Ging es vielen so? Wurden mehrere Menschen wie sie so behandelt und ausgestoßen? Es musste irgendwo noch jemanden geben, dem es genauso ging. Das waren die einzigen positiven Gedanken die sich noch in Jessicas Kopf befanden. Für etwas anderes positives hatte sie leider keinen Platz mehr.
„Du hässliches Ding!“, wurde sie von einem kleinen zwölfjährigen Jungen beschimpft der sich, nachdem Jessica ihn wütend angefunkelt hatte, hinter seiner Mutter versteckte. „Hau ab!“, riefen ihr die alten Obdachlosen hinterher wenn sie nach einem warmen Platz fragte. Nirgends war sie erwünscht, niemand wollte sie in ihrer Nähe haben. Dabei sehnte sie sich seit ihrer Geburt vor zwanzig Jahren nach nichts anderem. Nähe. Kontakt zu anderen. Immer blieb ihr dieser einzige Wunsch verwehrt. Sie hatte schon als Kind das Gefühl, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Nach ihrem dritten Geburtstag gaben ihre Eltern sie weg. Einfach so. In ein schäbiges Waisenhaus, verborgen in einem Wald. Wenn Jessica an diese Zeit zurückdachte durchfuhr sie ein eiskalter Schauer. Sie hatte an ihrem Sechzehnten Geburtstag fliehen müssen und war seitdem unaufhaltsam auf der Flucht. Sie war inzwischen so weit von diesem Waisenhaus und ihrer Familie entfernt, dass sie hier niemand kannte. Und sie war so weit weg, dass sie nicht einmal wusste wo sie war. Ob sie noch in Land ihres Königs war, oder schon im nächsten. Sie wusste es nicht und eigentlich war es ihr auch egal. Früher hatte sie aufgepasst nicht gesehen zu werden, heute versteckte sie sich nicht mehr. Sie lief durch die Dörfer und Städte ohne sich in ihren Umhang zu hüllen, ohne ihren Blick schämend zu senken. Hoch erhobenen Hauptes ging sie durch die Welt in der Hoffnung jemand würde sie erkennen und zu einem Richter bringen. Jessica sehnte sich heute nach dem Tod. Den Mut sich umzubringen hatte sie nicht, sie glaubte an einen Gott der sie bei sich aufnehmen würde, nachdem sie diese Tortur mitmachen hatte müssen. Sie glaubte daran, dass eine bessere Welt auf sie warten würde.
In einem Dorf, welches Andana hieß, ließ sie sich nieder. Sie lief seit zwei Tagen ununterbrochen durch die Wälder und nun brauchte sie eine Pause. An einem Brunnen schöpfte sie sich Wasser und trank es gierig bis sie nicht mehr konnte. Als sie ihre kleine Holzschale, gefüllt mit Wasser, betrachtete erschrak sie. Sie sah ein Monster auf der Oberfläche. Sie sah sich selbst. Ihre schwarzen langen Haare waren verfilzt und glänzten nicht mehr so wie sie es früher getan hätten. Um ihre Augen zeichneten sich große, dunkle Ringe ab. Eine riesige Narbe zog sich quer über ihr Gesicht. Und ihre Augen. Von Jahr zu Jahr wurden sie immer unheimlicher. Sie konnte sich selbst kaum sehen. Die normalen Menschen hatten Augenfarben wie braun, grün, blau. Eventuell auch eine Mischung aus allem. Aber Jessicas Augen waren violett. Und ihre Farbe wurde immer kräftiger. Sie war nicht normal redete sie sich ein. Wer hatte schon solche Augen? Manche beschimpften sie als Hexe. Das hatten sie schon getan als Jessica noch ein Kind war. Im Alter von zehn Jahren hatte man mit ihr einen Hexentest durchgeführt. Man hatte sie in einen Käfig gesperrt und diesen immer wieder im Fluss versenkt. Jessica wäre beinahe ertrunken, wenn nicht