Cover

Nein - Nur Dir kann ich vertrauen

 

 

 

 

Nein!

von

Bonnyb. Bendix

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, Vervielfältigung und Veröffentlichung nur mit Genehmigung des Autors. Das Buch enthält explizite homoerotische Handlungen.

Die Handlung, die handelnden Personen, Orte und Begebenheiten des Buches sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ebenso ihre Handlungen sind rein fiktiv, nicht beabsichtigt oder wären rein zufällig. Sämtliche Personen aus dieser Geschichte entspringen meiner Fantasie.

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35 (Rückblick)

Kapitel 36

Epilog

Nein!

 

Prolog

 

Viele Menschen wissen lange Zeit nicht, welchen Beruf sie einmal ausüben möchten. Eigentlich war ich mir bei der Wahl meines Berufes von Anfang an sicher. Schon als kleiner Junge antwortete ich, wenn mich Oma, Opa oder Tante fragten, was ich denn mal werden wolle, wenn ich groß bin, immer nur eins, und das wie aus der Pistole geschossen: „Polizist!“ Natürlich ist das ein Berufswunsch, den sicher fünfzig Prozent aller Jungen in den ersten Jahren ihres Lebens nennen, im gleichen Atemzug mit Feuerwehrmann und Baggerfahrer. Zuerst war es auch nur die Uniform, die Pistole und die Tatsache, dass Autos auf der Kreuzung nach meinem Befehl fahren mussten, die ich an dem Beruf so toll fand. Aber je älter ich wurde, desto mehr rückte etwas anderes in den Vordergrund. Mein Land zu beschützen, ein verlängerter Arm des Gesetzes zu sein. Menschen hinter Gitter zu bringen, die unserem Land Schaden zufügen wollen, und vor allem die zu beschützen, die zu schwach sind es selbst zu tun. Ein Jurastudium schien mir zu schwer und außerdem wollte ich lieber an der „Front“ meinen Dienst tun, als Gesetzesbücher zu wälzen und Paragrafen zu verdrehen. Später ärgerte ich mich oft über diese Entscheidung, immer dann, wenn wieder einmal ein Krimineller, den ich hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, wieder auf freiem Fuß landete, weil sein Rechtsverdreher ihn irgendwie rausgeboxt hatte. Dass der Tag kommen würde, an dem ich alles infrage stellte, an das ich bis jetzt geglaubt hatte, hätte ich nie gedacht. Aber genauso kam es, und zwar in Form von Jeremias Seidler.

 

Kapitel 1

 

„Tom, ich wäre dir dankbar, wenn du nachher pünktlich bist, bitte! Heute ist es mir wirklich wichtig, dass du mal mich und nicht deinen Beruf an erste Stelle rückst!“ Paula drückte mir einen Kuss auf den Mund und hielt mich am Jackenärmel fest, zwang mich ihr in die Augen zu sehen und ihre Bitte auf Pünktlichkeit zu bestätigen. Mein Name ist Tom Müller, ich bin siebenundzwanzig, Polizist, und ja, Paula litt des Öfteren darunter, dass ich meinen Beruf mit Leib und Seele ausübte. Aber diesmal erwartete sie absolute Pünktlichkeit, denn ich sollte sie auf eine Geburtstagsfeier ihres Vorgesetzten begleiten. Sie arbeitete im Amtsgericht in der Verwaltung und zur Feier wurde ausdrücklich auch der Partner eingeladen. Sie war es leid, immer und überall allein aufzutauchen und wollte ein Mal auch ihren Partner präsentieren. Ihre Kollegen witzelten schon über sie, dass ich wohl nur ihr imaginärer Freund sei, und wollten endlich Beweise sehen. Am besten in Fleisch und Blut und weil wir nun schon fast drei Jahre zusammen waren, gab es keine Ausrede mehr, um mich davor zu drücken. Ich nickte, nuschelte ein Ja und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.

 

„Wann und wo muss ich da sein?“, witzelte ich, duckte mich schnell, bevor sie mich schlagen konnte. Paula hatte mir mindestens schon drei Mal an diesem Morgen die Lokalität und die Zeit genannt und reagierte dementsprechend kratzbürstig.

 

„Übertreib es nicht, Tom, ich mein es ernst.“ Ihr strenger Gesichtsausdruck wechselte und ein leichtes Grinsen schlich sich um ihre Mundwinkel.

 

„Wirklich, Tom, lass mich nicht betteln, okay?“ Sie sah mich bittend mit ihren großen, grünen Katzenaugen an und ich nickte noch einmal bestätigend und versprach pünktlich zu sein. Wie immer, wenn man solche Versprechungen macht, weiß man quasi vorher schon, dass man sie nicht wird einhalten können. Mein Bauch sagte mir, als ich Paula den Rücken zudrehte und die Tür hinter mir ins Schloss fiel, dass es bestimmt mal wieder schwierig werden dürfte. Wenn ich ehrlich mit mir war, schob ich aber auch gern meine Arbeit vor, um derartige Veranstaltungen nicht besuchen zu müssen. Ich gehöre eher zu der Sorte Mensch, die nicht gern im Vordergrund stehen. Auf Menschen zuzugehen fällt mir schwer. Hätte Paula nicht damals die Initiative ergriffen und mich angesprochen, wären wir wohl nie ein Paar geworden. So aber hatte ich ihrem Charme und ihrer Liebenswürdigkeit nichts entgegenzusetzen. Mit ihren grünen Augen und dem kurzen roten Haar gefiel sie mir auf Anhieb und ihre schlanke, beinahe androgyne Figur passte zu ihren geschmeidigen, katzenartigen Bewegungen. Sie lachte gern und viel und steckte mich damit an. Wir lernten uns in der U-Bahn kennen, saßen uns dort gegenüber und wechselten verstohlene Blicke. Kurz bevor sie aussteigen musste, sprach sie mich an, griff in ihre Jackentasche und drückte mir ihre Visitenkarte in die Hand. Wahrscheinlich nur, weil ich in Uniform steckte und keine Gefahr von einem Gesetzeshüter ausging. Ich meldete mich dann wirklich bei ihr, überwand meine Schüchternheit und wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Wohl der erste und einzige Termin, an dem ich pünktlich erschien. Es wurde ein toller Abend, an dem ich mich sofort in Paula verliebte. Sie stellte eine perfekte Mischung aus Kumpel und Geliebte da. Mit ihr konnte man Pferde stehlen, aber sie verstand es auch, mich mit ihren Reizen um den Verstand zu bringen. Sie ließ mir die Freiräume, die ich aufgrund meines Berufes brauchte, und konnte sich auch ohne mich verwirklichen. Aber ab und zu wollte sie eben auch einen Partner an ihrer Seite und leider versetzte ich sie oft und kam zu spät oder eben gar nicht. Unsere gemeinsamen Freunde kannten das von mir, aber diesmal ging es um ihre Kollegen und ich fühlte mich dort eben nicht so wohl, oder ich redete mir das ein, denn kennengelernt hatte ich natürlich noch niemanden. Erst einmal verdrängte ich den kommenden Abend und konzentrierte mich auf meine Arbeit.

