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Im Land es ewigen Winters



Gestern war ich noch im Palaste der Sommerkönigin einhergeschritten und hatte meine Freunde während der heißen Nacht auf einem ausgelassenen Fest getroffen. Überall war das Lachen der Bewohner des Sommerreiches zu hören gewesen, die zu den vergnügten Festlichkeiten in dieser heißen Nacht zusammengekommen waren. Der Hauch des Nachtwindes hatte uns ein wenig Kühlung gewährt, während wir zwischen den flatternden, seidenen Vorhängen an den Fenstern das Treiben in den ausgedehnten Gärten beobachteten. In den frühen Morgenstunden war ich auf einer der unzähligen Bänke eingeschlafen, die die Blumenbeete, die Alleen und die Teiche der königlichen Gärten säumten. Jederzeit konnte man sich im Land des Sommers dort niederlassen, wo es einem gefiel und die Nacht unter freiem Himmel verbringen.

Doch diese Zeiten waren nun unvermittelt vorbei. Ich war in einer nie gekannten Kälte erwacht. Offensichtlich war ich ins Land des Winters gelangt, ohne dass ich auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt hätte, wie das geschehen sein könnte. Den ganzen Tag war ich durch die Eiseskälte geirrt. Es war ein schauerliches Reich, in das ich da geraten war.

Aber trotz allem entbehrte auch das Land des Winterkönigs nicht gewisser Reize. Da gab es beispielsweise die ewig, verschneiten Wälder. Endlose, dunkle Fichtenschonungen, die sich von einem Horizont zum anderen hinstrecken und aus nichts als dunkelgrünen Nadelbäumen bestanden, auf die eine dicke Schicht Schnee wie Zuckerguss gestreut zu sein schien. Es war wahrhaft wunderbar anzuschauen. Jeder Eisfuchs oder Schneehase hatte wahrscheinlich sein Vergnügen daran. Allein, mir war es zu kalt, eisig kalt. Und was hat man von all der Schönheit, wenn man friert.

Aber die Wälder waren nicht das Einzige im Reich des Winterkönigs, das schön war. Es waren nicht nur die riesigen Wälder in ihrer Größe und Erhabenheit. Nein, auch im Kleinsten gab es eine Pracht und Schönheit, die man in den Gärten der Sommerkönigin vergeblich sucht. Wenn man sich klein machte, so erkannte man, dass all der schöne weiße Schnee nicht einfach eine hübsch anzusehende, wie Schaum geformte Schicht auf den Nadeln der Bäume war, sondern dass jedes einzelne Schneekristall an sich ein Kunstwerk von vollendeter Schönheit darstellte. Wie aus vielen Ästen bestehende Sterne, kunstvoll geschmiedet aus Wasserdampf, mit geraden, glänzenden, schräg auf dem Hauptstamm sitzenden Ästen aus durchsichtigem Kristall. Manchmal gerade, manchmal abgerundet, gab es die kleinen Kunstwerke in unzähligen, immer symmetrischen Formen, die zu Myriaden den feinen Pulverschnee ausmachen, der mir entgegenfunktelte.