der damalige Pfarrer des Waisenhauses ins Wasser gesprungen wäre und sie eigenhändig aus dem Käfig befreit hätte. Es war Pfarrer Jakob gewesen. Nie hatte sie ihn vergessen, ihm war sie so dankbar gewesen. Und doch war er es, der sie im Alter von zwölf Jahren immer wieder vergewaltigt hatte. „Gott weiß, ich handle Rechtens. Ohne mich wärst du nicht mehr hier“, war seine Ausrede. Pfarrer Jakob kam zwei Jahre später ums Leben. Er hatte wohl etwas zu viel getrunken und war aus dem Fenster gestürzt. Jessica durfte bei der Beerdigung nicht anwesend sein. Die Leute glaubten sie sei schuld an seinem Tod. Seit dem traute sich niemand mehr in ihre Nähe. Sie beschimpften sie nur noch von weitem oder warfen Steine nach ihr. An ihrem sechzehnten Geburtstag bewarf sie ein hochnäsiges Mädchen die auch in dem Waisenhaus lebte mit einem riesigen Stein. Jessica konnte sich heute noch an die Schmerzen in ihrem Kopf erinnern als sie der Stein traf und sie auf dem Boden aufschlug. Niemand wollte gesehen haben wie dieses Mädchen den Stein warf, dafür sahen alle was dann geschehen war. Jessica rappelte sich auf und starrte das Mädchen einfach nur an. In Jessica brodelte tiefer Hass. Noch nie hatte sie jemanden so gehasst. Ihre kleinen Hände waren zur Faust geballt und zitterten schon fast. Jessica starrte das Mädchen fast eine Minute lang einfach an. Dann fiel das Mädchen einfach um. Sie fiel um und war tot. Jessica stand mit offenem Mund da und wusste gar nicht was sie machen sollte. Alle liefen zu dem Mädchen, versuchten sie zu retten, doch jede Hilfe war vergebens. Aus ihren Ohren floss Blut, aus ihrer Nase, ja sogar aus ihren Augen. Kurz darauf schrien alle Jessicas Namen und stürzten sich auf sie. Sie wusste nicht wohin, aber sie lief. Sie hatte Angst vor dem was sie erwartete wenn sie sie kriegen würden. Also rannte sie Tage und Nächte durch. Durch Wälder, über Felder, durch Täler, Dörfer und Städte. Sie nähte sich aus Stoff- und Fellresten einen Mantel, mit dem sie sich gut verhüllen konnte. Überall wo sie nur konnte stahl sie Essen und Trinken. Jemanden wie sie wollte niemand bei sich arbeiten lassen. Seit einem Jahr hatte sie diese grässliche Narbe auf dem Gesicht. Ein Mann hatte sie ihr zugefügt, als sie ihn abgewiesen hatte.
Und so saß sie nun hier vor dem Brunnen in Andana. Schaute sich im Wasser an und ekelte sich vor sich selbst. „Hey, Mädchen. Alles in Ordnung?“, fragte ein alter Mann der mit einem Stock über die Straße lief. „Danke“, sagte Jessica leise und teilnahmslos. Der Alte schüttelte den Kopf und zog von dannen. Jessica sah ihm nach. Was gäbe sie dafür auch so unbesorgt über die Straße gehen zu können. Gewiss, sie tat es. Aber immer mit den Gedanken im Kopf umgebracht zu werden. Sorgen zu haben. „Lass mich los du Schwein!“, schrie eine Frau laut hinter Jessica. Sie schaute sich um. Aus einem Haus floh eine junge Frau, dicht hinter ihr ein Mann mit einem Stock. „Komm her du undankbares Weib!“, brüllte er. Kurz darauf hatte er sie gepackt und schlug mit dem Stock auf sie ein. Eine Weile schaute sich Jessica das Schauspiel an, doch der Mann hörte gar nicht auf, auf die arme Frau einzuprügeln. Er hatte sie bald totgeprügelt. Das konnte Jessica nicht mit ansehen. Mittlerweile hatten sich viel zu viele Menschen um die beiden gestellt, eindeutig zu viel Publikum, dachte Jessica. Aber noch mehr Schläge konnte die arme Frau gar nicht mehr einstecken können. Jessica ging gerade auf den Mann zu und schrie ihn an, „Lass sie los!