1. Der Gral
Die Sonne schien mild auf sie herab. Um sie herum wogte das Gras in der sanften Brise, die von Norden her über die Felder und Wiesen wehte. Im Westen, wo jetzt die Sonne stand, konnte man die Autobahn in der Ferne sehen. Die kleinen Autos bewegten sich langsam und friedlich auf der schmalen Linie entlang. Im Norden begann die Stadt und nach Süden sowie nach Osten zog sich ein langgestrecktes Waldgebiet hin. Dorthin hatten die fünf Ihre Blicke gerichtet, aber alle schwiegen. Es ging um eine schwerwiegende Entscheidung. Da war kein unnötiges Gerede gefragt.
Lars durchbrach als erster die Stille.
„Ich glaube, dort ist er sicher.“
„Ich glaube auch. Aber wir müssen einen guten Platz tief im inneren des Waldes finden. Er muss nicht nur schwer zu finden, sondern gegebenenfalls auch gut zu bewachen und gut zu verteidigen sein.“ Das war Martin. Martin war der Kopf der Truppe. Intelligent und mutig war er der geborene Anführer. Er wusste immer was er wollte und hatte die besten Ideen. Aber er ließ sich überzeugen, wenn einer seiner Freunde etwas besseres vorschlug. Daher wurde er von allen als Anführer akzeptiert. Auch dieses Mal gaben sie ihm Recht. Aber das Problem war erstens, einen solchen Platz zu finden. Und zweitens stellte sich die Frage: Wie sah ein Platz aus, der sich gut verteidigen ließ?
„Dann los,“ meinte Louis. Er hieß eigentlich Sebastian. Aber da er so von Ludwig XIV schwärmte, nannten alle ihn nur Louis. Er war vor allem ein Bücherwurm, der sich am liebsten in Bibliotheken und Buchhandlungen aufhielt, wenn er nicht gerade mit den Freunden unterwegs war.
Die fünf stapften los über die große Wiese in Richtung Waldrand. Außer den dreien, die schon erwähnt wurden, wobei von Lars noch zu sagen wäre, das er die Sportskanone unter den fünfen war, gehörten noch Max und Moritz zu der Truppe, wobei nur Max wirklich Max hieß. Er war ein intelligenter Junge, sportlich und immer bei allem vorne mit dabei. Moritz war ein kleines, blondes Mädchen und die kleine Schwester von Max. Da Max kurzes braunes Haar hatte und Isabell blondes, langes, das sie einmal oben auf dem Kopf zum Pferdeschwanz gebunden hatte – so wie Moritz von Wilhelm Busch – nannte man die beiden seitdem Max und Moritz. Ihr gefiel das recht gut, da sie ohnehin viel lieber mit den großen Jungs, den Freunden Ihres großen Bruders unterwegs war, als mit Barbiepuppen oder mit anderen kleinen Mädchen zu spielen. Sie war stolz darauf, dass sie einen Jungennamen bekommen hatte und dazu noch einen von solch einem Strolch wie Moritz.
Manche der anderen Kinder machten sich darüber lustig, dass die Jungs aus der 4B ein Mädchen aus der 2. Klasse bei sich hatten, aber das schweißte sie nur um so mehr zusammen, vor allem seit es um Ihre Ehre ging.
Und das war so gekommen. Die Freunde waren wieder einmal mit den Rädern am Fluss unterwegs gewesen. Wie so oft waren sie auf der Suche nach neuen Kletterbäumen. Am liebsten waren ihnen solche, deren Äste weit übers Wasser reichten, so dass man Plätze finden konnte, auf denen man sich über dem Bach befand. Auch an diesem Nachmittag kletterten sie wieder auf einem Baum, der direkt am Ufer eines Baches stand, einer alten Buche. Lars befand sich am weitesten oben, in Regionen, wo es nur noch relativ dünne und nach oben wachsende Äste gab, an denen man sich nur schlecht festhalten konnte. Daher, und weil er sich in schwindelerregender Höhe befand, waren die anderen weiter unten zurückgeblieben. Martin und Max befanden sich auf Ästen in mittlerer Höhe und genossen die Aussicht, während Louis und Isabell nebeneinander auf einem Ast direkt über dem Wasser saßen. Plötzlich klatschte ein Stein direkt unter ihnen ins Wasser. Sie erschraken, bekamen aber nur ein paar Tropfen ab. Vom anderen Ufer ertönte ein boshaftes Lachen. Alle fünf schauten hinüber. Felix, ein Junge aus einer Parallelklasse, und seine vier Freunde standen dort und machten sich über sie lustig.
Es flogen noch weitere Steine, während Louis und Isabell nach oben kletterten. Eine Weile war Ruhe. Die Freunde um Martin dachten, die anderen seien mit ihren Rädern weitergefahren. Aber sie hatten sich getäuscht. Jene waren über die Brücke geradelt, die nur 100m entfernt über den Bach führte und dann zu dem Baum gefahren, auf dem die Freunde sich befanden. Darunter stehend oder auf ihren Rädern sitzend hatten sie gelacht und sich über ihre kletternden Schulkameraden lustig gemacht. Obwohl diese überhaupt nicht auf den Hohn reagierten, sondern sich einfach nur ruhig verhielten, hörten die Kinder unter dem Baum nicht auf, die fünf Freunde im Baum zu verspotten. Sie sprachen von ihnen als Affen, die in den Bäumen kletterten. Sie verhöhnten das Klettern als Spiel von kleinen Kindern und ähnliches. Als es nicht aufhörte, zahlten die Jungs und das Mädchen oben im Baum es den Kindern unten in gleicher Weise heim. Sie sprachen davon, dass sie auf sie hinunterpinkeln würden, dass sie die Läuse in den Haaren sehen würden, dass die anderen zu fett zum klettern seien und ähnliches. Nachdem sie sich lange gegenseitig beschimpft hatten, kamen sie dazu, dass sie einen Wettkampf austragen sollten, um sich gegenseitig zu messen. Allerdings sollte es kein normaler Wettkampf sein, wie etwa ein Wettlaufen, ein Fussballspiel oder ähnliches. Man wollte sich gegenseitig in einem wirklichen Abenteuerspiel messen. Louis hatte daraufhin die Idee, dass jeder etwas verstecken sollte, dass die anderen finden mussten. Sie sollten einen Monat Zeit dafür haben. Wer das schaffe, sei wirklich gut. Das sei wirkliche detektivische Arbeit. Bei dem Ding, das gesucht werden sollte, einigte man sich auf einen Pokal. Stante Pede fuhren alle gemeinsam zu einem Geschäft, in dem man Pokale kaufen konnte. Man entscheid sich für ein knapp 15cm hohes, golden glänzendes Modell. Auf jedes Exemplar wurden die Namen der fünf Teilnehmer eingraviert. Jede Gruppe legte dann das Geld zusammen, um den jeweiligen Pokal zu bezahlen.
Es sollte sofort losgehen. Vorher wurden noch ein paar grundlegende Regeln ausgemacht. Der Pokal, der bei den Freunden fortan nur der heilige Gral hieß, durfte nicht bei jemandem zu Hause versteckt werden. Es waren alle ehrenhaften Mittel erlaubt, ihn zu erlangen, wobei sie leider nicht näher klärten, was damit genau gemeint war. Das sollte sich noch als fataler Fehler erweisen, wovon später berichtet werden soll. Als heiliger Boden sollten Kirchen und Friedhöfe gelten. Hier waren keine Angriffe erlaubt. Weitere Regeln gab es nicht.
Das war gestern gewesen. Jetzt war man auf der Suche nach dem richtigen Versteck.
Nach wenigen Minuten hatten sie den Waldrand erreicht. Sie hatten die Umgebung genau beobachtet, als sie sich den Bäumen genähert hatten. Es war gut möglich, dass die anderen sie beschatteten. Das wäre schließlich die einfachste Möglichkeit, das Ziel – die Erringung des Grals - möglichst schnell zu erreichen. Sie selbst hatten auch schon daran gedacht, aber bisher war es Ihnen nur zeitweise gelungen, die anderen zu überwachen. In der Umgebung des Waldrandes war bisher nichts Auffälliges zu sehen gewesen: Keine Fußgänger, Radfahrer oder Autos in Sichtweite.
Sie schauten sich alle nochmals um und verschwanden dann schnell zwischen den Büschen, die den Wald gegen die Wiese abgrenzten. Hinter den Büschen begann ein Fichtenforst, der immer wieder von Büschen und kleinen, dicht bewachsenen Lichtungen durchsetzt war, auf denen neben Gras und Kräutern vor allem Brombeerranken und einige Büsche zu finden waren. Als Martin das sah, hatte er sofort eine Idee.
„Seht Ihr diese Brombeergebüsche?“ sagte er.
Von allen Seiten kam Zustimmung.
„Wer kriecht gern durch so ein Gebüsch durch?“ fragte er daraufhin.
Von allen Seiten kam Ablehnung.
„Was haltet Ihr davon?“
„Ich finde, wir sind noch viel zu nahe am Waldrand“, meinte Louis.
„Finde ich auch,“ kam es von Lars.
„Natürlich meine ich nicht diese Sträucher hier, sondern ich meine, ob Ihr Euch generell so ein Versteck vorstellen könnt? Ob es alle Voraussetzungen erfüllt?“
Ja, das fanden alle gut. Jetzt musste man nur noch eine passende Lichtung finden.
„Weiter geht‘s, „ kommandierte Martin. Und alle begaben sich tiefer in den Wald hinein. Martin und Lars gingen vorneweg. Louis bildete das Schlusslicht. Sie waren etwa 5 Minuten gegangen, als sie links in einiger Entfernung eine kleine, aber anscheinend sehr dicht bewachsene Lichtung sahen.