 

Auf der Wache wurde ich lautstark begrüßt und gemeinsam mit Thorsten, meinem Kollegen, begab ich mich zum Umziehen in die Kabine. Mit Thorsten fuhr ich am liebsten auf Streife, denn wir waren ein eingespieltes Team. Redeten nie übermäßig viel, aber fühlten uns auch im Schweigen ganz wohl. Thorsten konnte ich blind vertrauen und wir wussten meist, wie der andere in brenzligen Situationen reagierte. Auch privat trafen wir uns, so oft es der Dienstplan zuließ, obwohl sich bei ihm und auch bei mir das Leben sowieso hauptsächlich auf der Wache abspielte. Heute stand nichts Besonderes auf dem Plan. Am Morgen fuhren wir an den Schulen Streife, um gerade bei Matsch und Schnee die Grundschule in unserem Bezirk abzusichern. Die Kinder liefen durch die aufgetürmten Schneeberge gern an nicht geschützten Stellen über die Straße, bewarfen sich mit Schnee und passten nicht auf den Verkehr auf. Nachdem wir den Schulweg gesichert hatten, hielt Thorsten an einem Bäcker und besorgte uns ein zweites Frühstück. Der Tag begann angenehm ruhig.

 

Am Anfang meiner Dienstzeit liebte ich die Aufregung, die Gefahr; später zweifelte ich manchmal, ob es sich lohnte, sein Leben für Idioten aufs Spiel zu setzen. Zum Beispiel für Menschen, die sich prügeln, weil sie keine andere Beschäftigung hatten. Dann aber wusste ich, dass ich es für die tue, die unbeabsichtigt Opfer werden, die meine Hilfe brauchen. Einsätze, die mich forderten und bei denen das Adrenalin nur so durch meinen Körper pumpte, liebte ich früher besonders. Nicht nur ein Mal landete ich im Krankenhaus, weil ich mir Platzwunden von Schlägereien oder Demos eingefangen hatte. Paula fand das überhaupt nicht witzig und forderte mich auf, nicht immer diese Einsätze zu suchen und mich sogar freiwillig dafür zu melden. Aber das war es, was ich liebte. Ich fühlte mich lebendig und wichtig. Das Agieren mit meinen Kameraden, die klaren Richtlinien und der Zusammenhalt während eines Einsatzes befriedigten mich. Nur manchmal, wenn Paula mich mit Tränen in den Augen vom Krankenhaus abholte, überkam mich ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber und außerdem wurde ich mir der Gefahr, in die ich mich begab, erst dann so richtig bewusst. Aber dann verdrängte ich es, denn anders konnte man den Job nicht erledigen.

 

Genauso musste ich versuchen die Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Das Elend und die Ungerechtigkeit bekam ich hautnah zu sehen, jeden Tag und in den Nächten erst recht. Prostitution, häusliche Gewalt, Kindesmissbrauch, Raub, Körperverletzung, Vergewaltigung und Mord gehörten genauso zu meinem Beruf, wie einer alten Frau über die Straße zu helfen oder eine Verkehrskontrolle durchzuführen. Menschliche Schicksale nicht an mich heranzulassen, gestaltete sich schwierig. Manchmal erschreckte es mich, dass Gerechtigkeit nicht immer das war, was ich mir als Kind darunter vorgestellt hatte. Recht haben und bekommen waren zwei verschiedene Dinge. Ich war dazu da, Straftäter zu fangen; andere versuchten diese gerecht für ihre Taten zu bestrafen. Aber deren Meinung, was wirklich gerecht war, traf sich oft nicht mit dem, was ich darüber dachte. Ich hielt Justitia bisweilen für blind.

 

Der heutige Tag verlief ruhig und so hatte ich am Ende tatsächlich keine Ausrede, das Revier nicht pünktlich zu verlassen. Eine Stunde später saß ich neben einer glücklich strahlenden Paula im Restaurant und versuchte den netten Freund zu mimen. Natürlich war ich nett, aber eben nicht so gesellschaftstauglich. Ich fühlte mich angestarrt und unwohl, wusste nichts zur Unterhaltung beizutragen. Paulas zufriedenes Gesicht ließ mich den Abend ertragen. Ich versuchte an den richtigen Stellen zu lachen, hielt ihre Hand, ließ mich von ihr küssen und hielt brav bis 23:00 Uhr durch. Als Entschädigung liebten wir uns zärtlich, als wir endlich in unserem kuschligen Bett lagen. Ich war froh, mich vorerst eine Weile vor solchen Veranstaltungen drücken zu können.

 

Die Woche verlief verhältnismäßig ruhig, denn nach der Weihnachtszeit, die ein Garant für Ärger darstellte, lief es jetzt wieder in geordneten Bahnen. Thorsten und ich mussten die nächsten Tage in den Einkaufspassagen und den Outdoor-Eisbahnen Streife laufen. Taschendiebe bereicherten sich zuhauf an den ahnungslosen und leichtsinnigen Besuchern, die nicht merkten, wie ihnen an der Glühweinbude und im Gedränge der Kaufhäuser das Geld aus der Tasche geklaut wurde. Einen konnten wir erwischen. Er gehörte wohl einer rumänischen Diebesbande an und seine Straftaten füllten schon eine beachtlich dicke Akte, obwohl er noch nicht einmal vierzehn Jahre alt war. Ein Grund, warum er auch diesmal wieder ohne Strafe davonkam. Ein Kampf gegen Windmühlen, der mich oft genug wütend machte.

Als ich am Abend Dienstschluss hatte, fragte man mich, ob ich eine Nachtschicht dranhängen könnte. Einer meiner Kollegen sei ausgefallen. Meist wurde ich gefragt, weil ich nie ablehnte, und auch diesmal sagte ich zu, schrieb Paula eine Nachricht, dass sie nicht mit mir zu rechnen brauche. Natürlich war sie nicht begeistert, aber ändern konnte sie an meiner Entscheidung sowieso nichts mehr. Hätte ich dieses eine Mal abgelehnt, wäre alles anders gekommen.

 

So aber fuhr ich mit Kevin, der ein ganz schönes Großmaul war, Streife. Auf den Straßen war nicht viel los. Wir wollten gerade an einer Pommesbude anhalten, als die Zentrale einen Notruf durchgab. Verletzte Person vor dem Club „Sunrise“. Da wir uns am nächsten an dem Club befanden, mussten wir nach dem Rechten sehen. So fuhren wir mit Blaulicht zum Einsatzort, einem Nachtclub, bevorzugt von Homosexuellen besucht. Kevin moserte, dass wir lieber die anderen hätten fahren lassen sollen.