“. Der Mann schaute kurz zu Jessica hoch, schlug dann aber weiter auf die blutende Frau ein. „AUFHÖREN!“, brüllte Jessica und ging zwischen ihn und die am Boden liegende Frau. „Hau ab Missgeburt!“, fauchte der Mann und schlug Jessica mit dem Stock nieder. In Jessica brodelte die Wut. Sie stand langsam auf, bereitete sich auf das bevorstehende vor. „Okay, ich habe es dir ja gesagt du Schwein“, sagte sie leise, mehr für sich als für jemand anderes. Sie begann ihn anzustarren. Die Leute in ihrer Nähe wichen erschrocken zurück, der Mann hörte auf seine Frau zu schlagen. Er schaute Jessica an, schmunzelte und kurze Zeit später griff er sich mit beiden Händen an den Kopf, sackte auf die Knie und schrie. „Schlampe!“, schrie er laut während er sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte. Ein kurzer Augenblick später atmete er nicht mehr. Aus sämtlichen Öffnungen floss Blut. „Kümmert euch um die Frau“, sagte Jessica zu den letzten Menschen die nicht geflohen waren. Danach lief sie auf den Wald zu. Sie hatte einer Frau geholfen, aber wieder jemanden getötet. Mit ihren Augen. Jessica traten Tränen in die Augen, sie hatte wieder gemordet. Obwohl sie sich jedes Mal sagte, es sei das letzte Mal gewesen… immer kam eine Situation wie vorhin und schon tat sie es wieder. Es war der fünfte Mensch den sie getötet hatte. Sie allein. Mit ihren Augen. Jessica hasste sich dafür, sie hasste ihren Fluch. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen während sie rannte. Der Mann hatte es nicht besser verdient, dessen war sich Jessica sicher. Aber musste sie sich immer einmischen? Jessica konnte es nicht lassen. Sie konnte nicht zusehen wie jemand schwaches von jemandem angegangen wurde der meinte er wäre so stark. Solche Menschen konnte Jessica nicht leiden.
„Hey!“, jemand war hinter Jessica her. Nun rannte sie so schnell sie konnte. Sie dachte ihren Herzschlag könnte selbst ihr Verfolger noch hören, so dröhnte er ihr in den Ohren. Plötzlich blieb sie stehen. Vor was soll ich denn jetzt noch weglaufen? Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, hob stolz ihren Kopf und drehte sich um. Sollte ihr Verfolger sie finden. Ein letztes Mal sollte sie gefunden werden. Und hoffentlich war dann alles vorbei.
Dieser Jemand der sie verfolgt hatte, war umgeben von einem schwarzen Mantel, man konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. „Ich ergebe mich“, sagte Jessica so überzeugend wie sie konnte. Sie zitterte am ganzen Leib, aber sie wollte hoch erhobenen Hauptes dem Tod entgegen sehen. Der Unbekannte blieb einige Meter vor ihr stehen und murmelte leise vor sich hin. Jessica runzelte die Stirn, kurz darauf wurde ihr schwarz vor Augen und sie fiel in Ohnmacht.
Als sie wieder zu sich kam konnte sie nichts sehen. Sie versuchte sich zu bewegen, aber auch das gelang ihr nur schwer. Um ihre Handgelenke und an den Knöcheln befanden sich schwere Eisenketten, auch um ihren Hals war eine geschlungen. „Hallo?“, rief sie in die Dunkelheit hinein. Doch sie bekam keine Antwort.
