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Das Gebäude ...

Das Gebäude, in dem ich mich befinde, ist hoch. Von außen ein schlanker, linienförmiger, eleganter Bau.
Täglich wird an dem auf Hochglanz polierten Gebäude noch etwas verbessert. Täglich kommen neue Etagen hinzu. Man betritt das Gebäude und bleibt überrascht stehen.
„Wir hoffen du bist gekommen, um zu bleiben", steht dort und man nickt freudig. Dieser Einladung will man gern Folge leisten.
Das kleine Büro wird sofort bezogen. Jeder, der einen dieser Räume bezieht, soll sich frei entfalten. Seine Schreibstube soll individuell gestaltet werden. Man soll sich wohlfühlen. Das große Fenster erlaubt von außen einen Blick in das Büro.
Fühlt man sich angesprochen von der Optik, kann man in den kleinen Briefkasten, der am Eingang angebracht ist, eine Freundschaftsanfrage legen. Eine Pinnwand an der Tür erlaubt es, kleine Notizen für den Benutzer zu hinterlassen.
Die Tür bleibt solange von innen verschlossen, bis man anderen den Zutritt gewährt.

In diesem Haus werden Träume, Fantasien und Gedanken auf virtuelles Papier gebannt. Man schreibt sie auf, gibt ihnen einen Namen und presst die Worte in ein virtuelles Buch.
Jeder, der sich traut, darf sich hier versuchen. Und noch mehr!
Man kann seine Fantasien auch mit anderen teilen. Kann ihnen erlauben, diese zu lesen.
Eine tolle Vorstellung, zu wissen, jemand liest, was man selbst geschrieben hat.
Findet es Anklang, so kann man die Arbeit belohnen. Mit einem Herz, welches für die geschriebenen Gedanken schlägt. Lobende, aufmunternde und kritische Kommentare sind erwünscht.
Man geht respektvoll miteinander um, behandelt andere so, wie man selbst gern behandelt werden möchte.
Das Haus ist vielschichtiger als erwartet, bietet es Gruppen, in denen man sich austauschen kann oder Hilfe findet. Es werden motivierende Wettbewerbe veranstaltet, in denen man neben der Ehre, die schönsten Träume aufgeschrieben zu haben, auch kleine Preise gewinnen kann.
Die Bewohner versuchen, sich zusammenzufinden. Die mit den gleichen Vorlieben finden sich, um voneinander zu lesen, sich daran zu erfreuen.
Schnell ist man gefesselt von der eigenen Welt in diesem Gebäude, findet Freunde in dieser Welt, in der man so viel von sich geben, und dennoch so viel verstecken kann.
Es bleibt die eigene Endscheidung, wie viel man von sich offenbart.
Es geht Alles oder Nichts. Hier kann man sein, wer man immer ist, oder man kann sein, wie man eigentlich gerne wäre.
Versteckt in seinem Kämmerchen, gibt man nur so viel von sich preis, wie man es für richtig hält.
Manch einer ist stiller Beobachter, manch einer immer und überall anzutreffen.

Das Gebäude existiert nicht. Geschaffen in einem virtuellen Raum, unterliegt es dennoch den Gesetzen derer, die in der realen Welt leben. Anstand und Moral werden groß geschrieben. Kleine Streiks, mit Plakaten, die wütend in den Äther gehalten werden, sind trotzdem erwünscht, denn so funktioniert auch die echte Welt.
Das Gebäude ist hoch, doch steht es auf unebenem Boden. Erdbeben erschüttern es zurzeit fast täglich. Die Bewohner werden in ihren kleinen Büros ordentlich durchgeschüttelt. Je höher man wohnt, desto tiefer kann man fallen, wenn das Gebäude zusammenbricht.
Die Risse werden wieder ausgebessert, poliert, so ist von außen nichts mehr zu sehen.
Manche ziehen aus, verlassen das von Erdbeben geschüttelte Haus, dann werden die Büros schnell weiter vermietet. Schon bald erinnert sich niemand mehr, wer dort vorher Quartier bezogen hatte.
„Wir hoffen du bist gekommen, um zu bleiben!", steht dort, wenn man das Gebäude betritt. Das hofft man, denn dieses Gebäude übt einen ganz besonderen Reiz aus, zieht einen in seinen Bann und fesselt einen stundenlang in seinem virtuellen Büro. Hinter jeder Glasscheibe befindet sich ein Mensch, mit Gedanken und Gefühlen, mit Träumen und Wünschen und mit einer eigenen Geschichte. Man ist verbunden mit Menschen, deren Leidenschaft es ist, zu lesen und zu schreiben. Die Erdbeben muss man hinnehmen, die Risse im Büro und die Angst vor dem Einstürzen ebenfalls. Denn die Faszination lässt einen nicht ruhen ...



Impressum

Texte: Nachdruck, auch auszugsweise, nur nach Genehmigung der Autorin. Rechtschreibung nach bestem Wissen und Gewissen.
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet denen, die dieses Gebäude ebenso lieben wie ich...

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