie sprach mit niemandem darüber,
wurschtelte sich durch, so gut es eben ging und keiner merkte etwas. Sie hätte ablehnen müssen, als Uwe vorschlug, in diese teure Nachtbar zu gehen, tat es aber nicht. Vier Tage bis zum nächsten Lohn und noch 50 Mark im Geldbeutel. Liebe gegen Vernunft. Letztere blieb auf der Strecke.

Uwe war stolzer Besitzer eines Wartburgs, freute sich jedoch auf die leckeren Cocktails und so entschieden sie sich für die Straßenbahn. 'Halbe Halbe' wurde natürlich auch in der Bar praktiziert und nach ihrem dritten Part hatte sie noch fünf Mark in der Tasche. Das garantierte für einige Tage Brot und Butter, ein Glas Marmelade war auch noch da. Irgendwann hatte sie auf die Uhr geschaut und festgestellt, dass sie sich sputen mussten, die letzte Straßenbahn zu erwischen. Lachend rannten sie zur Haltestelle und sahen ... die Rücklichter der Bahn. "Und nun?", fragte sie. "Laufen wir nach Hause?" "Das fehlte noch, wir nehmen ein Taxi." Sie atmete auf. Um diese Uhrzeit in Leipzig ein Taxi? Wunschdenken! Offensichtlich jedoch nicht für Uwe, denn genau in diesem Moment bog eins um die Ecke und hielt auf sein Winken hin. Er zwinkerte ihr zu. "Halbe Halbe?" Ihr bemüht neckisches "Du könntest ja mal Gentleman spielen und mich einladen" wurde prompt abgelehnt. "Halbe Halbe, oder du läufst, mein Schatz." Sie blickte auf ihre billigen Tanzschuhe und dachte an das Brot für die Kinder. Dann drehte sie sich abrupt um und stakste los. Uwes verblüfften Blick konnte sie nur ahnen. Kurz darauf hielt das Taxi neben ihr. "Na los, steig ein, lasse ich mich eben ausnutzen!" Das war's dann endgültig. Lieber würde sie nach Timbuktu laufen. Sie würdigte ihn keines Blickes und er forderte sie kein zweites Mal auf.

Ein Geräusch riss sie aus ihren, vor Selbstmitleid triefenden, Gedanken. Es waren Schritte. Schnelle Schritte. Sie schaute sich um und sah einen Mann, welcher zwar noch weit hinter ihr war, jedoch zusehends den Abstand verringerte. Die Straße war hell erleuchtet, sehr breit und in der Mitte die Bahngleise plus Haltestellen. Die endlos scheinenden Reihen der alten, großen Mietshäuser auf beiden Seiten wurden nur hier und da von Nebenstraßen unterbrochen. Selten sah sie ein erleuchtetes Fenster, aber das Wissen um die vielen Menschen dahinter war tröstlich. Angst hatte sie bisher keine, dennoch empfand sie es als angenehm, nicht mehr so alleine zu sein. Gleich würde er sie überholen und dann wollte sie, trotz der schmerzenden Füße, an ihm dran bleiben. Enttäuscht registrierte sie, dass das Geräusch leiser wurde. Er war wohl abgebogen. Sie drehte sich um ... und zuckte zusammen. Ihre Blicke trafen sich. Er war groß, kräftig, nicht gerade gut aussehend und ... er lächelte. Seine Schritte klangen gedämpfter, weil er nun langsamer ging. Er hatte sich ihrem Tempo angepasst. Sie lief weiter, überlegte, ob sie rennen sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Weder ihre Schuhe, noch die vereisten Pflastersteine waren dafür geeignet. Sie befahl sich, nicht hysterisch zu werden. Vielleicht taten dem Typ hinter ihr ja auch nur die Füße weh, oder er war vom schnellen Laufen außer Atem. Oder er wollte auch nicht alleine sein. Blödsinn! Keines dieser "oder" beruhigte sie. Ein paar Meter weiter vorne sah sie ein erleuchtetes Schaufenster. Sie würde stehen bleiben und dann MUSSTE er sie überholen. Wenn er erst vor ihr sein würde, müsste sie keine Angst mehr haben.

Als das Fenster erreicht war, tat sie so, als würde sie die Auslagen begutachten. Es war ein Juweliergeschäft, also würde er ihren Plan nicht durchschauen. Plötzlich stieg Panik in ihr hoch. Es dauerte ein paar Sekunden ehe sie begriff, was der Grund dafür war. Keine Schritte mehr. Ringsum Totenstille. Sie zwang sich den Kopf zur Seite zu drehen und hätte am liebsten geschrien. Etwa zwanzig Meter von ihr entfernt kauerte er auf dem Bürgersteig und nestelte an seinen Schnürsenkeln herum. Diesmal blickte er sie nicht an und das war gut. Die Angst stand ihr zu deutlich im Gesicht und würde ihn vielleicht noch mehr anspornen. Sie drehte sich um und hastete weiter, das eigene Keuchen im Ohr und nun auch wieder seine Schritte. 'Er wird es nicht wagen', dachte sie, ' nicht inmitten der Häuser, ihm muss doch klar sein, dass ich schreien werde.'
Es war nur ein kleiner Trost, doch er verhinderte, dass die zunehmende Panik sie lähmte. Sie rutschte aus, konnte den Sturz gerade noch abfangen. Die vereisten Stellen wechselten sich nun mit verharschten Schneeresten ab, machten eine Flucht in Pumps endgültig zunichte. 'Ich muss die Schuhe ausziehen, dann habe ich vielleicht eine Chance'. Gerade wollte sie den ersten Schuh vom Fuß schleudern, da kam die Rettung. Einige Meter vor ihr bog ein Mann aus einer Seitenstraße, 'Gott sei Dank', in die richtige Richtung ab. Sie hätte vor Erleichterung heulen können und hoffte inständig, dass er nicht gleich in einem der Hauseingänge verschwinden würde. Der Mann vor ihr war mittelgroß, schlank, hatte auffallend dichtes, dunkles Haar und ... er hinkte. Sein rechtes Bein war steif. Wenn er es einen Schritt nach vorne brachte, tat er es mit einer ausholenden Bewegung. Sie hatte gerade die Seitenstraße überquert, aus welcher ihr Schutzengel gekommen war, und wieder genug Mut, sich nach ihrem Verfolger umzusehen. Er stand am Eck, lächelte wieder dieses Lächeln, hob ein wenig die Hände und ... bog ab. Hatte sie sich DOCH getäuscht? Dieses Lächeln und diese Geste hatten so etwas wie Bedauern ausgedrückt. Nicht das Bedauern eines Täters, dem sein Opfer entwischt war, eher das Bedauern eines schüchternen Menschen, der seine Chance verpasst hat. Sie war verwirrt, aber dennoch erleichtert.

Langsam gewann sie ihre Fassung zurück. Ihre Füße brannten wie die Hölle. Jeder Schritt schmerzte bis ins Gehirn. Der Mann mit dem kaputten Bein war langsamer geworden. Sie konnte sehen, dass ihn das Gehen anstrengte. Drei Armlängen trennten sie von ihm und sie hatte nicht die Absicht, diesen Abstand zu vergrößern. Er schien jung zu sein und irritiert. Ab und an ein versuchter Schulterblick, ohne jedoch ganz zu ihr zu sehen. Unwillkürlich musste sie grinsen. War sie nun die Verfolgerin? Begann er sich vielleicht gerade zu fragen, weshalb ihm eine Fremde so dicht an den Fersen hing?
Beinahe hätte sie laut gekichert.

Unversehens änderte ihr Vordermann die Richtung und ging schräg über die Straße. 'Aha, die vorletzte Haltestelle.' An der nächsten hätte sie aussteigen müssen, wenn die letzte Bahn ihr nicht vor der Nase weg gefahren wäre. Auf gleicher Höhe mit ihm, sah sie hinüber und lächelte. Er sah gut aus, verdammt gut sogar. Sie schätzte ihn auf Mitte Zwanzig.'Vielleicht hat er noch einen weiten Weg und keine Lust mehr zu laufen'. Sie warf einen letzten Blick zurück und richtig ... er studierte den Fahrplan. Jetzt war es an ihr, zu bedauern. Der Bursche hatte zurück gelächelt, faszinierend wie das Lächeln von Uwe. Die Erinnerung an ihn erstickte schlagartig jede Flirtlust im Keim.

Rechts von ihr wichen die Häuser zurück und machten einer kleinen Parkanlage Platz. Im Sommer war es dort sehr hübsch, aber jetzt wirkte sie trostlos, mit den kahlen Bäumen und grauen, ungeschnittenen Hecken. Auf der anderen Straßenseite kamen noch zwei Häuserblocks, dann ein kleiner Supermarkt und danach endlich ihre "Endstation". An dieser Haltestelle musste sie rechts abbiegen und dreihundert Meter weiter würde sie endlich diese Höllenschuhe los werden. Seit etwa einer halben Stunde schneite es. Sie hatte es nur am Rande wahrgenommen. Nun fielen die wattigen Flocken so groß und dicht, dass ein glitzernder Teppich das Klickklack ihrer Absätze schluckte und die Stille unwirklich schien. Sie blieb einen Augenblick stehen, hob den Kopf und genoss das Schmelzen der Schneeflocken auf ihren Wangen. Gelächter durchbrach die Stille. Brachte sie in die Wirklichkeit und damit die Schmerzen zurück.

Da vorne, ums Eck, war eine Bushaltestelle. Wieder hörte sie ein Lachen, jemand rief etwas, das sie nicht verstehen konnte. Ihre Angst war vollkommen verflogen. Sie würde die Zähne zusammenbeißen und das letzte Stück Weg zügig zurück legen.
Doch weiter als den ersten Schritt kam sie nicht.

Aus dem Nichts schoss etwas an ihrem Kopf vorbei und legte sich blitzschnell um ihren Hals. Wie eine Schraubzwinge drückte ihr das Etwas die Kehle zu. Mit einem Röcheln riss sie die Hände hoch und versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Es gelang ihr, den Kopf ein wenig zur Seite zu drehen, doch die Luft reichte nicht für einen Schrei. Im selben Augenblick spürte sie einen harten Gegenstand in ihrem Rücken und eine heisere Stimme krächzte: "Ein einziger Ton und ich steche dich ab."
Sie erstarrte. Der Druck in ihrem Rücken nahm zu und sie glaubte zu spüren, wie sich kalter Stahl durch ihren Mantel und in ihr Fleisch bohrte. 'Nein! Nicht jetzt, nicht hier, nicht so kurz vor dem sicheren Heim ... '
In ihrem Gehirn wirbelte alles durcheinander. Dann riss sie ein kräftiger Ruck von den Füßen und der Angreifer begann, sie in Richtung Park zu schleifen. Todesangst aktivierte ihren Lebenswillen, sie begriff, was er vorhatte und handelte instinktiv. Wie ein nasser Sack ließ sie sich fallen, brachte ihn damit zum Straucheln. Der Arm gab ihren Hals frei und sie schrie. Schrie, so laut sie konnte. Da vorne waren Menschen. Sie wusste, dass ihre Schreie weit zu hören waren, hörte seine Drohung, sie gleich hier abzustechen ... und schrie weiter. Sie wusste auch, sie würde sterben, wenn sie nicht verhinderte, dass er sie in die Büsche zerrte. Dann blieb ihr wieder die Luft weg, er hatte sie mit beiden Händen am Mantelkragen gepackt und schleifte sie über den Gehweg. Wie ein Tier krallte sie sich in die Eiskruste, rutschte weg, krallte sich in die Ritzen der Pflastersteine, spürte nicht, wie zwei ihrer Nägel aus dem Fleisch rissen und der Rest blutend zersplitterte. Er schien zu rasen vor Wut. Sie hörte das Krachen ihres Kiefers, als er sie mit einem Tritt zum Schweigen brachte und wunderte sich, dass der Schmerz so weit weg war. Die Wucht schleuderte ihren Kopf zur Seite und sie fragte sich erstaunt, ob die Zeit für sie den Atem anhielt ... sie konnte jedes noch so kleine Detail sehen ... in Zeitlupe. Im Haus gegenüber sah sie eine Frau am offenen Fenster stehen, der Raum dahinter lichtlos. Im Schein der Straßenlaterne erkannte sie eine Hand, die den Mund am Schreien hinderte. 'Nimm die Hand weg!', wollte sie rufen, 'nimm die Hand endlich weg und schrei, sonst sterbe ich!'

Der zertrümmerte Kiefer verhinderte, dass sie es selbst tat. Die Kinder vor Augen, versuchte sie es dennoch und was sich durch die zerfetzten Lippen rang, war das Heulen eines gepeinigten Tieres. Diesmal sah sie den Schuh auf sich zukommen. Ein brauner, abgewetzter Schuh mit dicker Profilsohle. Er schien zu schweben, schwebte mitten in ihr Gesicht und ihr Nasenbein zerbarst in einem weißen Blitz. Der zweite Tritt riss nicht nur ihren Kopf hoch, auch der Oberkörper machte eine halbe Drehung ... nun schwebte auch sie und sie sah. An der Ecke des Parks, da wo vorhin das Lachen war ... standen Menschen. Halb verdeckt von kahlen Bäumen. Sie sah, wie sich das Licht der Straßenlaternen in weit aufgerissenen Augen spiegelte, sah, wie einer zu ihr wollte und sah Arme, die ihn davon abhielten. Ihr Kopf schwebte zurück und sie sah andere Dinge, die sie erstaunten. Eine Fratze, eingerahmt von dichtem, dunklem Haar beugte sich zu ihr herunter, Lippen, die vor kurzem noch so wundervoll gelächelt hatten, waren von Hass und Wut verzerrt. Dann sah sie Füße in braunen Schuhen davon laufen, kräftig und federnd, sah auf der anderen Seite Licht im Zimmer der Frau angehen und Menschen ängstlich hinter Hecken hervorkommen. Und sie sah Schnee ... roten Schnee, und sie erinnerte sich, dass sie den Kindern Marmeladenbrote machen musste. Durch einen blutigen Schleier nahm sie die Menschen um sich herum wahr. Sie würde sie gleich nachher fragen, warum sie so spät gekommen sind ... warum erst jetzt, wo ihr doch gar nichts mehr weh tat. Sie wollte nur noch ein wenig ausruhen, in diesem wunderschönen roten Schnee ...


2. Platz: „Die Brücke“ von Lieselore Warmeling (lieselore)



Das Leben ist eine Bühne



Lebensspuren in einer Großstadt





Beide, Annabell ebenso wie Leander, waren Nichtsesshafte, im Volksmund schlicht und einfach Penner genannt. Die Großstadt war ihr Revier.
Natürlich hießen sie auch nicht Annabell und Leander, diese blumigen Namen hatten sie sich gegenseitig nach der ersten, gemeinsam verbrachten Nacht gegeben.
Heißt es nicht, Verliebte können über einen Regenbogen gehen, der Regenbogen sei die Brücke der Sehnsucht?

Der Regenbogen, über den Annabell und Leander sich hätten näher kommen können, fiel schon deswegen aus, weil diese fragile Konstruktion beide nicht getragen hätte.
Annabell wog etwa 80 kg , war also eher Walküre als Elfe und Leander hätte ohnehin in seinem zumeist
angesäuselten Zustand keine drei Sekunden die Balance auf einer Regenbogenbrücke halten können.

Anna Gehlen bezog ihre Einkünfte aus dem täglichen Verkauf einer Obdachlosenzeitung, mit der sie sich vor den Aldi-Läden die Beine in den Bauch stand und darauf wartete, dass die eine oder andere eilige Hausfrau ihr den Euro aus einem der Einkaufswagen überließ.

Leo Drossel dagegen war ein Künstler. Zumindest wenn er seine Fiedel unters Kinn klemmte und in den Fußgängerzonen Improvisiertes aus dem Repertoire Ich-weiß-nicht-was-soll-es-bedeuten zum Besten gab, immer gewärtig, vor den Ordnungshütern flüchten zu müssen, denn eine Erlaubnis für diesen Dienst an der Menschheit hatte er natürlich nicht.

Anna fiel ihm zum erstenmal auf, als er einen Teil seines Verdienstes in Aldi-Schnaps umsetzte und ihren mißbilligenden Blick spürte, als er gleich vor der Tür die Buddel gierig ansetzte.
"Is wat Mächen?"
Er grinste sie fröhlich an, war ja propper die Deern. Vielleicht eine Spur zu üppig, aber blitzsauber.

Na ja, runtergekommen und dreckig hätte man sie wohl kaum für diesen Zeitungsjob zugelassen, sie war also das, was er eine Edelpennerin nannte, wahrscheinlich auf dem Weg, sich ganz aus der Szene zu lösen, wenn sie es denn schaffte.

"Machse auch mal," er hielt ihr auffordernd die Flasche hin und lachte, als sie angewidert den Kopf abwandte.
"Na na, Fräulein, nimm schon, zaubert Rosen in Dein Leben und Wärme in den Bauch, Du siehst aus, als könnteste beides gebrauchen."

"Scher Dich weg, Du vermasselst mir das Geschäft," zischte sie und presste die Lippen mißbilligend aufeinander.

"Zicke," murmelte er, "Leo hat sich noch niemandem aufgedrängt und wird in seinen alten Tagen damit nicht anfangen". Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, Spottlust in den Augen und sagte , "Gestatten Gnädigste mich vorzustellen und gleichzeitig zu verabschieden.
Mein Name ist Leo Drossel, was - ich bitte um Beachtung - nicht bedeutet, dass ich aus dem Hause derer von und zu Schnapsdrossel stamme , also bitte keine Wortwitze."

Er lüftete heiter seine speckige Mütze und wollte sich schon abwenden, als er den Anflug eines Lächelns in ihren braunen Augen sah.
Er machte eine elegante Kehrtwendung , betrachtete sie aufmerksam und die Lachfältchen um seine Augen vertieften sich.
" Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?"

" Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn" erwiderte sie und sah ihn keck an.

"Potzblitz, wir sind ja belesen und wie," Leo strahlte. "Literarischer Schaumschläger oder Schauspielerin ohne Rolle, dafür aber auf der Rolle?"

"Letzteres," sie grinste jetzt übers ganze Gesicht und Leo sah mit Entzücken, dass ihr Gebiss lückenlos war, keine Spur von Verfall oder Vernachlässigung, er war hingerissen.

"Hoppla, wann war denn Dein letztes Engagement, ich wette, Dich hätte ich gerne gesehen, als ich noch durch den Vordereingang des Schauspielhauses durfte."

Ihr Gesicht verdüsterte sich, als habe sie bereits unfreiwillig zuviel von sich preisgegeben.

"Pardon Schönste, ich hatte nicht vor, auf dem Parkplatz bei Aldi Deine Vergangenheit aufzurollen. Dazu gehört mehr Atmosphäre, wie wär's bei einer Pizza mit dem Belag Deiner Wahl, zelebriert bei Kerzenschein und einem süffigen Aldi-Sekt, mitten auf der nächtlichen Yachthafenbrücke.?"

"Was? Das liebe ich ja, das Angebot meines Lebens unmittelbar vor dem endgültigen Absturz ins Matronenzeitalter". Jetzt lachte sie übers ganze Gesicht, und die Sommersprossen auf ihrer Nase tanzten.
" Zumindest Dein Timing ist bemerkenswert".

"Ich weiß, ich weiß," er schwenkte fröhlich seine Buddel.
"Meinereiner war mal einer von der Sorte für die Zeit Geld ist", sagte Leo, sah aber nicht so aus, als betrübe ihn der Blick auf seine Vergangenheit sonderlich.

"Obendrein ist der Spruch ein Ideen-Klau aus der Fernsehwerbung.
Man stiehlt eben wo man kann und ein besserer Trick,
Dir gleichzeitig mein Domizil zur Besichtigung anzubieten, fiel mir nicht rechtzeitig ein.
Allerdings ist meine Behausung nicht vor 24 Uhr vorzeigbar, dann erst gehört mir die kleine Brücke ganz.
Vor allem aber der Schlafplatz darunter."

" Ach so," sie zog süffisant die Augenbrauen hoch, "Berbermilieu.
Nein danke, das ist nicht unbedingt meine Welt."
Jetzt hatte ihr Gesichtsausdruck etwas so Ablehnendes, dass Leo Drossel in gespieltem Entsetzen einen kleinen Hüpfer rückwärts machte.
" Um Himmelswillen, willst Dich wohl als Edelpennerin versuchen.
Na dann, ich verkneife mir lieber mal die Frage, der wievielte Anlauf das gerade ist."
Leo wandte sich ab, als sei sein Interesse an ihr erloschen .
Seltsamerweise passte ihr das gar nicht. Sie hätte nicht sagen können, wieso ihr so daran lag, ihn zu überzeugen, sie wusste nicht einmal genau, ob sie nicht doch eher sich selbst überzeugen wollte, als sie hinter ihm herrief;
" Den einen trägt, den anderen ersäuft die Woge
des Schicksals."
Ohne sich umzudrehen, sprang Leo Drossel mit einem komisch wirkenden Sprung in die Luft, schlug die Hacken zusammen und rief fröhlich, "aber pass trotzdem auf, dass Dich die Schicksalswoge nicht genau dann unter sich begräbt, wenn Du am wenigsten damit rechnest."