„Sie wird uns alle umbringen wenn du sie frei lässt“, merkte Konfas an. Sein Bruder Loras schüttelte den Kopf, „nicht, wenn ich ihr alles erkläre“. „Seit Jahren beobachtest du sie. Warum sie?“, fragte Konfas, er sah seinem Bruder in die Augen. „Irgendetwas hat mich schon immer zu ihr hingezogen. Warten wir ab was die Zeit bringen mag“. Loras ging von seinem Podest hinunter in die Kerker um mit dem eigenartigen Mädchen zu reden. Er wollte nicht, dass sie ihnen misstraute, doch was hatten sie mit ihrer Gefangennahme schon angerichtet? Er wusste es nicht. Aber er hoffte stets das Beste. Dieses Mädchen würde ihnen helfen, dessen war er beinahe sicher.
„Hallo“, sagte Loras als er unmittelbar vor Jessica stand. „Bring mich einfach um. Ich habe keine Lust auf ein kleines Schwätzchen“, sagte sie kühl. „Ich werde dir den Sack vom Kopf nehmen und deine Ketten abnehmen. Allerdings musst du mir versprechen ruhig zu bleiben“, sagte er ruhig. Jessica verstand nicht was vor sich ging. Der Sack verschwand – sie blinzelte ein paar Mal und sah einen Mann. Ein großer Mann mit Dreitagebart, einem schwarzen Umhang und kostbar aussehenden Lederstiefeln. „Ich werde jetzt die Ketten lösen“, sagte er genauso ruhig wie vorhin, er schien keine Angst vor ihr zu haben. Nachdem die Ketten von ihren Gelenken und dem Hals verschwunden waren saß sie reglos auf dem Boden. „Ich bin Loras“, er streckte ihr eine Hand hin um ihr beim Aufstehen zu helfen. „Jessica“, sie sah ihn nicht mehr an. Sie schaute sich in diesem Raum um und kam zu dem Entschluss, dass sie in einem Kerker saß. Überall hingen schwere Eisenketten und man kam nur in diesen Raum, wenn man durch eine Gittertür trat. „Ich habe nicht vor dich zu töten“, Loras sah sie unverwandt an. „Du weißt, dass ich dich töten kann? Wenn ich will, bist du in ein paar Sekunden tot“, ihre Stimme zitterte, als hätte sie Angst. „Ja. Ich weiß. Aber du wirst es nicht tun“, Loras war die Ruhe in Person. Nun schaute Jessica ihm doch wieder in die Augen, „Warum sollte ich das nicht tun?“. „Weil ich dir nichts getan habe“. „Du hast mich hier her gebracht“, zischte Jessica leise. „Nicht um dich zu töten“. Jessica verstand nicht warum man sie dann hier her gebracht hatte. Ihr fiel ein, dass sie Ohnmächtig geworden war – nur warum, daran konnte sie sich nicht erinnern. Ob es die Angst gewesen war? „Was hast du mit mir vor?“, fragte Jessica gerade heraus. Loras lächelte, „du wolltest im Wald gefunden werden? Nicht wahr?“. Jessica runzelte die Stirn, „wie kommst du auf sowas?“. „Schon gut. Komm einfach mit mir mit und ich zeige dir alles“, Loras reichte Jessica wieder eine Hand hin, aber sie stand allein auf und schaute auf den Boden. Sie dachte sich, schlimmer kann es nicht mehr werden.
Sie befanden sich in einem kleinen Haus inmitten eines Waldes. „Hier wohnst du?“, fragte Jessica als sie sich die niedliche Hütte von außen anschauten. „Ja. Ich bin nicht gerne unter vielen Menschen“, gestand er. Im inneren gab es vier Zimmer. Zwei Schlafgemächer, eine Küche, ein Badezimmer und einen Raum in dem ziemlich viele Bücher waren. Nicht luxuriös und doch schön. Jessica hatte noch nie in einem solchen Haus gewohnt und beneidete diejenigen die es konnten. „Wenn du willst kannst du bleiben“, sagte Loras leise. Jessica war in Gedanken jedoch ganz woanders. Sie hatte einmal einen Mann getötet, der in so einem ähnlichen Haus gelebt hatte. Sie hatte ihn dabei erwischt wie er seine Tochter vergewaltigen wollte. „Jessica?“, fragte Loras als er bemerkte, dass sie ihm nicht zugehört hatte, „was sagst du dazu?“. „Zu was?“. „Ich habe dir angeboten zu bleiben wenn du möchtest“, sagte er lächelnd. Jessica sah ihm in die Augen, „warum solltest du wollen, dass ich bei dir bleibe?“. Sein Lächeln verschwand nicht, „du sahst aus, als hättest du kein Zuhause. Ich wollte nur nett sein. Du weißt wo du mich findest“. Mit diesen Worten ging er einfach ins Haus. Er ließ sie draußen stehen.