So schritt ich nun durch die eisige Landschaft auf der Suche nach etwas Wärme. Aber wohin ich auch schaute, es gab hier in der Kälte nur Lebewesen, denen sie nichts auszumachen schien. Schneehasen in dickem, seidigem Fell hüpften, lustige Spuren hinterlassend, zwischen den Bäumen hindurch. Schneeeulen glitten durch den Abendhimmel lautlos an mir vorüber. Und am Horizont sah ich einen Eisfuchs in seinem weißen Pelz vorbei schlendern. So stapfte ich weiter, in einen dünnen Mantel gehüllt, durch den winterlichen Wald. Da plötzlich stieg in meine Nase der Geruch, oder besser gesagt der Duft, von Rauch, von Feuer. Nicht, dass ich einem einfachen, gewöhnlichen Feuer jemals etwas besonders hätte abgewinnen können. Denn damals im Reich des Sommers war ein Feuer nur etwas gewesen, das die Atmosphäre bereichern konnte oder an dem man sich etwas zu Essen braten konnte, doch nicht mehr. Aber jetzt und hier hatte sich die Lage vollkommen gewandelt. Hier bedeutete Feuer für mich plötzlich Wärme inmitten von Eis und Schnee, also Leben. Und es bedeutete, dass da jemand war, der von der Natur ebenfalls nicht mit einem natürlichen Haar- oder Federkleid gesegnet war. Ich versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung der Duft kam, ging ein paar Schritte in diese, ein paar Schritte in jene Richtung und gewahrte tatsächlich nach einigen Minuten einen Lichtschein in der Tiefe des Waldes. Eiligen Fußes näherte ich mich dem wärmendem Feuer. Bevor ich etwas zu sehen bekam, hörte ich das laute Knistern der Flammen, die sich begierig in das trockene Holz fraßen. Der Lichtschein, der von ihm ausging, beleuchtete eine kleine Lichtung, die vom Schnee befreit war. Dieser bildete einen Wall rund um die freie Fläche, in deren Mitte sich das große Lagerfeuer befand.

Gemeinsam



Als ich zwischen Bäumen hindurch in den Lichtschein trat, gewahrte ich eine kleine Gruppe recht ungewöhnlicher Gestalten, die dicht um das große Feuer saß. Es handelte sich um vier recht unterschiedliche Gestalten, die mir trotz Ihres ungewöhnlichen Äußeren keine Angst oder Unbehagen einflößten, sondern die ich vom ersten Augenblick an als Gesinnungsgenossen zu erkennen glaubte, worin ich mich nicht täuschen sollte.

Der erste, der mit dem Rücken zu mir saß, war ein Schmetterling, der die Größe eines Storches hatte und dessen Flügel über und über mit glänzenden blauen Punkten auf samtenem Schwarz bedeckt waren. Seine geringelten Fühler zitterten, obwohl er direkt am Feuer stand.

Der zweite, der zu meiner linken am Feuer kauerte, war eine Fee, klein und blond mit Libellenfügeln und mit einer winzigen Blumenkrone auf dem Kopf, deren Blumen vertrocknet oder erfroren zu sein schienen. Sie war ganz in das liebliche Grün der Laubwälder gekleidet, die den Sommerpalast umgaben und wo die meisten der Feen lebten, von denen ich gehört hatte.

Der dritte im Bunde, der der Fee gegenüber saß, war ein Nachtgeist, wie er in den tiefen der tropischen Urwälder lebte. Man bekam kaum mal einen zu Gesicht – zu Hause im Sommerland – denn sie lebten sehr zurückgezogen. Aber auch wenn man sie sah bestanden sie nur aus unscharf umrissener Schwärze, wie ich jetzt, wo der Nachtgeist nur wenige Zentimeter vom Feuer entfernt kauerte, erkennen konnte.

Als ich auf die Lichtung trat, schreckten alle drei zusammen.

„Seid gegrüßt, meine Genossen aus dem Land des ewigen Sommers. Was führt euch in diese bittere Kälte?“ rief ich ihnen zu, während ich mich mit eiligen Schritten dem prasselnden Feuer näherte, meine Hände ausstreckte und dicht vor demselben stehen blieb. Offenbar waren alle zu überrascht, um mir zu antworten. Doch schon nach wenigen Augenblicken wurden sie gesprächig, fragten mich, wer ich sei und was mich hierher verschlüge Und sie erzählten mir ihre Geschichten. Das heißt, sie erzählten mir die gleiche Geschichte drei mal. Und diese Geschichte war die gleiche wie die meinige. Eines Morgens waren sie vor Kälte bibbernd erwacht und hatten sich im Land der ewigen Kälte befunden. Seitdem waren sie auf der Suche nach dem Weg zurück, bisher aber ohne Erfolg. Sie hatten, und damit waren sie mir voraus, mit Eistrollen, mit Schneeeulen, mit Eisfüchsen und Schneemännern gesprochen, aber keiner wusste den Weg ins Land des Sommers. Er interessierte sie auch nicht, da für sie der Winter das einzig erstrebenswerte erschien. Immerhin konnten die Bewohner des Reiches des Winterkönigs ihnen in manch anderem weiterhelfen. Sie halfen ihnen Feuer zu machen, Nahrung zu finden, so sie denn einer solchen bedurften (Nachtgeister ernähren sich nicht von essbarem, sondern leben vom Widerstreit von Licht und Schatten) und verschafften ihnen Unterkunft für die Nacht. Die anderen waren also schon ein paar Tage unterwegs und waren sich zufällig begegnet.