Das war die erste Begegnung der beiden und die nächste ließ nicht lange auf sich warten.
Es regnete seit Tagen. Das naßkalte Sauwetter war geeignet, jegliche Lust am Aufenthalt auf der Straße im Keim zu ersticken.
Anna Gehlen konnte sich allerdings um die Launen des Wettergottes nicht kümmern. Sie hatte Dienst vor der Stadtbibliothek in der ab dem frühen Abend eine Lesung bedeutender Literaten vor wohlsituiertem Publikum stattfand.
Das hieß abkassieren, denn die Besucher - zumeist Mitglieder der stadtbekannten Oberschicht, die sich zur gemeinsamen Wohltätigkeit anläßlich wechselnder Events zusammenfand - waren bereits auf einen
karitativen Abend eingestellt. Annas bescheidener Wunsch, sich ein Stück vom Kuchen der Mildtätigkeit zu sichern, wurde erwartet und zumeist auch erfüllt.

Doch diesmal war alles anders.
Die Besucher hasteten aus ihren feudalen Limousinen, einzig bemüht, ins Trockene zu kommen. Niemand nahm sich die Zeit, der weiblichen Gestalt neben dem Eingang, die unter einem überdimensionalen Regenmantel mit Kapuze fast verschwand, auch nur einen Blick zu gönnen.
Anna sah alle Felle davonschwimmen. Das würde ein absoluter Reinfall werden. Sie konnte sich die Enttäuschung ihrer Gruppe schon vorstellen.
Inzwischen fror sie bis ins Gedärm und war zitternd bemüht, ihre Zeitschrift so im Licht der Portalbeleuchtung zu präsentieren, dass wenigstens einige der Vorbeieilenden bemerken würden, dass Wohltätigkeit nicht erst im Inneren der Bibliothek beginnen musste.

" Das klappt so nie" sagte plötzlich eine heitere Stimme neben ihr.
Leo Drossel nahm ihr den Packen Zeitschriften aus der Hand, drängte die widerstrebende Anna unter den Vorbau der Bibliothek, damit sie wenigstens mit dem Rücken im trockenen Bereich stand und schrie;

" Hi Leute, was ist denn los mit Euch, blind, taub, uninteressiert?
Das wollen wir doch gar nicht erst einreißen lassen .
Es ist zwar der Sinn der Ideale, dass sie nicht verwirklicht werden können, sagt Fontane, aber hier meine verehrten Herrschaften, dürfen Sie Ihre Ideale verwirklichen.
Sorgen sie dafür, dass diese nasskalte kleine Schönheit nicht erst einen Striptease hinlegen muss, um Ihrer Aufmersamkeit sicher zu sein.
Wie wärs also mit einer Spur weniger Egoismus und einem Hauch mehr Einfühlungsvermögen?"

" Lieber Himmel," eine ältere Dame blieb abrupt stehen und wandte sich erzürnt an ihren Begleiter.
"Wieso siehst Du sowas nicht Theo."
Theo sah etwas bedeppert aus, klaubte aber pflichtschuldigst seine Brieftasche aus dem Kaschmirmantel.
Er balancierte seinen Schirm ungeschickt über dem wohlfrisierten Haupt seiner Dame, wobei ein Schwall Regenwasser sich in deren hochgetürmte Frisur ergoß. Dann aber gelang es ihm unter ihrem wütenden Protest doch noch, ein paar Scheine in Leo Drossels
hingehaltene Mütze zu werfen.

" Güte steckt an meine Herrschaften, wie wärs, wenn Sie sich infizieren ließen"
Leo wedelte mit seiner Mütze vor einer weiteren Gruppe die eilig aus dem Regen ins Trockene strebte und es dauerte keine zehn Minuten , bis er mit munteren Sprüchen und Zitaten auch die Eiligsten davon überzeugt hatte, dass es vor der Bibliothek wahrscheinlich nicht halb so teuer für sie werden würde, wie drinnen.

Als sich die hohen Flügeltüren hinter dem letzten Gast schlossen, wandte Leo sich zufrieden grinsend um und hielt Anna, die seine muntere Vorstellung staunend beobachtet hatte, die mit Geldscheinen gefüllte Kappe hin.
"Nimm schon", er strahlte übers ganze Gesicht.
Unbeeindruckt wischte er sich das Regenwasser aus den Augen, sah an sich herunter und wagte dann ein paar beschwingte Tanzschritte, bei denen das Wasser in seinen Schuhen quietschte.

Anna zögerte den Bruchteil einer Sekunde , doch dann ergriff sie entschlossen das gefüllte Käppi .
"Komm mit, bevor sich einer von uns eine Lungenentzündung holt. Ich hause seit zwei Monaten in einer WG und wir haben uns vor kurzem den Luxus eines Wäschetrockners geleistet.
Wenn Du versprichst, nicht darauf zu bestehen, eine Tabledance-Nummer bei uns abzuziehen, mußt Du zumindest diese Nacht unter Deiner Brücke nicht in nassen Sachen verbringen."

Leo grinste.
Gleich darauf aber kam die etwas beklommen klingende Frage;
" Wer ist UNS? Hast Du einen Lover?"

"Ich habe Freunde und die wollen Dich und Deine literarische Ader garantiert kennen lernen.
Du wirst schon sehen. Wir wohnen zwei Straßen hinter der Bibliothek und heute ist Gründungsabend.
Du kommst also gerade richtig. Heissen Tee gibt's bei uns für jeden.
Aber rechne nicht mit Alk, den schminke Dir ab, da läuft nichts.

Gründungsabend? Leo seufzte komisch.
" Ich hoffe Ihr gründet keinen Verein geläuterter Penner."
Dann jedoch ließ er sich gottergeben von Anna mitziehen.

Und so kam Leo Drossel zur *Brücke * und erwies sich als absoluter Glücksfall für das Unternehmen.
Bis zu seinem Auftauchen war *Die Brücke* nur ein Plan.

Eine Gruppe von literarisch und künstlerisch interessierten Menschen aus Ämtern, Firmen, Literatur- und Theaterbetrieben war dabei, zusammen mit Nichtsesshaften das Projekt * Kultur am Rande*, das bereits in vielen Städten erfolgreich lief, zu übernehmen.
Niemand lebt in einem Vakuum hieß das Motto, und die Akteure beider Seiten sollten die Grenze zwischen den Etablierten und denen auf der Straße überwinden.

Wer Mitglied werden wollte, der hatte sich mitgestaltend einzubringen, oder er war für das Projekt unbrauchbar.

In dieser Szene tauchte also unversehens Leo Drossel auf.
Nicht mehr jung, nicht immer nüchtern , stets mit einem flotten Zitat auf den Lippen und so kreativ wie die Besten unter den Mitwirkenden.
Sein Potential war offensichtlich.
Es galt also nur, ihn einzubinden und bei der Stange zu halten, denn Leos Schwäche war nun mal der Alkohol und die Unbeständigkeit.
Es konnte durchaus passieren, dass er wochenlang nicht aufzutreiben war .
Dann hatte er lediglich einen Teil des Sommers unter einer Hafenbrücke im Süden verbracht und wenn er wie aus dem Nichts wieder auftauchte, war er voller skurriler Geschichten und Erlebnisse.
Und er tauchte immer wieder auf, denn er liebte Anna.

Daran hatte niemand den geringsten Zweifel, außer Anna selbst.

Anna war der Magnet, der ihn magisch anzog und
in immer kleineren Intervallen hielt.
Sie gab ihm zwar keine Chance ihr näher zu kommen, aber er wusste, dass sie es liebte, wenn er das Füllhorn seiner Kreativität in das Projekt einbrachte.
Er löste Probleme aller Art im Handumdrehen und wurde immer mehr zum allseits geachteten Verbindungsglied zwischen den Berbern und der Kunstszene .
In seinen kreativen Phasen schrieb Leo beachtenswerte Treatments und, er war ein begnadeter Tänzer, der für viele gelungene Choreographien verantwortlich war, durch die das Team immer bekannter wurde.

Längst hatte man ihm einen Dauerposten angeboten,
aber Leo war so nicht zu halten. Er liebte seine Freiheit und die Buntheit der Welt.

Nur mit Anna kam er nicht weiter.
Sie entzog sich ihm mit einer Penetranz, die ihn oft genug, wütende Flüche murmelnd, vertrieb und er kam nur wieder, weil er genau wusste, da war niemand sonst in ihrem Leben, den sie ihm vorgezogen hätte.

Sie war wie das berühmte Kräutlein Rührmichnichtan.
Sobald er ihr zu nahe kam und seis auch nur zufällig, wich sie zurück und verschloss sich wie eine Auster.
Leo hatte längst das Mitgefühl aller, aber es war offensichtlich, dass Anna in den Fängen ihrer Vergangenheit ebenso litt, ohne sich aber daraus lösen zu können.

Männer waren eine Spezies, der sie nicht vertraute, nicht vertrauen konnte.

Und dann stellte das Schicksal die Weichen.

Die Lösung bot sich sozusagen auf dem Silbertablett.
Leo hatte das Treatment für eine Boulevardkomödie geschrieben, die demnächst auf dem Spielplan der *Brücke* stehen würde und die Proben, mit Anna als Souffleuse, liefen ausgezeichnet.

Die Premiere nahte und die beiden Hauptdarsteller, ein Pärchen mittleren Alters, war ausgezeichnet in Form. Der Erfolg schien sicher.
Bis zum Abend der Generalprobe.
Da zeigte es sich, dass es immer ein Risiko bleiben würde, Hauptrollen mit Nichtsesshaften zu besetzen.

Die beiden - längst clean und aus der Drogenszene ausgestiegen - wurden wegen eines Deliktes aus ihrer Vergangenheit aufgegriffen und kamen erst einmal in Untersuchungshaft.
Aus der Traum.
Wirklich?
Das wollte niemand hinnehmen.
Es gab nur eine einzige Lösung.
Anna und Leo.
Es war sein Treatment und Anna hatte als Souffleuse den Text ebenso drauf, wie die inhaftierte Hauptdarstellerin.

Gut, der Typ Salondame war Anna gewiß nicht.
Ihr Busen würde wahrscheinlich die Szene eher sprengen als ihre Spielfreude, unkten die Kollegen.
Aber, sie traute es sich zu, war hingerissen von der Idee, endlich mehr zu dem Projekt beizutragen, als nur die Requisiten zu verwalten und zu soufflieren.
Außerdem, das Team hatte keine Wahl.

Innerhalb von zwei Stunden avancierte Anna zu einer Schönheit des Rampenlichtes.
Die Kunst der Maskenbildnerin schuf eine hinreißende Beauty.
Die Crew staunte nicht schlecht, als sie sah, welche Verwandlung vor ihren Augen ablief.
Haltung, Bewegungen, Mimik, Anna passte sich ihrem Äußeren an wie ein Chamäleon, es war verblüffend.
In Szene zwei der Kostümprobe betrat dann Leo die Bühne und hatte - gemäß seiner Rolle - sofort auf Anna zuzugehen und sie leidenschaftlich in die Arme zu schließen.

Alle hielten den Atem an, konnte das gutgehen?

Und wie.
Beide agierten, als hätten sie nie etwas anderes gemacht.
Anna schmiegte sich drehbuchgerecht in Leos Arme, zog alle Register um ihn ins Bett zu kriegen, kurzum, sie spielte nicht nur die heißblütige, zu allem entschlossene Verführerin, sie lebte sie auf offener Bühne mit einer Intensität, die alle um Leos Beherrschung fürchten ließ.

Der bewegte sich wie in Trance, verpasste kein Stichwort, schien von dieser Frau neben sich auf eine Weise fasziniert, die jedem Zuschauer klarmachte, dieser Mann will diese Frau und er will sie sofort.
Das ganze Ensemble klatschte begeistert als die Schlußszene kam.
Die beiden Ersatzschauspieler waren unversehens in 90 Spielminuten zu Darstellern der Extraklasse geworden, beide einander ebenbürtig und beide völlig in ihren Rollen aufgehend.

Sie verbeugten sich gemeinsam, einander an den Händen haltend, erhitzt und glücklich.
Dann wandte sich Leo seiner Partnerin zu und ehe sie sich von ihm lösen konnte, sagte er mitten in die eintretende Stille:
" Du wirst mir dieses Gefühl, diesen Moment, unverletzbar zu sein, nie mehr zerstören können Anna, auch wenn Du mich jetzt wieder von Dir wegstößt,
es ist mir egal."
Sprachs, wandte sich auf dem Absatz um und ließ Anna einfach auf der Bühne stehen.

Premierenabend!

Wer bis dahin noch gezittert hatte, ob einer der Stars oder gar beide im letzten Moment kalte Füße gekriegt haben könnte, wurde eines Besseren belehrt.
Beide saßen, den Rücken einander zugewandt, in der Gemeinschaftsgarderobe und ließen sich schweigend für die Bühne zurecht machen.
Plötzlich wandte Leo sich um und streckte seine Hand nach Anna aus.
"Ich bin bereit, überall hinzugehen, wenn es nur vorwärts ist, wie siehts mit Dir aus?"

" Du deklamierst schon wieder," antworte sie knapp und konzentriert, aber sie lächelte.

Der Abend wurde ein rauschender Erfolg.
Die beiden Hauptdarsteller schienen sich von Szene zu Szene zu steigern.
Sie waren hinreißend, sie überzeugten absolut und es gab immer wieder Szenenapplaus .
Die Vorstellung endete mit stehenden Ovationen für die Darsteller.
Es war ein Ereignis der Superlative geworden und alle Beteiligten in Hochform.
Hinter der Bühne, die Blumen noch im Arm, wandte sich Anna an ihren Bühnenliebhaber ;
"Ehe ich es vergesse Leo, für die Premierenfeier wurde das Lokal umdisponiert.
In 15 Minuten werden wir erwartet, das Taxi holt uns am Bühnenausgang ab."
Sie wandte sich ab und verschwand hinter dem Paravent der Garderobe.

Das Taxi stand schon vor dem Bühnenausgang, als Leo auf die Straße trat, aber Anna war nicht zu sehen.
"Wir warten noch auf die Dame", sagte er zu dem Fahrer, bevor er sich auf den Rücksitz fallen ließ.

" Das müssen wir nicht, antwortete der.
Sie sind mein einziger Fahrgast, die Dame kommt nicht mehr."
Und schon fuhr er los.
Leo sackte in sich zusammen, er sagte nichts, er fragte nicht, sondern schloß nur unendlich enttäuscht und erschöpft die Augen.
Einige Minuten später fiel ihm auf, dass das Taxi die Innenstadt verlassen hatte und in den Yachthafen einfuhr.
" Hier gibt's aber nur das Fischrestaurant ", sagte er zu dem Fahrer "und das hat um diese Zeit längst die Schotten dicht, Sie haben sich wohl verfahren."

" Nö, absolut nicht," antwortete der, "ich habe sehr genaue Anweisungen bekommen."
Er drosselte das Tempo und fuhr dann, immer langsamer werdend, auf die kleine Brücke zu, unter der noch immer der alte Schäferwagen stand, in dem Leo übernachtete.

Und dann, das Taxi hatte angehalten, rückte eine fantastische Kulisse in Leos Blickfeld.
Mitten auf der Brücke standen ein kleiner weißgedeckter Tisch und zwei Stühle.
Neben dem Tisch brannten auf sechs schlanken, hohen Kandelabern aus dem Bühnenfundus Dutzende von Kerzen und beleuchteten die wundervolle Sommernachtsszenerie.

Ein fahrbarer Serviertisch unmittelbar neben dem Geländer war beladen mit einem Sektkübel, und - Leo traute seinen Augen nicht - einer Pyramide von Pizzaschachteln.

Halb im Schatten der Brückenbeleuchtung aber wartete Anna.
Leo rannte los.
Das war die Nacht, in der aus Anna, Annabell und aus Leo Leander wurde.


3. Platz: „Nexus“ von Jenna Strack (jenna.)



Schnittpunkte vierer Leben



Prolog


Die Stadt reibt verschlafen ihr Antlitz und streckt ihre Arme nach dem Tag aus. Nur mühsam kommt sie in die Gänge, räkelt sich und entzündet die Lichter.
Die Straßen und Flaniermeilen erwachen von den ersten Schritten. Menschen hetzen mit ihren Synthetik- und Lederschuhen über den nassen Asphalt.
Einige wenige Radfahrer bewegen sich stadteinwärts. Geschickt umfahren sie die ersten Lieferwagen, die in die Fußgängerzone eindringen und radeln dem neuen Tag entgegen. Einige Gesichter so müde und alt wie die Stadt selbst, andere munter und erwartungsvoll, passend zum neuen Gewand, welches die alte Stadt sich vor Kurzem umgelegt hat.
Auspuffgase strömen vom Straßenboden hinauf in die Luft und vermengen sich mit dem dünnen Sauerstoff, dringen in die Nüstern der Stadt.
Mit wachen Augen atmet sie ein und aus. Das Getöse der ersten vorbeifahrenden Busse löst die bisherige Stille ab, das Schrillen der Straßenbahn-Warnglocken ertönt und läutet endgültig den neuen, geschäftigen Tag ein.
Zufrieden blickt die Stadt auf sich selbst herab.




1. Vormittagsarie


Eine Frau hastet über den grauen Asphalt, den unnahbaren Blick zielstrebig auf das Ende der Straße gerichtet. Die Absätze ihrer feinen Lederstiefel stoßen unsanft auf den feuchten Gehweg auf, auf den vor einer Stunde noch der unbarmherzige Frühjahrsregen eingeschlagen hat.
Glücklicherweise ist es noch früh und die Straßen sind noch nicht übermäßig gefüllt – Menschenansammlungen meidet sie tunlichst, all das Gedränge regt sie nur auf.
Die grünen Augen der Frau mit dem schwarzen Kaschmirmantel, den wuchtigen Diamantohrringen und den seidigen blonden Haaren flimmern und ihre Schritte werden langsamer, als sie sich einem kleinen Lädchen nähert.
Ein warmes Gefühl steigt in ihr auf und mit einem verzückten Lächeln stößt sie die milchige Glastür auf. Es wirkt erstaunlich, mit welch einer Leichtigkeit diese zarte, nach wochenlangem Hungerleiden aussehende Frau, den schwer anmutenden Druckmechanismus bezwingt. Die Freude über die anstehende Aufgabe verleiht ihr eine fast unmenschliche Kraft.
Drinnen nestelt eine kleine Frau hinter dem Verkaufstresen an einem Regel voller Teepäckchen herum. Ihr brauner Kurzhaarschnitt wirkt unfrisiert und vernachlässigt.
Judithas Blick schweift leicht amüsiert umher. Um sie herum stehen hunderte kleine Päckchen, gefüllt mit Tee oder Kräutern, verzierte Teekannen und Stövchen in verschiedenen Größen. Daneben eine Masse Räucherstäbchen und eine Wand voll mit losen Gewürzen, wie Juditha sie ab und zu sieht, wenn ihre Haushälterin in der Küche zugange ist.
Erst als sie kurz vor dem Tresen stehen bleibt, dreht sich die Verkäuferin um. Eine nebelgleiche Anspannung liegt in der Luft und schmiegt sich wie ein Mantel um sie. Ein zaghaftes Lächeln versucht erfolglos ihre Angst zu verbergen und ein dünnes Stimmchen erfüllt die Stille.
»Frau von Rhoden, einen schönen guten Morgen!« Das nächste Lächeln gelingt etwas besser.
Das ausgezehrte Gesicht der Frau ist gespickt mit Falten, eingefallen und blass. Lediglich die Angst in ihren trüben Augen erweckt den Anschein, es könne doch noch Leben in dieser verbrauchten Hülle stecken.
»Frau Meinhardis…« Judithas Stimme klingt herablassend. »Ich nehme an, Sie wissen weshalb ich hier bin?«
Die kleine Frau blickt gen Boden. Es verstreichen einige lange Sekunden, bis sie Juditha wieder ansieht. »Ich habe doch erst letzte Woche den letzten Brief von der Verwaltung bekommen.«
Juditha kann sich nicht helfen, sie muss auflachen.
»Das muss mindestens schon einen Monat her sein.« Sie seufzt bedeutungsvoll. »Wissen Sie, Anfang der Woche wurde ich nämlich darüber unterrichtet dass die Miete der letzten vier Monate immer noch nicht beglichen ist.«
Sie zieht einen dicken Briefumschlag aus ihrer Tasche und legt ihn mit Genugtuung vor der noch stärker erblassten Frau ab, deren Augen starr und leer auf ihm heften bleiben.
»Ich habe Ihnen den kompletten Schriftverkehr noch einmal kopiert, falls Ihnen da was verloren gegangen sein sollte.«
Ein arrogantes Lächeln umspielt ihre rot bemalten Lippen.
Unsicher greift die Frau nach dem Umschlag, zieht die Papiere heraus und sieht sie durch. »Wissen Sie, ich hatte gehofft…« setzt sie mit schwacher Stimme an, doch Juditha unterbricht sie bestimmt.
»Wenn Sie den ausstehenden Zahlungen nicht nachkommen können, erfolgt am Ende dieses Monats die Kündigung zu September.«
In Gedanken lässt Juditha schon die alte hölzerne Theke verschwinden und reißt die veralteten Regale von den Wänden. Schon lange ist ihr die Verschwendung dieser Immobilie in so perfekter Lage ein Dorn im Auge.
Wie durch eine Eingebung sieht sie unvermittelt eine geschmackvolle, minimalistische Einrichtung vor ihrem inneren Auge.