Jessica entfernte sich ein paar Meter vom Haus und setzte sich unter einen Baum. Was ging hier vor sich? Sie war bereit gewesen zu sterben. Sie wollte sich all den Menschen die sie so abgrundtief hassten stellen und mit diesem Leben abschließen. Da tauchte dieser Kerl auf, band sie in seinem eigenen Kerker fest und erklärte ihr dann sie könne hingehen wohin sie nur wollte. Er wusste, dass sie Menschen töten konnte ohne sie anzufassen und trotzdem lud er sie zu sich ins Haus ein. War dieser Mann lebensmüde? Und dann ließ er sie einfach draußen stehen. Er schien zu wissen was er tat und doch war sich Jessica nicht sicher. Aber irgendetwas hatte er an sich. Jessica würde gern mehr über den jungen Mann wissen, über sein Leben. Würde gern mit ihm über Belanglosigkeiten sprechen. Und gegen ein Dach über dem Kopf sprach auch nichts. Nachdem sie alles noch einmal durchdacht hatte – draußen war es inzwischen dunkel geworden – ging sie an die Tür des Häuschens und klopfte. Nach kurzer Zeit erschien Loras und bat sie hinein. „Ich… also, ich bleibe nicht lang“, fing Jessica an, doch rasch wurde sie von Loras unterbrochen, „Du kannst so lang bleiben wie du willst. Ich freue mich über nette Gesellschaft“. Sein Lächeln konnte Eisberge schmelzen, dachte Jessica. Sie hatte lang nicht mehr gelächelt, hatte geglaubt es verloren zu haben… und doch, jetzt sie lächelte. Wenn sie dieser Mann mit diesem Blick ansah musste sie mitlächeln. „Danke“, hauchte sie, zu mehr war sie nicht in der Lage gewesen. Sonst hätte sie wahrscheinlich angefangen zu weinen. „Gern“, war seine kurze und dennoch so freundliche Antwort gewesen, dass Jessica ihn am liebstem umarmt hätte. Seit langer Zeit wurde sie behandelt wie ein normaler Mensch. Seit langer Zeit fühlte sie sich nicht mehr ausgestoßen. „In dem Kessel ist noch Suppe. Wenn du Hunger hast, nimm dir was“, Loras zeigte auf einem Kessel der über dem Feuer im Kamin hing. Jessica nickte, nahm sich eine Schüssel und schöpfte sich etwas hinaus. Suppe. Etwas Warmes zu Essen hatte sie lang nicht mehr gehabt. Schweigend schlürfte sie sie aus und überlegte sich noch eine Schüssel zu nehmen. Entschied sich dann aber dagegen, denn seine Gastfreundschaft wollte sie nicht ausnutzen. Loras wusste, dass sie noch Hunger hatte, aber er wollte ihr nichts aufdrängen. Im Moment hatte sie genug zu verarbeiten. Ob sie ihm vertraute? Er glaubte es nicht. Loras erkannte Menschen die jedem schnell vertrauten… aber Jessica zählte nicht dazu. Obwohl Loras viel über sie wusste, wusste er wahrscheinlich noch lange nicht alles. Ob es gut oder schlecht war, würde er noch herausfinden.