„Schauen wir sie uns an,“ meinte Lars. Keiner widersprach. Also wandte man sich nach links und näherte sich dem potentiellen Versteck des Grals. Jeder schaute sich immer wieder um, ob nicht irgendwo ein Spion lauerte. Aber sie schienen völlig allein zu sein. Sie wussten nicht, wieweit es bis zum nächsten Waldweg war, aber das würden sie herausfinden, wenn sich der Platz als gut herausstellen sollte. Augenblicklich war auf jeden Fall niemand zu sehen. Als sie die kleine Lichtung – sie maß ungefähr zehn oder zwölf Meter im Durchmesser – erreicht und einen fachkundigen Blick in das Gestrüpp geworfen hatten, gingen sie einmal drumherum. Alle außer Louis schauten in das Gewirr aus Brombeerranken, Brennesseln, einigen kleineren Sträuchern und Vogelbeerbäumen. Louis behielt derweil die Umgebung im Auge. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Die vier anderen bemerkten, dass ein Teil der Lichtung sogar von Hagebutten bewachsen war, jenen gut einen Meter hohen Büschen, deren Stämme und Äste nur aus feinen Stacheln zu bestehen schienen. Es würde, sollten sie sich dafür entscheiden, hier den Gral zu verstecken, ein gutes Stück Arbeit werden, ihn hier unterzubringen – und wahrscheinlich ziemlich schmerzhaft.
Schon während des Rundgangs waren sie sich einig, dass das ein guter Platz sei. Aber man würde noch einige Dinge benötigen, um hier eine kleine Festung zu errichten oder überhaupt bis ins Zentrum des Gebüsches vorzudringen. Es wären Heckenscheren, alte Kleidung und Folien, mit denen man sich gegen die diversen Dornen schützen konnte, vonnöten. Außerdem bräuchte man natürlich einen Spaten, wenn der Gral vergraben werden sollte, worauf man sich bereits geeinigt hatte. Mit einem Spaten normaler Größe würde man hier nicht weiterkommen. Es müsste ein kurzer Spaten sein, den man auch im Knien benutzen konnte.
Jetzt ging es erst einmal darum, die Umgebung zu erkunden, ohne dabei von den Feinden gesehen zu werden. Und dann musste man Pläne schmieden, wie, wann und wer die Mission des Vergrabens übernehmen sollte. Es würde keine schöne und keine leichte, aber eine sehr wichtige Aufgabe sein.
Nachdem sie sich die Umgebung angesehen hatten und sicher waren, dass hier nur selten jemand vorbeikam, nämlich nur dann, wenn jemand querfeldein durch den Wald unterwegs war, machten sie sich Gedanken über die Aktion des Vergrabens. Man musste sich überlegen, wer die Sache übernehmen sollte und wie viele Mitglieder der Truppe? Es musste weiterhin beschlossen werden, wann die Aktion über die Bühne gehen sollte: tagsüber, während der Schule, in der Dämmerung oder gar nachts? Auch war zu überlegen, ob man versuchen sollte den Platz in eine kleine, unauffällige Festung umzubauen, die von den Bewachern bewohnt wurde oder die aus größerer Entfernung überwacht werden konnte? Oder ob man sie so belassen sollte, dass man überhaupt nicht bemerkte, dass hier etwas besonderes zu finden sein könnte. In dem Fall könnte man sie unbewacht lassen. Die Kinder waren sich bisher überhaupt nicht einig. Alle Argumente hatten Ihre Vor- und Ihre Nachteile. Aber eines war sicher. Die nächsten vier Wochen würden aufregend und anstrengend werden, egal wofür man sich entschied.
Als die fünf auf Ihren Rädern in die Stadt zurückfuhren, waren die meisten in Gedanken versunken. Jeder überlegte, wie sie am besten vorgehen sollten. Da es bereits dunkelte, verabredeten sie sich für den nächsten Tag nach der Schule bei Max und Moritz. Dort sollte alles weitere beschlossen werden.
Die Schule endete für alle um eins, außer für Moritz. Sie hatte schon um zwölf aus und war daher schon zu Hause, als die anderen per Fahrrad eintrafen. Moritz hatte seine Freunde bei seiner Mutter angekündigt und so wurden alle mit einem Mittagessen versorgt. Die Eltern der beiden Geschwister freuten sich, wenn Gäste kamen, solange sie sich gut benahmen. Und das taten die drei Jungs eigentlich immer. Während des Essens verloren sie kein Wort über die Sache mit dem Gral. Das Thema wurde erst angesprochen, als die fünf unter sich waren.
Man setzte sich in Max‘ Zimmer. Es maß nur gut 10m², war schmal geschnitten, mit einem Fenster an der Längsseite, der Tür gegenüber. Neben einigen Tierpostern gab es auch Rockmusiker an den Wänden, ein Bett, einen Schreibtisch und ein hohes Regal voller Bücher, Legoklötze und allem möglichen Kleinkram. Obwohl das Zimmer nicht eben geräumig war – das von Moritz ähnelte dem von Max in Größe und Möblierung – trafen sie sich oft hier. Einmal deshalb, weil hier zwei der Freunde wohnten. Außerdem, weil die Wohnung zentral lag und von allen gut erreicht werden konnte. Darüberhinaus waren die Eltern von Max und Moritz bei allen beliebt, da sie den Kindern wenige Einschränkungen auferlegten, gleichzeitig aber gewisse allgemeine Verhaltensregeln einzuhalten waren. Diese Mischung kam bei den Jungs gut an.
Max selbst saß im Schneidersitz auf seinem Bett, Moritz hatte Ihren Kissensessel aus Ihrem Zimmer mitgebracht und besetzte den Platz vor der Tür. Martin und Lars hatten es sich am Boden bequem gemacht, während Louis am Fenster stand.
„Was meint Ihr? Habt Ihr Euch etwas überlegt?“ fragte Martin.
Max meldete sich als erster zu Wort: „Also, wenn Ihr mich fragt, sollten wir es vergraben und eine Wache aufstellen, die per Handy die anderen rufen kann, falls Felix´ Leute kommen.“
„Das habe ich mir auch gedacht,“ meint Lars.
„Wir könnten auch das Gebüsch zu einer Festung ausbauen, sie bewaffnen und ständig besetzt halten. Ich glaube, wir könnten Sie problemlos gegen die anderen verteidigen,“ war Louis‘ Vorschlag.
„Einen Monat?“ wandte Martin ein.
„Warum nicht? Einen Monat ist für eine Belagerung gar nichts. Troja wurde zehn Jahre belagert.“
„Aber wir sind keine Soldaten und das Gebüsch ist keine Festung mit Häusern, Vorräten und allem, was dazugehört,“ entgegnete Lars.
„Genau, und wir müssen in die Schule,“ meinte Martin.
Da meldete sich Max wieder zu Wort: „Anstatt das Gebüsch auszubauen, würde ich es lieber so lassen wie es ist und auch beim vergraben darauf achten, dass es möglichst undurchdringlich bleibt. Ich denke, das wäre der beste Schutz.
„Aber wie willst Du es verteidigen, wenn sie den Platz herausgefunden haben und den Schatz nun ausgraben wollen?“ hielt Louis entgegen.
„Na, man könnte...“, fing Max an, aber dann fiel ihm nichts mehr ein.
„Wenn man sie vom Wald aus angreift, dann sind sie zwischen dem Gebüsch und uns eingeschlossen. Da hätten wir gute Chancen sie zu vertreiben,“ sagte Lars.
„Und dann? Wenn sie wissen, wo der Gral ist. Dann kann man ja nicht erst anfangen, die Verteidigungsanlagen zu bauen,“ wandte Louis ein.
„Es ist gar nicht so einfach. Auf der einen Seite sollten wir ihn verteidigen, auf der anderen sollen wir ihn nicht verraten. Aber beide Dinge widersprechen sich. Tut man das eine, ist es schlecht für das andere,“ meinte Martin. „Was meinst Du denn, Moritz?“
Die kleine Isabell war es gewöhnt dabeizusitzen und zuzuhören. Als Martin sie nun bei einer so wichtigen Sache nach Ihrer Meinung fragte, wusste sie zuerst gar nicht was sie sagen sollte und wurde rot.
„Sag mal ehrlich, was Du machen würdest. Du hast Dir sicher auch Gedanken gemacht. Wir lachen Dich auch nicht aus. Ehrenwort,“ ermutigte sie Martin.
Moritz dachte noch kurz nach und sagte dann: „ Ich würde ihn verstecken, so dass keiner ihn findet und nicht mehr hingehen.“
Martin: „So könnte man es mache, aber irgendjemand könnte den Platz verraten und dann würde niemand ihn verteidigen und wir würden verlieren.“
„Mir wäre das zu riskant.“ Das war wieder Louis.
„Ja, genau, finde ich auch“, meinte auch Lars.
„Wie wäre es denn, wenn wir ...“, aber Max wurde von Martin unterbrochen.
„Jetzt lasst doch Moritz mal antworten, sie will noch etwas sagen.“
Sie sagte daraufhin: „Aber wenn niemand es verraten kann?“
Alle schauten sie verdutzt an. Die allgemeine Verwirrung war groß. Aber manch einer ahnte, dass es eine besondere Bewandnis mit dieser Idee hatte.
„Hä?“ meldete sich Lars als erster zu Wort. Und Martin fragte: „Wie meinst Du das?“
„Ich weiß nicht genau...?“ sagte daraufhin Isabell.
