AUBREY
Du musst jetzt stark sein und durchhalten, Aubrey, motiviere ich mich selbst. Zielstrebig setze ich einen Fuß vor den anderen. Langsam atme ich ein und aus und versuche mich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu bewahren, obwohl ich ohne Erinnerungen und mit Verletzungen durch den Wald laufe und vor einem Irren fliehe, der es auf mich abgesehen hat. Ich muss unwillkürlich an Filmhelden denken, die sich tollkühn durchs Abenteuer schlagen, den Schmerzen und Gefahren trotzen, die auf ihrem Weg lauern und sich von nichts unterkriegen lassen. Dass aber davon das meiste Illusion ist und einen Normalsterblichen schon längst umgebracht hätte, an das denke ich nicht. Die Dunkelheit hat mittlerweile eingesetzt und ich stapfe schon seit einigen Stunden zwischen den Bäumen umher. Als ich an einem umgeknickten Baumstamm vorbeikomme, nutze ich die Gelegenheit um mich auszuruhen. Lyon wird mich hier wahrscheinlich nicht finden, dafür ist es zu dunkel und außerdem könnte ich mittlerweile überall in diesem Wald sein.
Für die Nacht habe ich eine Felsspalte gefunden, die einigermaßen sauber, trocken und windgeschützt ist. Ich bette mich in die hinterste Ecke und versuche einzuschlafen. Das Rascheln der Blätter im Wind und das Krächzen einen Käuzchens machen mir das verdammt schwer. Angestrengt lausche ich, bei jedem unheimlichen Geräusch, aus Angst es könnte Lyon sein. Irgendwann schlafe ich dann doch ein und schlummere friedlich wie ein Baby.
Das Knacken eines Astes lässt mich hochfahren. Panisch reiße ich die Augen auf. Vor der Felsspalte sind eindeutig Schritte zu vernehmen. Mein Puls beschleunigt sich. Lyon hat mich gefunden, schießt es mir durch den Kopf. Vergeblich versuche ich meine Atmung in den Griff zu bekommen und so gut als möglich keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Die Schritte kommen näher, ich sitze in der Falle. Mit stark klopfendem Herzen und meinem im Erdboden versunkenen Selbstvertrauen, mache mich ich auf einen möglichen Angriff gefasst. Leise rapple ich mich vom Boden hoch um im Falle des Falles handeln zu können. Zitternd schiebe ich mein Haar hinter mein Ohr, welches mir ständig ins Gesicht fällt und mir die Sicht nimmt. Wieder knackst etwas und ich drücke mich noch weiter in die immer enger werdende Felsspalte. Das fahle Mondlicht, das durch die Spalte hereinleuchtet, wird plötzlich von etwas vor dem Eingang verdeckt. Jetzt bin ich hier gefangen und Lyon total ausgeliefert. Mein letztes Stündlein hat geschlagen. Wie konnte ich nur so dumm sein, anzunehmen, hier würde er mich nie finden. Ich höre die Gestalt näher kommen und schließe die Augen um nicht mitanzusehen, was er nun mit mir vorhat.
“Bitte tu mir nichts Lyon, bitte!”, winsle ich als ich spüre, dass er nun vor mir steht. Ich warte auf eine Reaktion, dass er ausrastet, mich anschreit oder sonst etwas tut, aber es geschieht nichts. Vorsichtig blinzle ich und blicke geradewegs in zwei mitfühlende Augen. Dieses Wesen, eine junge Frau, wird von einem sanften leuchtenden Schimmer umgeben. Ähnlich wie der eines Glühwürmchen. Ich starre Sie mit offenem Mund an, während sie mich nur anlächelt.
“Hab keine Angst, kleines Schattenlicht”, sagt sie schließlich “du bist in Sicherheit. Ich bin Lynette!”, stellt sie sich vor und zwinkert mich dabei an. Noch immer nicht, weiß ich was ich von ihr halten soll.
“Aubrey”, sage ich nur.
“Ich weiß.” Ihr wissendes Lächeln verwirrt mich.
“Aber wie...”, frage ich schließlich. Sie streckt ihre Hand nach mir aus und ich zucke unwillkürlich zurück. Doch sie lässt sich nicht aufhalten und greift an meinen Hals. In meiner Schockstarre lasse ich es geschehen und rechne mit dem Schlimmsten. Doch sie zieht nur meine Kette hervor, an der zwei Anhänger baumeln. Zuerst kann ich es nicht glauben, aber die weiße Feder leuchtet ebenfalls in einem hellen Licht, so wie es Lynette tut. Nur um die schwarze Feder schlingen sich dunkle Schattenfäden. Gespannt starre ich auf das Schmuckstück und frage mich allmählich was hier vor sich geht. Was hat das zu bedeuten?