Ein perfekter Ort für ein kleines Fotostudio.


»Sie wissen doch, wie es um die Einnahmen bestellt ist«, wimmert die Tee- und Kräuterfrau fast. »Bitte, geben Sie mir noch etwas Zeit…!«
»Sie hören von mir, falls die Zahlung nicht eingeht.« Juditha wirft der Frau einen abschätzigen Blick zu und wendet sich ab. In ihrem Rücken hört sie noch Bitten, einen flehenden Ton, der es nicht mal bis in ihr Bewusstsein schafft. Schon ist sie wieder auf dem Gehweg und schlägt die Richtung stadteinwärts ein, wo sie noch ein paar Besorgungen für heute Abend zu machen hat.

Heute Abend.


Zunächst wird sie im Haus nach dem Rechten sehen müssen, in letzter Zeit vernachlässigt die Haushälterin gern mal einige ihrer Pflichten. Und dann wird sie sich kurz um die Kinder kümmern müssen. Eine Stunde am Tag hat die Therapeutin geraten, damit sie nicht Theresa als Bezugsperson und Vorbild anerkennen.

Gott im Himmel, die Haushälterin als Vorbild der Kinder.

Fernsehen vielleicht. Ist das eine gemeinsame Aktivität?

Sicher.


Und dann kann sie sich endlich fertig machen. Ein kleines schwarzes von Chanel, die neuen Pumps…Bei dem Gedanken an den heutigen Abend ummantelt ein warmes Gefühl ihren Körper und sie denkt wieder an das Fotostudio. Es wäre perfekt für ihn.
Während Juditha Richtung stadteinwärts stolziert, wo ihr überteuerter Audi im Halteverbot auf sie wartet, kreuzt ein älterer Mann in dreckigen, zerschlissenen Klamotten ihren Weg. Er schiebt einen mit Decken und Tüten beladenen Einkaufswagen vor sich her, das rechte Bein schwerfällig nachziehend.
Verständnislos und voller Abscheu schüttelt sie den Kopf und wendet sich schnell ab. Beim Gedanken daran, was sie selbst für Anstrengungen in Kauf nehmen musste um nun ein sorgenfreies und luxuserfülltes Leben führen zu können, verdreifachte sich das Unverständnis für all die anderen, die ihr Leben versagt haben.
Auch sie hat es ganz und gar nicht einfach gehabt. Ihre Eltern waren zwar gut situiert, aber nicht reich in dem Sinne. Nicht so, wie sie es nun ist, nach ihrer Hochzeit mit Sebastian.
Seit jeher war klar gewesen, dass sie als einziges Kind aus einem gehobenen Haushalt einen aufstrebenden Geschäftsmann heiraten würde. Nie erhoben sich Zweifel an ihrer eigenen Perfektion und dem damit verbundenen Recht auf ein glanzvolles Leben an der Seite eines einflussreichen Mannes, der für sie sorgen konnte.
Und so kam es, dass sie schon mit siebzehn den mehr wohlhabenden als gutaussehenden Sebastian kennen lernte. Nach fünf langen Jahren des Augenklimperns erfolgte endlich der Antrag.
Und dann zog Juditha in ihr neues Leben ein, noch glanzvoller als sie es sich je erträumt hatte; einen erfolgreichen Mann, zwei durchaus vorzeigbare, hübsche Kinder; mehrere eigene Immobilien, eine große Villa am Stadtrand mit einem weitläufigen Grundstück am Wasser und den Status einer anerkannten und begehrten Innenarchitektin.
Eine platinblonde Strähne fällt ihr über die verdächtig ausgeprägten Wangenknochen und mit einer schnellen Bewegung ihrer makellos manikürten Hand bringt sie ihr Erscheinungsbild augenblicklich wieder in Ordnung. Ja. Von außen betrachtet sieht alles wunderschön aus.

2. Mittagssinfonie


Die schwere gläserne Tür fällt krachend hinter Elisabeth ins Schloss. Sie zuckt merklich zusammen. Dieses Geräusch hat sie in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren fünf Tage die Woche gehört, mal mehr, mal weniger bewusst. Heute jedoch durchfährt es sie wie ein wütender Donner und verankert sich in ihrem Bewusstsein, als wolle es sie strafen.
Seufzend dreht sie den Schlüssel und lässt ihn dann in ihren grauen Manteltaschen verschwinden. Der Himmel ist noch immer bewölkt, doch der Regen hat schon am Vormittag kehrt gemacht um in Richtung Hamburg weiterzuziehen. Sie fröstelt beim Anblick des grauen Himmels, der so verheißungsvoll über ihr schwebt.
Abwesend schwingt sie sich auf ihr altes, schon angerostetes Fahrrad und fährt die Hauptstraße stadteinwärts entlang, vorbei an Feinkostläden, Dessousgeschäften und Kosmetikinstituten. Am Theater biegt sie ab, entlang am Leibnizufer, die bunten Nanas von Niki de Saint Phalle und die Ihme lässt sie hinter sich.
Es dauert keine fünfzehn Minuten, dann ist sie in der Nordstadt angekommen.
Gerade als sie in eine kleine Seitenstraße einbiegen will, fällt ihr Blick auf einen verwahrlosten Mann, der auf der anderen Straßenseite direkt neben einem Supermarkt kauert und zu schlafen scheint. Armer Mann. Elisabeth durchfährt eine allzu bekannte Angst, in naher Zukunft ähnlich zu enden.
Was ist das bloß für eine Welt, in der sie trotz harter Arbeit nun vor den Scherben ihrer Eixistenz steht. All die Jahre Schufterei, und trotzdem weiß sie auch heute nicht wie lange sie überhaupt noch dazu in der Lage ist, die Miete für die Wohnung zu zahlen. Ganz davon abgesehen, dass die Kinder bald Geburtstag haben. Wird es für mehr reichen als bloß für einen Kuchen? Es ist irrsinnig. Vermutlich würde sie mehr Geld zur Verfügung haben wenn sie gar nicht arbeiten würde. Was für ein verkorkstes System... Tränen steigen ihr in die Augen.

Es ist nicht fair.


Wieder schaut sie kurz zu dem Mann hinüber, von dem sie nur die Konturen wahrnimmt. Sie trägt ihre Brille nicht und er ist zu weit entfernt um sein Gesicht zu erkennen. Was ihm wohl widerfahren ist? Durch einen wässrigen Schleier starrt sie auf die löchrige Decke, die der Mann um sich geschlungen hat. Das kräftige Blau, das es einst gewesen sein muss, scheint nur noch schwach unter dem dreckigen schwarz-grau hervor. Nach Fassung ringend berührt Elisabeth den goldenen Herzanhänger an ihrem Hals, in dessen Mitte ein Saphir funkelt. Ein Geschenk zum zehnten Hochzeitstag und der Eröffnung des Geschäfts. Blau, Manfreds Lieblingsfarbe.

»Mama!« tönt es über den Flur, als Elisabeth im dritten Stock die Wohnungstür aufschließt. Zwei völlig gleich aussehende Jungs stürmen auf sie zu und grinsen begeistert. Für einen Moment vergisst sie ihre Angst und kann nicht anders, als den beiden ein liebevolles und sorgenfreies Lächeln zu schenken und ihnen durch ihre strubbeligen braunen Haare zu wuscheln.
In der Küche wartet bereits Alexander, ihr Ältester. Ein Topf Spagetti steht auf dem Tisch und auf dem Gasherd köchelt eine Tomatensoße vor sich hin.
»Danke, mein Liebling«, flüstert Elisabeth und küsst ihren Sohn auf die Stirn.
»Du siehst mitgenommen aus«, flüstert Alex zurück und blickt ihr besorgt in die Augen.
»Es war ein anstrengender Tag.«

Nach dem späten Mittagessen sinkt Elisabeth erschöpft im Wohnzimmer auf das alte Sofa, das ihr gleichzeitig als Bett dient.
Die Wohnung erscheint ihr von Tag zu Tag kleiner. Die Zwillinge werden älter, bald wird jeder von ihnen ein eigenes Zimmer wollen. Und Alex, mit seinen dreiundzwanzig Jahren, sehnt sich sicherlich schon lange nach seinen eigenen vier Wänden. Sie darf gar nicht daran denken, auf was der Junge verzichtet, nur um seiner Familie willen.
Er war damals ihr Halt gewesen. Damals, vor zehn Jahren, als ihr Mann nach einem Streit die Familie verlassen hatte. Er war nie zurückgekehrt.
Die Zwillinge waren damals erst ein Jahr alt und die Probleme schienen übermächtig. Und obwohl Alexander erst dreizehn gewesen war, entpuppte er sich als ihre größte Stütze.
Er half im Geschäft, büßte seine Freizeit ein um auf die Kleinen aufzupassen und nahm mehr und mehr die Rolle des Mannes im Haus ein.
»Mama?«
Erschrocken fährt Elisabeth hoch, als Alexander sich neben sie sinken lässt.
»Ist was passiert im Laden?« Seine blauen Augen mustern sie bekümmert. Sie ähneln den Ihrigen so sehr, die einst ebenso strahlten und hell funkelten. In den letzten Jahren hat sich jedoch ein grauer Schleier der Betrübung darüber gelegt.
»Ach Alex…« Sie bricht ab, unsicher ob es richtig wäre ihm die Wahrheit zu sagen. Er sorgt und kümmert sich ohnehin zu sehr. Andererseits ist das Geschäft sein Erbe und er hat ein Recht darauf zu erfahren, dass sie es verlieren werden.

3. Abendständchen


Es dämmert. Die Lichter strahlen aus den Schaufenstern hinaus auf den Gehweg und beleuchten die Passanten in einem flauen gelb. Es ist kurz vor Ladenschluss und Aufruhr herrscht in der Innenstadt. Gedränge, schweiß ausdünstende Menschenschaaren und eine aufdringliche Geräuschkulisse erfüllen die Straßen und hallen als Echo weit über die Köpfe der hektischen Konsumenten hinüber.
Ein Ansammlung von verharrenden, möglichst gelangweilt aussehenden Menschen, hat sich in einem zwanzig Meter Radius von einer moosgrünen Standuhr angesiedelt. Von ihr aus strahlen seit mehr als hundertzwanzig Jahren die Menschen aus, treffen sich, schwatzen.
Nur ein paar Meter weiter, an der Treppe hinunter zur U-Bahn Station Kröpcke, steht ein junger Mann. Die braunen Haare fallen ihm leicht über die blauen, hervorstechenden Augen.
Er wirkt nachdenklich und fährt erschrocken herum, als zwei Männer ihn von hinten umgreifen und freundschaftlich in die Rippen boxen. Die Gruppe wirkt vertraut, das ernste Gesicht des jungen Mannes lockert sich auf und gibt ein Lächeln frei.

»Mensch Alex, Berlin ist echt der Wahnsinn!« Thomas grinst und nimmt noch einen großen Schluck von seinem Bier. »Du solltest auch kommen! Und die Mädels da…ich sag’s dir!«
Aufgeregtes Gelächter, so als wären sie immer noch sechzehn.
»Du weißt, dass ich das nicht machen kann.« Alex seufzt schwer. »Meine Mutter schafft das hier nicht alleine. Die Zwillinge…«
»Es ist dein Leben«, wirft Hendrik ein und runzelt die Stirn. »Du musst auch mal an dich denken.«
»Wenn ich das mache, steht Ma ganz alleine da. Gerade jetzt braucht sie mich.«
»Aber wenn ihr den Laden verliert – sorry wenn ich das jetzt so platt sage – ist das deine Chance endlich dein Ding durchzuziehen.«
»Danke für euer Mitgefühl.« Alex fährt sich durch die Haare und hebt seinen Blick zur gegenüberliegenden Wand, wo ein altes Gemälde einer Familie mit Schafen zu sehen ist.
»Ich kann das nicht machen«, hört er sich sagen, so als wäre er weit entfernt. Als stecke er in dem Gemälde. In der Idylle. Als beobachte er eine fremde Familie kurz vor deren Zusammenbruch.
»Ich werde die Miete auftreiben. Hab ja immer was zur Seite gelegt.«
»Ich dachte du sparst fürs Studium?« Thomas mustert ihn nachdenklich.
»Das wird eh nie klappen.« Mit festem Blick starrt Alex auf sein Bierglas. »Die nächsten Jahre braucht Ma mich noch. Vielleicht wenn die Zwillinge groß sind… bis dahin hab ich sicher wieder ne Menge gespart.«
»Dann bis du wie alt? Dreißig?« Henrik mustert seinen Freund aufgebracht. »Du hasst deinen Job. Verdammt, Alex, deine Mutter ist erwachsen und du kannst nicht dein halbes Leben aufgeben.«
Alex blickt auf. Klar hasst er seinen Job als Steuerberater. Und logisch wollte er schon immer mal was mit Film und Fotografie machen. Aber nach dem Abi musste es die Ausbildung sein. Er hätte weder seine Familie alleine lassen noch Geld investieren können. Geld verdienen war das Stichwort.
Und nun ist Thomas in Berlin, lebt seinen Traum: Visual- und Motiondesign. Und will ihm hier einen erzählen. Wo der seine Freundin verlassen hat um in Berlin mit irgendwelchen Disco-Miezen rumzumachen. Das Wort Egoismus hat „Verantwortung“ wohl aus seinem Wortschatz verdrängt.
»Ich muss los Jungs«, hört Alex sich sagen. Allerhöchste Zeit zu gehen.
»Dein Date, nehme ich an.« Hendrik und Thomas werfen sich einen Blick zu. »Bring sie doch nächstes Mal einfach mit.«
»Sie steht nicht so auf Menschenansammlungen.«

»Da bist du ja endlich« Im Türrahmen steht eine schlanke, fast dürre Blondine mit markanten Wangenknochen und einem sinnlichen Lächeln. Die vollen Lippen schimmern in hellem rot und ihre Haare fallen seidig auf ihr Schlüsselbein.
Sie greift seine Hand und zieht ihn in das Haus. Alex ist jedes Mal von neuem beeindruckt von dem hübschen Häuschen direkt am Stadtwald.
Es herrscht traumhafte Ruhe hier, anders als in der Nordstadt, wo von früh bis spät Krawallmacher unterwegs sind.
»Du siehst toll aus, Ju«, murmelt Alex beeindruckt und blickt an seiner Freundin herunter. Im Schein der schwachen Flurbeleuchtung mustert er ihr enganliegendes schwarzes Kleid und die schwarzen hohen Schühchen… etwas regt sich an ihm. Am liebsten würde er sofort über sie herfallen.
»Danke, Süßer« gurrt Ju. Ihre Augen blitzen verführerisch und jugendlich auf. Wie so oft kann Alex nicht glauben, dass sie schon Ende dreißig ist.
Während sie die Haustür hinter ihm schließt, berührt sie wie zufällig den Teil seiner Hose, der sich bereits lüstern nach ihr windet. Seine Augen flackern voller Begierde auf und er packt sie an der schmalen Taille um sie auf das Sofa zu drücken, dass nur wenige Meter entfernt in dem großen Wohnzimmer steht. Der Kamin brennt bereits einladend und die Hitze scheint plötzlich unerträglich.

Alex zwinkert benommen, der Schweiß rinnt ihm den Nacken hinunter. Endorphine durchströmen seinen Körper und er bedeckt Jus Gesicht mit sanften Küssen. Vergessen ist das Geld, seine Mutter, das Studium. Es gibt nur noch ihn und sie.
Er mustert ihr Gesicht. Mittlerweile ist eine Menge des Make-ups verschwunden, vom Lustschweiß davon getragen. Ihr Mund wirkt nicht mehr so voll und kleine Fältchen zeichnen sich rundherum ab.
Das Alter erobert mehr und mehr Zentimeter ihres Körpers für sich. Diese kleine Falte unterhalb des linken Auges war dort vor sieben Monaten zum Beispiel noch nicht. Vermutlich würde Ju das morgen sofort richten lassen wenn er seine Entdeckung mit ihr teilen würde. Er lächelt und berührt ihre Haut an der Stelle. Noch immer findet er Ju wunderschön.
»Also mein Hübscher…« Ju setzt sich auf und mustert Alex glücklich. »ich habe vielleicht eine Überraschung für dich!«
»Vielleicht?« Alex grinst. «Und was muss ich dafür tun?«
»Dein Studium beginnen!« Ju sieht ihn fest an, das Grün ihrer Augen fest mit dem Blau der seinigen verschmolzen.
Genau das Thema, das Alex heute nicht mehr anschneiden will.
»Das geht nicht. Mir fehlt das Geld, das weißt du doch.«
»Ich hab genug davon. Ich bezahl es dir.« Als sie Alex’ strafenden Blick einfängt seufzt Ju schwer. »Es ist dein Traum. Und du bist meiner. Ich will, dass du glücklich bist.«
»Ich hab dich, das genügt mir.« Er streichelt ihr liebevoll übers Haar und den Rücken.
»Du sollst aber mehr in deinem Leben haben als mich. Du hast solch ein Talent… das darfst du nicht verschenken.«
»Ju, es geht einfach nicht.« Ein wütendes Schnauben hallt seinen Worten nach.
»Aber ich hätte ein Studio für dich!« platzt es aus Ju raus, die Euphorie in ihrer Stimme erfüllt ihre ganze Aura. Die Vorfreude strömt ihr aus allen Poren.
»Du hast was?« Jetzt schon wieder belustigt beobachtet er ihre kindliche Freude.
»Ich habe eine Immobilie die bald frei wird. Ich hab sie gesehen und an dich gedacht. Sie gehört mir, verstehst du? Ich würde sie dir schenken – zum abgeschlossenen Studium. Du könntest gleich loslegen. Ich habe so viele Kontakte, du bräuchtest nicht einmal klein anfangen…«
Alex räuspert sich unsicher.
»Ich…«

Ja. Was?

Alex reibt sich verwirrt die Schläfe. Er kann nicht glauben, was Ju ihm gerade angeboten hat. Auf einen Schlag könnte sein Traum in Erfüllung gehen. Würde seine Mutter es ohne ihn schaffen? Bestünde nicht die Möglichkeit dass…

nein, natürlich nicht.

Und was, wenn sie sich in einem Jahr trennen würden – würde Ju mit einem Anwalt das Geld zurückfordern? So dass er schlimmer dastünde als jetzt?
»Das geht nicht, Ju. Das kann ich nicht annehmen. Und meine Familie…«
»Ja, die Zwillinge. Sie werden zwölf, oder nicht? Alex, sie können für sich selbst sorgen. Ist ja auch schließlich nicht so, als hätten sie keine Mutter.«
»Du kannst das nicht verstehen, Ju. Wir sind pleite, wir haben nur uns. In meiner Welt können wir nicht mit Geld um uns werfen.«
Alex schaut verärgert in die verständnislosen Augen seiner Freundin.
»Herrgott Ju, du brauchst mich nicht kaufen. Ich liebe dich auch ohne dein Geld, begreif das doch. Lass mich einfach mein Leben führen wie ich es für richtig halte.«
»Du verschenkst dein Leben, Alex«, murmelt Ju in sich zusammen gesunken und aus traurigen Augen blickend. »Ich könnte dir so viel ermöglichen…«
»Und ich kann meiner Familie viel ermöglichen. Zum Beispiel, dass meine Mutter nicht vor lauter Stress einen Herzinfarkt bekommt. Es ist mein Leben.«
»Süßer…« hört Alex eine belegte Stimme ihn rufen, doch er klaubt bereits seine Jeans und den Pullover vom Boden um zu gehen.
»Ich fahr nach Hause.«
Als er Jus flehenden Blick sieht, schlägt sein Herz wieder etwas ruhiger, die Wut rollt in kleinen Wellen ein Stück zurück. »Wir sehen uns Sonntag. Ich komm vorbei, und dann reden wir nicht mehr über das Studium.«
Ju nickt bekümmert. So hat sie sich diesen Abend nicht vorgestellt.
Ihre Versteinerung löst sich, und sie lischt das Feuer des Kamins in diesem noblen Einfamilienhaus, das seit mehr als sieben Monaten leer steht. Seit Beginn ihres Verhältnisses hat Ju auch kein Interesse daran, es wieder zu vermieten.