Die Suche



Da auch ich keine neuen Ideen beisteuern konnte, zogen wir vier am folgenden Morgen gemeinsam weiter auf der Suche nach dem ewigen Sommer. Wir stapften durch den tiefen, glitzernden Schnee, oder vielmehr: Ich stapfte durch den tiefen, glitzernden Schnee, während die anderen leicht darüber hinweg schwebten. Alle hielten wir Ausschau, ich weiß nicht mehr genau, wonach überhaupt. Es war kaum zu erwarten, dass wir irgendwelche Palmen am Horizont auftauchen sehen würden, die uns das gesuchte Land ankündigten. Dennoch fanden wir bereits am ersten Nachmittag etwas, das unsere Aufmerksamkeit erregte. Wie so oft sah man zwei parallele Spuren durch den Schnee ziehen. Die Untertanen des Winterkönigs waren oft auf ihren Schlitten unterwegs. Man sah dann immer zwei gerade, parallel verlaufende Spuren und die Fußabdrücke von Pferden, Rentieren oder auch Menschen, die den Schlitten zogen. Unserer Fee fiel allerdings auf, dass es sich bei diesen Spuren anscheinend nicht um die Eindrücke von Kufen handelte, sondern um solche von Rädern. Und diese Entdeckung versetzte uns alle in Verzückung. Denn kein Mensch, kein Tier und kein Fabelwesen im Land des ewigen Eises würde einen Wagen mit Rädern hinter sich herziehen. Man nutzte hier Schlitten: Große Schlitten, kleine Schlitten, prächtige Schlitten und einfache Schlitten, flache und hohe, lange und kurze, aber eben Schlitten und keine Gefährte mit Rädern. Es gab also nur eine Erklärung. Der Radwagen kam aus einer Gegend, in der es keinen Schnee gab. Und wo gab es keinen Schnee? Im Königreich des Sommers. Ok, es gab auch noch andere Möglichkeiten, aber die interessierten uns jetzt nicht. Es galt der Spur zu folgen und das Fahrzeug ausfindig zu machen.

Frohen Mutes trotzten wir dem eisigen Wind, ignorierten die immer wieder fallenden Schneeflocken und vergaßen den Hunger, der uns quälte. Wir konnte der romantischen Landschaft jetzt viel eher etwas abgewinnen als noch am Vormittag. Nachdem wir einen mit dickem Eis bedeckten See überquert hatten, fiel das Gelände jäh ab und wir gelangten in ein schmale, abwärtsführende Schlucht. Zu beiden Seiten war sie dicht mit hohen Tannen bestanden. Während die Hänge zu beiden Seiten immer höher stiegen, die Bäume größer wurden und dichter wuchsen, erhellte die kühle Wintersonne immer weniger unseren Pfad.