“Was bist du?”, frage ich schließlich und wende meinen Blick von der Kette ab. Sie holt ebenfalls ihr Schmuckstück unter dem Shirt hervor und zeigte sie mir. Daran baumelt eine hellgraue Feder.
“Ich bin eine Assasare, eine Lichtwandlerin. Man hat mich geschickt, dich zu finden, dir den Weg zu weisen und dich dabei vor allen Gefahren zu schützen, bis ich dich sicher nach Hause gebracht habe, wo dich dein Schicksal erwartet”, spricht sie sanft und nimmt mein zerkratztes Gesicht in ihre Hände und zieht mich zu sich. In ihren Augen flackert etwas auf, das ich nicht deuten kann. Das wird mir zu viel und ich stoße sie von mir und laufe aus der Spalte. Was bildet sie sich ein. Zuerst sagt sie mir, sie kann mir helfen und dann, dann versucht sie mich zu küssen?!
“Aubrey, warte”, ruft sie mir hinterher, doch ich denke nicht im Traum daran. Ich erhöhe das Tempo und versuche sie abzuschütteln. Seit ich aus dem Koma erwacht bin, passieren die merkwürdigsten Dinge, die ich mir nicht erklären kann. Ich will nur noch nachhause. Auch wenn ich selbst noch nicht weiß wo das ist. Mittlerweile laufe ich.
“Aubrey, bleib stehen. Ich will dir doch nichts tun!” Lynette ist jetzt noch weiter zurückgefallen. Obwohl mir mein Instinkt sagt, dass ich ihr vertrauen kann, laufe ich dennoch weiter.
“Escissia braucht dich doch!”, versucht sie es ein letztes Mal. Ihre Worte lösen etwas in ihr aus.
Wenn du zu dir selbst finden willst, gehe nach Escissia. Dort wo das Licht den Schatten küsst, dort findest du deine Bestimmung. Ob das Schicksal dich willkommen heißt oder dich in dein Verderben stürzt, hast nur Du allein in der Hand.
Ich habe das Gefühl, als würde ich mich an etwas Wichtiges erinnern, aber die Gedanken sind noch zu schleierhaft um das Ganze zu entwirren. Ruckartig bleibe ich stehen und warte darauf, dass sie mich einholt. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter, als sie hinter mir steht.
“Warum.. warum bist du so wütend?”, fragt sie mich nach einem kurzen Moment der Stille.
“Du wolltest mich doch eben küssen, oder nicht?”, fahre ich sie an und drehe mich zu ihr um.
“Ach Aubrey”, sie bricht in schallendes Gelächter aus. Was ist daran so lustig? Wieder wende ich mich ab, bereit wegzulaufen. Doch Lynette ist schneller und fasst mich am Arm.
“Jetzt warte doch”, sagt sie, als sie sich wieder unter Kontrolle hat, “ich wollte dich doch jetzt nicht küssen. Das hast du missverstanden. Ich.. ich wollte..”, ihre Stimme bricht weg.
“Was wolltest du?”, noch immer bin ich ziemlich verwirrt und durcheinander. Ich fixiere sie mit meinem Blick und betrachte sie ein wenig genauer. Sie hat langes dunkles Haar, aus denen spitze Ohren hervorlugen. Je länger ich sie betrachte umso schöner finde ich sie. Erst jetzt fallen mir auch die feinen geschwungenen Linien auf, die sich über ihren ganzen Körper ziehen und ebenfalls sanft leuchten.
“Aubrey?”. Ich ertappe mich dabei, wie ich gedankenversunken die Schnörkel an ihrem Arm nachfahre und offensichtlich nicht mitbekommen habe, dass sie mit mir gesprochen hat. Ich blicke in ihr Gesicht und sehe sie schmunzeln. Hastig ziehe ich meine Hand zurück, als hätte ich etwas Verbotenes getan.
“Ja?”, frage ich schüchtern, die Wut ist verpufft.
“Ich sagte, ich wollte nur deine Wunden heilen!”
“Das kannst du?”, entgeistert sehe ich sie an. Das kann nicht sein, das ist unmöglich. Um es mir zu demonstrieren, nimmt sie mein Gesicht und führt es zu ihrem Mund. Diesmal lasse ich es geschehen. Sanft drückt sie ihre Lippen an meine Schläfe, wo ich mir bei einem Sturz eine tiefe Wunde zugezogen habe. Ein Kribbeln entfacht und die Welt um uns scheint still zu stehen. Als sie sich wieder von mir löst, fahre ich mit meinen Fingern über die Stelle, an der ich eben noch ihre weichen Lippen gespürt habe. Die Wunde war verschwunden und die Haut fühlt sich babyweich an.