4. Mitternachtsballade


Die blauen und gelben Lichter fallen aus fünfzig Metern hinunter auf den Gehweg. Dabei streifen sie die beruhigte Straße und die dösenden Taxis.
Nur Hans ist noch unterwegs und schiebt seinen Einkaufswagen angestrengt und müde vor sich her. Eben hat er noch ein paar Meter weiter gelegen und geschlafen, als ein paar Jugendliche ihn aufgescheucht und vertrieben haben.
Er schlurft an dem alten Hochhaus vorbei, dessen goldverzierte, kaminrote Fassade in der Dunkelheit nur als Schatten ihrer selbst erkennbar ist. Nach oben hin wandert das Licht der Leuchtstoffröhren „A“, „N“, „Z“, „E“, „I“, „G“, „E“ und „R“ bis auf die grüne Dachkuppel.
Hansʼ Glieder schmerzen und er zieht sein linkes Bein mühselig nach. Es wehrt sich immer mehr gegen diese Wanderungen in der Nacht. Dazu kommen die schwachen Augen, mit denen er von Tag zu Tag weniger deutlich seine Umgebung erkennen kann. Langsam aber sicher verschwindet alles hinter einem undurchsichtigen Schleier, ohne das er etwas dagegen tun könnte.
Schnaufend hält er inne und verharrt für einen Moment im Licht des Hochhauses. Ein Schein stürzt auf das Hab und Gut in seinem Wagen – eine ehemals blaue Fleecedecke, ein zerschlissener grauer Schlafsack und eine Plastiktüte mit diversem Kleinkram; eine Flasche Saft, drei Dosen Bier und ein Sandwich aus dem Discounter.
Das graue Haar fällt ihm ins Gesicht. Er hebt seine Hand um sich die Strähnen zurückzustreichen. Dabei fällt sein Blick auf die dreckverkrustete Handinnenfläche. Etwas in ihm regt sich, es ist wieder dieses Gefühl, als würde er nicht hierhin gehören. Als würde er ein fremdes Leben führen.
Dieses Gefühl beschleicht ihn schon seit Jahren, neuerdings in immer kürzer werdenden Abständen. Zum ersten Mal hat er dieses seltsame Rumoren in seinem Geist nach dem Unfall vor zehn Jahren verspürt.
Er war damals offenbar in eine Schlägerei geraten, jedenfalls hatte er eine Wunde am Kopf und die Taubheit seines Beines davon getragen. Er erwachte in der Nähe des Hamburger Kiezes – ohne jegliche Erinnerung an sein bisheriges Leben. Sein Mantel war dreckig und seine Taschen waren leer – bis auf ein paar Essensmarken von der Bahnhofsmission.
Nach langem Hirnzermartern fiel ihm sein Name wieder ein - Hans Castorp. Als die Obdachlosen sich um ihn sammelten, wusste er, dass er einer von ihnen war.
Und so lebte Hans mehrere Jahre auf den Straßen von Hamburg – im Sommer war er gern an der Alster, kauerte auf einer der weniger zentralen Wiesen und verkroch sich im Winter in den hintersten Ecken von überdachten Kaufhauseingängen.
Doch in Hamburg war es immer gefährlicher geworden. Die Aggressivität wuchs, sowohl unter den „rechtschaffenden“ Bürgern als auch unter ihres gleichen. Reviere wurden markiert, die Schwächeren mussten von Dannen ziehen. Hans hatte das alles mit großer Beängstigung verfolgt. Wenn sie sich gegenseitig nicht mehr halfen, wer würde es dann überhaupt noch tun?
Mit zwei Freunden war er dann schließlich vor einem Jahr nach Hannover gekommen. Hier ist es besser, noch jedenfalls, wenngleich auch nicht viel.
Ihm fliegen die gleichen missbilligenden Blicke zu, die gleiche Wut bohrt sich in seine Augen, Ekel und Abscheu hüllen sich unentwegt um ihn.
Aber – so schwer man es glauben mag – hier fühlt er sich heimisch.
Etwas belebt sein kraftloses Herz wieder, wenn er durch die Stadtteile geht. Der Nebel vor seinen Augen lichtet sich etwas und gibt den Blick auf seltsam vertraute Orte frei. Vielleicht ist er ja sogar schon einmal hier gewesen, vor seinem Gedächtnisverlust.

5. Frühe Sonate


Vor sieben Monaten hat Juditha von Rhoden Alex kennengelernt. Auf einer Ausstellung. Sofort fühlten sich beide zueinander hingezogen. Es gab kein verkrampftes Fachsimpeln, keine peinliche Frage nach der Uhrzeit. Wie alte Freunde standen sie nebeneinander und warfen sich tiefe Blicke zu, gefolgt von kehligen Worten und beiderseitigem Verlangen, das sie mehr und mehr zueinander trieb.
Seitdem ist Juditha für Alex Ju Harms – ihr Mädchenname.
Die Ehe mit Sebastian ist nun schon lange am Ende. Die ersten Jahre verliefen noch glücklich, all der Luxus und Reichtum blendeten Judithas Blick. Das Wesentliche trat in den Hintergrund.
Und dann entfernte ihr Mann sich immer mehr, wurde kühl und ließ sich nur noch selten Blicken. Und so wurde auch Juditha kühl.
Dann sind da noch die Kinder, Konstantin und Laura, neun und elf Jahre alt. Eigentlich weiß Juditha bis heute nicht, was sie sich dabei gedacht hat. Sie hasst Kinder seit…eigentlich schon immer. Es war also vorauszusehen, dass sie früher oder später auch eine Abneigung gegen ihre eigenen entwickeln würde. All der Lärm, der Schmutz, die kleinen Gesichter, die dem des Vaters so ähnlich sehen… das ist mehr als sie ertragen kann.
Gott sei‘s gedankt, dass sie mit Theresa einen Weg gefunden hat, den Kontakt zu den Beiden so gering wie möglich zu halten.

Natürlich liebt sie die beiden. Es sind ja ihre Kinder.

Aber die Abneigung ist einfach größer.

Judithas Blick schweift in die Ferne der Nacht, deren Lichter sich aufgrund der hohen Geschwindigkeit ihres Audis wie im Zeitraffer aneinanderreihen. Ein Seufzer entfährt ihrem ausdruckslosen Gesicht – dann pressen sich die mit Kollagen gefüllten Lippen um die Marlboro Light zwischen ihren Fingern.
Vor einer Stunde noch waren diese Lippen innig mit denen eines anderen verschmolzen.

Alex.

Judithas Augen flackern glücklich auf. Bei ihm kann sie ihren stählernen Mantel ablegen, die Augen schließen und sich den Gedanken einer glücklichen Frau hingeben. Sie braucht ihn.
Zum hundertsten Mal überkommt sie die Angst, er würde sich von ihr abwenden, sich eine Jüngere suchen – in seinem Alter. Was kann sie ihm schon geben, außer dem Geld, das er ablehnt?
Bisher ist alles käuflich gewesen –

jeder

ist käuflich gewesen. Und ausgerechnet der, der ihr das Wertvollste seit langem ist, will unverkäuflich bleiben.
Tränenverschleierte Augen nehmen ihr die Sicht und die Verzweiflung in ihr drückt das Gaspedal hinunter, als wäre ihr Fuß aus Stein.
Es geht so schnell, dass Juditha nicht einmal mehr Schreien kann.

Epilog – Morgenburleske


Gähnend reckt sich die Stadt, streckt ihre Glieder in alle Himmelsrichtungen aus und kratzt sich im Nacken. Die Sonne kitzelt sie aufmüpfig unter der Nase und ein donnerndes Niesen hallt über die Straßen.
Blinzelnd fliegt ihr Blick über die Plätze, Gassen und Schienen. Das Quietschen von Straßenbahnbremsen und das Trippeln von eleganten Stiefeln dringen an ihr Ohr, langsam steigt der Geruch von Abgasen wieder in die jungfräuliche Morgenluft. Ein neuer Tag. Stolz blickt die Stadt auf sich selbst herab und lächelt zufrieden.



Elisabeth, Alex und die Zwillinge sitzen noch am Frühstückstisch. Es ist ein warmer Tag heute, die Sonne steht schon fast gänzlich frei zwischen den Wolken.
Der kleine Fernseher in der Küche läuft. Er zeigt den Regionalsender mit den Nachrichten des Tages, ein allmorgendlicher Ritus von Elisabeth.
Während die Zwillinge gierig ihre Cornflakes in sich hinein schaufeln, sieht Alex nachdenklich auf die laute Straße vor seinem Fenster. Irgendetwas stimmt mit ihm nicht, das merkt Elisabeth. Aber was? Vielleicht sollte sie…
Der Nachrichtensprecher reißt sie aus ihren Gedanken.

"In der Innenstadt von Hannover ereignete sich in der vergangenen Nacht ein Verkehrsunfall, bei dem eine 37jährige Frau und ein nach Schätzungen 60-jähriger Obdachloser getötet wurden. Zeugenaussagen zu Folge raste die Fahrerin ungebremst mit 120km/h auf den, sich noch auf dem Gehweg befindlichen, Mann zu. Noch immer konnte der Mann nicht eindeutig identifiziert werden. Offenbar war er unter den Obdachlosen als „Hans Castorp“ bekannt. Hinweise auf die Identität des Mannes nimmt die städtische Polizeidienststelle entgegen. Und nun zu etwas Erfreulicherem, das Wetter…"


Hans Castorp. Elisabeth wird warm ums Herz. Der Held aus Thomas Manns Zauberberg, dem Lieblingsbuch ihres Mannes, welches er im Grunde besser auswendig kannte als seine eigene Biografie.


4. Platz: „Zauber der Großstadt“ von murkele



Für Gaby, die mir vor über einem Jahrzehnt eine Anekdote erzählt hat. Dies ist die Geschichte dazu...

Leonies Kopf schmerzte. Sie hatte die Augen geschlossen und versuchte, den bohrenden Schmerz hinter ihrer Stirn zu ignorieren. Tief durchatmen und bequem liegen. Doch ein unangenehmer Geruch umwehte sie und sie lag auf etwas Hartem und konnte ihre Beine nicht richtig ausstrecken, weil sie dauernd gegen ein Hindernis stieß. Seufzend drehte sie sich auf die Seite und öffnete die Augen.
Kleine, gerötete Augen funkelten sie bösartig an, zitternde Schnurrhaare und spitze Zähne. Es dauerte einen Moment, weil ihr träges Hirn von den Schmerzen abgelenkt war, doch dann kam jäh die Erkenntnis: Leonie lag Auge in Auge mit einer Ratte! Mit einem Aufschrei sprang sie auf, ihr Kopf dröhnte ob dieser zu schnellen Bewegung und Wellen von Übelkeit marterten ihren Magen. Schwindel ließ sie taumeln, auf einem seltsam unebenen Untergrund stolperte sie, fiel vornüber und hart auf die Knie. Sie wollte sich abstützen, den Sturz abfangen, bevor sie womöglich mit dem Kopf aufschlug, doch ihre Hände berührten etwas Weiches, Schleimiges, und sie zog sie angeekelt wieder fort, versuchte durch eine seitliche Bewegung irgendwie den Halt zurück zu gewinnen. Dann rutschte etwas unter ihr weg und sie verlor endgültig das Gleichgewicht. Ihre Schläfe schlug gegen etwas Unnachgiebiges, und obwohl der Aufprall nicht allzu heftig war, tanzten feurige Kreise vor ihren Augen, die sich rasch mit Tränen füllten. Ein heißes Schwert schnitt durch ihren Kopf, sie keuchte, da nicht ausreichend Luft für einen Schrei da war – und es wurde dunkel.

Als Leonie erneut die Augen öffnete, war der Schmerz nur mehr ein dumpfes, rhythmisches Pochen. Dieses Mal war sie klüger, setzte sich mit sparsamen Bewegungen beinahe wie in Zeitlupe auf und atmete dabei betont gleichmäßig. Erst als sie, an eine Mauer gestützt, aufrecht stand, sah sie sich um.
Eine schmale Gasse zwischen zwei fensterlosen Mauern, die sich über ihr in der Dunkelheit verloren. Eine schmale Eisentür, über der eine schwache Lampe nur die unmittelbare Umgebung aus den Schatten der Nacht hervorhob. Links neben der Tür ein Abfallhaufen, kaputte Holzkisten, mehrere Abfallsäcke, die teilweise aufgeplatzt waren und ihr übel riechendes, unansehnliches Innere frei gaben. Leonie wollte lieber nicht wissen, was genau da aus den Säcken quoll, aber warum sie in genau diesem Abfallhaufen gelegen hatte, das wüsste sie schon gerne. Sie versuchte, sich das Geschehen des heutigen Abends in Erinnerung zu rufen, allein das Klopfen in ihrem Kopf machte es unmöglich sich zu konzentrieren. Da war einfach nur ein schwarzes Loch in ihrem Gedächtnis.
Vorsichtig tastete Leonie sich an der Wand entlang, hin zu der einzigen Lichtquelle, Schritt für Schritt, kontrollierte Fortbewegung, bedächtig, um die Pein im Schädel klein zu halten. An der Tür angelangt atmete sie ein paar Mal tief durch. Erträglich. Also weiter. Sie probierte, die Tür zu öffnen, und natürlich war sie verschlossen. Und auf ihr Klopfen kam keine Reaktion. Nichts anderes hatte sie erwartet, obwohl - da war so eine leise Hoffnung gewesen…
Leonie schloss die Augen, sie fühlte sich ausgelaugt, zerschlagen, erschöpft wie nach einem Marathon, doch noch immer weigerte sich ihr Gehirn, Informationen zum vergangenen Abend preiszugeben. Frustriert schüttelte sie den Kopf und bereute es im selben Augenblick, weil der Schmerz wieder aufflammte. Sie stöhnte, ballte die Hände zu Fäusten, die Fingernägel tief ins Fleisch gegraben, Gegenschmerz, biss sich auf die Unterlippe, wollte ihre Verzweiflung und ihre Qual in die Nacht hinausschreien und atmete stattdessen gleichmäßig ein und aus, ein und aus, ein und… Ihr Blick begann zu wandern, über ihr grünes Kleid – ihr Lieblingskleid - zerrissen und schmutzig, ihre Beine, zerkratzt, blutig, verdreckt, und ihre bloßen Füße. Warum hatte sie keine Schuhe an? Das Kleid war aus Seide und sprach dafür, dass sie heute Abend ausgehen wollte. Oder ausgegangen war. Und das ganz sicher nicht barfuß sondern auf jeden Fall in hochhackigen Pumps oder Sandaletten. Wo also waren diese Schuhe? Und warum hatte sie diese ausgezogen?
Leonie mochte grübeln, soviel sie wollte, sie kam nicht einen Schritt weiter und war mittlerweile so frustriert, dass sie am liebsten ihr momentan kein bisschen weises Haupt mehrmals vor die Wand geschlagen hätte, um so ihr streikendes Erinnerungsvermögen wieder in Gang zu bringen, so von wegen ’leichte Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen’. Da ihr der Kopf allerdings schon weh genug tat, sah sie von dieser Möglichkeit ab und beschloss, anderweitig vorwärts zu kommen. Da sich das eine Ende der Gasse hinter dem Abfallhaufen in bedrohlicher Finsternis verlor, wählte Leonie die andere Richtung, wo sie Licht sah und eine Straße vermutete. Vielleicht würde sie dann erkennen, wo sie war.

„Herrje, du meine Güte, wie sehen Sie denn aus?“ Eine Frau um die Fünfzig eilte bestürzt auf sie zu. Leonie blinzelte. Vages Erkennen blitzte hinter dem immer noch quälenden Kopfschmerz auf und sie ließ sich widerstandslos in die Arme schließen. Silvia irgendwas, dachte sie nur und seufzte dankbar.
„Liebes Kind, was ist Ihnen nur geschehen?“ Die Frau legte einen Arm um Leonies Schulter, schob die andere Hand unter ihr Kinn und zwang sie so, den Kopf zu heben. Ihr Blick war intensiv, voller Besorgnis.
Leonie lächelte müde. „Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht erinnern.“
„Mein Gott, Sie sehen furchtbar aus. Kommen Sie, mein Mann ist noch im Restaurant. Dort können Sie ausruhen und die Polizei rufen.“ Sanft aber bestimmt drängte Silvia sie in eine Seitenstraße, und Leonie ließ sich bereitwillig führen, denn inzwischen wusste sie, wohin es ging.

Die ersten zwei Wochen Großstadt, fern von ihrem Heimatdorf, begeistert in ihrem neuen Job und beständig mit ihrem Kulturschock kämpfend, war eine einsame Leonie glücklich, das „Zauber der Großstadt“ entdeckt zu haben. Ein kleines Restaurant, abseits gelegen in einer Seitenstraße, außen unscheinbar, innen anheimelnd und familiär, mit vorzüglichem Essen und moderaten Preisen. Leonie kam bald regelmäßig zu Silvia und Robert Weckner, den Inhabern des „Zaubers“. Es gab so einige immer wiederkehrende, vertraute Gesichter, und das Alleinsein war nicht mehr so bedrückend. Im Gegenteil, sie machte sich immer schick, zelebrierte ihr Essengehen als etwas Besonderes, hier traf sie Menschen mit gleichen Interessen und wer weiß, vielleicht war ja irgendwann auch der Eine dabei… Außerdem waren die Fleischspezialitäten wirklich delikat.
Eines Tages sah Leonie, wie Robert einen der Stammgäste am Tisch überschwänglich begrüßte und diesen dann mit in seine Küche nahm. In diesem Augenblick verspürte sie einen Anflug von Neid, sie wollte auch dazu gehören, den Ort sehen, an dem so herrlich gekocht wurde, sich vielleicht ein paar Tricks abgucken, denn ihre eigene Kochkunst reichte gerade mal für Tütensuppen, Dosenessen und Pasta mit Ketchup, obwohl sie den Zeitpunkt, an dem die Nudeln noch al dente waren, grundsätzlich verpasste. Und nichts mochte sie weniger als weich gekochte Nudeln.
Also fragte sie Silvia danach, doch diese lächelte nur milde und meinte: „Tut mir Leid, nur ganz besondere Gäste haben dieses Privileg. Robert entscheidet das immer spontan, ich kann da gar nichts versprechen.“
Die Antwort wurmte Leonie mehr als sie zugeben mochte. Noch nicht einmal den an diesem Tage Auserwählten konnte sie dazu befragen, denn er war bereits gegangen, vermutlich als ihr Essen aufgetragen wurde oder während sie auf der Toilette war. Jedenfalls war er weg und Leonie schmollte. Und kam von da an mindestens fünfmal die Woche zum Essen ins „Zauber der Großstadt“.

„Das ist ja wirklich eine ganz üble Geschichte.“ Silvia streichelte mitfühlend Leonies Arm. „Wir müssen sofort die Polizei rufen. Dass Sie sich aber auch an gar nichts erinnern können.“ Kopfschüttelnd sah sie ihren Mann an, der mit verschränkten Armen an der Theke lehnte.
„Stimmt“, brummte er, „Sie sehen wirklich übel aus. Am besten rufen wir auch noch einen Krankenwagen.“
„Langsam geht’s wieder.“ Leonie lächelte dankbar und trank den letzten Schluck von dem mindestens vierfachen Whisky, den Silvia ihr als erstes in die zitternden Hände gedrückt hatte. Pur. Ohne Eis. Wohlige Wärme breitete sich in ihrem Inneren aus, der Kopfschmerz klopfte nur noch leicht, ihr Gehirn war wie in Watte gepackt und ihre Erschöpfung war angenehmer Müdigkeit gewichen.
Und mit einemmal sagte Robert die so lang ersehnten Worte: „Während Silvia die Polizei ruft, dürfen Sie meine Küche anschauen. Sie haben es sich so sehr gewünscht und mussten heute so Schlimmes erleben – ich möchte Sie dadurch wenigsten ein bisschen trösten.“ Er nahm ihre Hand und führte sie aus dem Gastraum, während Silvia zum Telefon hinter der Theke ging.