Der Gnom



Doch plötzlich, wir waren erst ein paar Minuten in der Schlucht unterwegs, hörten wir ein geräuschvolles Schnaufen. Sofort versteckten sich alle hinter den Bäumen, die den Weg säumten. Wir warteten einige Augenblicke. Dann sahen wir ihn. Es war ein kleiner, aber kräftiger, in dicke Schaffelle gewickelter Gnom. Sein dunkles Haar steckte größtenteils unter einer schwarzen Wollmütze, das Gesicht war vor Anstrengung rot und verschwitzt, die Nase groß und mit Warzen bedeckt. Er atmete heftig, denn die Last, die er zog, wog schwer. Immer wieder hörte man ihn mit sich selbst reden. Die Gestalt auf dem Wagen, den er mühsam durch den Schnee zog, schlief tief und fest. Der Wagen bewegte sich nicht von uns weg, wie wir es aufgrund der Spuren erwartet hatten, sondern er kam auf uns zu. Als er direkt neben mir stand, trat ich hinter dem Baumstamm hervor. Meine Gefährten taten es mir nach. Von einem Augenblick zum anderen war er von uns umringt. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Wir waren wirklich keine Gestalten, die ein Wesen mit gutem Gewissen in Angst und Schrecken versetzten. Und dennoch schaute er uns an, als ob wir geradewegs der Hölle entsprungen seien. Er musste uns kennen. Er musste ein schlechtes Gewissen haben. Und das konnte nur eins bedeuten: Er hatte mit unserer Entführung ins Land des Winterkönigs zu tun. Als wir die schlafende Gestalt auf dem Wagen sahen, fiel es uns wie Schuppen von den Augen. Er hatte uns schlafend in diese Eiswüste gebracht. Mühsam auf seinem Wagen, mit dem er zwar im Land des Sommers gut vorwärts kam, hier aber nur langsam und beschwerlich seines Weges ziehen konnte, hatte er uns entführt.

Alle vier näherten wir uns ihm. Wir hatten nicht besprochen, was zu tun sei, aber wir wussten, dass er den Weg kannte, den Weg zurück in unsere Heimat und heraus aus dieser schön anzusehenden Eishölle. Er konnte unserer Nachsicht gewiss sein, wenn er uns zurückbrachte, das war zumindest meine Ansicht. Doch nun galt es erst einmal ihn daran zu hindern, uns zu entfliehen, denn wir konnten nicht sicher sein, dass die Spuren im Schnee uns bis zur Grenze führen würden. Er, der Bösewicht, schien aber vorzuhaben, uns davonzulaufen. All sein Gebaren deutete darauf hin, seine ängstliche, entsetzte Miene, sein wieselflink herumirrender Blick, seine angespannte Haltung. Meine drei neuen Freunde und ich kamen näher. Noch hatte keiner etwas gesagt. Da ergriff ich das Wort, um die Situation zu entspannen und die Chance auf unsere Rückkehr zu erhöhen, indem ich dem Gnom unser Anliegen erläuterte. Was auch immer der Grund für sein Taten gewesen war und wie groß unser Hass auf ihn auch sein mochten, vor allem kam es uns darauf an, den Weg zurück in den Sommer zu finden. Und das galt es ihm klar zu machen.

„Du kennst den Weg in das Land des ewigen Sommers. Zeig ihn uns. Über alles andere können wir reden. Zeig uns den Weg!“

Der hässliche Gnom schaute mich an, ohne die anderen aus den Augen zu verlieren. Er schien ein wenig entspannter, wenn auch immer noch auf dem Sprung. Seine Glieder schienen nach wie vor angespannt. Mit leiser, krächzender Stimme fragte er:

„Was wollt ihr von mir?
Bin ich ein Tier?
Seid ihr auf der Jagd?
Es ist etwas, das mir nicht behagt.“

Die Ausdrucksweise wunderte mich. Allein, ich ließ mich nicht beirren. Ich wiederholte meine Forderung. Er schaute uns alle nacheinander an. Alle waren bei meinen Worten stehengeblieben und befanden sich etwa 3m von ihm entfernt.