“Wahnsinn!”, entkommt es mir und ich strahle sie an. Ich komme mir blöd vor, sie vorhin so kindisch behandelt zu haben. In kürzester Zeit, lässt sie auch die restlichen Wunden verschwinden. Ungläubig starre ich auf meine Hände, als könnte ich nicht glauben, was sich da gerade selbst vor meinen Augen abgespielt hat.
“Danke, Lynette!”, sage ich und ziehe sie in meine Arme und drücke sie fest. Als sie sich wieder von mir gelöst hat, nimmt sie meine Hand und zieht mich mit sich.
“Komm ich will dir noch was zeigen!”, erklärt sie aufgeregt und läuft mit mir zwischen den Bäumen hindurch. Obwohl wir zwischen Hecken und Sträucher schlüpfen, mich der eine oder andere Dorn sticht, spüre ich keinen Schmerz. Ein Blick auf meine Haut zeigt mir, dass diese unversehrt und heil bleibt. Ich kann nur annehmen, dass dies an Lynette liegt, dass sie mich mit ihrer Gabe vor Verletzungen schützt. Die Nacht wird kühler und mich fröstelt, je länger wir durch den Wald laufen. Doch das ist mir im Moment egal. Ich bin vorerst in Sicherheit und das ist die Hauptsache. Meine Beine tragen mich mühevoll voran, denn besonders sportlich war ich noch nie, zumindest fühlt es sich nicht so an. Doch Lynette schwebt beinahe geräuschlos neben mir her, als wäre das für sie nur ein gemütlicher Spaziergang. Hingegen ich fühle mich wie ein Trampeltier. Ungrazil und vergleichsweise laut, stolpere ich hinter ihr her.
“Kann ich dich mal etwas fragen?”, keuche ich im Laufschritt.
“Was denn Bree?” Der Klang ihrer Stimme, so wie sie meinen Kosenamen ausspricht, erinnert mich an weiches Kaschmir, welches sanft die Haut umschmeichelt und einen zarten Duft von einer blühenden Frühlingswiese versprüht.
“Was sind Assa.. äh, also das was du bist?”, beginne ich umständlich, da mir das Wort entfallen war, wie sie sie sich selbst genannt hatte.
“Assasaren?”, lächelt sie mich an und bleibt auf einmal ruckartig vor einem beliebigen Baum stehen. Da ich nicht mehr abbremsen kann, knalle ich mit voller Wucht gegen sie und wir stürzen. Ich erwarte mit dem Kopf an der Rinde aufzuschlagen, lande jedoch in einem Blätterhaufen. Verwirrt blicke ich Lynette unter mir an.
“Tadaaa!”, sagt sie nur und grinst mich weiterhin an. Als ich mich umsehe, merke ich, dass sich die Umgebung verändert hat. Wir sitzen, oder bessergesagt liegen, in einem kreisrunden Raum aus Holz, der in ein gedämpftes Licht getaucht ist.
“Aber wie und wo?”, bringe ich nur hervor. Die Worte bleiben mir im Hals stecken, so verwirrt und gleichzeitig erstaunt war ich. Mühsam klettere ich von Lynette, um der peinlichen Nähe zu entkommen. Doch ihr scheint das nichts im Geringsten auszumachen. Ich habe eher das Gefühl, sie genießt diesen intimen Moment zwischen uns.
So Aubrey, jetzt komm mal wieder auf andere Gedanken, schimpfe ich mich selbst. Ich lasse die Eindrücke auf mich wirken, ehe Lynette das Wort ergreift.
„Die Natur ist unser größter Verbündeter. In vielen Bäumen sind Verstecke, manche naturbelassen wie dieses hier, andere voll ausgestattet. Auch Gewässer und Gestein bergen Unterkünfte. Doch für ein normales Auge ist das nicht auszumachen, denn die Natur verbirgt ihre Schätze vor den Menschen. Denn diese wissen seit Jahrhunderten nicht ordnungsgemäß damit umzugehen und zu würdigen.“ Ein ernster Ausdruck hat sich in ihre Augen geschlichen und ich glaube auch, eine Spur Traurigkeit in ihnen zu lesen.
„Es tut mir leid“, sage ich resigniert, da ich mich für die Menschen schäme.