 

„Ich hab keinen Bock auf die Tunten. Was soll schon passiert sein? Die haben sich mit Wattebäuschen beworfen und heulen ’ne Runde“, frotzelte er und lachte. Ich musste grinsen bei der Vorstellung. Witzeleien über Schwule gehörten zum „Guten Ton“. Meist harmlose Witze, wie die über Blondinen, Polen, Ausländer im Allgemeinen. Nahm man sie nicht allzu ernst, musste man auch darüber schmunzeln. Ich versuchte, immer wertfrei an alles ranzugehen. Nicht bestimmte Volksgruppen über einen Kamm zu scheren, immer jeden Fall neu zu beurteilen. Nicht immer einfach, da Klischees oft zutrafen oder es eben so schien, als ob sie wahr wären. Wir als Polizisten bekamen eben nur die Straffälligen unter die Finger und nicht die Millionen anderen, die unbescholten lebten. Über Homosexuelle bildete ich mir kein Urteil. Unter Polizisten gab es eigentlich keine und wenn, dann lebten sie nicht geoutet. Hier war man taff und an der Front vertraute man sein Leben keiner „Schwuppe“ an.

 

Sollten Schwule unter „meinen“ Straftätern sein, dann wusste ich es nicht. Ab und zu mussten wir eingreifen, weil gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle verübt wurden, und das kam leider recht häufig vor. Manchmal ärgerte ich mich über die meist sehr tuntig angehauchten Männer. Sie spielten wirklich sehr provokant mit den Geschlechterrollen und stellten ihre Sexualität zur Schau. Dass viele Menschen daran Anstoß nahmen, konnte ich bisweilen verstehen. Sicher, jeder soll nach seiner Fasson glücklich sein, aber manche Provokation zog nun mal negative Folgen nach sich. Für viele Menschen, die ich kannte, waren Schwule nur bunt angemalte Transen, die in Stöckelschuhen und Frauenklamotten umherliefen. Sie empfanden es als eine Art Aufzwingen. Radikale Menschen belassen es leider nicht bei bloßem Beschimpfen oder Witze reißen, sondern reagierten in Form von gewalttätigen Übergriffen. Auch diesmal vermutete ich etwas Ähnliches.

 

Als wir eintrafen, hatte sich in einer engen Gasse eine Traube um etwas gebildet, was uns durch den Menschenauflauf verborgen blieb. Mit dem Megafon verschafften wir uns Aufmerksamkeit und die Menge teilte sich. Zum Vorschein kam ein auf dem Boden liegender Mann. Er war zur Hälfte entblößt und sein Körper übersät mit Blutergüssen. Ein anderer kniete daneben und kümmerte sich um den bewusstlosen Mann, versuchte ihn mit seinem Körper vor den Handykameras abzuschirmen. Alle anderen standen sensationslüstern nur drumherum. Während Kevin sich um die gaffende Menge kümmerte, kniete ich mich neben den am Boden liegenden Mann und den, der auf ihn aufpasste. Eine der schlimmsten Unsitten war es seit geraumer Zeit, alles und jeden mit der Handykamera zu filmen und es sofort ins Netz hochzuladen. Eine strafbare Handlung, aber kaum zu unterbinden. Der bewusstlose Mann wollte garantiert nicht gefilmt werden.

 

Professionell untersuchte ich den Mann selbst nach seinen Vitalfunktionen, brachte ihn vorsichtig in die stabile Seitenlange und bestellte dann sofort über Funk den Rettungsdienst. Leider musste ich für die Beweislage ein paar Fotos schießen, was mir diesmal total unangenehm war. Der Mann lebte, aber aus einer Platzwunde am Kopf lief Blut. Auch sonst sah alles nach einer Vergewaltigung aus. Die Hose, die in den Kniekehlen hing, Blutergüsse von Penetrationsversuchen, Blut, das zwischen seinen Beinen herauslief. Ein komisches Gefühl packte mich, denn auch wenn ich schon häufig Opfer von Vergewaltigungen gesehen hatte, stellte sich das hier für mich anders da. Einen vergewaltigten Mann hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen.

 

Kapitel 2

 

Kevin kümmerte sich um mögliche Zeugen und verscheuchte den Rest der Schaulustigen. Ich hasste Gaffer. Statt zu helfen, behinderten diese sensationsgeilen Aasgeier nicht selten die Rettungsdienste. Ich bat Kevin, die Wärmedecke aus dem Wagen zu holen, damit der Verletzte nicht auskühlte. Es war Winter, zwar gerade um die null Grad, aber bei einem Verletzten war es wichtig, dass er die Wärme halten konnte. Der junge Mann war ungefähr in meinem Alter oder unwesentlich jünger. Auf der Straße hätte er mir entgegenkommen können und weder Outfit noch Frisur hätten ihn als schwul ausgewiesen. Als ich diesen Gedanken fertig gedacht hatte, schüttelte ich innerlich den Kopf. Was war schwul? Wie sah man aus, wenn man schwul war? Sicherlich gab es ganz typische Schwule, die mit Kleidung und Styling extra ihre Neigung betonten, aber der wahrscheinlich größte Teil lebte unauffällig. Außerdem gab es nicht „den Schwulen“. Genauso wenig wie es „den Hetero“, „den Ausländer“ oder sonst was gab. Es gab sicherlich typische Merkmale auch für „den Deutschen“, aber eben nichts, was eine bestimmte Volksgruppe wirklich ausmachte. Und vielleicht war dieser Mann gar nicht schwul. Im Grunde konnte es mir egal sein, ob er es war oder nicht. Was mich zu interessieren hatte, war der Umstand, dass ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit Gewalt angetan worden war. Nach einer gefühlten Ewigkeit, ich hatte das Revier über den derzeitigen Stand der Dinge per Funk in Kenntnis gesetzt, hörte ich endlich die Sirene des Krankenwagens. Erst als die Sanitäter und der Notarzt sich um den Mann kümmerten, knöpfte ich mir den anderen vor, der die ganze Zeit neben ihm ausgeharrt hatte.

 

„Ich brauche Ihre Personalien und einen detaillierten Bericht, was hier vorgefallen ist. Wissen, Sie, wer das Opfer ist?“, begann ich das Verhör. Der geschockte Mann griff in seine Gesäßtasche und fischte seine Geldbörse heraus, in der sich der Personalausweis befand. Giuseppe P. war dreiundzwanzig Jahre und wohnte in Berlin. Er kannte das Opfer flüchtig und meinte, es handele sich um Jeremias Seidler. Der wäre ungefähr siebenundzwanzig und öfter im „Sunrise“, der Disco, an deren Hinterausgang er bewusstlos gefunden wurde. Diese dunkle Gasse schien ein beliebter Ort für schnellen Sex zu sein, denn bei genauerem Hinsehen machte ich unzählige gebrauchte Kondome aus. Leicht angeekelt sah ich beklommen hinüber zu den Sanitätern, die dabei waren, einen Zugang zu legen und die Platzwunde zu versorgen.