Er führte sie einen kurzen Gang entlang, ans Ziel ihrer Träume. Von nun an gehörte sie dazu, quasi zur Familie. Die Küchentür stand offen, das Licht brannte, der Duft der heutigen Essen lag noch in der Luft und ihr Herz schlug freudig. Die Küche war aufgeräumt und blitzblank, und Leonie sah sich irritiert um. Es war eine gewöhnliche Küche, da war nichts Besonderes, nichts Zauberhaftes, jedenfalls nichts, dass – sie kannte diesen Raum, ein Déjà-vu, aus ihren Träumen?, nicht so sauber, aufgeräumt, sondern voller Töpfe, Pfannen, Schüsseln, da waren Kochschwaden, Geräusche, ein Brutzeln, Brodeln… Leonie blinzelte verwirrt. Sie war hier gewesen, heute Abend, Robert war schon einmal mit ihr den Gang entlang gegangen, sie war so glücklich gewesen, voller Vorfreude. Und dann?
„Du weißt es wieder, hm?“ Roberts Stimme ließ sie zusammen zucken, sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er stand lässig neben einer schmalen Stahltür und sah Leonie amüsiert an. „Ich sehe es dir an, dass deine Erinnerung zurückkommt. Oder wieder da ist. Stimmt’s?“ Mit einem Ruck riss er die Tür auf.
Leonie schrie erschrocken auf und sah in den engen Raum hinter der Tür. Sah den kaputten Stuhl, der irgendwann während ihres Kampfes mit den Fesseln unter ihr zusammengebrochen war, so dass sie sich befreien konnte. Sah das kleine zerbrochene Fenster, durch das sie sich mühevoll gehangelt hatte, ohne Schuhe und ohne die unzähligen Schnitte zu beachten, die sie sich wegen der Scherben im Fensterrahmen zugezogen hatte. Sah ihre Schuhe unter dem Fenster und ihr Blut auf dem Boden. Und sie sah Robert, früher am Abend, wie er auf die Tür zeigte und sagte: „Und hier drin ist mein Geheimnis, die wichtigste Zutat für meine Fleischspezialitäten.“ Sah sich selber neugierig näher treten – und den Fleischhammer auf ihren Kopf nieder krachen.
„Wir haben vorhin erst entdeckt, dass du weg warst.“ Robert klang freundlich wie immer und sie fröstelte. „Silvia ist gleich los, wollte dich suchen. Und hat dich ja zum Glück auch sofort gefunden.“
„Die Polizei…“ flüsterte Leonie heiser.
„…wird nie kommen“, hauchte Silvia ihr ins Ohr. Sie war unbemerkt hinter sie getreten und legte ihr die Hände schwer auf beide Schultern. „Und wir haben für heute wirklich genug Zeit vertrödelt, Robert und ich wollen schließlich auch mal schlafen. Wusstest du eigentlich, dass Ersticken das Fleisch besonders zart macht?“

„’Zauber der Großstadt’“, murmelte Tim halblaut, „hört sich gut an.“ Er studierte die aushängende Speisekarte und nickte anerkennend. Er wohnte erst seit einem Monat in der Stadt, arbeitete viel und hatte noch keine Bekanntschaften geschlossen. Um einem einsamen Mahl in einer leeren Wohnung zu entgehen, flüchtete er nach draußen, auf der Suche nach einem Lokal, das sowohl seinem Alleinsein als auch seinem Geldbeutel entgegen kam. Dieses hier schien genau das zu sein, was er suchte. Kurz entschlossen öffnete er die Tür und wurde von köstlichen Aromen empfangen. ‚Wenn es nur halb so gut schmeckt, wie es riecht, werde ich Stammgast’, dachte er noch. Dann schloss sich die Tür hinter Tim.


5. Platz: „Das letzte bisschen Freiheit“ von René Kallinger (jinkx1981)



Vor meinen Augen formieren sich Gedankenfetzen. Bruchstücke meiner Vergangenheit werden zu einem bunten Wirbel aus Gesichtern und Gelächter. Ich kann Wörter hören, die sich leise und langsam zu Sätzen verbinden, bis sie endlich Sinn ergeben.
Eine Erinnerung aus alten Zeiten hat sich in meinem Kopf gelöst und rollt, einer Lottokugel gleich, die Synapsen meines Gehirns entlang, bis vor meinen geschlossen Augen ein Film abzulaufen beginnt, der eine Szene aus meinem Leben zeigt.
Ich kann meine Freunde sehen. Auch meine Familie ist hier. Wir lachen. Es ist die Szene einer Feier. Ich kann mich nur dunkel daran erinnern – es ist zu lange her.
Wir spielen ein Spiel. Das kann ich sehen. Es dämmert mir allmählich. Eine Geburtstagsfeier. Meine Geburtstagsfeier. Ein Assoziationsspiel. Die fand ich immer schon dämlich. Die Frage lautet: „Was heißt Freiheit für dich?“ Zehn Sekunden um zu antworten, dann ist der Nächste an der Reihe. Der Erste, dem nichts mehr einfällt, ist raus.
„Mit der Harley über die Route 66.“ Herbert hat geantwortet. Die Antwort passt zu ihm. Ein sehr stämmiger Biker und ein Paradebeispiel dieser Zunft. Tätowierungen am ganzen Körper, buschiger Bart, Sonnenbrille, Lederkluft und ein dickes Motorrad vor der Türe. Man könnte Angst vor ihm haben, wüsste man nichts von seinem großen Herzen. Nicht umsonst nennt Silvia ihn mein großer Teddybär

.
„Auf einem weißen Pferd einen menschenleeren Strand entlang reiten“, macht Silvia weiter. Mir tut das Pferd leid. Silvia sieht Herbert nämlich sehr ähnlich. Nur der Bart fehlt ihr – noch.
„Dann sag ich: Mit dem Ferrari 456M GT auf der leeren Autobahn. 442 PS, 5.474 cm³, Spitzengeschwindigkeit 302 km/h. Ein Traum.“ Mein Bruder war schon immer ein Träumer.
„Eine Weltumsegelung. Nur das Meer, mein Schiff und ich.“ Seine Freundin Gudrun ebenfalls. Ich kenne sie nicht gut. Sie sind schon lange zusammen, aber ich sehe die beiden nicht häufig. Trotzdem muss sie wohl eine Träumerin sein, wenn sie es so lange mit ihm aushält.
„Ich denke, die absolute Freiheit findet man nur unter dem Meer. Am Great Barrier Reef zu tauchen muss unglaublich sein. Was denkst du?“
Die Frage geht an mich. Ich lächle meiner Freundin zu, nehme sie in den Arm, küsse sie, doch ich antworte nicht. Ich weiß von ihrem Traum mit mir nach Australien zu fliegen, aber ich kann mir Schöneres vorstellen, als nach ein paar Fischen zu tauchen.
Heute würde ich alles dafür tun, tauchen gehen zu können. Überhaupt gehen zu können. Etwas anderes tun zu können, als hier zu liegen – bewegungslos, aber nicht bewusstlos, wie alle denken.
Nein, bewusstlos bin ich nicht. Ich höre sie sehr wohl ins Zimmer kommen, an meinem Bett sitzen, mit mir sprechen. Ich höre sie auch weinen – vor allem meine Mutter und meine Marie. Sie sind beide sehr oft hier. Ebenso mein Vater. Er weint nie, aber spricht sehr viel. Das ist mehr, als er getan hat, als ich noch die Möglichkeit gehabt habe, zu antworten.
Heute habe ich diese Möglichkeit nicht mehr. Ich kann noch nicht einmal meine Augen öffnen, obwohl ich es gerne tun würde. Wie gerne würde ich sie alle ansehen, die hierher kommen, um mich zu sehen, die meine Hand halten, mir Geschichten vorlesen und mir erzählen, was ich alles verpasst habe, in der Zeit, die ich hier nun schon liege.
Doch mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Wenn ich versuche, meinen Mund zu öffnen, um zu sprechen, fühlt es sich an, als wäre er mir zugeklebt worden. Meine Arme und Beine fühlen sich an wie Blei. Selbst mein Ringfinger wiegt eine Tonne, von meinen Augenlidern ganz zu schweigen.
Ich möchte gerne aufspringen, möchte sie gerne umarmen, wie ich es früher getan habe, doch es geht nicht. Wie es kommt, dass ich hier liege, weiß ich nicht mehr. Mein Gedächtnis ist ebenso träge wie meine Gliedmaßen. Nur ein schwarzer Fleck ist noch dort, wo diese Erinnerung sein sollte.
Ich fühle mich wie im Gefängnis. Wenn jemand an mein Bett tritt, höre ich das Geklapper des Eisengestells und der Gitterstäbe, die es jetzt umgeben, um zu verhindern, dass ich falle. Dass ich längst schon tiefer gefallen bin, als sie es sich auch nur im Entferntesten vorstellen können, wissen meine Besucher nicht. Woher sollten sie auch?
Meine Gedanken sind jedoch frei. Sie helfen mir dabei, hier auszubrechen, tragen mich fort aus meinem Körper und hin zu all den Orten, an denen ich war. In meiner Erinnerung gehe ich noch einmal den Broadway entlang. Starte am Lichtermeer des Times Square und folge den Straßen der schönsten Stadt dieser Welt. Ich schlendere durch die Parks und Gärten Londons, besuche noch einmal die gigantischen Seen in Schottland, spaziere noch einmal durch die Wälder meiner Heimat und erklimme deren Berge und Gebirge.
Meine Gedanken und Erinnerungen machen dies möglich. Sie sind meine Eintrittskarte hinaus aus diesem Körper, diesem Zimmer, hinaus aus diesem Haus, dieser Stadt.
Und meine Phantasie trägt mich noch weiter. Trägt mich fort von den Orten der Erinnerung, der Vergangenheit, hin zu den Plätzen und Städten, die ich schon immer einmal sehen wollte, wie etwa an den Nil und in die Metropolen an den Ufern des Tiber, der Seine und der Donau. Ich schwimme mit Delphinen im Meer und tauche plötzlich doch noch mit Fischen am Großen Riff in Australien.
Wenn Marie doch nur bei mir sein könnte. Doch das schafft selbst die Vorstellungskraft nicht, sie zu mir zu bringen. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann nicht die Wärme ihrer Haut spüren, kann nicht ihren Mund schmecken, wenn sie mich küsst. Es bleibt alles ein Trugbild, das noch schmerzlicher ist, als die Realität. Eine Realität, die mich sogar jetzt immer wieder einholt.
Selbst der vermeintliche Schlaf beschützt mich nicht vor ihr, denn zu oft bin ich wach und fühle. Dann spüre ich sie kommen und nicht nur die, die ich bei mir haben möchte. Ich höre dann ihre Stimmen, höre sie sprechen, kann jedoch nicht immer alles verstehen. Viele Worte, die sie gebrauchen, habe ich noch nie zuvor gehört oder vielleicht habe ich sie auch vergessen. Sie sagen mir nie, was mit mir geschehen ist, sprechen nie mit

mir, sondern stets nur über

mich – miteinander über mich. Keine dieser fremden Stimmen hat sich jemals bei mir vorgestellt, doch sie entscheiden über mein Schicksal. Entscheiden darüber, ob ich lebe oder sterbe. Das habe ich in der Zwischenzeit verstanden.
Es hat lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, was hier gespielt wird, doch jetzt weiß ich, wo ich bin, weiß, wer die sind, die ich nicht kenne und die dennoch über mich befinden. Sie sind meine Wärter. Meine Wächter hier in meiner klappernden Zelle. Sie fragen nicht, was ich möchte, fragen mich nicht, was ich brauche, sondern entscheiden darüber selbst. Sie sprechen über Katheter, Infusionen, Daten und Werte. Sie waschen mich mit feuchten, rauen Tüchern, die kratzen auf der Haut. Ich spüre sie überall. An jeder Stelle meines Körpers. Ich spüre auch ein Stück Stoff um meine Lenden, das man mir abnimmt und wieder anlegt. Ich kann nur erahnen, was es ist und ich schäme mich dafür. Schäme mich dafür, auf sie angewiesen zu sein, schäme mich dafür, dass sie mich überall berühren. Doch diese Scham zeigt mein Körper nicht und ihnen ist es gleich. Sie sind meine Wächter. Sie sorgen für mich und dennoch kümmere ich sie nicht.
Ich liege nackt auf dem Rücken. Die Stimmen sind dicht neben mir. Wieder kommen die feuchten, rauen Tücher zum Einsatz, bevor man mein Bein anhebt und es mir gegen meinen Brustkorb drückt. Ich frage mich, wie sie es schaffen, mein Bein anzuheben? Wie können sie dieses massige, dieses tonnenschwere Ungetüm bloß stemmen, wenn es mir noch nicht einmal gelingen will, einen Zeh zu heben? Ich kann es nicht verstehen. Ich bemühe mich, rackere mich ab, kämpfe, um endlich ein Auge auftun zu können und scheitere. Für sie ist selbst ein Bein kein Hindernis.
Die Gestalt, die mich anhebt, riecht nach Rauch und Straßenstaub. Darunter mischt sich der Gestank von süßlichem Parfüm. Ich versuche es zu ignorieren, doch der Geruch der Stadt, der an ihrem Körper haftet, wie heißer Teer, lässt sich nicht aussperren aus meinem Kopf.
Bilder werden wach und überfluten mich. Es überrascht mich, dass es nicht nur schlechte sind. Ich sehe mich durch meine Stadt gehen. Die Stadt, die draußen vor den Fenstern meines Gefängnisses liegt: groß und grau, einem laut schnarchenden Riesen gleich. Die Straßen seine Venen und Adern und die Menschen seine Blutkörperchen. Sein Körper übersät von Pickeln, Beulen und Muttermalen, die wir Häuser und Gebäude nennen.
Früher fühlte ich mich oft eingesperrt, wenn ich dort draußen war, fühlte mich verschluckt von dem Riesen, darauf wartend, dass seine Magensäfte mit meiner Verdauung beginnen.
Heute ist alles anderes. Mein Bild von der Stadt wandelt sich hier in meinem wahren, meinem letzten Gefängnis. Ich kann das Gelächter der Menschen hören, wie sie miteinander plaudern in den Cafés und Gastgärten. Ich sehe sie liegen in den Parks und Schwimmbädern, höre sie in den Theatern und Opern applaudieren und buhen, kann die Kostproben schmecken, die auf den Märkten verteilt werden. Ich gäbe alles dafür, wieder ein Teil dieses riesigen Organismus zu sein.
Doch diese Zeit ist vorbei. Ich wurde ausrangiert, aus dem Verkehr gezogen. Ich bin zu schwach, um einer der ihren zu sein. Für Schwache und Kranke hatte diese Kreatur noch nie eine Schwäche, das wird mir jetzt klar. So klar, dass ich weinen möchte, auch wenn ich nicht kann. Meine Freiheit ist Vergangenheit, mein Leben vorbei. Wahre Freiheit bringt mir jetzt nur noch der Tod. Es ist grausam, so zu denken, sagt eine Stimme in meinem Kopf, doch tatsächlich ist er alles, was bleibt.




6. Platz: „Ein Kaschmirschal“ von Katia Wunderlin (wunder)



Für meine Schwiegermutter Elisabeth, die mich ermunterte diese Geschichte einzusenden.



Er hätte warten sollen, bis der Sturm vorbei war. Oder umkehren, als die ersten Windböen seinen Filzhut wegfegten und den Regenschirm in ein Spielzeug verwandelten. Doch Michael Gander tat es nicht. Er verliess sein Büro wie jeden Tag um 18 Uhr, obwohl über Zürich ein Jahrhundertsturm angekündigt war. Michael Gander konnte nicht anders. Es war wie eine Sucht. Oder eine Krankheit. Immer das Gleiche zu gleicher Zeit tun, ja nicht vom gewohnten Ablauf abweichen.

Seine Rolex zeigte 18.05 Uhr, als er die Haltestelle Wagner erreichte. Der Bus musste gleich da sein. Aus schwarzen Wolken fiel endlos Schneeregen, der Himmel verdunkelte sich zusehends. Der eiskalte Wind zupfte immer wilder an seinem Mantel, drang durch jede noch so kleine Öffnung. Michael hasste Regen und er hasste Kälte. Doch den Wind hasste er mehr als Regen und Kälte zusammen. Den unberechenbaren, alles durchdringenden Wind. Er zog seinen Kaschmirschal enger um den Hals, wartete, fröstelte.

Auf einmal wurde es gespenstisch still - der Wind machte eine Atempause. Michael spähte angestrengt durch den Regenvorhang. Was war bloss mit dem Bus los? Ein eigenartiges Wimmern kam von irgendwo. Ganz aus der Nähe. Er schaute sich erschrocken um. Weit und breit keine Menschenseele. Er steckte seinen Kopf in den Schneeregen, warf einen Blick hinter die Plexiglaswand. Nichts. Merkwürdig, er hätte schwören können, etwas gehört zu haben. Zwischen dem Gehsteig und der Fahrbahn floss bereits ein reissender Bach. Kein Wunder, es regnete ja seit Tagen. Die Vorboten des Orkans rüttelten schon heftig an
den Fensterläden und Verkehrsschildern.

Wäre er nur im Büro geblieben. Michael zweifelte, dass der Bus überhaupt noch kommen wird. Er warf einen Blick in Richtung seines Büros. Vielleicht könnte er wieder zurückgehen. Zu spät. Gegenstände flogen wild umher, von den Bäumen, die den Gehsteig säumten, brachen immer wieder gefährlich Äste ab. Er zog sich in die hinterste Ecke des halbwegs sicheren Glashäuschens zurück.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, erschien ein kleines, haariges Wesen am Strassenrand. Es musste über den Randstein geklettert sein. Michaels Atem stockte, er bekam Gänsehaut. Ein Kätzchen, kaum zwanzig Zentimeter lang, wackelte zielstrebig, mit weit aufgerissenem Maul, auf ihn zu, das spitzige Schwänzchen gekrümmt wie ein Skorpion. Das nasse Fell klebte an seinem Körper, war voll Schlamm. Der Kopf wirkte übergross. Ein kleines Monster. Und es schrie ununterbrochen, aufdringlich, wehleidig.

Michael konnte mit Tieren nichts anfangen. Als Kind durfte er nie eins haben, seine Mutter fand alle Tiere widerlich und unrein. Mit der Zeit empfand er das Gleiche und machte einen grossen Bogen um alle haarigen Tiere. Nur Fische konnte er leiden, so kühl und glatt wie sie waren. Fische brauchten auch nicht gestreichelt zu werden. Nur einmal in seinem Leben hatte sich Michael überwinden können, einen Hund zu streicheln. Noch Stunden danach rochen seine Hände wie Dünger und fühlten sich schrecklich klebrig an.

Hilfesuchend sah er sich um, doch ausser ihm und dem kleinen Schreihals war niemand da. Aus der Ferne nahte endlich der Bus. Der Busfahrer weiss vielleicht Rat.

Mit quietschenden Bremsen fuhr der Bus in die Haltestelle ein. Das Monsterchen machte einen Buckel, sprang mit allen Vieren hoch und fiel über den Randstein, direkt vor den Reifen des Busses. Blitzartig, aus einem Reflex heraus, beugte sich Michael und hob es im letzten Moment auf. Das eiskalte Ding zappelte wie wild in seiner Hand. Er wickelte es rasch in seinen Kaschmirschal ein - so blieb wenigstens der teure Mantel sauber. Dann nahm er seine Aktentasche, der Regenschirm war weggefegt worden, und stieg in den Bus.

„Tschuldigung, habe Sie fast übersehen" sagte der Fahrer auf dessen Namenschild Carlo Zappa stand. "Ich dachte nicht, dass noch jemand bei diesem Wetter draussen ist.“ Dann bemerkte er den Winzling in Michaels Schal. "Jesses, das arme Ding!“

Das „arme Ding“ streckte seinen Riesenkopf gegen Zappa und schrie ihn aus voller Kehle an.

„Wohl aus einem Balkon gefallen", sagte der Fahrer. "Der ist noch zu klein, um draussen zu sein, ist kaum fünf Monate alt.“

„Woher wissen sie das?“

„Sehen Sie die spitzigen Zähnchen?“ Es war nicht schwer, sie zu sehen, der kleine Schreihals hatte das Maul die ganze Zeit offen. „Das sind Milchzähne“, fuhr Zappa fort. „Der Zahnwechsel bei einer Katze ist erst im sechsten Lebensmonat abgeschlossen.“

„Was soll ich mit ihm machen?“, fragte Michael schwer beeindruckt durch das Wissen des Fahrers. „Wollen Sie es haben?“

„Oh, nein, das wäre unmöglich!“ Zappa schüttelte energisch den Kopf und winkte mit beiden Händen ab. „Ich habe einen alten, sehr eigenwilligen Kater zuhause. Der schlägt sogar Hunde in die Flucht. Eine zweite Katze würde er nie dulden!“

Michael setzte sich auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Das kleine Ding im Kaschmirschal zappelte noch eine Weile auf seinem Schoss und dann wurde es still. Sehr still. Ob es tot war? Er wagte nicht unter dem Schal zu sehen. Welcher Teufel hatte ihn da wohl geritten, das schreckliche Ding mitzunehmen? Vielleicht war es sogar krank. Ein Virus oder sonst was. Und er hatte es mit blosser Hand angefasst. Sein Magen zog sich zusammen. Tonnenschwer lag die winzige Fracht auf seinem Schoss. Er wird das Kätzchen an der Bushaltestelle liegenlassen, entschloss er sich. Sobald er ausgestiegen ist. Soll sich jemand anderes um ihn kümmern. Es war wahrscheinlich sowieso schon tot.