„Sie meint, dass uns nichts passieren kann, wenn wir gar nicht wissen, wo der Gral versteckt ist. Ein genialer Einfall, finde ich - eben meine Schwester.“
Louis: „Aber...?“
Lars: „Wie soll das denn gehen?“
Wieder Louis: „Würde das denn nach den Regeln gehen?“
„Es war nie ausgemacht, dass wir ihn eigenhändig verstecken müssen,“ war Martins Ansicht.
Louis wendet ein: „Aber wenn derjenige beim Verstecken erwischt oder beobachtet wird, dann können wir überhaupt nichts machen. Wir würden es nicht mal merken.“
„Da ist was dran“, pflichtete ihm Lars bei.
Und damit hatten die beiden nicht ganz Unrecht. Daher dachte Max angestrengt nach, ob man die tolle Idee seiner kleinen Schwester nicht doch noch retten konnte, indem man sie etwas anders verstand. Da kam ihm plötzlich die Idee:
„Wie wäre es, wenn nur einer von uns den Gral versteckt und das Geheimnis für sich behält?“
Alle dachte darüber nach.
„Und wer soll der Auserwählte sein?“ fragte Louis.
„Gute Frage,“ meinte Martin und fuhr fort: „Ich finde die Idee gut und unserer würdig. Aber wir können sie nur umsetzen, wenn wir einen passenden Kandidaten haben, der das auch gut hinbekommt – und zwar nicht nur das heimliche verstecken, sondern vor allem auch das Dichthalten, auch wenn er in die Hände der anderen gerät. Übrigens finde ich, wir brauchen einen Namen für uns und für Felix` Leute. Aber eins nach dem anderen. Wer würde gern den Gral verstecken und traut sich zu, nichts zu verraten, auch wenn die anderen versuchen, es mit den Fäusten aus ihm rauszuprügeln?“
Im ersten Moment wollte natürlich jeder den Schatz verstecken, aber als Martin die Prügel der anderen erwähnte, dachten alle erst einmal nach. Max meldet sich als erster:
„Moritz kommt auf jeden Fall nicht in Frage. Für ein Mädchen ist das zu gefährlich. Auch wenn sicher niemand einem jüngeren Mädchen etwas tun würde. “
Isabell wurde ein bisschen rot, weil Ihr großer Bruder sie so beschützte, aber sie war froh, dass sie draußen war.
„Da waren´s nur noch vier,“ unkte Lars.
Louis sagte: „Ich kämpfe ja gern um den Gral, aber ihn heimlich verstecken und dann den Mund halten, das ist nicht mein Ding.“
„Da waren´s nur nur drei,“ kam es wieder von Lars.
Da stellte Martin die entscheidende Frage: „Möchte denn jemand?“
Max warf ein: „Ich würde auf jeden Fall sagen, dass der Anführer für die Sache ungeeignet ist, weil es die anderen sicher vor allem auf ihn abgesehen haben.“
Martin, der wusste, dass alle ihn als Anführer ansahen, schaute Lars und Louis fragend an. Beide nickten und stimmten Max zu.
„Da waren‘s nur noch zwei.“
Max und Lars schauten sich an. „Ich würde es wohl übernehmen,“ sagte daraufhin Max.
„Ich auch, aber ich habe niemanden, der immer ein Auge auf mich hat.“ Damit meinte er natürlich Isabell, die auch oft in Maxens Nähe war, wenn die drei anderen Freunde nicht dabei waren. Zwar nicht immer, aber oft.
„Fühlst Du Dich dieser Aufgabe gewachsen? Schaffst Du das?“ fragte Martin.
„Ich denke schon,“ war Max‘ Antwort.
„Ok, dann würde ich sagen, Max übernimmt das verstecken des Grals. Und wir anderen versuchen, etwas über den Gral der anderen herauszukriegen. Alle einverstanden? “
Alle bejahten die Frage oder nickten.
Da meldete sich Max wieder zu Wort: „Ihr könnt mir gleich helfen. Beschattet die anderen, während ich den Gral verstecke. Morgen, nach der Schule wissen wir, wo alle sind, da könnt Ihr Euch an sie dranhängen.“
„Guter Plan. Die Details besprechen wir morgen. Aber jetzt sollten wir uns noch einen Namen geben – und den anderen gleich auch. Wer hat eine Idee?“ war Martins Frage.
Es gab viele Vorschläge und es dauerte lange, bis man sich geeinigt hatte. Sich selbst gaben sie den Namen „Die Wölfe“, wie in manchen Erzählungen die Leute von Robin Hood genannt wurden, denn sie fühlten sich als die Guten und als wild, naturverbunden und frei wie Wölfe. Die anderen nannten Sie von nun an „Die Normannen“, wie die Leute des Sheriffs von Nottingham bei Robin Hood, die in der Regel als die Bösen in den Erzählungen über Robin von Loxley galten. Als das entschieden war, gingen die drei Wölfe nach Hause und Max dachte über ein gutes Versteck für den Gral nach. Doch noch bevor sie irgendeinen Ihrer Pläne umsetzen konnten, geschah etwas, das alles über den Haufen warf.
2. Der Angriff
Isabell ging nach dem Treffen der Wölfe zu Ihrer besten Freundin Meike, die nur ein paar Häuser weiter wohnte. Sie versprach Ihren Eltern, um acht Uhr Ihr wieder zu Hause zu sein.
Gegen acht machte sie sich auf den Weg nach Hause. Es dämmerte noch nicht. Die Straße war still. Außer einer singenden Amsel und dem entfernten Brummen der Ausfallstraße war nichts zu hören. Isabell war ganz allein auf der Straße. Am Straßenrand standen Autos. Dahinter, durch einen schmalen Gehweg getrennt, befanden sich Gärten, die von Hecken oder Zäunen umgeben waren. Hier, wo Isabell jetzt entlang ging, standen auf beiden Seiten hohe Hecken, die lange nicht mehr gestutzt worden waren, so dass zwischen ihnen und den parkenden Autos nur wenig Platz blieb. Durch den dichten Blätterwald der Hecke drang kein Lichtstrahl hindurch. Im dadurch entstehenden Schatten schwebten Mücken auf und ab, ohne sich allerdings auf Isabell niederzulassen, die Mitten durch sie hindurch ging.
Zwischen den geparkten Autos kamen plötzlich drei Jungs hervor. Es waren Normannen. Isabell bekam einen Schreck und überlegte kurz, ob sie umkehren sollte. Aber sie war einer der Wölfe und hatte keine Angst. Als sie sah, wie Alex, einer der Normannen, an ihr vorbei blickte, drehte sie sich um und entdeckte hinter sich die anderen beiden der Gruppe. Alle hatten es auf sie abgesehen. Es waren nicht nur fünf gegen einen, sondern die anderen waren dazu auch noch Jungs und zwei Jahre älter. Aber sie war sich bewusst, was die Wölfe von ihr erwarteten. Sie sollte sich nicht einschüchtern lassen, nichts verraten. Sie hatte die Jungs so oft über Ehre und Mut reden hören, so dass sie wusste, was damit gemeint war und sie hattte nicht vor als Feigling oder Verräter verspottet zu werden. Also biss Sie die Zähne zusammen und wartete, was passieren würde.
Die Normannen waren alle in der vierten Klasse und drei von Ihnen waren groß und stark. Bei diesen handelte es sich um Felix, Max und Kajetan. Aber auch Lukas und Alex waren stärker als sie. Isabell hatte also schlechte Chancen. Aber – sie hatte die Möglichkeit mit der größtmöglichen Brutalität anzugreifen, wenn die Jungs zu weit gehen würden. Da gab es die Möglichkeit zu kratzen und vor allem zu beißen – nicht ein bisschen, sondern so, dass das Blut zum Vorschein kommen würde. Außerdem konnte sie auf den Hals, die Schläfen und die Augen schlagen. Aber alles würde sie nur tun, wenn es gar nicht mehr anders ging. Denn auf diese Weise zu kämpfen bedeutete wirklich ernsthaft Schaden anzurichten, nämlich in der Art, dass die anderen sehr schwere Verletzungen davontragen konnten – und soweit würde sie sicher nicht gehen müssen. Es ging letztendlich nur um eine Art Spiel. Sie bereitete sich also darauf vor, dass man versuchen würde ihr Angst zu machen – und vielleicht ein paar leichte Schläge abzubekommen. Aber das würde sie durchstehen. Und die Wölfe würde sie sicher rächen.