 

„Können Sie mir etwas zu dem Geschehen sagen. Haben Sie etwas gesehen?“, fragte ich weiter. Noch konnte man nicht davon ausgehen, dass er nicht vielleicht selbst daran beteiligt gewesen war. Giuseppe schüttelte den Kopf.

 

„Jeremias war im, Sunrise‘ und hat da getrunken und gefeiert. Wir haben uns kurz unterhalten, aber er war an einem anderen Kerl interessiert und darum hab ich dann das Weite gesucht“, erklärte er mir.

 

„Das heißt, er war in Begleitung hier. Kannten Sie den anderen Mann?“, fragte ich nach.

„Er war nicht in Begleitung. Er suchte sich was für den Abend zum Vögeln. Und den anderen Kerl, den kannte ich nicht. Hab den noch nie gesehen. Die beiden haben rumgeknutscht, ein bisschen gefummelt. Jeremias ist oft hier und ich habe auch ab und zu Sex mit ihm, aber diesmal hatte er die Angel woanders ausgeworfen“, erklärte Giuseppe offenherzig. Mir wurde heiß und unwohl zur gleichen Zeit, denn das Gehörte rief unfreiwillige Bilder in meinem Kopf hervor. Bilder, die ich nicht sehen wollte und die noch nie einen Weg in meinen Kopf gefunden hatten. Warum lag Seidler hier so zugerichtet, wenn er doch Sex gesucht hatte und sich nicht das erste Mal in dieser Gasse sexuell betätigte?

 

Das „Warum“ galt es herauszufinden, und natürlich das „Wer“. Ich entließ den Zeugen, nachdem ich alle Personalien festgehalten hatte und ihn für den nächsten Tag ins Präsidium vorlud. Kevin hatte auch drei Zeugen ausfindig gemacht und war ähnlich verfahren wie ich. Gemeinsam wendeten wir uns jetzt dem Verletzten zu, den die Sanitäter gerade auf die Transportliege legten und festschnallten. Natürlich hätte ich gern sofort ein paar Fragen gestellt, aber der Schlag auf den Kopf musste ganz ordentlich gewesen sein, denn er öffnete die Augen immer nur für wenige Sekunden und driftete dann wieder zurück in die Bewusstlosigkeit.

 

„Ich werde mit ins Krankenhaus fahren und dort warten, was die Ärzte sagen, und darauf hoffen, dass er aufwacht und ich ihn gleich befragen kann, okay?“ Kevin nickte und pflichtete mir bei. Ganz sicher hatte er wenig Lust, bei der vermeintlichen Schwuchtel am Bett zu sitzen. Warum ich mich freiwillig dazu bereit erklärte? Keine Ahnung, aber Kevin galt als nicht besonders emphatisch und darum nahm ich das Ganze lieber selbst in die Hand. Wir fuhren dem Krankenwagen hinterher und Kevin ließ mich dann aussteigen.

 

„Also dann viel Spaß bei der Schwuchtel!“, witzelte er, aber diesmal fand ich es nicht ansatzweise lustig. Ich hob nur die Hand zum Gruß, drehte mich um und begab mich zum Krankenwagen, wo die Sanis gerade Seidler ausluden. Als wir die Notaufnahme betraten und das grelle Licht auf den Verletzten fiel, wurde erst richtig klar, wie furchtbar er aussah. Seine Mundwinkel waren aufgerissen, die linke Wange war blau und das Auge an der Seite ebenfalls. Er hatte Abschürfungen an den Armen und insgesamt war dem Mann übel mitgespielt worden. Das markante und dennoch feingeschnittene Gesicht wirkte blass. Das kurze dunkelblonde, ehemals gut gestylte Haar war jetzt verwuschelt und Blut klebte darin. Ich ging den Sanis hinterher und fragte nebenbei den Arzt nach dem Befinden und seiner Diagnose.

 

„Sie sehen ja selbst, dass es ihm beschissen geht. Wegen des Schlags auf den Kopf muss er geröntgt werden. Ich vermute, dass er außerdem innere Blutungen hat. Wir müssen wahrscheinlich seinen Darm nähen, denn durch die Penetration wurde dieser beschädigt. Die Blutungen können lebensgefährlich sein. Am besten lassen Sie Ihre Nummer hier, denn er muss notoperiert werden! Wir melden uns dann, wenn er wieder wach ist“,erklärte mir der Arzt. Ich erschrak und mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Innere Blutungen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Welche Kraft hinter den Stößen gesteckt haben musste, mochte ich mir auch nicht vorstellen. An meinem betretenen Gesichtsausdruck sah der Arzt, dass ich erst jetzt begriff, wie ernst Seidlers Verletzungen eigentlich wirklich waren.

 

„Was haben Sie erwartet, das Ganze sieht nach einer rücksichtslosen Vergewaltigung aus!“, erklärte er mir.

 

„Aber er ist ein Mann, er kann sich doch wohl wehren!“, rutschte es mir heraus. Irgendwie leuchtete mir nicht ein, wie es dazu kommen konnte und warum er sich nicht einfach gewehrt hatte. Kraft wird er doch bestimmt genug gehabt haben. Der Arzt schüttelte den Kopf und sah mich böse an.

 

„Ich hab jetzt keine Zeit, mich mit Ihnen zu streiten oder Ihnen das zu erklären, denn ich muss das Leben dieses Mannes retten.“ Damit drehte er sich um und verschwand in einem der OPs. Ich nahm das Diktiergerät aus der Jackentasche und vermerkte die Diagnose des Arztes und die Vermutung, dass es sich um eine Vergewaltigung handelte. Viel mehr konnte ich in diesem Moment nicht ausrichten. Es hieß warten, bis der Patient wieder bei Bewusstsein war. Ich hinterließ im Schwesternzimmer eine Nachricht, dass sie mich sofort informieren sollten, wenn Jeremias Seidler das Bewusstsein wiedererlangt hatte, und machte mich auf den Weg zurück. Sollte ich Kevin anrufen, damit er umdrehte und mich abholte? Ich entschied mich dagegen. Irgendwie zog es mich zurück zu dem Club. Ich hoffte, noch Hinweise zu bekommen, irgendetwas, was uns bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte. Mit der U-Bahn fuhr ich zurück, ein unruhiges, seltsames Gefühl in der Magengegend. Die Reaktion des Arztes auf meine unbedachte Äußerung lag mir im Magen. Normalerweise sollte man erst denken und dann sprechen. Trotzdem leuchtete mir nicht ganz ein, wie ein Mann einem anderen nicht Einhalt gebieten konnte. Frauen waren Männern körperlich klar unterlegen, aber Seidler sah nicht unbedingt schmächtig aus. Seine Figur glich meiner und ich konnte mich auch gegen wesentlich stärkere Männer zur Wehr setzen.