„Was veranlasst euch zu glauben ich kennte den Pfad?
Wer gab euch diesen seltsamen Rat?“

„Uns ist klar, dass Du es warst, der uns aus dem Land des ewigen Sommers in das Land des Winterkönigs brachte. Gern wüssten wir mehr über Deine Beweggründe. Aber vor allem interessiert uns der Weg zurück. Daher werden wir dich nicht gehen lassen, ehe Du uns den Weg nicht gezeigt hast.“

„Mir wollt ihr drohen im eigenen Lande
Ihr seid eine ungeheuerliche Bande!
Was habt ihr für Beweise
dass ich der Grund sei für die ungebetene Reise?“

Er schien sein Schuld tatsächlich abstreiten zu wollen. Ich antwortete:

„Ihr zieht den Beweis hinter euch her. Streitet es nicht ab. Wenn ihr uns helft, können wir über den Frevel, den ihr begangen habt, hinwegsehen.“

„Es ist eine infame Lüge,
dass ich sie wieder Willen trüge.
Lasst uns ziehen, ich beende den Halt,
und wenn ihr nicht wollt, so brauch ich Gewalt.“

Er drohte uns tatsächlich. Allerdings waren wir auch keine sehr angsteinflößende Schar: Ein Schmetterling, eine Fee, ein Schatten und ich selbst, ein Faun, bildeten eine Gemeinschaft, die vielleicht in der Lage war eine Herde Eichhörnchen in Angst und Schrecken zu versetzen, wenn wir plötzlich hinter einem Baum hervorsprangen. Bei größeren und mutigeren Wesen mussten wir uns allerdings anstrengen, um solch eine Wirkung zu erzielen. Daher setzte ich vorerst darauf, ihn davon zu überzeugen, dass er uns los sei, wenn er uns den Weg zeigte.

„Nun zeig uns den Weg und alles ist wieder in Ordnung.“

Doch anstatt zu antworten, nahm er das Seil, an dem er den Wagen zog und setzte sich wieder in Bewegung. Da blieb uns keine Wahl. Ich stürzte mich mit lautem Gebrüll auf ihn, während ich die anderen aufforderte es mir gleich zu tun. Ich warf meine ganze Kraft in den Aufprall auf den Gnom in der Hoffnung, ihn umzustoßen. Aber durch meinen Schrei war er gewarnt, stellt sich mit beiden Beinen fest auf den Boden und hielt mir stand. Der Schmetterling flatterte um ihn herum, wusste aber nicht, wie er dem stämmigen Kerl Schaden zufügen könnte. Der Nachtgeist flog in sein Gesicht und krallte sich in den Haaren fest, so dass dieser außer Schwärze nichts mehr sah. Und die Fee schlug mit ihren kleinen Fäusten auf den Rücken ein, während sie über ihm schwebte. Alles in Allem waren wir wohl eher lästig als gefährlich. Die Elfe, die auf dem Wagen schlief, schien durch einen Zauber in diesem Zustand gehalten zu werden, denn sie wachte trotz des Lärms nicht auf. Da schüttelte sich unser Gegner einmal sehr kräftig. Prompt flogen wir alle in den Schnee und er war befreit. So war ihm also nicht beizukommen. Aber wie dann?

Er rief: „Ihr kleinen Sommerwesen wollt mich besiegen?
Ihr werdet nie euren Willen kriegen.“

Da entgegnete ich wütend und genervt durch seine ständigen Reime:

“Hat dich ein Sommerwesen so verärgert,
dass du uns alle hierher entführt?
Gibt es nichts, das deinen Sinn verändert?
Wir tun gern alles, was sich gebührt.“

Da nahmen wir alle eine große Veränderung an ihm war. Ich weiß nicht, ob meine Reime ihn plötzlich zugänglich machten oder ob die Erinnerung an das Wesen, das der Grund für sein böses Wirken war, der Grund für die Veränderung darstellte. Vielleicht war es auch beides.

Er schaute uns jedenfalls einen nach dem anderen an. Seine Miene wurde traurig und er senkte den Kopf. Tränen standen in seinen Augen. Er schniefte. Ich wusste nicht, ob ich noch etwas sagen sollte und so schwieg ich. Ich stand auf, schüttelte den Schnee aus meinem Fell und ging auf ihn zu. Da sprach er das erste mal nicht in Reimen zu uns, sondern einfach, direkt und ungekünstelt.