Die Jungs kreisten sie ein und Felix und Lukas stellten sich breitbeinig hin und fingen an, sich über sie lustig zu machen. „Ein kleines Mädchen will bei den großen mitmachen, haha,“ und ähnliches war zu hören. Dann fingen sie an sie herumzuschubsen und zu fragen, wo sie den Pokal verstecken würden. Sie bekämen es ja doch heraus und wenn sie es aus den 4 armseligen Deppen herausprügeln müssten. Damit waren natürlich die anderen Wölfe gemeint. Da solle sie es ihnen doch lieber sagen, dann erspart sie den anderen die Haue. Aber Isabell schwieg. Sie sagte kein Wort. Nicht ja, nicht nein. Sie schaute die Normannen nicht an, sondern klammerte sich an Ihre Tasche und sagte nichts. Aber sie war immer aufmerksam. Würden sie zu weit gehen, würde sie sich bis zum Äußersten wehren. Die Schläge wurden fester und ein Tritt traf sie ans Schienbein, aber sie biss zu Zähne zusammen und fing nicht an zu weinen. Da hielt sie einer von Ihnen von hinten an den Oberarmen fest – sie wusste nicht wer es war, sie konnte ihn nicht sehen. Felix und Lukas kamen auf sie zu und fingen an ihr mit den Fäusten in den Magen zu schlagen, abwechselnd. Die Schlägen taten sehr weh, und sie wurden mit jedem Schlag fester. Tränen liefen Ihr über die Wangen und sie verzog das Gesicht vor Schmerzen. Dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und weinte los. Die Jungs lachten sie aus und schlugen weiter. Außerdem fragten sie immer wieder nach dem Versteck des Grals. Denn das war natürlich der Grund für den Überfall. Dann gab Lukas Ihr ein paar feste Ohrfeigen. Eine traf Ihre Nase, was noch mehr wehtat. Kurz darauf spürte sie etwas warmes aus der Nase laufen. Sie bekam es in den Mund. Es war etwas süßlich, sie kannte den Geschmack – es war Blut. Als sie das begriff, wurde sie unheimlich wütend. Sie zerrte so fest sie konnte mit den Armen und schaffte es tatsächlich, sich loszureißen, denn derjenige, der sie festhielt, hatte nicht damit gerechnet. Sie nahm daraufhin nochmals all Ihre Kraft zusammen und warf sich auf Lukas, der sie gerade ins Gesicht geschlagen hatte und obwohl sie einen Kopf kleiner und viel schwächer war, schaffte sie es, ihm die Faust mitten ins Gesicht zu schlagen – und das mit aller Kraft. Ihr Gegner taumelte zurück und stieß einen Schrei aus. Isabell, angespornt durch Ihren Erfolg, schlug daraufhin weiter auf Lukas ein. Jetzt schützte er sich aber mit den Armen, so dass sie mit Ihren Schlägen nichts mehr erreichte. Außerdem kamen von hinten wieder die andern und hielten sie fest. Jetzt waren sie sauer, da sie es geschafft hatte, einen von Ihnen zu verletzen, womit sie nicht gerechnet hatten. Und sie fingen wieder an, sie zu schlagen. Jetzt von allen Seiten. Doch plötzlich hörten sie auf und alle liefen weg.
Isabell schaute sich überrascht um. Am Ende der Straße sah sie ein Paar mit kleinen Kindern in einem Kinderwagen näherkommen. Die Normannen waren in die entgegengesetzte Richtung geflohen. Sie hatten Angst, dass man sie dabei erwischen würde, wie fünf Jungs ein kleines Mädchen schlugen. Sie drehte sich schnell um, hob die Tasche auf, die Ihr irgendwann heruntergefallen war und rannte schnell nach Hause. Es war nicht mehr weit. Nach zwei Minuten war sie an dem Block angekommen, in dem sie wohnten. Sie klingelte und als es summte, ging sie hinein. Glücklicherweise waren Ihre Eltern nicht da.
Weinend fiel sie Max in die Arme und erzählte ihm alles. Er traute seinen Ohren nicht, als er hörte, dass sie zu fünft auf ein junges Mädchen losgegangen waren. Er hielt die weinende, kleine Schwester im Arm und tröstete sie. Er sagt, dass es ihm Leid täte und wie stolz er auf sie sei. Er war unheimlich wütend auf die Normannen, aber auch sehr stolz, dass seine kleine Schwester nichts verraten hatte. Natürlich rief er sofort bei den anderen an und man beschloss, morgen vor der Schule zu besprechen, was zu tun sei.
3. Der Gegenangriff
Die Besprechung in der Schule war kurz gewesen. Es war klar, was zu tun war. Die Tat der Normannen verlangte Rache. Aber natürlich nicht auf so hinterhältige Weise wie die Normannen es getan hatten, sondern ehrenvoll, und das hieß: fünf gegen fünf. Und die Wut, die die Wölfe im Bauch hatten, würde Ihnen die nötige Kraft und den nötigen Mut geben, die anderen zu besiegen.
Jetzt galt es zu einen fünften Mann zu gewinnen, denn Isabell würde natürlich nicht mitkämpfen. Außerdem müssten sie trainieren, damit sie den Kampf auch gewannen. Das Optimale wäre also ein fünfter Mann, der kämpfen kann und der ihnen ein paar Tricks beibringen könnte. Es gab da einen in einer Parallelklasse, der schon seit ein paar Jahren zum Aikkido ging. Max und Moritz kannten ihn recht gut, da er in der gleichen Straße wohnte. Sein Name war Arnold. Sie würden ihn fragen, ob er ihnen helfen würde. Er war ein netter Typ, von dem man erwarten konnte, dass er sich für eine gute Sache auch schlagen würde.
Die vier Jungs gingen daher in der Pause an den Rand des Schulhofes, dorthin, wo hinter der Sporthalle der Sportplatz anfing. Max holte Arnold. Dieser lehnte sich an das Geländer, das den Sportplatz begrenzte. Die vier Wölfe standen im Halbkreis um ihn herum, die Sporthalle im Rücken. Sonst war niemand in der Nähe. Der Pausenhof, auf dem sich die meisten der Schüler aufhielten, befand sich vor der Turnhalle. Der Sportplatz war während dieser Pause leer.
Max übernahm es, Arnie, wie man ihn nannte, das Vorgefallene und dessen Vorgeschichte zu erzählen. Man sah ihm an, dass es ihn schockierte. Wer konnte schon glauben, dass fünf große Jungs ein kleines Mädchen schlagen würden, um ein Spiel, denn mehr war der Wettkampf nicht, zu gewinnen? Arnie fragte noch mehrmals nach, ob es sich wirklich so zugetragen hatte. Aber als alle ihm bestätigten, dass Moritz es so berichtet habe, als sie weinend und mit blauen Flecken zu Hause angekommen war, da glaubte er Ihnen. Er war einverstanden, den Normannen eine Abreibung zu verpassen. Er wollte den Wölfen ein paar einfache Griffe aus dem Aikido zeigen. Allerdings würden sie die anderen damit nicht verprügeln können, da Aikido eine Kampfkunst der Verteidigung ist. Aber sie würden ein paar Tricks lernen, wie sie Angriffe abwehren und die Kraft des Angriffs auf den Angreifer zurück lenken könnten.
An diesem Nachmittag trafen sie sich bei Max und Moritz zur Besprechung, nachdem sie mit Arnie nach der Schule ein paar einfache Aikodogriffe trainiert hatten. Dieser war bei der Besprechung natürlich auch dabei. Der Angriff wollte gut geplant sein. Martin übernahm die Leitung des Treffens. Alle beteiligten sich an dem Gespräch. Nur Moritz saß still daneben und hörte stumm und mit ausdruckslosem Gesicht zu.
„Also Leute,“ begann er, „dann lasst uns mal überlegen, wie wir am besten vorgehen. Wo und wie, welche Taktik usw.. Irgendwelche Vorschläge? “
Nach kurzem Schweigen sagt Louis: „Wie wäre es, wenn wir sie herausfordern? Wir könnten Sie zu einem bestimmten Ort bestellen und ankündigen, was wir vorhaben. Das wäre wahrhaft ritterlich. Und trotzdem wären wir besser vorbereitet als die.“
„Aber sie können sich dann vorbereiten. Und sie sind eh stärker als wir. Ich fände eine Art Hinterhalt viel besser. Sie gehen durch eine enge, dunkle Gasse, da tauchen wie aus dem nichts 3 düstere Gestalten auf, die Ihnen den Weg versperren. Sie drehen sich um und sehen, dass zwei weitere ihnen den Fluchtweg abschneiden,“ war Lars' Vorschlag.
Max spann den Gedanken weiter: „Ja, und ohne auf Ihre Fragen einzugehen kommen wir Schritt für Schritt näher, bis es zum Kampf kommt.“
„Eine interessante Idee. Aber die von Louis ist auch nicht schlecht. Weitere?“ fragt Martin.
Aber keinem fiel sonst eine gute und angemessene Art und Weise ein, wie sie sonst ehrenvoll Rache nehmen könnten.
„Louis‘ Vorschlag hat den Vorteil, dass man die Normannen nicht beobachten musste, um einen guten Zeitpunkt und Ort zu finden,“ meinte Martin. „Dafür fehlt das Überraschungsmoment. - Wer ist für die offene Feldschlacht? Und wer für den Überfall?“
Alle überlegen. Eine Weile reden Sie darüber, welche Möglichkeiten es gäbe, den Normannen in einer „dunklen Gasse“ aufzulauern. Waren Sie abends und in einer entsprechenden Gegend überhaupt unterwegs? Wenn ja, wo könnte man Ihnen auflauern. Aber es fiel Ihnen nichts ein. Die Sache mit der „offenen Feldschlacht“ war dagegen viel einfacher. Sie hatten sofort eine Idee, wo sie stattfinden könnte. Außerdem schlug Martin vor, sie auf dem Schulhof, vor allen anderen, herauszufordern, ohne allerdings den Grund des Kampfes öffentlich zu nennen. Die Normannen wüssten ohnehin genau, worum es ging.
Sie entschieden sich daraufhin dafür folgendermaßen vorzugehen: Morgen in der großen Pause würden sie zu viert zu den Normannen rübergehen, die normalerweise am Rande des Schulhofs auf der Schulmauer saßen. Max würde sie auffordern, am Nachmittag auf die Wiese vor dem Südwald zu kommen, damit sie dem feigen Haufen eine Abreibung verpassen könnten. Andernfalls würden sie sie sich einzeln vornehmen. Die Normannen würden wohl dumme Sprüche machen. Aber egal, was sie sagen würden, die Wölfe wollten kein Wort antworten, sondern sie nur böse anschauen und wieder gehen. Arnie würde bei der Aktion nicht mit dabei sein. Das würde ihnen den Vorteil verschaffen, dass ihre Gegner damit rechneten, leichtes Spiel mit ihnen zu haben. Wenn sie dann kämen und einen Gegner mehr vor sich haben würden als erwartet, dann würden sie vielleicht unsicher werden und die Chancen der Wölfe würden sich verbessern.