 

Ich beschloss, in den Club zu fahren und den Besitzer nach eventuellem Videomaterial zu befragen. Vielleicht konnten wir so die Identität des Mannes herausfinden, der mit Seidler in die dunkle Gasse verschwunden war. Als ich zwanzig Minuten später vor dem mit einer regenbogenfarbenen Leuchtreklame gekennzeichneten Lokalität stand, fühlte ich mich absolut fehl am Platz. Vor der Tür herrschte reges Gedränge und ich wagte es nicht, mich intensiv umzuschauen. Die meisten Männer sahen aus wie ganz normale Pistengänger, wenngleich man schon erkannte, dass auf das Styling sehr viel Wert gelegt wurde. Ich sammelte mich, straffte meine Körperhaltung und versuchte die neugierigen und teilweise sogar anzüglichen Blicke zu ignorieren. Es wurde sich vor der Tür unterhalten, geraucht, gelacht. Pärchen standen Arm in Arm und als ich die Tür öffnete, sah ich aus dem Augenwinkel, wie zwei junge Männer sich die Zungen bis tief in den Hals schoben. Das Ganze wirkte erst mal befremdlich auf mich und ich sah zu, ins Innere des Clubs zu kommen.

 

Ein Fehler, wie ich bald bemerkte, und ich fragte mich, wie ich auf die dumme Idee gekommen war, hier allein vorbeizugehen. In der dunklen und von buntem Lichtschein durchfluteten Räumlichkeit war es stickig. Dichtes Gedränge herrschte an den Bars und auf der Tanzfläche. An sich nichts, was ich nicht aus anderen Clubs gewohnt war, aber hier gab es nur Männer. Zu dieser fortgeschrittenen Stunde hatten sich die Pärchen für die nächtlichen Abenteuer scheinbar schon gefunden. Es schien niemanden zu stören, dass in den Ecken zielgerichtete Zärtlichkeiten ausgetauscht wurden, während andere nur tanzten, redeten und ihr Bier tranken. Meine Blicke blieben an eng aneinandergeschmiegten Männerkörpern hängen, die mitunter nur leicht bekleidet waren oder in Lederfetisch-Kleidung steckten. Dem ersten Reflex folgend wollte ich mich einfach umdrehen und sofort wieder gehen, aber dann sah ich aus den Augenwinkeln, wie ein Mann im Anzug von rechts auf mich zukam. In der Jackentasche griff ich instinktiv nach meiner Dienstmarke und kaum dass der Anzugträger mich erreicht hatte, hielt ich sie ihm auch schon unter die Nase.

 

„Polizei, mein Name ist Tom Müller und wer sind Sie?“, kam ich dem Mann zuvor. Ich hatte das Gefühl, mich sofort abgrenzen, Autorität ausstrahlen zu müssen. Meine Dienstmarke stellte ein Stück Sicherheit für mich da, an der ich mich festhalten konnte. In diesen Räumlichkeiten fühlte ich mich unglaublich deplatziert. Das Treiben um mich herum irritierte und verunsicherte mich, stellte irgendwie einen Angriff auf meine eigene Sexualität da. Obwohl mich keiner berührte oder gar bedrängte, fühlte ich mich provoziert.

 

„Karsten Schmitt, ich bin der Inhaber des ,Sunrise‘. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Der Mann um die Vierzig musste gegen die Lautstärke der wummernden Bässe anschreien und zeigte mit dem Finger auf eine Tür, dann auf sein Ohr. Er bedeutete mir, ihm zu folgen, damit wir uns ruhiger unterhalten konnten. Ich folgte ihm und wenig später standen wir in einem weiß gestrichenen Flur, sperrten die Musik und das sexgeladene Szenario aus. Ich befand mich auf „neutralem“ Boden. Ich denke, dem Inhaber ging es eher darum, einen Gesetzeshüter schnellstmöglich aus dem Bereich zu schaffen, in dem seine Gäste Spaß haben wollten, nicht darum, entspannter reden zu können.

 

„Ist Ihnen bekannt, was vor circa einer Stunde passiert ist? Am Hinterausgang Ihres Clubs wurde ein Mann verletzt und bewusstlos aufgefunden. Es liegt die Vermutung nahe, dass er eventuell vergewaltigt wurde. Zeugen sagten aus, dass er zuvor hier mit einem Mann getanzt und geflirtet hat. Ich wollte wissen, ob es vielleicht Videomaterial gibt, auf dem wir den anderen Mann sehen könnten.“ Mein Hals kratzte, aber mein Mund war so trocken, dass ich kaum schlucken konnte. Immer noch herrschte Verunsicherung in mir, auch wenn der vor mir stehende Mann durch und durch seriös wirkte. Wenn er diesen Club führte, war er auch sicherlich schwul. Nachdem ich das Treiben im Hauptraum gesehen hatte, störte oder verunsicherte mich diese Tatsache.

 

Karsten Schmitt wirkte betroffen, nickte aber und erklärte mir, dass er sowohl davon gehört habe als auch über eine Videoüberwachung in seinen Räumlichkeiten verfüge. Daraufhin folgte ich ihm in sein Büro. In dem aufgeräumten Raum konnte man durch eine getönte Scheibe in den Club hineinsehen. Vor der Scheibe stand ein großer Schreibtisch, auf dem alles einen bestimmten Platz zu haben schien. An der anderen Wand befand sich ein modernes Ledersofa, vor dem ein kleiner Tisch stand, auf dem Zeitschriften mit nackten Männern lagen. An der Wand, die jetzt hinter mir lag, standen Regale mit ordentlich beschrifteten Ordnern. Der Inhaber des Clubs mochte es fast pedantisch aufgeräumt, was ihn wiederum sehr sympathisch für mich machte. Ich entspannte mich wieder ein wenig. Die andere Wand des Büros war mit sechs Bildschirmen versehen, auf denen verschiedene Ecken des Clubs zu sehen waren. Der Eingangsbereich, die Tanzfläche, der Vorraum der Toilette, der Launchbereich und die Bar. Ein Bildschirm zeigte einen Raum, in dem wohl eine Nachtsichtkamera installiert war. Was ich sah, trieb mir das Blut schamesrot in die Wangen. Es handelte sich um einen sogenannten Darkroom und die Männer hatten dort echten Sex. Ich drehte mich schnell um, wusste nicht mehr, was ich eigentlich fragen, sagen oder tun wollte. Noch nie hatte ich Männer miteinander beim Sex gesehen und obwohl sich der Sex im Grunde nicht von dem mit einer Frau unterscheidet, sah ich trotzdem etwas ganz anderes. Etwas, bei dem ich mir noch nicht im Klaren war, was ich davon halten sollte. Mein Körper reagierte jedenfalls mit einem Ziehen in den Lenden darauf, was mir nicht gefiel und Zorn oder Unwillen in mir hervorrief. Dann versuchte ich mich zu beruhigen. Der Anblick von Geschlechtsorganen rief nun mal solche Empfindungen hervor. Näher darüber nachdenken wollte ich nicht. Meine Arbeit stand im Vordergrund, sollte sie zumindest. Meine Befangenheit gegenüber homosexuellen Sexualpraktiken hatten hier keinen Platz.