„Sie sollten morgen das städtische Tierheim anrufen, falls jemand das arme Ding sucht“, sagte Zappa, als sich Michael von ihm verabschiedete.

Mit seiner unerwünschten Fracht in der Hand schaute Michael den Lichtern des Busses nach. Mit voller Wucht fegte nun der Orkan über menschenleere Strassen. Fast horizontal peitschte der Schneeregen auf die beschlagenen Scheiben des Unterstandes. Mit zaghaftem Treten und Wimmern meldete sich das Kätzchen wieder. Rasch, ohne nachzudenken, legte Michael den Kaschmirschal samt Inhalt auf die blaue Metallbank, hob seinen Kragen hoch und eilte davon, ohne sich umzusehen.

Jede Faser von Michaels Körper sehnte sich nach Wärme und trockener Kleidung. Seine Zehen schwammen schon in den durchnässten Stiefeln. Er lief immer schneller. Doch der Anblick des wimmernden Häufchens auf der Bank lief hartnäckig mit. Wie ein Schild hing er vor seinen Augen. Bald wird jemand den Schal entdecken, redete er sich ein. Es ist ein Kaschmirschal. Jemand wird das Kätzchen nach Hause nehmen, in die Wärme. Der rote Schall fällt auf.

Doch eigentlich wusste er, dass niemand kommen wird, bis der Orkan vorbei war. Vielleicht sogar die ganze Nacht nicht. Wer geht schon bei diesem Wetter nach draussen? Ausser ihm natürlich. Doch er wollte keine Katze in seinem Haus. Sie lassen überall Haare und beobachten einen andauernd. Er war gerne alleine, brauchte niemanden. Weder Mensch noch Tier.

Inzwischen durchquerte er die Regensdorferstrasse und bog in den Brühlweg ein. Er war bis auf die Knochen durchnässt und zitterte am ganzen Körper. Wie lang kann eine Katze in der Kälte aushalten, fragte er sich. Wahrscheinlich lang, wenn sie nicht nass ist. Der Wind hatte den Schal sicher schon weggefegt. Das arme Ding lag entblösst auf der Bank, gepeitscht von diesem schrecklichen Wind.

In einem Schaufenster sah er sein gespiegeltes Bild. Ein gepflegter Herr in teurem Kamelhaarmantel, mit einer Tausendfranken Aktentasche in der Hand. Hängende Schultern. Gebeugter Gang. Freudlos. Verbissen. Ein trostloser Anblick. Doch es bräuchte so wenig, um sich gut zu fühlen - einen kleinen Schritt über den eigenen Schatten.

Er drehte sich um. Rannte zurück. Immer schneller. Das Kätzchen könnte die Nacht im Badezimmer verbringen, es ist grösser als eine Studentenbude. Ohne Teppich. Einfach zu reinigen.

Der Kaschmirschal lag immer noch an der gleichen Stelle, vollkommen durchnässt. Der übergrosse Kopf ragte heraus. Schaute ihn mit seinen verklebten Augen an. Es war ein eigenartiger Blick. Die kleine Katze wusste, dass er zurückkommen wird, war sich Michael sicher. Sie schrie nicht mehr, sah ihn einfach an.

„Komm her, du armes Ding“, sagte er, hob das zitternde kleine Wesen hoch, öffnete seinen Mantel und presste es an die Brust. Den roten Kaschmirschal stopfte er in den überfüllten Abfallkorb.

„Doch bilde dir ja nichts ein!“, brummte er, und nahm die Regendorferstrasse nochmals unter die Füsse. „Morgen schon bring‘ ich dich ins Tierheim.“

Noch wusste Michael Gander nicht, dass er unter seinem Mantel einen als Katze getarnten General nach Hause trug. Einen General, der schon bald über die Dächer von Zürich herrschen und über sein Leben bestimmen wird.


7. Platz : „Der Weg nach Hause“ von Tanja Wittrien (jareen)



So maybe tomorrow, I'll find my way home
-Stereophonics-



Jede Nacht nahm Fae diesen Weg. Von der Arbeit, die keiner machen wollte, in das Zuhause, das keines mehr war.
Aber heute nicht.
Die Dunkelheit tat immer noch weh.
Wenn er jetzt hier wäre, dann liefe er rechts neben ihr am Bordstein entlang. Das Tagesgeschehen auf den Lippen, die Müdigkeit im Blick, aber immer bedacht sie ihr nicht zu zeigen.
- Ich vermisse dich manchmal.
- Du vermisst mich immer.
- Tut mir leid.
- Ist schon gut.
Aber da war keine tröstende Hand, keine Wärme um leere Kälte zu vertreiben.
Nur ein dumpfes Klopfen, ein nebliges Geräusch aus einer anderen Welt.
Der Wind schlich zwischen den viel zu großen Häusern umher und trug halbherzig den niesligen Regen. Nur dazu war er noch in der Lage. Keine Drachen, keine Papierflieger. Nur der Regen, der sowieso irgendwie nach unten musste.
Eigentlich müsste er schon längst Schnee sein.
Alles war irgendwie falsch.
Heute ging sie nicht nach Hause.
Die Spätschicht im Diner war ermüdend wie immer gewesen. Drei Gäste in fünf Stunden und trotzdem hielt Karl daran fest, den Laden jeden Tag bis drei zu öffnen.
„Die Leute kommen vom Feiern, danach hat man Hunger. Sobald sich herum spricht, dass wir auf haben werden die uns die Bude einrennen.“
Aber niemand rannte. Seit drei Monaten ging das nun schon so und die Kundschaft blieb weiterhin aus. Jeden Abend füllte sie die Salz- und Pfefferstreuer auf, wischte Tische und Theke ab und fing dann wieder von vorne an, weil einfach nichts zu tun war.
Und 'Nichts' war genau das, was sie jetzt nicht brauchte.
In 'Nichts' war zu viel Platz. Leerer Raum drängt danach gefüllt zu werden und Erinnerungen sind das beste Füllmaterial.
Sie pochen an die Tür bis man den Krach nicht mehr erträgt und ihnen öffnet.
Die kaputte Jukebox bereitet ihnen einen Empfang mit rotem Teppich.
Nur wenn Lucy da war, dann ging es etwas besser.
Sie redete viel. Von ihren Kindern, ihrem Mann und ihrem Hund.
Krischi, Leo, Franz und Milo.
Die Zeit kurz danach war schlimm gewesen. Man konnte Lucy ansehen, dass sie nicht wusste worüber sie sprechen sollte.
Dabei flehte Fae sie innerlich an etwas zu sagen. Irgendwas. Damit es nicht so still war.
Und der Tag an dem die unangenehme Ruhe verschwand war so schön. So laut.
Triviales und Nebensächliches. Lustiges und Langweiliges.
Solange das im Kopf war, konnte nichts anderes rein.
Geschlossene Gesellschaft.
Heute hatte Lucy von Leos Kindergartenfest erzählt. Es gab eine Zirkusshow in der sich die Kinder als Löwen und Clowns verkleidet haben, einen Stand an dem man Dosen werfen konnte und ein Waffelwettessen.
„Leo hat ganz knapp verloren, weißt du. Dieses dicke Müllers-Kind hat gewonnen. Kein Wunder, wenn man so im Training ist. Pah, der Preis war ein Bastel Set. Mit Pappe und Schere und so. Ein Bastel Set! Wir bezahlen uns jeden Monat dumm und dämlich für den Laden und alles was die als Preis springen lassen ist ein Bastel Set!“
Lucy war nicht der netteste Mensch. Sie hatte Vorurteile, war aufbrausend und hielt auch sonst mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg.
Ob sie nun angebracht war oder nicht.
„Und die Löwenvorstellung. Du glaubst es nicht. Leo wollte doch unbedingt Dompteur sein. Hat sich extra dafür gemeldet. Und wer wird’s? Dieser Ali oder Murat oder wie der heißt. Der kleine Türkenjunge von dem ich dir erzählt hab. Von wegen, er hat sich zuerst gemeldet und Leo sei doch der perfekte Name für einen Löwen. Für die Quote war das. Damit mehr von den...anderen Kaffemärkchen kaufen.“
Aber Lucy hatte nichts gegen Ausländer. Das beteuerte sie so oft man es hören wollte. Oder so oft sie

es hören wollte.
„Fae Schätzchen, du musst auch mal wieder vor die Tür gehen.“
„Auf ein Kindergartenfest?“
„Da waren auch ein paar nette, allein erziehende Väter.“
„Das kann ich...es ist...ich bin noch nicht so weit.“
„Ach Herzchen, sechs Monate sind eine lange Zeit.“
- Mir kam es vor wie eine Sekunde. Gerade noch unterhielten wir uns und dann war da dieser ohrenbetäubende Knall.
- Es ging ganz schnell.
„Selbstmitleid hat noch keinem weiter geholfen.“
Lucy war kein netter Mensch.
Und manchmal versuchte sie noch nicht einmal so zu tun.
Aber ihre Worte füllten den Raum und das war gut.
Faes Kopf hämmerte. Die Kontaktlinsen mussten unbedingt raus.
Und dann immer dieses klopfende Geräusch.
Karl war anders als Lucy.
Karl war ein netter Mensch, der viel zu oft versuchte so zu tun als wäre er keiner.
Abgesehen von den menschenfeindlichen Öffnungszeiten war er ein guter Chef.
Er war auf der Beerdigung.
Lucy nicht.
Dort hatte die Stille Heimrecht.
Aber nach Hause ging sie nicht.
Heute war er lange im Diner geblieben. Normalerweise überließ er Fae den Laden gegen neun und machte sich dann mit dem alten weißen Pick-up auf den Heimweg. Aber heute hatte er eine Ewigkeit über der Abrechnung des Vortages gesessen.
Vielleicht, weil er diesmal auf den Bus angewiesen war.
Gestern noch der Versuch, mit der kaputten Leiter im Lager die Glühbirne zu wechseln und heute mit verstauchtem Knöchel für den Leichtsinn bestraft.
„Irgendwie stimmen die Zahlen heut nicht. Wie viele Tagesangebote hatten wir gestern?“
„Karl, ich bin immer erst ab acht hier.“
„Ah...stimmt...dann...Moment. Ach doch, jetzt stimmt's.“
Aber es stimmte nicht. Stundenlang stimmte es nicht und er saß da, während das raschelnde Papier als angenehme Geräuschkulisse den Raum erfüllte.
„Kaffee?“
„Was? Oh ja, danke, Fae.“
„Wieso machst du das mit den Zahlen nicht einfach zu Hause?“
„Ach, ich will die Arbeit irgendwie hier lassen. Zu Hause ist zu Hause und das soll auch so bleiben.“
„Nirgends ist es so schön wie zu Hause.“
„Der Zauberer von Oz.“
„Ich bin beeindruckt.“
„Auch Restaurantbesitzer können lesen...oder zumindest eine DVD einlegen.“
Sie lächelte auf dem Weg über die schwach beleuchtete Straße. Da waren diese kleinen Momente in denen er sie zum Lachen brachte.
Heute nicht mehr so oft wie damals.
Aber manchmal.
Der Zauberer von Oz

war Faes Lieblingsbuch.
Schon als Kind hatte sie sich mit ihrer Schwester den Film angesehen.
Danach hatten sie ihre Mutter wochenlang wegen rubinroter Zauberschuhe angefleht und weil sie keine bekamen, nannten sie sie heimlich 'die böse Hexe des Westens'.
Die Idee mit dem Wassereimer verwarfen sie aber schnell wieder.
Den Hausarrest war es nicht wert.
Aber nach Hause ging sie nicht.
Die Müdigkeit machte die Nacht langsam schwummrig.
Zu lange war sie schon auf den Beinen.
Dabei hasste sie die langen Tage.
Lange Tage brauchten zu lange bis sie vorbei waren.
Schon in der Früh hatte ihre Mutter angerufen und gefragt ob Fae sie zum Einkaufen fahren könnte.
Der Wagen war mal wieder kaputt.
Aus solchen Fahrten wurden dann Marathonläufe vom einen Laden zum anderen. Von der Post, zum Friseur, in den Supermarkt.
Anstrengend war's, aber dafür mit Mama.
Es gab nur noch wenige Menschen, die sie gerne so lang um sich ertrug.
Nach einem gemeinsamen Abendessen dann direkt zur Arbeit.
Ein Nachmittag, der gar nicht existierte.
Das dumpfe Pochen wurde lauter und rhythmischer.
Aber es war nicht ihr Kopf.
Irgendwer war hinter ihr.
Irgendwer verfolgte sie.
Wo war sie?
Das Klopfen waren Schritte und sie waren so nah, dass sie jetzt das Knirschen des nassen Bodens unter den Schuhen des Verfolgers hören konnte.
Was macht man in solchen Situationen nochmal?
Wie bin ich hier hin gekommen?
War das Panik?
Was?
Laufen!
Das macht man in solchen Situationen.
Das!
Also lief sie.
So schnell sie konnte, so weit sie konnte.
Eine Zuflucht, Schutz, Zuhause.
Die Räume waren nicht dasselbe ohne ihn.
So voll und doch so leer und keine Lucy, die sie füllte.
- Ich will nach Hause.
- Dann lauf!
- Aber du bist nicht mehr da.
- Du sprichst doch mit mir. Wie kann ich dann nicht da sein?
- Ich führe Selbstgespräche. Du bist nicht echt.
- Woher weißt du das?
- Weil du sonst schon längst zu mir zurück gekommen wärst!
Sie lief und die Lunge stach, während ihr Tränen an den Wangen hinunter liefen.
Aber die Gegend war ihr fremd und sie wusste nicht wohin.
Ihre Füße schmerzten und sie war zu langsam.
Gleich würde er sie eingeholt haben.
Gleich war es zu spät.
Aber vielleicht wollte sie das ja.
Dem Elend ein Ende.
Dem Herz seine Ruh'.
Die letzte Ecke noch.
Die Ecke noch, sonst bliebe sie einfach stehen.
„Fae!“
- Ich kann jetzt nicht mit dir reden.
- Ich bin das nicht.
„Fae! Warte!“
Woher kannte er ihren Namen?
Da hatte aber jemand seine Hausaufgaben gemacht.
So viel Mühe sollte belohnt werden.
Und sie blieb stehen, atmete tief ein und drehte sich um.
„Es...tut...mir so leid. Ich...wollte dich nicht...erschrecken.“
Karl blickte sie entschuldigend an, während er mühsam versuchte wieder zu Atem zu kommen.
„Ich hab gedacht du willst mich überfallen.“
„Oh, oh das tut mir wirklich so leid. Aber du hast deine Schlüssel vergessen. Ich hab gerufen, aber du hast mich nicht gehört. Und schneller rennen konnte ich leider nicht.“
Mit einem Mal fühlte sie sich schlecht.
Karl war ihr mit seinem lädierten Fuß mindestens 2 Kilometer hinterher gelaufen und zu guter Letzt war sie die letzten Meter aus lauter Angst gerannt.
Mir

tut es leid. Ich war so in Gedanken versunken und als ich dann deine Schritte hörte, hab ich Panik gekriegt.“
„Jetzt hab ich dich ja eingeholt. Ich wollte nicht, dass du vor verschlossener Tür stehst.
Um die Uhrzeit will man ja schließlich nur nach Hause. Aber wieso bist du so einen Umweg gegangen?“
„Ach, ich...ich wollte...Umweg?“
„Ja, du hättest doch schon vor zehn Minuten hier sein können.“
Hier?
Und dann sah sie es.
Sie blickte um die letzte Ecke und stand in ihrer Straße.
Die andere Seite zwar, ein Weg, den sie vorher anscheinend noch nie genommen hatte.
Aber die gleiche Straße.
„Verlaufen, hm? Nächstes Mal folgst du einfach dem gelben Ziegelsteinweg.“
Er grinste.
Sie lächelte ihn an.
„Danke, Karl. Das war wirklich sehr nett.“
Stolz auf seine gute Tat und wahrscheinlich froh, dass sie endlich stehen geblieben war, wandte er sich um, um zu gehen.
Karl war ein netter Mensch.
„Na dann, gute Nacht kleine Fae. Wir sehen uns morgen.“
„Soll ich dir nicht lieber ein Taxi rufen?“
„Nicht nötig, ich nehm den Bus.“

Als sie den Hausflur betrat war es still.
Alle schliefen noch und damit das auch so blieb, schlich sie so leise wie möglich die Treppe hinauf.
Im zweiten Stock angekommen, ging das kurzlebige Flurlicht allerdings aus und sie musste sich den restlichen Weg zur Tür ertasten. Der Schalter auf ihrer Etage war schon lange kaputt.
Sie tat einen Schritt nach vorn und trat gegen etwas Hartes, das umkippte und zu Boden fiel.
„Verdammt!“
Nach drei Versuchen im Dunkeln das Schlüsselloch zu treffen, gelang es ihr schließlich und als sie das Licht in ihrer Wohnung anschaltete, konnte sie erkennen was dort so unpraktisch im Weg gelegen hatte.
Ein Päckchen mit einer Notiz.
Hab ich für sie angenommen.-Helga Schwarz


Fae hob das Päckchen auf und setzte sich damit auf ihr Bett. Es war schlicht in braunes Packpapier gewickelt und mit einem Umschlag versehen.
Darin war nur ein kleiner Zettel mit einer Notiz.
Hey Max!
Hier ist deine Bestellung. Sorry, hat was länger gedauert.
Hoff sie gefallen ihr.
Frank.


Eine Träne lief ihr über die Wange und färbte das Packpapier dunkel.
Dann holte sie tief Luft und öffnete das Paket.
Und was sie darin fand, waren rubinrote Schuhe.


8. Platz: „Gratwanderer“ von Otto Frey (ottofrey)



Wie lange ich schon hier bin, weiß ich nicht. Man kann hier nicht richtig zählen.
Die Dinge sind nicht so unterschiedlich.
Ich glaube, hier gibt es auch keine richtigen Tage. Trotzdem ist vieles sehr schön.
Aber nichts wirft einen Schatten.
Man weiß auch nie, wann das Neue beginnt, denn das Alte vergeht nicht.
Früher war alles ganz genau. Man konnte sagen, das ist das und nichts anderes. Oder man sagte, das schmeckt so und dann war es auch so.
Aber das ist schon lange her.

Seit ich hier bin, verbringe ich viel Zeit mit den anderen. Sie sind sehr nett und haben sich gefreut mich kennenzulernen.
Meistens bin ich mit einem Mädchen zusammen. Sie hat mich am Anfang getröstet, als alles noch neu war.
Ihre Haut ist schön wie Perlmutt, und ihre Stimme ist die eines Engels.

Wir sind oft in den weichen Zimmern. Man hat dort herrliche Träume.
Manche dauern ewig.
Wir betreten sie manchmal gemeinsam: Die Luft wird tiefblau, uns begegnen schöne Geschöpfe und der helle Boden unter unseren Füßen wird zu sattem duftenden Gras.

Einmal erlebte ich die Geburt eines Nephalims, ein seltenes Wesen, das nur wenigen jemals begegnet. Er entstieg direkt vor mir dem Boden, breitete seine schwarzen Flügel aus und sah mich an. Dann berührte er leicht meine Wange.
Tiefe Trauer durchfuhr mich und meine Tränen nahmen beinahe kein Ende.
Durch seine Augen blickte ich bis auf den Grund der Welt. Überall strahlender Glanz.
Aber alles vergeblich.

Ich sah gigantische Sprites weit draußen in den dünnen Schichten des Äthers. Wir entzündeten sie selbst, diese Chimären aus grellbuntem, gleißenden Licht.
Es sind die Wunderkerzen der Kinder, ein elektrischer Puls nur und ein Gruß an die Welt.

Wir senden die Lichter zu deinem Gedenken.
Damit du zurückdenkst an jenen Ort, als dich die Zeit noch umschloß wie ein Meer.
Als die Kindheit noch vor dir lag, ohne Atem, Gedanken und ohne Licht.

Wir besuchen Ufer und Quellen und zweifeln doch, ob wir besuchen, da wir von nirgends kommen. Und kehren wir um zu den andern, zerfließen die Quellen ins Nirgends, da wir von nirgendwo umkehrn.

Manchmal reise ich zu ersten Orten der Erinnerung, lege mich in frisch gemachte kühle Betten und höre an warmen Abenden dem Gezwitscher der Vögel zu.

Doch die Orte der Kindheit sind blaß und die Abende schal.

Vor langer Zeit hatte ich, wenn meine Berechnung stimmt, genau wie du eine Mutter.
Ich weiß nicht, warum ich nicht mehr bei ihr bin. Meine Erinnerung verschwimmt mir.
Ach ja, ich hatte damals wohl noch einen winzigen Kopf.