Die Wiese am Südwald lag abgelegen genug, um keine Zuschauer befürchten zu müssen. Außerdem war es nicht weit von der Stadt entfernt und die Wölfe kannten die ganze Umgebung wie Ihre Westentasche.
Die Aktion am nächsten Morgen in der Schule lief wie am Schnürchen. Felix und seine Kumpanen hatten unsicher geschaut als die vier auf sie zukamen. Wahrscheinlich vermuteten sie schon jetzt wegen ihres Übergriffs angegriffen zu werden. Max gab seine Aufforderung, gespickt mit den nötigen Beleidigungen, weiter, während die anderen drei Wölfe hinter ihm standen. Die Normannen antworteten mit Aussprüchen wie: „Was soll der Blödsinn?“ und „Was wollt ihr Schwächlinge?“ Aber wie abgesprochen hatten die Freunde nicht darauf reagiert, sondern waren unbeeindruckt wieder verschwunden.
Als Max und die anderen am Waldrand warteten – Louis saß oben in einer Fichte und beobachtete die Gegend – kamen die Feinde angefahren. Isabell war natürlich zu Hause geblieben. Sie fand es einerseits nicht gut, dass sich 10 Jungs wegen Ihr prügelten. Andererseits war sie stolz, dass Ihre Freunde sich so für sie einsetzten. Und wenn sie daran dachte, was die anderen Ihr angetan hatten, dann hatten sie die Abreibung auf jeden Fall verdient.
„Sie kommen!“ rief Louis und stieg schnell herab. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Sie traten aus dem Wald heraus und warteten, bis die Normannen Ihre Räder neben den ihren am Wegesrand abgestellt hatten. Der Weg, ein Kiesweg, der von der Straße zum Wald hin und in ihn hineinführte, zog sich etwa 200m von der Stelle entlang, an der die Wölfe am Waldesrand warteten. Eine Reihe gefällter Baumstämme war hier zu einem pyramidenartigen Haufen aufgetürmt. Das Gelände fiel sanft in Richtung Straße ab und war von einer Wiese voller hüfthoch wachsender Gräser mit vollen Ähren bedeckt.
Jetzt waren die Gegner nur noch 100m entfernt. Man sah aus der Entfernung, wie überrascht sie waren, dass Arnie statt Moritz bei Ihnen war. Aber jetzt konnten sie nicht mehr umkehren. Sie hätten wie die letzten Feiglinge ausgesehen. Als sie bis auf 5m herangekommen waren, blieben sie stehen, breitbeinig und großspurig. Die Wölfe zeigten ebenfalls durch Ihre Körperhaltung, dass sie keine Angst hatten. Alle fünf standen nebeneinander, die Arme vor der Brust verschränkt.
Felix rief: „Und? Was wollt ihr?“ Statt einer Antwort gingen die fünf im Gleichschritt nebeneinander langsam auf die Normannen zu. Die redeten weiter: „Arnie, was machst Du denn bei den Pennern?“ und „Kommt uns bloß nicht zu nahe, sonst könnt Ihr was erleben.“ Die Wölfe reagierten überhaupt nicht darauf, sondern kamen einfach näher. Die Gesichter Ihrer Gegner zeigten erste Anzeichen von Unruhe. Die Wölfe hatten ausgemacht, dass sie nur kämpfen würden, wenn sie direkt angegriffen würden. Alle sollten versuchen die Griffe anzuwenden, die Arnie Ihnen gezeigt hatte, um den Gegner möglichst schnell zu Fall zu bringen. Wenn das gelänge, hätten sie ganz gute Chancen zu gewinnen. Denn die anderen waren insgesamt auf jeden Fall stärker. Außerdem hatten die Wölfe besprochen, immer auch auf die Freunde und deren Kämpfe achten, um ihnen gegebenenfalls helfen zu können.
Wenn sie beim Näherkommen allerdings nicht direkt angegriffen würden, dann wollten sie zwei Meter vor dem Gegner stehen bleiben und folgendes sagen: „Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?“
Sollten diese dann fragen, um was es denn gehe, würde keiner der Wölfe auch nur den Mund aufmachen, sondern sie würden abwarten. Sollten die anderen nur irgendwelche dummen Sprüche bringen, würden sie weiter auf die anderen zugehen und sie anrempeln oder schubsen, um den Kampf einzuleiten. Sollten sie wirklich eine Entschuldigung vorbringen, dann gab es folgende Möglichkeit den Kampf zu vermeiden: Wenn alle fünf Normannen bereit wären, sich persönlich bei Isabell zu entschuldigen und sie um Verzeihung zu bitten, dann würden sie vom Kampf absehen.
Die Entscheidung, wie man vorgehen würde, sollte bei Martin liegen. Er würde die Entscheidung treffen, was genau geschehen sollte, falls das Verhalten der Gegner nicht eindeutig wäre. Und jetzt war es soweit. Die Wölfe standen vor den Normannen und Martin stellte die entscheidende Fragen: „Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?“
Wie erwartet, waren die anderen im ersten Moment überrascht. Nach einer kurzen Sekunde des Schweigens platzte plötzlich Lukas heraus: „Was wollt Ihr Witzfiguren eigentlich?“ Doch noch bevor er weitersprechen konnte fuhr Felix dazwischen und wies ihn zurecht: „Halt die Schnauze!“
Nachdem die Normannen am Vormittag die Aufforderung erhalten hatten, auf der Wiese vor dem Wald zu erscheinen, hatten sie gemeinsam überlegt, was es damit auf sich haben könnte. Sie kamen zu dem Schluss, dass man sie wegen Ihres Angriffs auf Isabell entweder zur Rede stellen würde oder vorhatte sich deswegen zu prügeln. Sie hatten schon am gestrigen Tag, als es passiert war, darüber gesprochen und die Mehrzahl der Normannen hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, vor allem, weil sie am Ende der Begegnung viel brutaler gewesen waren als geplant. Den Ausschlag hatte Lukas mit seinen Ohrfeigen gegeben, aber auch die anderen hatten mitgemacht. Im Nachhinein hatten vor allem Felix, Max und Alex ein schlechtes Gewissen, dass sie es soweit hatten kommen lassen. Unter sich hatten sie das zugegeben. Aber man durfte sich natürlich nicht vor den anderen bloßstellen. Andererseits wollte man, falls sich die Sache herumsprechen sollte, auch nicht als brutale Schläger dastehen, die feige den Schwächsten und noch dazu in großer Überzahl angegriffen hatten. Manch einer wollte auch – ohne das freilich zuzugeben – sein eigenes Gewissen entlasten. Daher hatte man sich geeinigt, dass man bereit sei, sich zu entschuldigen, falls die Wölfe ihnen eine ehrenhafte Chance dazu geben würden.
Und nun standen sie hier. Die Wölfe hatten sie nicht angegriffen, sie hatten sie nicht beschimpft. Sie überließen es stattdessen den Normannen, das richtige zu tun.
Aber Lukas war viel zu dumm, um mit so einer Situation fertig zu werden. Er wusste nicht, was zu tun war. Daher beschimpfte er die Wölfe, das war das einfachste. Aber Felix verstand sofort, was die Wölfe wollten. Sie gaben Ihnen die Chance, sich zu entschuldigen – und das in einer Art und Weise, die für beide Seiten akzeptabel sein konnte, wenn keine einen Fehler machte. Wenn doch, dann würde es eine wilde Prügelei geben. Das war allein schon daran ersichtlich, dass Isabells Freunde um Arnie verstärkt worden waren. Felix wusste ebenso wie seine vier Freunde, dass er stark war und kämpfen konnte. Aber vor allem ging es ihm darum, jetzt keinen Fehler zu machen, damit sie diese unschöne Sache, an der er und seine Freunde vor allem die Schuld trugen, beenden konnten. Gleichzeitig durfte er aber auch nicht sofort klein bei geben. Sie wollten schließlich nicht als Schwächlinge dastehen, die sich sofort einschüchtern ließen.
Daher antwortete er vorsichtig mit einer Gegenfrage: „Was werft Ihr uns vor?“
Martin hatte sich auf diese Frage vorbereitet und meinte: „Wir werfen euch vor, wie feige, niederträchtige Angsthasen ein jüngeres Mädchen zu fünft angegriffen und geschlagen zu haben!“ Weiter sagte er nichts. Die anderen Wölfe schwiegen.
„Das werden wir ja sehen, wer hier ein Angsthase ist!“ rief Kajetan und stürzte sich auf Max, der vor ihm stand. Sofort warf sich Lukas auf Arnie. Und damit war die Schlägerei schon in vollem Gange. Arnie hatte Lukas elegant an sich vorbeilgelenkt und ihm dabei ein Bein gestellt, so dass er hinflog und Arnie ihm von hinten auf den Rücken springen konnte. Dass Lukas in der Lage keine Chance mehr hatte, war klar. Daher kamen ihm sofort der Normannen-Max und Alex zu Hilfe, die Arnie von Lukas‘ Rücken herunterziehen wollten. Dabei konnten Louis und Lars nicht einfach tatenlos zusehen. Also kamen sie umgehend Arnie zu Hilfe. Zu acht zerrten sie aneinander und schlugen sich gegenseitig in den Magen, die Seiten oder auf die Oberarme. Martin und Felix zögerten, doch als Martin sah, dass Kajetan seinen Freund Max zu Boden gerungen hatte, warf er sich auf den größeren Kajetan. Felix hechtete hinterher, so dass sich 2 kämpfende Knäuel bildeten. Es ging hart zur Sache. Es wurde gerungen, geschlagen und getreten. Beide Seiten versuchten den Gegner so niederzuringen, dass er sich nicht mehr wehren konnte. Doch wenn einer sah, dass einer seiner Freunde am Boden lag, kam er ihm zur Hilfe, wenn er konnte. Daher dauerte der Kampf lange und mal sah es für die Normannen, mal für die Wölfe besser aus. Die Wiese, auf der die Prügelei stattfand war plattgetreten, die Kleidung der beteiligten war braun und grün von der Erde und dem Gras, auf dem sie sich wälzten. Alle schwitzten von der Anstrengung des Kampfes und von der Sonne, die auf alle niederbrannte.