„Du kannst doch nichts dafür, Bree!“ Ihre Fröhlichkeit kehrt zurück und sanft streicht sie über meinen Arm. Wieder ist da ein Ausdruck in ihrem Blick, den ich nicht deuten kann und der mich neugierig macht.
„Ich denke heute war ein anstrengender Tag für dich. Lass uns schlafen!“, bittet sie mich und deutet auf einen kleinen Vorsprung, der mit weichem Moos bedeckt ist. Langsam lasse ich mich darauf nieder und fahre mit den Fingern durch das flauschig grüne Gewächs. Ein Stück entfernt, mir gegenüber, macht es sich Lynette gemütlich und schließt die Augen. Ich kann nicht anders, sie anzusehen, während sie friedlich schläft. Sie ist schon ein sonderbares Geschöpf und dennoch bin ich unendlich froh sie hier zu haben. Sie so zu beobachten, lässt die ansonst so selbstbewusste und starke Lynette, zerbrechlich aussehen. Ich ertappe mich dabei, wie ich meine Hand nach ihr ausstrecke und ihr eine Strähne ihres schwarzen Haares hinter ihr spitzes Ohr streiche. Augenblicklich erscheint ein Lächeln auf ihren Lippen und ich ziehe hastig meine Hand zurück. Ihr Atem geht gleichmäßig und ruhig.
Das war knapp Aubrey, sie schläft Gott sei Dank immer noch. Nicht dass sie noch denkt, du willst was von ihr. Die Gedanken verbannend, drehe ich mich um und schlafe schließlich auch ein.
Am nächsten Morgen erwache ich von einem Gesang, der schöner nicht sein könnte. Zarte Klänge umschmeicheln meine Ohren und hüllen mich in ein wohliges Gefühl. Die Lider aufschlagend, sehe ich direkt in Lynettes warme Augen, die mich fröhlich anstrahlen.
„Guten Morgen Aubrey!“, zwitschert sie und unterbricht ihren Gesang.
„Das war wunderschön!“, entgegne ich und muss unwillkürlich lächeln.
„Danke, Bree. Das freut mich sehr, dass du das sagst!“ Ich setze mich auf und sie blickt abschätzend an mir herunter.
„Obwohl ich dich echt gern mag, aber mit deinen Klamotten müssen wir was machen. Zieh dich aus!“, zwinkert sie mir zu, während ich sie entgeistert anstarre.
„Warum?“, frage ich nur und bleibe wie angewurzelt stehen.
„Sieh dich doch an!“ Ihr Entschluss stand fest und da gab es nichts daran zu rütteln. Sie hatte Recht. Das ausgewaschene T-Shirt hängt an mir runter wie ein Kartoffelsack und die Jeans hatte auf der Flucht auch einiges abbekommen und war überall aufgerissen und mit Flecken übersät.
„Dreh dich um!“, bitte ich sie, da es mir unangenehm war, mich vor ihr auf engstem Raum auszuziehen.
„Ach Aubrey, so schüchtern?“, zog sie mich auf, kam aber trotzdem meiner Bitte nach.
Es hätte keinen Sinn gehabt, sich ihr zu widersetzen, dazu war sie zu standhaft und ich nicht selbstbewusst genug. Ich schlüpfte aus der zerschlissenen Jeans und zog mir das T-Shirt über den Kopf. Halbnackt, in weißer Unterwäsche, saß ich nun da und kam mir ziemlich bescheuert vor.
„Fertig.“, ich schmiss meine Klamotten und meine Schuhe vor ihre Füße. Als sie mich erblickte, loderte etwas in ihrem Blick auf.
„Du bist wunderschön Aubrey, da gibt es nichts zu verstecken.“ Ohne es zu wollen, wurde ich augenblicklich rot. Lynette schälte sich aus ihrem Langarm-Shirt und warf es mir zu.
„Zieh das an, bis ich wiederkomme!“, sprach sie und schnappte sich meine Kleider. Unter ihrem Top zeichnen sich wohlgeformte Konturen ab, ein athletischer Körper. Schnell schlüpfe ich in das Kleidungsstück und fühle mich augenblicklich wohler. Ein angenehmer Duft steigt mir in die Nase. Es riecht nach ihr.
„Wann kommst du wieder?“ Angst kriecht in mir hoch, dass sie mich hier zurücklassen könnte.
„Ich beeile mich, kleines Schattenlicht. Versprochen!“, sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn, dreht sie sich um und ist mit einem Satz aus der Behausung verschwunden.
Tag der Veröffentlichung: 25.07.2015
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