 

„Okay, das sieht nach umfassender Überwachung aus. Ich brauche die Aufnahmen der vergangenen 2 Stunden. Ist das möglich?“, äußerte ich knapp mein Anliegen. Ob es zulässig war, den Darkroom zu filmen? Ich wollte die Bänder mitnehmen und sie auf gar keinen Fall hier sichten. Zum einen stellten sie mögliches Beweismaterial da, zum anderen hatte ich nur noch das Bestreben, diesen Club schnellstmöglich wieder zu verlassen und ihn am besten auch nie wieder zu betreten. Karsten Schmitt nickte, ging zu den Monitoren, unter dem jeweils ein Videorekorder angebracht war. Er nahm die Kassetten heraus und ersetzte diese durch neue. Dann legte er mir fünf Kassetten in einen kleinen schwarzen Plastikbeutel und hielt ihn mir hin. Der Darkroom wurde zwar überwacht, aber es gab dort keine Aufzeichnungen. Ich griff schnell zu und bedankte mich für die problemlose Zusammenarbeit.

 

„Sie können den Club gern durch den Hinterausgang verlassen, wenn Sie möchten“, bot mir der umsichtige Inhaber an. Anscheinend stand mir meine Unbehaglichkeit ins Gesicht geschrieben. Dankbar nahm ich sein Angebot an, folgte ihm den weißen Flur entlang und verließ wenig später den Club durch eine der zwei Hintertüren. Die zweite, die sich direkt neben der ersten befand, war der offizielle Notausgang.

 

Draußen atmete ich erst mal tief durch, füllte meine Lungen mit frischer, unverbrauchter Nachtluft. Trotzdem fühlte ich mich noch beklommen, was auch daran liegen konnte, dass ich mich wieder in der Gasse befand, in der wir Seidler übel zugerichtet gefunden hatten. Ob er alles gut überstanden hatte? Die Gasse wirkte alles andere als einladend und ich fragte mich, warum er sich überhaupt hier zum Sex hatte überreden lassen, wenn sich im Club ein Darkroom befand. Mein Handy brummte in der Tasche. Anscheinend wurde schon öfter angerufen, aber der Empfang im Club musste wohl extrem schlecht sein. Sowohl das Krankenhaus als auch Kevin hatten versucht mich zu erreichen. Zuerst rief ich das Krankenhaus zurück und erfuhr, dass Seidler die Operation gut überstanden hatte. In der nächsten Stunde wäre er ansprechbar. Ich beschloss mich von Kevin abholen zu lassen und mit ihm gemeinsam zu Seidlers Befragung zu fahren.

 

Kapitel 3

 

„Am besten verlassen Sie auf der Stelle das Zimmer. Das Letzte, was der Patient braucht, ist Aufregung. Gehen Sie, alle beide, und kommen Sie mit einer ausgebildeten Fachkraft für Vergewaltigungsopfer wieder. Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht bei Ihrem Vorgesetzten melde!“ Die eigentlich zierliche Oberschwester baute sich vor uns auf und wies mit dem Finger zur Tür. Ihr Gesichtsausdruck ließ sogar Kevin sofort verstummen, der sich gerade wie das letzte Arschloch aufgeführt hatte. Ich legte meinem Kollegen die Hand auf die Schulter und nickte der Schwester beschwichtigend zu. Jeremias Seidler lag blass in seinem Bett, drehte das Gesicht zur Wand. Seine Hand, an deren einem Finger ein Messgerät für Puls und Sauerstoffgehalt im Blut befestigt war, beschattete die Augen, damit niemand die Tränen sehen konnte, die ihm wohl aus den Augen liefen. Um meine Brust wurde es eng und ein schlechtes Gewissen machte sich breit, Kevin überhaupt mitgenommen zu haben. Ich hätte wissen müssen, dass er sich wie die Axt im Wald benehmen würde. Vor der Tür des Krankenzimmers fuhr ich ihn auch dementsprechend an.

 

„Sag mal, tickst du noch ganz richtig? Deine persönlichen Ansichten haben hier nichts verloren. Der Mann ist beinah draufgegangen und du tust so, als habe er selber Schuld. So was kannst du denken, aber nicht aussprechen!“, zischte ich. Die Schwester sah uns böse an und blieb vor der Zimmertür stehen.

 

„Was hast du dich so? Zum Ficken muss man seinen Arsch hinhalten und der Schwächste scheint er ja auch nicht zu sein. Hast du seinen Bizeps gesehen? Wenn er es härter mag, dann soll er jetzt nicht so tun, als hätte er es nicht gewollt.“ Kevin verstand gar nichts und auch wenn ich an diesem Abend schon ähnliche Gedanken gehabt hatte, sprach ich sie trotzdem nicht laut aus. Jedenfalls nicht vor dem vermeintlichen Opfer.

 

„Du fährst jetzt ins Revier und holst Bettina her, ist das klar? Ich warte hier!“, wies ich ihn an. Kevins Stirn zerfurchte eine tiefe, grimmige Falte.

 

„So viel Aufwand, weil sich der Arschficker etwas zu hart hat rannehmen lassen. Was soll das? Bettina ist für weibliche Vergewaltigungsopfer zuständig. Das ist ein Mann!“, konterte Kevin wenig sachlich. Ich verstand nicht, warum er nicht endlich Ruhe gab. Erst als die Schwester nach seiner Dienstnummer und dem Namen seines Vorgesetzten fragte, lenkte er ein, hob abwehrend die Hände und verschwand fluchend den Gang hinunter.

 

„Entschuldigen Sie, es tut mir leid, dass hier so ein unsensibles Verhalten an den Tag gelegt wurde. Mein Kollege schickt jetzt die Beauftragte für Vergewaltigungsopfer vorbei.“

 

„Es war ja nicht Ihre Schuld, aber Ihr Kollege ist ein Arschloch. Entschuldigen Sie, aber Polizisten sollten wissen, dass man sich so keinem Opfer gegenüber verhält. Wenn Sie warten wollen, dann können Sie sich hier hinsetzen.“Sie zeigte auf eine Reihe Stühle. Ich nickte ihr dankend zu und setzte mich. Diese Nacht hatte es wirklich in sich. Hätte ich vorher gewusst, was mich erwarten würde, hätte ich sicher nicht zugesagt, die Schicht zu übernehmen.

 

Die letzte halbe Stunde lief Revue in meinem Kopf ab.

Kevin kam mit dem Streifenwagen, um mich abzuholen, und kaum saß ich im Wagen, begann er schon zu frotzeln.

 

„Was hast du denn schon wieder in der Tuntenbar gemacht, gefällt dir wohl?“ Scheinbar fand er das witzig, was ich überhaupt nicht so sehen konnte. Ich war hetero und nicht schwul und meine Arbeit führte mich erneut hierher, nichts anderes. Es ärgerte mich, dass er mir unterstellte, dass es mir hier gefiel.