„Es war ein Kobold aus dem Land des Sommers. Wir lernten uns in den Höhlen kennen, die unsere beiden Reiche verbinden. Wir trafen uns oft in diesen Höhlen und wurden Freunde. Zumindest dachte ich, wir seien es.“ Er unterbrach seine Rede und hielt kurz inne.

„Irgendwann zeigte er mir sein Land. Er schwärmte von all den Schönheiten, von den Blumen, den Schmetterlingen, dem sanften, milden Wind und von vielem mehr. Ich freute mich darüber, dass es ihm so gefiel und sagte, dass ich es auch schön fände, obwohl ich für die dunklen Tannen, den eisigen Wind und die krächzenden Krähen viel mehr übrig hatte. Die Hitze dort bei ihm machte mir zu schaffen und es ging mir gar nicht gut. Aber ich zeigte es nicht.
Doch als ich ihm meine Welt zeigte, da lachte er mich aus. Er fand alles lächerlich hier und die Kälte sei schrecklich, sagte er. Da wurde ich unheimlich traurig, denn ich hatte ihn für einen Freund gehalten. Und ein Freund freut sich doch auch, wenn man sich selbst freut. Und er beleidigt einen nicht, sondern fühlt mit, oder?“

Er schaute mich nicht an. Doch ich antwortete: „Ganz recht. Ein Freund freut sich mit dem Freund und er tut ihm nicht weh. Daher war er kein Freund, sondern er dachte nur an sich selbst. Wenn Du ihn verloren hast, dann hast du keinen Freund verloren.“

Da kam der Nachtgeist angeschwebt und sagte mit seiner dünnen Stimme: „Aber wir sind nicht alle so. Es denken auch bei uns nicht alle nur an sich selbst.“

Der Gnom antwortete nichts. Stattdessen begann er den Wagen zurück in die Richtung zu ziehen, aus der er gekommen war. Meine drei Freunde und ich folgten ihm.

Der Rückweg



Nachdem wir ungefähr eine halbe Stunde durch den Schnee gestapft waren, die Schlucht war immer tiefer und dunkler geworden, kamen wir unvermittelt an ein schwarzes Loch, das einen Höhleneingang darstellte. Der Gnom wollte gerade umständlich eine Fackel entzünden, da begann der Feenstab unserer Fee zu leuchten, so dass er ein warmes, goldenes Licht ausstrahlte. Die Höhle war niedrig und schmal. Wir mussten alle hintereinander gehen. Schon nach einigen Minuten bemerkten wir, dass es wärmer wurde. Es dauerte gar nicht lange, und wir gelangten an den Ausgang auf der Sommerseite. Er befand sich mitten im tiefsten Urwald, in den düsteren Schatten von großen Laubbäumen, dichten Büschen und riesenhaften Farnen. Die Luft war heiß und feucht. Sie roch nach tausenderlei Blumen und Früchten, aber auch nach Wasser und Fäulnis. Wir alle waren glücklich wieder in unserer geliebten Welt zu sein. Die letzten Reste Schnee, die wir mit hinübergetragen hatten, schmolzen noch bevor wir richtig begriffen hatten, dass unsere unfreiwillige Reise in das Land von Eis und Schnee nun zu Ende war. Der Gnom legte die Elfe, die er die ganze Zeit hinter sich hergezogen hatte, auf eine Wurzel, murmelte eine Entschuldigung und stapfte gesenkten Hauptes zurück in die Höhle, die ihn zurück in sein Land führte.

Der Schmetterling, die Fee, der Nachtgeist und ich warteten darauf, dass die Elfe erwachte. Dann erzählten wir ihr, warum sich sich hier in der Tiefe des Urwalds befand und machten uns dann alle fünf auf den Weg nach Hause. Ich dachte noch lange an den unglücklichen Gnom, vor allem immer dann, wenn ich eine Enttäuschung mit Freunden erlebte. Und ich nahm mir vor, ihn einmal in seinem Land des Winters zu besuchen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.02.2012

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