Da rief plötzlich Felix, der auf dem Max der Wölfe saß und dessen beide Hände zu Boden drückte: „Halt! Aufhören! - Genug! Halt! - Hört doch auf!“ Da beruhigten sich die Kämpfer und hielten in Ihrer Bewegung inne. Alle blieben stehen oder liegen, wo und wie sie gerade waren, beäugten aber misstrauisch ihren jeweiligen Gegner. Da sprach Felix weiter: „Ok. Wir hören jetzt auf und Ihr bekommt von uns eine Entschuldigung. Aber nicht mehr!“
„Wir wollen keine Entschuldigung von Euch! Ihr müsst Euch bei Isabell entschuldigen,“ keuchte Martin, der wie alle fast am Ende seiner Kräfte war.
Felix schaute fragend zu seinen Kumpanen, die aber alle nicht wussten, was sie tun sollten. Da entschied er selbst: „Ok. Heute Abend. 7 Uhr. In der Kirche vor der Schule. Heiliger Boden.“
„Gut. Wir werden da sein,“ war Martins Antwort.
Langsam stand Felix auf und entfernte sich rückwärts gehend, während er Max, auf dem er gesessen hatte, genau beobachtete, um im Falle eines erneuten Angriff vorbereitet zu sein. Auch die anderen Kämpfer trennten sich. Es wurde kein Wort gesprochen. Als die Gruppen einige Meter voneinander getrennt waren, drehten sich die Normannen um und gingen, immer wieder nach hinten schauend, zu Ihren Fahrrädern. Die Wölfe blieben am Waldrand.
Martin schaute alle der Reihe nach an. Keiner der vier hatte schwere Wunden davongetragen, zumindest soweit er das sehen konnte. Ihm selbst ging es auch nicht schlecht. Nur ein paar Rippen taten ihm weh. Und er war natürlich völlig außer Atem, so wie die anderen auch. Er beugte sich nach vorn, stützte sich auf die Knie und fragte in die Runde: „Irgendwelche ernsteren Verletzungen?“
Die anderen schüttelten die Köpfe. Außer ein paar Kratzern und blauen Flecken schien alles in Ordnung zu sein. Louis ging in Richtung der Baumstämme, die ein paar Meter weiter aufgestapelt lagen. Er setzte sich auf den obersten Stamm. Die anderen kamen nach. In der Ferne sahen sie Ihre Gegner langsam davonradeln. Keiner sagte ein Wort. Man hörte nur das schwere Atmen der fünf Jungs, das Singen der Feldlerchen hoch über Ihren Köpfen und das Rauschen des Windes in den Bäumen hinter ihnen. Der Schatten des Waldes, an dessen Rand sie saßen, tat ihnen gut. Nach ein paar Minuten wurden sie ruhiger.
„Das war doch gar nicht so schlecht?“ Martins Aussage war mehr eine Frage als eine Feststellung. Er schaute dabei Max an, denn dessen Meinung war ihm im Augenblick am wichtigsten – solange bis sie es Moritz erzählen würden. Max nickte.
„Ja, wir haben erreicht was wir wollten. Sie entschuldigen sich. Und wir haben ihnen außerdem eine Abreibung verpasst.“
Dann redeten sie noch ein bisschen über die Wunden, die sie abbekommen hatten und darüber, wer sich wie geschlagen hatte. Bald gingen sie zu Ihren Rädern. Auf dem Rückweg wurde auch der Kampf besprochen. Man sprach darüber, dass Arnie sich sehr gut geschlagen hatte und dass Kajetan der stärkste der Gegner war. Auch, dass Martin Max geholfen hatte und dadurch dieser wieder auf die Beine gekommen war, dass Lars es geschafft hatte, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen, obwohl Alex ihn im Schwitzkasten hatte und dass Louis sich aus der Umklammerung vom gegnerischen Max gelöst hatte – ohne fremde Hilfe - wurde lobend erwähnt. Bis sie vor der Wohnung von Max und Moritz angekommen waren, hatte jeder alles erzählt, was ihm vom Kampf wichtig erschienen war. Allen war wohl zumute. Sie hatten den Kampf überstanden und die Normannen dazu gebracht, sich zu entschuldigen. In zwei Stunden würden sie am Treffpunkt sein. Aber jetzt galt es erst einmal Isabell über alles zu informieren.
Als sie die Jungs an der Tür hörte, kam sie aus ihrem Zimmer. An den lächelnden Gesichtern konnte sie sofort erkennen, dass es gut gelaufen war. Sie gingen in ihr Zimmer und Martin berichtete, wobei er oftmals von einem der anderen unterbrochen wurde. Moritz freute sich, dass die Sache glimpflich abgelaufen war. Und sie war froh, dass die Normannen sich entschuldigen wollten. Als sie erfuhr, dass das schon in zwei Stunden der Fall sein sollte, wurde sie etwas aufgeregt. Wie sollte die Entschuldigung vor sich gehen? Die Wölfe wollten sie hoffentlich nicht alleine lassen. Aber Martin erklärte ihr, dass sie sich schon überlegt hatten, wie die Prozedur ablaufen sollte. Nachdem er es ihr erklärt hatte, war sie beruhigt. Dann fiel ihr ein, dass sie sich natürlich noch bei Arnie bedanken musste. Er hatte sich ohne Not zu der Aktion überreden lassen – aus purer Nettigkeit. Sie dankte ihm überschwänglich. Aber Arnie meinte nur, dass das doch jeder getan hätte und er habe ja auch nicht viel getan. Auch hätten sich die anderen schon mehrfach bei ihm bedankt. So gingen sie einige Minuten später auseinander und verabredeten sich für viertel vor sieben Uhr vor der Schule.
Dort gab es einen gepflasterten Platz, an dessen Seiten einige Beete angelegt waren. Er wurde allgemein als der Kirchplatz bezeichnet. Mehrere hölzerne Bänke mit gusseisernen Beinen waren auf der Seite der Schule, direkt vor der Mauer, und auf der gegenüberliegenden Seite, vor der Kirche, aufgestellt. Um diese Zeit war bei so gutem Wetter wie heute noch einiges los. Ein paar Mütter schoben Kinderwagen spazieren, Paare flanierten Eis schleckend über den Platz und einige Gymnasiasten hatten sich an das Kriegerdenkmal, das sich in der Mitte befand, gelehnt und tranken Bier. Die Normannen waren bereits da. Sie saßen auf der Schulmauer, einige Meter von den Bänken entfernt. Isabell setzte sich auf eine Bank. Die fünf Jungs, Arnie war auch dabei, lehnten sich hinter sie an die Schulmauer, breitbeinig und alle nebeneinander. Schweigend warteten sie. Kurz vor sieben gingen sie in die Kirche. Es handelte sich um eine klassizistische, katholische Kirche, die außen in grün und weiß gehalten war. Innen bestand sie aus einem breiten Hauptschiff. Es gab wenige Zierden, bis auf die vorspringenden, klassizistischen Säulen und einige Bilder, so dass sie fast schon protestantisch anmutete. Isabell setzte sich im mittleren Bereich an die linke Seite. Die fünf Jungs wählten die Plätze direkt hinter ihr. Sie warteten einige Minuten. Keiner sagte ein Wort. Es läutete sieben Uhr. Als die Normannen nicht kamen, wandte sich gelegentlich einer um und schaute zur Tür. Es schien, die Normannen konnten sich nicht recht dazu durchringen hineinzukommen. Aber dann kamen sie doch. Die Hände in den Hosentaschen, äußerst unpassend in einer Kirche - gingen sie langsam auf das junge Mädchen zu. Lars hatte die fünf als erster bemerkt und zischte leise: „Sie kommen.“ Isabell wurde vor Aufregung ein bisschen rot. Aber da sie die Wölfe hinter sich wusste, fasste sie Mut und blickte starr auf das Bild, das sich einige Meter vor ihr an der Wand, links vom Altar, befand. Es stellte Jesus, das Kreuz tragend dar. Als ihr gewahr wurde, das etwas ähnliches - im übertragenden Sinne - die fünf Jungs taten, die auf dem Weg zu ihr waren, schlich sich für einen Moment ein Lächeln auf ihre bis dahin verkniffenen Züge. Sie schaute auf, als die fünf neben ihr im Durchgang am linken Rand des Kirchenschiffs standen. Felix ergriff das Wort.
„Wir möchten uns entschuldigen,“ nuschelte er und verstummte. Isabell wartete einen Augenblick, aber er sprach nicht weiter. Das erschien ihr etwas wenig als Entschuldigung. Sie blickte sich hilflos zu Martin und Ihrem Bruder um. Letzterer war ebenso überrascht, aber seine Überraschung äußerte sich nicht in Hilflosigkeit, sondern in Wut. Er schaute Felix mit finsterem Blick direkt ins Gesicht. Als dieser aufschaute und diesen Blick wahrnahm, überwand er sich doch und sprach weiter.