 

„Spinnst du? Ich war hier, um Beweismaterial zu sichern. Ich habe Videokassetten …!“ Kevin ließ mich nicht mal ausreden, sondern fiel mir feixend ins Wort.

„Du warst in dem Puff? Da bist du hoffentlich eng an der Wand langgelaufen“, höhnte er laut lachend. Immer mehr Ärger staute sich in mir. Der kurze Besuch im Club hing mir immer noch nach und das Gesehene brachte mich nachhaltig durcheinander. Kevins schwulenfeindliche Sprüche machten es nicht besser. Einerseits wollte ich zu meiner Verteidigung ins gleiche Horn blasen, andererseits hielt mich meine eigentlich vorurteilsfreie Behandlung eines jeden Menschen davon ab, genau diese dummen Sprüche zu klopfen.

 

„Nein, es gab keinen Grund, das zu tun. Keiner dachte, dass ich ein bezahlter Stripper bin, also gib Ruhe. Ich hoffe, die Videobänder geben uns Aufschluss, was passiert ist und wer der Vergewaltiger war.“, versuchte ich das Gespräch wieder in ordentliche Bahnen zu lenken. Aber Kevin hatte nicht vor, damit aufzuhören. Das Thema gefiel ihm scheinbar.

 

„Hallloooo, wer sagt denn, dass er nicht freiwillig mitgemacht hat? Die ficken doch eh mit jedem rum. Was glaubst du, warum die alle an Aids krepieren?“ Seine Stimme hatte diesen fiesen Unterton, gepaart mit einem beinahe hasserfüllten Gesichtsausdruck. Ich verstand nicht, wo dieser offensichtliche Hass herrührte.

 

„Sag mal, was ist denn los mit dir? Ist dir mal einer zu nahe getreten oder was?“ Ich war ehrlich erschrocken über seine Äußerungen und vor allem über die Art, wie er sich äußerte.

 

„Spinnst du? Wenn einer seine Homofinger an mich gelegt hätte, ich schwöre, da hätte ich für nichts garantieren können!“ Allein dieser Satz aus dem Mund eines Polizisten ging überhaupt nicht. Ich schwieg, wusste nicht wirklich, was ich dazu sagen sollte. Eindeutig Stellung beziehen wäre wohl gut gewesen, aber nachher würde ich noch als Schwulenfreund gelten und das wollte ich dann auch nicht. Dass er seinen Mund auch vor dem Opfer nicht würde halten können, hätte ich im Voraus ahnen müssen. Jetzt fühlte ich mich schuldig.

 

Als wir das Krankenzimmer betraten, lag Jeremias mit geschlossenen Augen in Bett. Erster Bartschatten zeigte sich am Kinn, die Mundwinkel waren blutig und ein Auge blau unterlaufen und dick angeschwollen. Die Stirn zierte ein weißer Verband, unter dem kurzes, dunkelblondes Haar hervorlugte. Die Lippen waren blass und besaßen kaum Farbe und die untere war aufgeplatzt. Die Schwester weckte ihn vorsichtig und bereitete ihn auf unseren Besuch vor. Ob er ein paar Fragen beantworten könne und er nickte, flüsterte ein Ja.

 

„Maximal 10 Minuten, länger nicht“, warnte die Schwester uns vor und machte den Platz frei. Ich trat vor, zog mir einen Stuhl nah ans Bett und setzte mich. Kurz nannte ich meinen Namen und begann dann mit der Befragung.

 

„Ist es richtig, dass Ihr Name Jeremias Seidler ist? Wissen Sie, welchen Tag wir heute haben?“ Die ersten beiden Fragen sollten nur sicherstellen, dass er bei klarem Verstand war.

 

„Ja, der bin ich und es ist Samstag“, antwortete er leise. Das Diktiergerät lief, so musste keiner von uns mitschreiben. Als Nächstes fragte ich ihn, ob er wüsste, was genau passiert war. Jeremias schloss die Lider, so als wolle er sich die Situation noch mal vor Augen führen. Dann räusperte er sich, leckte sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

 

„Ich kann mich an kaum etwas erinnern. Aber es endete damit, dass … dass …!“ Er brach ab, schaute an die Decke.

 

„Dass Sie Sex mit einem Mann hatten, in der Gasse hinter dem Club. Daran werden Sie sich sicher noch erinnern können, oder?“, preschte Kevin ungeschickt hervor. Ich sah ihn scharf von der Seite an und hoffte, dass er sich zusammenreißen würde. Jeremias verzog das Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. Ein Versuch, Tränen daran zu hindern, aus den Augen zu laufen. Mein Magen zog sich zusammen, Mitleid stieg in mir hoch und Wut auf meinen empathielosen Kollegen.

 

„Ja, daran kann ich mich erinnern, aber ich hatte keinen Sex mit ihm. Nur er gegen meinen Willen mit mir!“, erklärte Jeremias tonlos. Er sah uns dabei nicht an. Starrte an die Decke.

 

„Gebückt haben Sie sich aber für ihn schon und anscheinend auch zum Zielen stillgehalten!“ Kevins Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. Ich verdrehte die Augen und schämte mich für meinen Kollegen. Die Schwester, die in der Ecke stand, zog geräuschvoll die Luft in die Lungen. Jeremias machte einen undefinierbaren Ton, schnaubte verächtlich.

 

„Ich habe Neingesagt, aber ich konnte mich nicht wehren. Ich kann mich nicht mehr an alles erinnern …“, versuchte sich Jeremias zu verteidigen.

 

„Dann haben Sie das wohl nicht laut genug gesagt, oder es nur gedacht!“, konterte Kevin. In diesem Moment platzte der Schwester der Kragen und sie warf uns aus dem Zimmer. Zu Recht, denn Kevin war wirklich ein dummes Arschloch. Und ich, ja ich hatte ihm nicht den Mund verboten. Die Schuld traf mich genauso und diese Erkenntnis zog mir kurz den Boden unter den Füßen weg. Nichts sagen und still hinnehmen ist keinesfalls besser. Hätte Jeremias gewollt, sähe er sicher nicht so demoliert aus. Selbst wenn man es hart mochte, zog man sich selten Platzwunden zu. Ich verstand nicht, was Kevin damit bezweckte, ihn so offen und direkt anzugehen, zumal es keinen Grund gab, ihm nicht zu glauben. Außer Jeremias gab es keinen anderen Geschädigten und nur weil er ein Mann war, musste das ja nichts heißen.