Meine Mutter verlangte, ich solle wach bleiben und nicht einschlafen, aber ich war so müde und konnte die Augen kaum aufhalten und mir war schlecht.
,, Wieviele Tabletten hast du gegessen? ", fragte sie immer wieder.
Aber mein Mund war zum Antworten zu trocken und der Rotz klebte die Zunge fest.
Meine Mutter blickte aufgeregt umher.

Mein Vater schrie sie an:,, Hast du die Wespen rumliegen lassen?
Meine Mutter sagte, sie habe sie weggelegt. Das sei sicher. Doch dann kamen ihr wohl Zweifel.

Natürlich hatte sie sie weggelegt.
Ganz oben rechts in den Spiegelschrank. Hinter das Haarfärbemittel.
Wieviele Tabletten ich genommen hatte? Vier, glaub ich .

Vesperax war Mamas Elexier.
Ich hatte es vor ein paar Monaten zum ersten Mal probiert. Man brauchte nur ein bisschen und nach 20 Minuten federte es beim Gehen in den Beinen.
Dann durchströmte es angenehm warm den ganzen Körper.

Ich habs auch genommen, als ich in der Woche zuvor montags in die neue Klasse kam.
- Wegen des Umzugs.
Ob etwas gelingt, das entscheidet sich an Montagen.
Alle in der neuen Klasse waren sehr stilvoll. Die Jungen ganz besonders.
Einige haben sich über meine grüne Jacke lustig gemacht. Unpassend fanden sie die.
Besser vorsichtig sein.
Grün wird nicht gemocht.
Und alle lächelten ständig. Ich kann nicht so lächeln, oder besser gesagt, nicht so oft und auch nicht an den gewünschten Stellen.

Ein paar Tage nach meinem vierzehnten Geburtstag waren meine Eltern abends außer Haus.
Ich hatte Lust auf ein bisschen Kitzel und so drückte ich mir vier Tabletten aus der Packung. Dann zerteilte ich jede und schluckte die Stückchen einzeln mit Cola. - Um sie besser hinunterzukriegen !
Alles ist nämlich eine Frage der Organisation.
Die Wirkung kam geballt: - Eine Flut warmer Daunen, die jede Stelle meines Körpers streichelte.

Irgendwann hörte ich dann die Stimmen meiner Eltern.

Mein Vater trug mich in unser Auto und zusammen fuhren wir dann los zur Klinik.
Es war kalt und der Scheibenwischer des Autos wusch immer nur kurz die vielen grellen Lichter klar, die dann verschwommen seitlich an uns vorbeirasten.
Meine Mutter sagte:,, Nun fahr doch, er ist so weiß". Dazu kratzte der Scheibenwischer, dass es bei jedem Winker in den Ohren piekste.
Mein Vater war ganz still.
Er hatte es vielleicht nicht gehört.

Plötzlich knallte es laut und wir wurden alle kurz nach vorn und dann wieder nach hinten geschleudert.
Mein Vater rannte aus unserem Auto nach hinten. Überall um uns herum waren helle, bunte Lichter und Geräusche, die mit dem Regen an der Scheibe herunterliefen.
Dann hupten die Autos so laut, dass es mir als Schmerz in den Kopf stach.
Die Stimme meines Vaters hinter uns brüllte.
Auch andere Stimmen waren hinter unserem Auto. Eine Frau und ein Mann schimpften und dann weinte die Frau.
Mein Vater stieg wieder zu uns in den Wagen und fuhr weiter. Seine Hände bluteten.
Meine Mutter war jetzt auch still.
Im Auto wurde es langsam warm und der Regen auf dem Autodach machte ein beruhigendes Geräusch. Alle Tropfen an den Scheiben zerplatzten und man konnte einen kurzen Moment durch sie hindurch die dunklen Menschen vor den hellen bunten Schaufenstern klar erkennen.
Es sah schön und feierlich aus.
Die Tropfen zerliefen dann schnell und wurden zu vielen winzigen Bächen, die keiner jemals zählen kann.
Und über allem hüllte das Brummen des Motors die ganze Stadt in Watte.
Ich bekam Lust als irgend jemandes Sohn eine Mutter oder einen Vater ungeduldig von Schaufenstern wegzuziehen, um ein Haus weiter erneut vor unbekannter Pracht stehenzubleiben.

Die Ebene des Bürgersteigs wurde nun zu den Schaufenstern hin schief und die Auslagengucker mussten an Glas und Mauern halt suchen, um sich aneinander an den großen prächtigen Scheiben vorbeizudrücken.
War das nicht anstrengend?
,,Wir sind gleich da", sagte mein Vater.
Das Auto stoppte an der Ampel und ich sah, wie sich draußen ein dunkel gekleideter Mann zu uns drehte.
Winkte er mir?
Ein kleines Mädchen begleitete ihn.
Er hatte sie ganz leicht an der Hand.
Dann kam sie tänzelnd auf mich zu und hielt ihr Gesicht ganz dicht an die Scheibe.
Ich glaube sie lächelte.
Im zerfetzten gelben Licht der Ampel sah ich sie deutlich: Es war ein Totengesicht, das mich durch die Scheibe hindurch ansah.
Ich schrie und zeigte auf das Kind.
Doch meine Mutter weinte nur und mein Vater sagte: ,,Junge ich sehe nichts".
Der Wagen fuhr an und die Häuserwände auf beiden Seiten der Straße wuchsen hoch, da die Straße nach unten führte.
Dann bogen sich die Häuser über den ganzen Himmel.

An einem tief gelegenen hellen Hauseingang hielt mein Vater.
Dort legten sie mich auf das Rollbett und schoben mich immer steiler nach unten in einen engen Raum.
Hier standen große Leute in grüner Kleidung.
Sie schimpften mit mir und sagten, ich solle wach bleiben, wenn ich ein guter Junge sein will.
Ich hab es auch ganz ehrlich versucht, aber es ging fast nicht.
Dann waren sie doch noch nett zu mir. Ich bekam einen Schlauch in den Hals und zwei in den Arm.

Irgendwann schrieen alle laut und haben mich geschüttelt.
Mein Kopf wurde schlagartig riesengroß und wuchs ins Unermessliche.
Seitdem kann ich hingehen, wohin ich will.
Nur meine Eltern hab ich nicht mehr gesehen.
Vielleicht leben sie jetzt woanders und haben einen neuen Jungen.
Dabei hatte ich sie so lieb.


9. Platz: „Utopolis“ von Bea Boehrs (bea.boehrs)



über den Untergang des Maximilian K.



Maximilian K. hatte schon immer gewusst, dass er es eines Tages bis nach Utopolis schaffen wollte.
Bereits als Kind hatte er geträumt von jenem so verheißungsvollen Ort, wo sich die Wolkenkratzer in den Himmel reckten und die bunten Schaufenster die Nacht in helles Licht tauchten. Dort, wo so viele Träume wahr geworden waren, wollte auch er sein altes Leben hinter sich lassen und ein neues beginnen. Ein Leben voller Erfolg, Ansehen und Karriere, wie er es in dem Dorf in seiner Heimat niemals hätte erreichen können. Ein Leben, wie er es sich stets vorgestellt und gewünscht hatte – und das schließlich an einem regnerischen Nachmittag im Frühjahr begann.

Als Max’ Zug nach der langen Fahrt endlich in die gläsernen Hallen des Bahnhofs hinein glitt, hingen draußen graue Wolken über der Stadt. Wahrscheinlich tobte ein Sturm, doch in Utopolis, das erkannte er gleich, schienen solche Dinge ihre Bedeutung zu verlieren. Hier deckten mächtige Glasgänge die Boulevards ab und trotzten glänzende Stahlgebäude dem Wind, hatte der Mensch sich die Natur zum Untertan gemacht.
Seinen Koffer in der Hand, stieg Max aus dem Zug und tauchte ein in das wohltuende Gedränge. Hunderte von Menschen waren nun um ihn herum; vor ihm, hinter ihm, neben ihm und wahrscheinlich auch unter ihm, in den Schächten der U-Bahn. Er genoss diesen Moment und atmete tief ein, inhalierte den Geruch von Parfüm, Kunststoff, Aftershave. Den Geruch von Erfolg.
Max schaute umher, ließ das Stimmengewirr und die Lautsprecherdurchsagen auf sich wirken, dann lief er weiter, zum Terminal der S-Bahn. Auch hier herrschte ein angenehmes Menschengewirr, und kaum dass er angekommen war, fuhr schon eine Bahn ein und er konnte hineinschlüpfen. Einen Sitzplatz fand er nicht, aber das machte ihm nichts aus. Es war schließlich nicht weit bis zu seinem Appartement. Hier in Utopolis war alles schnell zu erreichen. Das wollten nur die Leute zuhause in seinem Dorf nicht wahrhaben.
Geh nicht dorthin, die Stadt wird dich verderben, hatten sie gesagt. Dort ist es dreckig und kriminell. Dort wirst du niemals glücklich werden.
Max schmunzelte.
Sie würden noch sehen, wer von ihnen recht behalten sollte.

Seine Wohnung lag in der zwanzigsten Etage eines Hochhauses, hoch über einer der Einkaufsstraßen. Wenn er durch sein Schlafzimmerfenster nach unten blickte, konnte er auf die Menschen hinabblicken, die über die Straßen liefen – und wenn er seinen Blick weiter schweifen ließ, dann sah er die anderen Hochhäuser, die noch höheren, die an diesem Tag tatsächlich bis in die Wolken reichten.
Es war ein Blick, für den er viel bezahlte, doch das machte ihm nichts aus. Morgen hatte er ein Vorstellungsgespräch, und übermorgen saß er dann wahrscheinlich schon in einem der Gebäude, die er nun anschaute. Er, Maximilian K., der Topanwalt von morgen.

Früh am nächsten Mittag betrat Max den Sitz der Kanzlei. Es war ein großes, ein prunkvolles Gebäude, mit glänzenden Marmorboden, einem riesigen Atrium und gläsernen Fahrstühlen. Genau das Richtige für ihn.
Mit selbstsicheren Schritten hielt Max auf einen der Lifte zu, stieg ein und drückte den Knopf für das 38. Stockwerk. Ein Summen ertönte, dazu gab es einen kaum spürbaren Ruck, und bereits wenige Sekunden später schoben sich die Türen wieder auseinander und gaben den Blick frei auf einen Korridor, der vollkommen weiß war. Weiße Fliesen, weiße Wände, weiße Türen – bis auf eine jedenfalls, denn ganz am Ende, wie ein Tor zu einer anderen Welt, befand sich eine Tür ganz in Chrom.
Das Büro von Dr. Robert Braun, dem Leiter der Kanzlei. Anwalt seit über dreißig Jahren, kein einziger verlorener Fall, eine absolute Legende hier in Utopolis.
Max würde alles geben, um ihm zu zeigen, dass er das Zeug hatte, genauso groß zu werden wie er.
Seine Bewerbungsmappe unter den Arm geklemmt, die Schultern fest durchgedrückt, ging er auf die Tür zu. Kaum dass er vor ihr stand, schwang sie wie von Geisterhand auf. Max schritt in den Raum hinein – und verharrte überrascht.
Er befand sich nicht etwa im Büro von Robert Braun, sondern in einem Wartezimmer voller Leute. Frauen und Männer saßen auf Stühlen oder standen einfach nur da, alle im Anzug und mit Mappen in den Händen.
Max’ Eingeweide verkrampften sich.
„Guten Tag, mein Herr. Ihr Name bitte?“
Max drehte sich irritiert um. Eine blonde Frau mit einer Liste stand vor ihm und musterte ihn eindringlich.
„Äh…Ich bin hier zum Vorstellungsgespräch. Maximilian K“ –
„K reicht schon, danke“, unterbrach die Frau ihn. „Im Moment sind wir noch bei D. Nehmen Sie sich einen Stuhl; Sie werden dann aufgerufen, wenn Sie zu Herrn Braun durch können. Hier.“ Sie drückte ihm ein Kärtchen mit der Aufschrift 42 in die Hand. „Wenn Sie dann dran sind, fassen Sie sich bitte kurz; Herr Braun hat noch viel zu tun heute mit all den Einstellungsgesprächen.“ Und damit drehte sie sich um und wandte sich dem nächsten Mann zu, der gerade herein kam.
Max blieb stehen und starrte auf die Reihen von besetzten Stühlen. Mit einem Mal fühlte er, wie seine Knie zu zittern begannen.

Mittlerweile lag dieser Nachmittag sechs Wochen zurück. Robert Braun hatte er damals nicht mehr zu Gesicht bekommen; nach dem letzten Bewerber mit dem Anfangsbuchstaben H hatte er die Geduld verloren und die restlichen Anwärter seinem Assistenten überlassen. Das Gespräch hatte viereinhalb Minuten gedauert.
Wir melden uns dann bei Ihnen, hatte es geheißen.
Doch bis heute hatte Max nicht eine E-Mail bekommen, genauso wenig wie von den vier anderen Kanzleien, bei denen er sich vorgestellt hatte.
Den Blick starr in die Ferne gerichtet, saß Max auf dem Sofa in seinem Wohnzimmer. Vorgestern war die erste Zahlung für seine Miete fällig gewesen, und auch Essen, U-Bahn und Elektrizität zehrten an seinem Gesparten, hier mehr als auf dem Land. Er konnte den Spott seiner Verwandten regelrecht hören. Wir haben es dir doch gesagt. Die Stadt ist nichts für dich. Wir haben doch immer gesagt, dass du es dort nicht zu Erfolg bringen wirst.
Aber Max hatte nicht vor, aufzugeben. Utopolis war der Ort seiner Träume. Nur hier konnte er ein Leben am Puls der Zeit führen, ein wichtiges Leben. Vermutlich hatte er zu groß angefangen, zu viel gewollt, doch er würde es schaffen. Wenn es sein musste auch von ganz unten.
Wieder einmal mit seiner Bewerbungsmappe in der Hand, stand er auf, verließ sein Appartement und das Gebäude und lief zur nächsten S-Bahn-Station. Dutzende Male war der diesen Weg inzwischen gegangen, doch heute stieg er zum ersten Mal nicht in den Zug mit Nummer 1 – der in das imposante Zentrum fuhr -, sondern in die Nummer 26. Die Waggons waren hier kleiner und älter, mit Stoff als Sitzbezug und nicht teurem Kunststoff, und außerdem brachte der Zug seine Fahrgäste in eine gänzlich andere Richtung. Fort von den Postkartenmotiven der Hochhäuser, hinein in die Randbezirke mit ihren drei- oder vierstöckigen Steingebäuden. Dorthin, wo Utopolis nicht viel anders aussah als alle anderen Städte auch.
Es schmerzte Max, den Ort seiner Träume so normal zu erleben – doch es war besser, als in sein Dorf zurückzukehren und sich dem Hohn seiner Familie auszusetzen.
So stieg er nach etwa einer halben Stunde aus und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Anwaltsbüro in der Nähe einer Wohnsiedlung. Es war ein ganzes Stück weit entfernt, denn hier draußen gab es nur wenige Bahnstationen, und zudem schwitzte Max in seinem schwarzen Anzug. Es war heiß geworden über die letzten Wochen, und ohne die kühlenden Klimaanlagen war die Luft erdrückend trocken.
Vielleicht würde er diesen Weg bald öfter antreten. Er hatte sich um eine Stelle als Assistent beworben. Unbedeutend in seinen Augen, und auch unterbezahlt, doch er brauchte Geld. Sonst müsste er zurück oder in eine andere Stadt, und das wollte er niemals.
Endlich erreichte er die angegebene Adresse. Das Haus war tatsächlich klein, gerade einmal zwei Stockwerke, und nur ein einfaches Plastikschild wies es als „Kanzlei Blum“ aus.
Bemüht, ein Lächeln aufzusetzen, ging Max auf den Eingang zu – doch noch ehe er die Hand nach der Tür ausstrecken konnte, öffnete die sich. Nicht von selbst, wie bei Robert Braun, sondern weil gerade jemand hinaustrat. Ein älterer Mann im Anzug, dessen Gesicht Max als das von dem Foto auf der Internetseite wieder erkannte.
„Guten Tag, Herr Blum“, begrüßte er den Anwalt voller Freude. „Wir hatten gleich einen Termin. Ich bin Maximilian K“ –
„Ich weiß, aber ich fürchte, da kann ich Ihnen nicht mehr weiterhelfen“, unterbrach der Mann ihn. „Wir haben immer eine große Auswahl von Bewerbern, die es bei den Großen nicht geschafft haben. Wir haben die Stelle gerade besetzt – und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch einen Termin. Wenn Sie wollen, können Sie in sechs Monaten wiederkommen, dann wird vielleicht etwas frei.“
Mit diesen Worten wandte er sich ab, ohne eine Antwort abzuwarten und eilte zu seinem Auto hinüber. Im nächsten Moment hatte er den Motor bereits gestartet und fuhr davon.
Max stand vor dem Eingang und rührte sich nicht. Eine eigenartige Leere breitete sich in ihm aus. Es war ihm, als würde etwas zu wanken beginnen. Die Welt um ihn herum. Sein Traum.

Drei Wochen später, Anfang Juli, musste er sein Appartement räumen, weil sein Geld nicht mehr für die Miete reichte. Den Besitzer der Wohnung freute es: er hatte vier neue Interessenten und überließ die Wohnung schließlich dem, der den höchsten Preis bot. Dessen Umzugswagen parkte vor dem Gebäude, noch ehe Max all sein Hab und Gut zusammengepackt hatte. Als er dann am Mittag den Schlüssel abgab und das Gebäude endgültig verließ, waren mehrere Männer bereits damit beschäftigt, Schränke und Stühle in die Fahrstühle zu tragen.
Eine neue Unterkunft hatte Max nicht, denn für den Lohn, den er nun verdiente, gab es in Utopolis nicht einmal ein Zimmer: Zweihundert Dollar im Monat, dafür, dass er in einem Supermarkt Regale einräumte und sich herum kommandieren ließ von Leuten, die es nicht einmal für nötig hielten, ihn mit seinem Namen anzureden.
Seine Eltern wussten nichts von alldem. Ihnen hatte er erzählt, er habe einen tollen Job und würde bald umziehen in ein noch schickeres Appartement. Er würde es nicht aushalten, ihren Hohn zu ertragen.
Aber, das sagte er sich immer wieder und glaubte er, noch war sein Traum nicht zerbrochen. Er war noch immer da, und irgendwann würde er sich erfüllen. Noch ein paar Monate, dann begann das neue Geschäftsjahr und die großen Unternehmen würden wieder nach Leuten suchen.
Er musste nur durchhalten.

Fortan verbrachte er die Nächte im Lagerhaus des Supermarktes, auf einer alten Decke neben Paletten voller Obst, Chipstüten und Küchenpapier. Er wusch sich auf der Kundentoilette, bewahrte seinen Koffer in einem Spind auf, und weil er sein weniges Geld aufsparen wollte, aß er jeden Abend von den Lebensmitteln, die gerade ihr Haltbarkeitsdatum überschritten hatten. Es war ein seltsames Leben, anders als alles vorherige, aber nach einer Zeit gewöhnte er sich an den harten Betonboden der Halle und an das Brummen der Tiefkühltruhen. Ja, nach einem Monat hätte man sogar fast sagen können, dass er sich eingelebt hatte.
Unglücklicherweise passierte es genau da, dass er eines Morgens nicht rechtzeitig aufwachte und sein Arbeitgeber ihn schlafend und mit einem angebrochenen Joghurt neben sich zwischen den Paletten entdeckte. Keine zehn Minuten später fand Max sich mit seinem Koffer auf der Straße wieder – ohne Unterschlupf und ohne Job.
Mehrere Stunden blieb er daraufhin an einer S-Bahn-Station sitzen und starrte auf die Menschen, die an ihm vorbei liefen, die hektischen, die erfolgreichen Menschen, die ihn keines Blickes würdigten. Fast wäre er in diesem Moment so weit gewesen, seine Eltern um Hilfe zu bitten – bis er bemerkte, dass er ja nicht einmal mehr ein Telefon besaß.
Als es schließlich dunkel wurde, ging er zum Bahnhof, kaufte sich ein Sandwich und setzte sich auf eine Bank in der großen Ankunftshalle. Sein Hemd und seine Hose sahen mittlerweile heruntergekommen und zerschlissen aus, seine Haare waren struppig, aber dennoch nahm niemand Notiz von ihm. Hunderte von Leuten gingen vorbei, ohne ihn anzuschauen; selbst als es Mitternacht war, strömten sie immer noch aus den Zügen, nur darauf bedacht, zu ihren Terminen zu gelangen.
Max dagegen blieb sitzen und tat nichts als zuzuschauen - bis ihm, schon tief in der Nacht, die Augen zufielen und sein Kinn ihm auf die Brust sackte und er in einen unruhigen Schlaf sank.