„Ich habe dir schon ein Schlafzimmer fertig gemacht Jessica“, sagte Loras, als sie ihre Suppe aufgegessen hatte. „Das wäre nicht nötig gewesen“, Jessicas Stimme war ganz leise. Sie wusste nicht wie sie damit umgehen sollte, dass jemand nett zu ihr war. Außerdem hatte sie nicht die geringste Ahnung wie sie ihm danken sollte. „Doch, keine Diskussion. Es ist das erste Zimmer rechts, wenn du die Treppe hinauf gehst“, in seiner Stimme lag ein Unterton den Jessica nicht zu deuten vermochte. Der Einfachheit halber sagte sie nur, „danke. Gute Nacht Loras“. Der junge Mann lächelte, „Gute Nacht, Jessica“. Jessica stand auf und ging Richtung Treppe. Beim hinaufgehen sagte sie leise, „Jess“. „Gute Nacht, Jess“, Loras schmunzelte. Und als ob sie sein Lächeln wieder anstecken würde, grinste sie bis sie in ihrem Zimmer angekommen war.
Es war groß, es waren viele Möbel darin. Ein eigener Waschtisch, ein großes Himmelbett, eine Kommode, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein großer Spiegel. Vor einem kleinen Fenster hingen schöne Gardinen. Loras musste viel Geld haben. Und er musste ein guter Mensch sein, wenn er sie bei sich wohnen ließ obwohl er wusste was sie anrichten konnte – mit einem Blick. Jess ging zum Fenster und schaute in die Nacht. Von hier oben konnte sie Bäume sehen, die Sterne, den Mond. Es war wunderschön. Das erste Mal seit langer Zeit konnte sie den Sternenhimmel betrachten ohne dass sie fror. Sie wusste nicht mehr wie lang sie am Fenster gestanden hatte, aber irgendwann übermannte sie die Müdigkeit. Sie Zog ihren Mantel aus, legte ihn behutsam über einen Stuhl, schlüpfte aus ihren alten, kaputten Stiefeln und legte sich ins Bett. Es war so weich, so bequem. Es dauerte nicht lang und sie schlief.
Währenddessen saß Loras mit einem Glas Wein in seiner Bibliothek und dachte nach. Über Jessica. Jess. Sie war zerbrechlich und stark zugleich. Niemals hatte er einen Menschen mit solchen Fähigkeiten kennengelernt. Sie faszinierte ihn auf mehrere Weisen. Unter ihrem Mantel konnte man nur erahnen was sie verbarg, dennoch konnte man schon an ihrem Gesicht erkennen was für eine schöne, junge Frau sie ist. Und ihre Augen erst. Loras hatten sie schon in ihren Bann gezogen. Sie bewegte sich leise, aber nicht anmutig – dass konnte sie aber noch lernen von ihm. Sie trug ihren Kopf mal anmutig wie eine Königin und mal so verängstigt wie ein geschlagenes Kind. Wahrscheinlich war sie das. Er wusste von ihrer Zeit im Waisenhaus und auch von dem Hexentest wusste er. Er wusste, dass sie floh und überall stahl was sie nur konnte um zu überleben. Keine einfache Zeit für jemanden wie sie. Sie war … ja… mysteriös, aber auf eine gute Art und Weise. Sie war ein guter Mensch, davon war Loras überzeugt. Wenn auch als einziger seiner Familie. Er hatte beobachtet wie sie Menschen tötete und niemals hatte sie jemanden ohne Grund getötet. Jeder hatte etwas verbrochen, ob es nun eine Vergewaltigung war, brutale Übergriffe auf Schwächere. Er würde ihr beibringen wie man kämpfte, wie man las, wie man schrieb, wie man kochte, wie man Spaß haben konnte. Er würde ihr die schönen Seiten des Lebens zeigen. Und wenn sie ihm vertraute, würde er sie in seine Pläne einweihen. Aber bis dahin hatten sie noch Zeit. Viel Zeit.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2014
Alle Rechte vorbehalten