 

Bei Frauen waren wir mittlerweile geschult, was den Umgang mit Vergewaltigungsopfern anging, und trotzdem passierten immer wieder Fehler, gerieten die Frauen an Männer, die ihnen nicht glaubten oder die ihnen ein offenherziges Outfit als Mitschuld auslegten. Viele brachten einen Missbrauch aus Angst und Scham nicht zur Anzeige. Jeremias’ Outfit konnte meiner Meinung nach nicht schuld daran sein. Er trug Jeans und T-Shirt. Ich war nicht schwul und konnte mir keine Meinung darüber erlauben, was bei einem Mann als sexy galt oder nicht. In dem Club hatte ich leicht bekleidete Männer mit engen kurzen Hosen und nacktem Oberkörper gesehen, die aufreizend an Stangen tanzten. Da hätte ich eher eine Provokation vermuten können. Allerdings sollte sich jeder Mensch unter Kontrolle haben, egal wie aufreizend ein Outfit ist. Es gab keine Entschuldigung für einen sexuellen Übergriff. So hatte ich es gelernt und eigentlich sah ich es auch so. Dennoch konnte ich mir vorstellen, dass es Situationen gab, in denen man ein Nein versuchte zu überhören. Als mir dieser Gedanke durch den Kopf ging, musste ich wieder schlucken. Genau bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich noch nie intensiv mit dem Thema beschäftigt. Dass mich gerade ein männliches Opfer dazu brachte, musste wohl eine Fügung des Schicksals sein.

 

Das elektronische Summen der Schwingtür kündigte mir das Erscheinen meiner Kollegen an. Kevin und Bettina betraten mit langen Schritten die Station. Bettina machte ein ernstes Gesicht und Kevin schaute ziemlich böse drein.

 

„Was ist hier vorgefallen?“ Die Kollegin schien noch nicht allzu viele Infos bekommen zu haben und wollte diese nun von mir. Hinter ihr versuchte Kevin mir Zeichen zu geben, bloß die Klappe zu halten, und brachte mich in eine wirklich blöde Situation. Wenn ich Bettina erzählen würde, was er vom Stapel gelassen hatte, hieße das garantiert für ihn, eine Abmahnung zu bekommen. Nichts sagen ging mir gegen den Strich, ihn verpetzen machte meine Situation auch nicht besser, denn er würde mich bei meinen Kollegen anschwärzen. Ich holte tief Luft, wollte Zeit gewinnen, um mir eine Antwort auszudenken, die alles erklären würde, ohne Kevin in die Pfanne zu hauen. Bettina wurde langsam ungeduldig, was man ihrer Mimik entnehmen konnte.

 

„Also, Kevin hat einfach nicht das nötige Feingefühl für eine solche Befragung und darum hat die Schwester uns gebeten, die Frauenbeauftragte für diese Angelegenheit zu holen.“ Ich hoffte, diplomatisch genug geantwortet zu haben, was Kevin anscheinend nicht so sah, aber er kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn da erschien auch schon die Krankenschwester. Ihr Gesicht sprach Bände und sie hielt auch nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg.

„Sind Sie die Kollegin, die ich angefordert habe? Ich möchte eine Beschwerde gegen Ihren Kollegen hier einreichen, der, der hinter Ihnen so tut, als gehöre er nicht dazu“, fing sie auch sofort an zu schimpfen. Bettina zog die Augenbrauen fragend hoch, drehte sich zu Kevin um, der erst jegliche Farbe aus dem Gesicht verlor, um danach rot anzulaufen. Die Schwester begann zu erzählen, was vorgefallen war, und da Frauen leider über ein sehr gutes Gedächtnis verfügen, gab sie Kevins genauen Wortlaut wieder. Bettina schüttelte nur mit dem Kopf.

 

„Das wird Konsequenzen haben, Sakowski!“, kündigte sie Kevin an. Der hielt vorsorglich erst mal den Mund. Als sich Bettina wieder der Schwester zuwandte, machte er mir allerdings die Hölle heiß. Mit der Handfläche schnitt er sich symbolisch die Kehle durch und zeigte dann auf mich. Mir wurde schlecht und ein Klumpen bildete sich in meinem Magen. Fehler einzugestehen gehörte wohl nicht zu seinen guten Eigenschaften. Was das nun für mich bedeuten würde, wagte ich mir nicht auszumalen.

 

„Müller, kommen Sie. Es gehören zwei Personen zu einer solchen Befragung und Sie scheinen hier das kleinere Übel zu sein und werden mich begleiten.“ Sie ging mit der Schwester voran und ich folgte ein wenig unschlüssig, wusste nicht, wie ich mich gegenüber Kevin verhalten sollte. Der grinste mich zynisch an und zischte mir leise ins Ohr:„Dann geh ihm mal den Schwanz lutschen, deinem kleinen Homo, aber glaub ja nicht, dass du ungeschoren davonkommst!“

 

Erschrocken sah ich ihn an, kam aber nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Bettina zog mich am Ärmel weiter mit sich. Wir befanden uns in einem kleinen Raum vor dem eigentlichen Zimmer, in dem Jeremias lag. Man konnte von dort durch eine Scheibe sowohl in das Krankenzimmer als durch eine andere auf den Flur schauen, auf dem Kevin immer noch mit angesäuertem Gesichtsausdruck und verschränkten Armen stand. Die Schwester zog die Vorhänge zu und versperrte ihm die Sicht.

 

„Der Mann ist nicht tragbar und sollte bei solchen Fällen auf keinen Fall mehr hinzugezogen werden!“, wiederholte sie noch einmal. Dann zog sie die Vorhänge zum anderen Zimmer zu. Aus einer Schublade holte sie die Akte von Jeremias Seidler und klappte diese auf.

 

„Damit Sie sich ein Bild von den Verletzungen des Mannes machen können. Das hier war eine mehr als brutale Tat. Die Ärzte mussten ihn wieder zusammenflicken. Er muss sehr hart und rücksichtslos penetriert worden sein.“ Es waren Bilder zu sehen, die ich wohl so schnell nicht werde vergessen können. Bis jetzt hatte ich mich mit der männlichen Anatomie nicht wirklich beschäftigt. Zwar war ich selbst ein Mann, aber Sex übte ich nur mit meinem Penis aus, mein Arsch hatte bis jetzt nie eine Rolle darin gespielt. Analverkehr hatte ich bis dahin auch noch mit keiner Frau praktiziert und kannte diesen nur aus Pornofilmen. Was ich auf den Bildern zu sehen bekam, glich einem Gemetzel. Auf der Straße im Dunkeln hatte es nicht so verheerend ausgesehen. Die Hoden waren geschwollen und blau, der Damm war eingerissen und mit ein paar Stichen genäht. Die Oberschenkel wiesen große Hämatome auf, die sich auch auf dem Rest des Körpers wiederfanden. Meine Kehle war wie zugeschnürt und Entsetzen packte mich. Kevins Drohung rückte erstmal angesichts dieser Bilder in den Hintergrund. Auch Bettina war vollkommen sprachlos

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bonnyb Bendix
Bildmaterialien: Bonnyb Bendix
Lektorat: Bernd Frielingsdorf, Sandra Paczulla
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2016
ISBN: 978-3-7396-9946-2

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