Als er wieder aufwachte, war sein Koffer nicht mehr da.
Im ersten Moment glaubte Max, er sei ihm hinunter gefallen, doch er lag nicht auf dem Boden und auch nirgendwo anders in seiner Nähe.
Der Koffer war weg.
Max stieß einen Fluch aus. Er sprang auf, schaute umher – und merkte dabei, dass sich die Halle verändert hatte: Knapp vier Uhr nachts war es inzwischen, und nun waren tatsächlich keine Geschäftsleute mehr hier. Stattdessen waren neue Gestalten aufgetaucht: Männer mit dreckigen, verfilzten Haaren, die auf Zeitungen lagen, Jugendliche, die in den Ecken herumlungerten, eine blonde, stark geschminkte Frau, die rauchte. Die Halle schien sich in eine vollkommen andere Welt verwandelt zu haben, eine Welt jenseits von Erfolg und Geschäften, mit Kreaturen, die erst aus ihren Löchern krochen, wenn alle anderen sicher in ihren Wohnungen schliefen.
„Hey du, was schreist du hier so?“
Max zuckte zusammen und drehte sich um. Vor ihm stand ein schmächtiger Mann in einer schwarzen Jacke, über dessen linke Gesichtshälfte sich ein Schlangen-Tatoo zog. Mit zusammengekniffenen Augen beäugte er Max.
„Was macht ein Anzugträger um diese Zeit hier unten? Willst du uns stören?“
„Ich?“ Max Blicke zuckten nervös umher. „Nein. Es ist nur…Jemand hat mir meinen Koffer gestohlen. Das war das Einzige, was ich noch hatte. Ich habe kaum Geld und…“
„So, so, kaum Geld.“ Der Mann hob eine Augenbraue. „Das heißt, du könntest welches gebrauchen?“
„Ich…ähm…ja, aber…“ Max wich unsicher einen Schritt zurück – der Mann jedoch setzte ein Grinsen auf. Die Schlange auf seinem Gesicht schien sich zusammenzuziehen.
„Keine Sorge, Kumpel, ich tu dir schon nichts. Aber wenn du willst, könnten wir vielleicht ins Geschäft kommen. Ich suche nämlich immer nach Leuten, die mir bei meinem „Unternehmen“ helfen.“ Er griff in seine Jackentasche und holte ein Plastikbeutelchen hervor. Feines, weißes Pulver lag dort drin.
„Hundert Dollar für jeden neuen Kunden, den du zu mir bringst. Wie wär’s?“
Er hielt Max das Tütchen direkt vors Gesicht. Der starrte das Pulver für einen Moment lang an – und rannte dann davon, so schnell er nur konnte.
Der Mann lachte.
„Dann eben nicht!“, rief er Max hinterher. „Aber wenn du deine Meinung irgendwann ändern solltest – ich bin um diese Uhrzeit immer hier!“

Diese Begegnung entsetze Max so sehr, dass er die beiden folgenden Nächte in einem heruntergekommenen Hotel schlief, doch danach reichte das Geld von seinem letzten Lohn auch dafür nicht mehr aus. Also begann er durch die Stadt zu wandern, ziellos, vorbei an Schaufenstern, blinkenden Reklameschildern, Kinos und Einkaufszentren, all den Dingen, von denen er nun nur noch träumen konnte.
Am Abend suchte er Unterschlupf in einem Hauseingang, wo er sich gegen die Wand drückte und versuche zu schlafen. Jetzt, wo er hier so saß, nur mit seiner Kleidung am Leib und auf dem harten Beton, direkt neben der Straße, merkte er, wie laut es in der Stadt war. Von überall drangen das Hupen der Autos und das Rattern der S-Bahnen zu ihm herüber. Fast kam es ihm vor, als würde der Boden beben, womöglich wegen der U-Bahn-Schächte, die den Boden von Utopolis hier überall durchzogen. In Utopolis gab es keine Stille.
Es wurde eine unruhige Nacht. Mehrmals wachte Max auf, vielleicht von Albträumen, vielleicht von Geräuschen, vielleicht weil er sich beobachtet fühlte. Am frühen Morgen, es war noch nicht einmal fünf, musste er fort, weil die ersten Leute aus dem Haus kamen. Leute im Anzug, Leute mit Aktentaschen – all die, die es geschafft hatten und zur Arbeit gingen.
Max dagegen irrte durch die Straßen. Am Mittag kaufte er sich ein Brötchen. Es war sein letzter Dollar, den er dafür ausgab.

Die Tage, die diesem folgten, erlebte Maximilian K. nicht mehr wie sein eigenes Leben. Er lief wahllos umher, schlief auf Parkbänken, begann zu stehlen und sich sein Essen in Mülltonnen zusammen zu suchen. Seine Hände verdreckten, seine Kleidung zerriss, seine Haare verfilzten. Doch das Seltsame war, dass es ihn nicht störte. Es kam ihm nicht vor, als wäre er es, der da ziellos umher wandelte, sondern ein völlig Fremder. Ein Fremder, der Hunger hatte und überleben wollte und dennoch aus unerfindlichen Gründen nicht einmal daran dachte sich Hilfe zu holen – und der tief in sich immer noch diesen Drang verspürte, hier in Utopolis zu leben. Um jeden Preis und vielleicht auch nur um der Gewissheit willen, eben hier zu leben, am Ort der Träume, und nirgendwo anders.

Mitte Oktober, als die Nächte kalt geworden waren und Max’ hungrig und kraftlos und hager, kehrte er zurück in die Halle des Bahnhofs und suchte den Mann mit dem Schlangen-Tatoo. Er fand ihn genau dort, wo er ihn das letzte Mal getroffen hatte – und genau wie letztes Mal grinste der Mann, als er ihn sah.
„Du hast dich wohl doch noch umentschieden?“
Max antwortete nicht, doch sein schwaches Nicken genügte, um das Grinsen des Mannes breiter werden zu lassen.
„Alles klar, dann kommen wir ins Geschäft. Nicht wahr, …?“
„Max“, stellte er sich vor, ohne es wirklich mitzubekommen. „Maximilian K“ –
„Hey, keine Sorge, der Vorname reicht mir schon“, lachte der Mann. „In unseren Kreisen hier halten wir uns mit Wichtigerem auf. Zum Beispiel, wie man hieraus“ – er zückte ein Tütchen mit dem weißen Pulver – „das hier machen kann.“ Und er holte einen Hundert-Dollar-Schein hervor. „Denn eins verrate ich dir: Wenn man sich anstrengt, kann man es damit in Utopolis zu einem ganz Großen schaffen.“
Da begannen Max’ Augen zu leuchten.

Nur wenige Monate später, an einem Wintertag, an dem es draußen in den Straßen klirrend kalt war, fanden zwei Passanten neben den Müllcontainern eines Supermarktes die Leiche eines jungen Mannes. Die Kleidung des Toten, einst ein teurer Anzug, war verdreckt, die Haut eingefallen und bleich. Neben ihm lagen Spritzen und Plastiktüten – und ein Blick auf den bläulich verfärbten Arm genügte, um zu erahnen, dass der Mann an einer tödlichen Mixtur aus Kälte und Überdosis gestorben war.
Geld oder gar einen Ausweis fand man nicht; ein Mitarbeiter des Supermarkts glaubte den Mann jedoch als einen früheren Angestellten zu erkennen. An den kompletten Namen erinnern konnte er sich allerdings nicht.
Und so blieb der junge tote Mann einfach nur Maximilian K., eine von vielen gesicht- und namenlosen Gestalten, die hier, im legendären Utopolis, untergegangen und gleich wieder vergessen worden waren.
Denn eines stand fest: Utopolis war ein Ort der Träume – aber keiner, an dem sie sich auch erfüllten.


10. Platz: [entgleist.] von Christopher T. Punkt (christophert.)



Die U-Bahn rumpelt gemütlich vor sich hin und ich gucke gedankenverloren aus dem Fenster, während meine Augen unbewusst im Sekundentakt an schemenhaften silbernen Flecken kleben bleiben, die draußen in der Halbfinsternis des Tunnels am Triebwagen vorbei jagen. Wir erreichen den Aufgang vor Sankt Katharinenbrunnen und gleißendes Sonnenlicht flutet die Waggons, so dass ich mir abrupt den Schirm meines Caps tiefer in die Stirn ziehe und die Augen zusammenkneifen muss, um nicht zu erblinden. Es ist Frühling, Freitag, Wochenende. Die Welt ist wieder mein Freund. Der Zug fährt in die nächste Station ein, Kreisel Süd, und ich betrachte zu den treibenden Bässen aus dem Kopfhörer, wie sich die homogene Masse gesichtsloser Feierabendverkehrspendler langsam durch die Tür auf den Bahnsteig schiebt. Wie immer quetschen ein paar Kids sich gegen den Strom ins Abteil, anstatt zu warten. Ich amüsiere mich innerlich darüber, als der freie Platz mir gegenüber plötzlich in Beschlag genommen wird. Blonde Dreads wallen durchs Sonnenlicht, ein Paar tiefgrüne Augen blicken mich unvermittelt an und im Moment des Wiedererkennens blitzt ein Lächeln über ihre Lippen. Ich nehme die Kopfhörer ab und will gerade etwas sagen aber sie kommt mir zuvor. „Hey! Mister Anyone, wenn ich mich recht erinner´...“ Für den Bruchteil einer Sekunde rutscht mir meine kleine Welt aus den schweißnassen Händen und droht auf dem Abteilboden zwischen den Schuhen der anderen Fahrgäste in tausend kleine Scherben zu zerbersten. „Ähh, kannst mich sonst auch gern Marc nennen.“ Scheiße, du Vollidiot. Da hatte definitiv jemand ein paar Cocktails zuviel. Wir quatschen ein bisschen und es kristallisiert sich heraus, dass ich ihr auf der Party letzten Samstag in recht komatösem Zustand meine Handynummer eingespeichert habe. Da sie es mit Humor zu nehmen scheint und alles in allem einen recht sympathischen Eindruck macht, war die Aktion, obgleich der nicht zu leugnenden Verpeiltheit, vielleicht gar nicht mal so daneben. „Okay, ich muss hier raus“, ich gebe mir Mühe neutral zu klingen, „Kannst dich ja mal melden, wenn irgendwo was los ist.“ Beim Aufstehen verpasst sie mir eine flüchtige Umarmung und lächelt mir noch einmal durch die zerkratze Scheibe zu, während der Zug langsam anfährt und sich dann aus der Station schiebt.

Es kommt noch zu einem kurzen Blickkontakt bevor der Zug ihn aus ihrem Blickfeld zieht und die Gesichter auf dem Bahnsteig sich zu Flecken verlieren, die am Fenster vorbei ziehen und schließlich den immergleichen Fassaden der Großstadt Platz machen. Was macht er wohl heute Abend? Sie muss ein wenig über sich selbst grinsen, als sie sich bei diesem Gedanken ertappt. Krankenschwester, frisch aus der Ausbildung, auf dem Weg zur Spätschicht, erwischt ein Rudel Schmetterlinge in ihrem Bauch, das immer noch die selben Manöver fliegt, wie bei der ersten großen Liebe vor zehn Jahren. Was Gefühle angeht wird man wohl nie richtig erwachsen. Aber im Augenblick kommt ihr ein wenig naive Schwärmerei auch ganz gelegen, hat sie die Ablenkung doch mehr als nötig. Man wächst zusammen auf, verbringt die Kindheit miteinander, teilt so viele Gedanken, Träume, Augenblicke. Über Jahre entsteht eine so unglaublich tiefe Verbundenheit, dass man es sich nicht träumen lassen würde, dass dieser Knoten sich auch nur lockern könnte. Und dann wechselt man die Schule, telefoniert noch jeden Tag, lernt neue Menschen kennen, trifft sich weiter dreimal die Woche, bekommt ein schlechtes Gewissen und realisiert, dass man sich längst auseinander gelebt hat. Und dann, nach Jahren des Vergessens, plötzlich aus dem Nichts ein Lebenszeichen. Nein, nicht einmal das. Nur ein Gerücht… Sie hatte sich während der Ausbildung mit dem Thema auseinandergesetzt, es aber nie näher als nötig an sich heran gelassen. Warum auch? An einem Sommerabend auf dem Balkon mit der Mitbewohnerin Gras rauchen macht noch keinen Suchtkranken. Aber hier ging es um etwas anderes, was sie, auf sich selbst bezogen, jederzeit mit einem lapidaren „Kann mir nicht passieren.“ abgewiegelt hätte. Sie stellt sich einen dunklen, verwahrlosten Raum vor, Essensreste stapeln sich auf verkrusteten Tellern, ein Fernseher flimmert tonlos vor sich hin, um das Bett herum liegen dreckige Klamotten und Unterwäsche verstreut auf dem Fußboden. Ein abgewetzter Teppich gemustert von Brandlöchern, neben dem Aschenbecher zerknüllte Taschentücher und ein paar umgefallene Flaschen mit schimmelndem Inhalt. Und auf dem Bett ihre einstmals beste Freundin mit einer Nadel im Arm. Mechanisch schiebt sie sich an teilnahmslosen Menschen zur Tür durch, als die Tonbandstimme ihre Station ansagt. Als sie aus dem Zug tritt wird sie von der warmen etwas zu dicken Luft der sommerlichen Stadt umhüllt und versucht den Gedanken von sich abzuschütteln. Nimm deine Arbeit nicht mit nachhause aber lass dein Privatleben ebenso vor der Stationstür liegen.

„Hey Alter, wo warst du denn so lange?“ Ein Blick auf die Uhr zwischen den Postern und angepinnten Fotos an der Wand sagt mir, dass ich gut eine Stunde zu spät dran bin. Boris, a.k.a BeBob, sitzt in seinem reichlich mitgenommenen Ledersessel aus dem Diakonie-Laden um die Ecke. Vor ihm auf dem Tisch liegen ein paar Skizzen, auf dem Boden stehen zwei Kartons mit Dosen in diversen Blautönen, Neongrün, Schwarz und Weiß. „Mir ist noch was dazwischen gekommen aber wird ein lockeres Ding heute. Vollmondnacht und das Wetter ist grandios, da kannst im T-Shirt malen gehen.“ Ich lasse mich ihm gegenüber auf das Sofa fallen. „Ja, Mann!“, sein breites Grinsen macht mich etwas lockerer und ich versuche mir nichts anmerken zu lassen. Er fragt nicht weiter nach wo ich war und das ist mir auch verdammt lieb so. Ich erzähle ihm von meiner Begegnung in der U-Bahn und er kann sich das Lachen nicht verkneifen, als er nach dem Namen der Glücklichen fragt, ich aber keine Antwort darauf weiß. Er lässt aber auch durchblicken, dass es ihn für mich freut und meint ich solle mal dran bleiben. Wir gucken noch eine Weile sinnlosen Kram im Fernsehen und rauchen, bis es langsam Zeit wird. Als wir die Rucksäcke packen kommt das kribbelnde Gefühl von Nervosität die Wirbelsäule hinauf gekrochen und setzt sich bis in die Fingerspitzen fest. Beim Kontrollieren der Taschen merke ich, dass mein Handy nicht da ist. Scheisse, aber jetzt ist es auch zu spät. Ich versuche den Gedanken an vorhin zu verdrängen und mache mich mit Boris auf den Weg zur U-Bahnstation, von wo aus uns die Linie3 zu unserem Ziel bringt.

Obwohl die Nacht anbricht, ist es wärmer als erwartet. Sie tritt durch die Schiebetür auf den Vorplatz der Klinik nach draußen und geht über den menschenleeren Parkplatz. Nur noch vereinzelt stehen Autos in den Parklücken, in den Gebüschen zirpen Grillen, der Mond scheint hell heute Nacht. Um Zeit zu sparen nimmt sie die Abkürzung durch den Park und zieht am Eingang zu der spärlich beleuchteten Grünanlage ihr Handy aus der Handtasche. Während sie dem schmalen Weg durch die stille Anlage folgt und der Sand unter ihren Schuhen knirscht, drückt sie in unregelmäßigen Abständen auf dem Tastenfeld herum, um das Display am Leuchten zu halten. Soweit sie sich erinnern kann, war sie in ihrer Kindheit nie sonderlich ängstlich aber seit Kurzem kommt sie sich selbst in manchen Situationen regelrecht paranoid vor. Wie sie so allein durch die Dunkelheit wandert kommen ihr die Bilder wieder in den Kopf. Pillen, Koks, Heroin, Prostitution, der komplette Absturz, das volle Programm. Wie kam es soweit? Selbstzweifel und Vorwürfe machen sich in ihr breit. Sie erreicht den Ausgang am Ende des Weges und überquert die Straße. Die Ampelanlagen blinken rhythmisch als Warnsignal für nächtliche Autofahrer die nicht kommen. Sie erreicht die Fußgängerbrücke, die über die Gleisanlagen führt und will gerade ihr Handy wieder in der Handtasche verstauen, als ihr Lösungsmittelgeruch in die Nase weht und Geräusche vom Gleis die Böschung herauf kommen. Noch beim Aufblicken dann raschelndes Gestrüpp und rollende Steine. Panik schießt durch ihren Körper. Sie will sich umdrehen und weglaufen, doch plötzlich ist dort nur noch ein Stoß und Straßenbelag unter ihrer Wange. „Oh fuck, tut mir leid!“, hört sie eine fremde Stimme dumpf von irgendwoher zu sich durchdringen, dann Rennen begleitet von metallischem Rasseln. Als sie sich wieder aufrappelt sieht sie unten im Gleisbett die Lichtkegel von mehreren Taschenlampen hektisch durch die Nacht zucken. Sie entdeckt ihr Handy auf dem Boden, das Display leuchtet schwach neongrün. Sie bückt sich, greift danach und läuft so schnell sie kann über die Brücke Richtung U-Bahnstation.

Einen Tag später treffe ich sie wieder in der U-Bahn. Zugegeben, es ist nicht unbedingt der Zufall der uns zusammenführt aber das spielt ja auch keine Rolle. Die Sonne ist wieder am Strahlen und mir geht es blendend. Zwar war nicht sehr viel Schlaf für mich drin, dafür liegt in dem Rucksack zwischen meinen Beinen die Digitalkamera mit den Fotos von letzter Nacht. Linie3, Südstadt-Hornschneidergasse, perfekte Bilder, bei schönem Wetter direkt im Bahnhof erwischt. Farbe auf Stahl, BeBob und AnyOne. Der Zug rollt, das einzig Wahre. Wir unterhalten uns, blödeln herum, lachen. Meine Laune ist auf dem absoluten Hochpunkt und ich denke darüber nach, sie bei der nächsten Gelegenheit zu irgendetwas einzuladen. Eis essen oder in irgendeinem kleinen Cafe etwas trinken gehen, das Übliche halt. Sie erzählt mir gerade davon, dass sie gestern einen ziemlich krassen Heimweg hatte, als ihr Handy klingelt und sie sich entschuldigt und nach ihrer Handtasche greift. Ich schaue aus dem Fenster und beobachte die Stadt, wie sie an uns vorbei zieht. Graffitis rauschen an uns vorbei und ich erkenne die meisten Namen im Flug. Für die Einen mögen es Schmierereien sein, für mich bilden sie die Seele der Stadt. Als ich wieder zu ihr blicke, merke ich, wie sie mich verwirrt anstarrt. „Du rufst mich grad an…“ Mit einem Mal kommt es mir so vor, als hätte einer der entnervten Feierabendpendler in einem Anflug von unkontrollierbarer Tobsucht die Notbremse gezogen. Schlagartig verlangsamt sich die Welt vor dem Fenster, die Graffitis verschwimmen zu schemenhaften, surrealen Gebilden, die Stimmen um mich herum verschmelzen mit dem Rumpeln des Waggons zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, mein Blickfeld verengt sich zu einem Tunnel und ich sehe nur noch ihre Hand. Sehe nur noch ihr Handy auf dessen neongrünen Display in rhythmischem Blinken immer wieder der Name Anyone auftaucht. Sehe ihren Daumen, der sich in Zeitlupe über den Knopf mit dem kleinen grünen Hörer schiebt. Der Zug steht still, die Menschen um uns herum sind erstarrt zu Salzsäulen. Die Stadt steht still. Es gibt nur noch mich und sie und die leise Stimme die wie von einem Tonband aus dem Nichts kommt und zwischen uns im Raum hängen bleibt. „Anna, bist du das? Du erinnerst dich vielleicht nicht mehr… ich hab Probleme, weißt du…“ Und ich blicke Anna in ihre tiefgrünen Augen und dort ist nichts mehr so wie es sein sollte und ich will irgendetwas sagen aber mein Gehirn befindet sich im Leerlauf und plötzlich befindet sich alles in freiem Fall und meine kleine Welt kollidiert mit dem Abteilboden, wo sie sich in winzigen Scherben zwischen den Schuhen der Fahrgäste verteilt.

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Texte: © 2009 der Einzelbeiträge liegen bei den AutorInnen
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2009

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