„Wir haben uns ziemlich daneben benommen. Das tut uns Leid.“ Er reichte ihr seine Hand. Das gleiche taten, allerdings schweigend, gleich darauf die vier anderen. Isabell sagte nichts, drückte aber die angebotenen Hände. Daraufhin verließen die Normannen die Kirche. Die Wölfe blieben noch ein paar Minuten schweigend sitzen. Dann verließen auch sie gemeinsam den heiligen Boden.
4. Das Versteck
Die Sonne brannte auch am darauffolgenden Tag auf die Stadt herunter. Kein Wölkchen war am Himmel zu entdecken. Kein Lüftchen regte sich. Die männlichen Wölfe hockten in der fünften Stunde und dösten größtenteils vor sich hin. Frau Knie versuchte der 4B etwas über deutsche Grammatik beizubringen. Doch bis auf ein paar Streber in den ersten Reihen warteten alle nur auf das Ende, um dann endlich – heute hatten sie nur fünf Stunden – nach Hause gehen zu dürfen. Manch einer würde sich nach dem Mittagessen, so es denn eines gab, in sein Zimmer an den Computer zurückziehen um bei geschlossenen Vorhängen am Computer oder an der X-Box zu spielen. Die Wölfe und sicher auch die meisten anderen der Klasse würden die Zeit allerdings draußen verbringen, bevorzugt am See oder im Schwimmbad.
Moritz ging es in Ihrer Klasse nicht anders als Ihren großen Freunden. Auch sie wartete auf das Ende des Unterrichts. In der Pause hatten sie besprochen, direkt nach dem Mittagessen zum See zu fahren. Dort wollten sie das Thema Gral besprechen, das sie aufgrund der Ereignisse ganz aus den Augen verloren hatten. Und außerdem wollten sie sich natürlich abkühlen, nachdem sie fünf Stunden in Ihren Klassenzimmern vor sich hin geköchelt hatten.
Zwei Stunden später lagen sie im Schatten einer großen Weide direkt am Ufer des Sees. Dieser lag inmitten von Felder, die dieses Jahr vor allem mit Roggen, Weizen und Kartoffeln bestanden waren. Umgeben wurde er von einem Gürtel Wiese, auf der viele alte Laubbäume wuchsen, die eifrig von den Badenden, die im Sommer in Massen aus der Stadt kamen, als Schattenspender genutzt wurden. Er befand sich nur 15 Fahrradminuten von der Stadtgrenze entfernt. Sie hatten ihn innerhalb einer halben Stunde erreicht und waren sofort ins Wasser gesprungen. Jetzt lagen sie auf Ihren Handtüchern und ließen sich trocknen. Ab und zu wehte hier ein sanftes Lüftchen und kühlte die noch nassen Körper ein wenig. Von der nächsten Badebucht tönte das Geschrei von Jugendlichen herüber, die ausgelassen allerlei Blödsinn trieben. Auf der anderen Seite lagen mehrere Erwachsene und Familien, die sich sonnten oder mit Ihren jungen Zöglingen spielten. Die Enten hatten sich ob des Radaus und der vielen Menschen, die überall am Ufer zu finden waren, in die Mitte des Sees zurückgezogen.
„Wie machen wir weiter?“ war Martins Frage. Er hatte sich aufgesetzt und schaute in die Runde. Alle schwiegen. Dann äußerte sich Max:
„Ich habe eigentlich keine Lust mehr auf irgendwelche Verfolgungsspiele oder Kämpfe. Mit solchen Typen lohnt es sich einfach nicht, sich zu messen.“
„Du willst aufgeben?“ fragte Lars.
„Nein. Eigentlich nicht. Aber irgendwie habe ich die Lust verloren mich mit solchen Deppen zu messen.“
Da äußerte sich auch Louis: „Ich finde, wir sollten uns davon nicht alles verderben lassen.Ich glaube, wir haben gute Chancen, es ihnen zu zeigen.“
„Ich meine ja nur, dass es mir so geht. Wenn Ihr es anders seht, ist das Eure Sache. Was meinst Du denn, Moritz?“
Sie wußte nicht so recht, was sie sagen sollte. Auch ihr war die Lust vergangen. Aber sie wollte auch keine Spielverderberin sein. „Ich weiß nicht recht. Vielleicht könnten wir erst einmal eine Pause machen?“
„Das geht nicht“, meldete sich wieder Louis. Wir haben eine Abmachung, die man nicht einfach aussetzen kann, zumindest nicht ohne es mit den Normannen zu besrprechen. Und darauf habe ich überhaupt keine Lust.“
Da hatte Martin eine Idee: „Vielleicht könnten wir doch jemanden bitten, den Gral zu verstecken, so wie Moritz es vorgeschlagen hatte, und dann einfach erst einmal abwarten?“
Lars fügte hinzu: „Ich fände es auch nicht schlecht, wenn wir Moritz‘ Vorschlag umsetzten. Ich glaube, die Normannen werden uns nicht mehr hinterhältig angreifen. Wir könnten uns damit unseres eigenen Grals entledigen, ohne damit gleich aufzugeben.“
„Aber wenn wir dann alle wieder Lust verspüren sollten, uns in den Wettkampf einzuklinken und den Gral dieser erbärmlichen Trauergestalten zu erobern, so können wir es immernoch tun,“ sagte Martin.
„Zeit haben wir ja noch genug,“ ergänzte Louis, dem der Vorschlag ebenfalls gut gefiel.
„Ich finde die Idee auch gut,“ pflichtete Martin bei. „Was sagt Ihr?“ fragte er Max und Moritz.
„Ja, sehr gut“, kam es von Moritz. Auch Max nickte. Damit war der Plan beschlossen.
„Aber wer soll der Fremde sein, der uns hilft, den Gral zu verstecken?“ schoss es Moritz durch den Kopf.
„Da fällt mir ganz spontan genau der richtige ein,“ meinte Louis grinsend.
„Genau, mir auch. Wer uns einmal so aufopferungsvoll geholfen hat, der tut es sicher auch nochmal, zumal es dieses Mal spannender ist und mehr Verstand erfordert als das letzte Mal, als es um pures Draufkloppen ging,“ ließ Lars sich wieder vernehmen.
„Arnie, klar, wer sonst,“ Martin sprach aus, was allen sofort klar gewesen war. „Ich rufe ihn heute Abend an und frage ihn, was er von unserer Idee hält.“
Damit war erst einmal alles geklärt. Da inzwischen alle wieder getrocknet waren, ging es wieder in den See.
*
Die Sonne war schon vor geraumer Zeit untergegangen. Die Schatten der Dämmerung gingen langsam ins Schwarz der Nacht über. In der Ferne hörte man eine Eule rufen. Die Wind wurde langsam kühler und wehte sanft aus Richtung Westen. Arnie spürte ihn daher auf seiner rechten Wange. Er war mit dem Fahrrad nach Süden unterwegs. Seinen Eltern hatte er erzählt er übernachte bei seinem Freund Sönke. Und Sönkes Eltern hatten sie erzählt, er müsse zu Hause noch eine Hausaufgabe zu Ende schreiben, weshalb er später käme. So hatte er den Rücken frei, zumindest noch für ca. eine Stunde. Und die sollte für sein Vorhaben reichen. Vor zehn Minuten hatte er die Stadtgrenze mit seinem Mountain-Bike überschritten. Seitdem befand er sich auf einer Ausfallstraße nach Süden. Es galt noch den nächsten Ort zu durchqueren, dann würde er nach rechts in eine kleinere Straße abbiegen, die zu einem steinbruchartigen Gelände führte, das von einem kleinen Birkenwald flankiert wurde. Hier hatte er eine gute Stelle für sein Gepäckstück ausgemacht, das er im Rucksack transportierte. Nachdem er gestern Abend von Martin gebeten worden war, den Pokal zu verstecken, hatte er sofort an dieses Gelände gedacht. Er war daher am frühen Nachmittag hingefahren und hatte tatsächlich eine gute Stelle gefunden, um ihn für längere Zeit verschwinden zu lassen. Und jetzt war es soweit. Er war auf dem Weg. Immer wieder schaute er sich um. Er hatte direkt hinter einer Kurve schon einmal angehalten und sich versteckt. Aus seinem Versteck heraus hatte er dann die Straße beobachtet. Aber es war niemand aufgetaucht, der verdächtig aussah, schon gar nicht einer der Normannen – wie auch Arnie die Gruppe um Felix jetzt nannte.
Obwohl der kühlende Wind stärker geworden war, schwitzte Arnie. Es war nicht die Hitze oder Anstrengung, die ihn schwitzen ließen, sondern die Aufregung. Er war aufgeregt, weil er sich ohne das Wissen seiner Eltern weit weg von zu Hause aufhielt, weil er in geheimer Mission unterwegs war bei der ihm die Feinde der Wölfe vielleicht auflauern konnten und weil er allein in der Dunkelheit unterwegs war. Aber es war nicht mehr weit bis zu seinem Ziel.
Es war nicht einfach in der zunehmenden Dunkelheit sicher Tritt zu fassen. Die Fläche war von Steinen verschiedenster Größe bedeckt. Der Boden bestand aus grobem Kies. Darüber lagen zum Teil bis zu halbmeterlange Granitbrocken wild durcheinander. Hier war Arnie auf der Suche nach dem richtigen Versteck. Er hatte es sich einfacher vorgestellt. Aber in dieser Dunkelheit, die zwischen den Felsbrocken und Steinen noch viel dichter war als auf der Straße, war es sogar schwer, sicheren Halt für seine Füße zu finden, geschweige denn das Versteck, das er sich füher am Tag ausgesucht hatte, auszumachen. Er hatte in seinem Rucksack wichtige Utensilien mitgebracht, eine Taschenlampe, die er bisher aus Angst, entdeckt zu werden nicht angeschaltet hatte, Kreide, um die Stelle unauffällig zu markieren, an der der Gral versteckt war, und natürlich eine Schaufel, um ihn vergraben zu können. Auch eine Eisenstange, um gegebenenfalls einen Felsbrocken anheben zu können, hatte er mitgebracht. Er würde wohl alles brauchen, dringender als erwartet.
Als erstes musste er seine Taschenlampe herausholen. Ohne gutes Licht war an das Finden des Verstecks nicht zu denken. Als er sie angeschaltet hatte, machte er sich auf die Suche nach der Stelle, die ihm früher am Tag passend erschienen war. Er musste mehrfach hin und hergehen, bis er sie endlich gefunden hatte. Dann stelle er fest, dass der Platz für den Gral zu klein war. Es galt also ein anderes Versteck zu finden. Er ging langsam, suchenden Auges, zwischen den Steinen hindurch und näherte sich dem Birkenwäldchen. Plötzlich nahm er einen Schatten im Augenwinkel war. Gleichzeitig hörte er ein Rascheln. Der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder. Blitzschnell drehte er sich in die Richtung der Bewegung und leuchtete mit der Taschenlampe dorthin. Er sah die schnell auf und ab hüpfende weiße Blume eines Feldhasen, der sich in den Wald flüchtete. Erleichtert atmete er auf. Gott sei Dank. Nur ein Hase. Er schaltete kurz die Lampe aus und blickte ins Dunkel. Nach einigen Sekunden hatten sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte seine Umgebung erkennen. Er drehte sich einmal ganz im Kreis. Alles war ruhig und friedlich. Aber trotzdem bekam er es langsam mit der Angst zu tun. Aber er wollte den Wölfen keinesfalls gestehen, dass er sich nicht getraut hatte, den Gral zu verstecken. Und irgendwo auf dem Weg nach Hause würde er spontan sicher kein Versteck finden – zumindest kein gutes. Also musste er weitersuchen und die Sache hinter sich bringen. Daher schaltete er die Lampe wieder ein und machte weiter.
In der Nähe des Wäldchens fand er schließlich, was er suchte: Einen großen, flachen Stein, den er hochheben konnte und unter dem der Boden weich genug war, um eine Vertiefung hineinzugraben. Er grub mit der Schaufel eine etwa 15cm tiefe Mulde und versuchte dann den Gral hineinzulegen. Nachdem er das Loch ein bisschen erweitert hatte, passte er hinein. Als nächstes legte er den Stein darüber. Die Erde aus der Mulde verteilte er um sich, so dass man nicht ohne weiteres erkennen konnte, dass hier gegraben worden war. Ihm war inzwischen klar geworden, dass er mit der Kreide nichts anfangen konnte. Selbst wenn er eine Stelle in der Nähe markieren würde und dort mit Kürzeln, die niemand außer ihm verstand, die Stelle des Verstecks beschreiben würde. Der nächste Regen würde alles wieder wegwaschen. Er musste sich den Platz möglichst gut merken und sich zu Hause alles notieren, so dass er ihn später wiederfinden würde. Aber jetzt wollte er so schnell wie möglich nach Hause, d.h. zu Sönke. Eigentlich wäre er jetzt am liebsten zu sich nach Hause gefahren, um in seinem eigenen Bett zu schlafen. Aber er musste seine Tarnung aufrecht erhalten. Also fuhr er zu Sönke. Er begegnete nur wenigen Autos, als er die Ausfallstraße zurück in die Stadt fuhr. Er trat kräftig in die Pedale und schneller als erwartet erreichte er sein Ziel.
5. Sieg nach Punkten
Die Wölfen fuhren auf ihren Rädern von der Schule direkt zum Badesee. Der Himmel war auch heute wieder wolkenlos. Ein leichter Wind ließ die Blättern der Bäume immer wieder rauschen. Am Ende der Pappelallee, in deren Schatten sie gemächlich dahin radelten, gab es eine Ampel. Hier hielten sie an und blickten zur anderen Seite hinüber. Dort schien Arnie auf dem Fahrrad sitzend auf jemanden zu warten. Mit der freien Hand hielt er sich am Stamm einer Pappel fest, so dass er die Füße auf den Pedalen lassen konnte. Die Freunde grüßten hinüber zu ihm. Arnie grüßte mit leichtem Nicken zurück. Als die Ampel auf grün sprang, fuhren sie an ihm vorbei und strebten weiter dem Badesee zu.
Kurze Zeit später befanden sie sich auf einem Radweg, der aus der Stadt herausführte. Martin sagte zu Max, der neben ihm fuhr:
„Wir haben es geschafft. Arnie hat seine Aufgabe erledigt.“
„Ich habe es bemerkt,“ antwortete Max.
Die Wölfe und Arnie hatten sich für diesen Ort und diese Zeit verabredet. Sie wollten nur aneinander vorbeifahren. Wenn es Probleme mit dem Verstecken des Grals gegeben hätte, dann hätte Arnie zur Begrüßung die Hand gehoben. Dass er es nicht getan hatte, bedeutete, dass alles in Ordnung war. Also war alles nach Plan gelaufen.
Martin drehte sich um. Hinter ihnen fuhren Lars und Louis. Als letztes kam Isabel. Martin rief nach hinten: „Geschafft“. Die anderen nickten ihm zu. Alle wussten, was gemeint war und hatten es beim Vorbeifahren selbst gesehen. Frohen Mutes ging es weiter zwischen den Roggenfeldern hindurch, die schon gelb waren und im leichten Wind wie die Wellen eines Meeres hin und her wogten. Der Fahrtwind kühlte ihre schwitzenden Gesichter. Es wurde nicht geredet. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Gelegentlich schaute einer nach hinten, um zu prüfen, ob die Freunde noch da waren. Nach 15 Minuten hatten sie den See erreicht. Sie schlossen die Räder zusammen, schulterten die Rucksäcke und gingen zwischen den Büschen zum See. Es war noch nicht sehr voll, da es erst Mittag war. Sie fanden einen Platz, einen Steinwurf vom Wasser entfernt, im Schatten einer alten Pappel. Dort breiteten sie Ihre Handtücher aus, zogen sich bis auf die Badehosen bzw. den Badeanzug aus und legten sich hin. Die Getränke wurden ausgepackt und jeder nahm erst einmal einen großen Schluck, denn die Fahrt durch die Sonne hatte Durst gemacht.
Man unterhielt sich ungezwungen. Niemand sprach über den Gral. Alle waren froh, dass er jetzt versteckt war und, dass man Isabells Idee umgesetzt hatte. Erst einmal wollte die Mehrheit sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigen. Louis holte ein Buch heraus, einen Band über Napoleon, den er aus der Stadtbibliothek ausgeliehen hatte. Die anderen gingen ins Wasser. Während sie schwammen und planschten widmete sich Louis seinem neuen Buch. Immer wieder griff er zu der Colaflasche, die neben ihm stand und trank. Noch war sie kühl. Daher nahm er immer wieder eine Schluck. Im Hintergrund hörte er die Schreie der Kinder und Jugendlichen im Wasser, vor allem die von Lars und Isabell. Das Prasseln eines Lagerfeuers, das einige Jugendliche nicht weit entfernt entfacht hatten, das ferne Brausen vorbeifahrender Autos und das Rauschen der Bäume ergänzten die Geräusche, die Max wahrnahm, als er las. Er nahm sie kaum wahr. Doch plötzlich wurde dieses allgemeine Rauschen von einem nahen Geräusch ergänzt, das zwar viel leiser als die meisten der anderen Töne war, aber durch seine Nähe und Klarheit durch die allgemeine Geräuschkulisse hindurch jedem auffallen musste, zumindest wenn er eine gewisse Wachsamkeit an den Tag legte. Dies war bei Louis der Fall. Auch wenn sie durch Ihre Strategie eigentlich kaum noch etwas anderes unternehmen mussten, als abzuwarten, befanden sie sich trotzdem noch in einem Zustand ständig erhöhter Aufmerksamkeit. Zumal Louis, der ohnehin am liebsten das Spiel um den Gral aktiver weiterverfolgt hätte. Bei dem Geräusch handelte es sich um ein Rascheln. Es war eigentlich nichts Ungewöhnliches. Der Wind konnte bspw. ein paar Blätter herumgewirbelt haben oder ein Tier konnte im Unterholz zwischen den Blättern nach Nahrung gesucht haben. Aber beides war relativ unwahrscheinlich. Für ersteres war das Geräusch zu laut gewesen, für letzteres war es die falsche Tageszeit. Jetzt, zur Mittagszeit, waren keine Tiere hier unter den ganzen Menschen unterwegs, höchstes Amseln, aber das typische Geräusch von Würmer suchenden Amseln war es nicht, das Louis gehört hatte. Es kam aus einem breiten Gebüsch, das sich zwischen zwei baumbestandenen Wiesen erstreckte, die beide bis ans Wasser reichten und zog sich bis zu dem Schilfgürtel, der teilweise den Badesee umgab. Das Gebüsch bestand aus verschiedenen belaubten Sträuchern, unter und zwischen denen das vertrocknete Laub der letzten Jahre lag. Zu sehen war nichts als die beblätterten Sträucher.
Nach ein paar Sekunden, die Louis unentschlossen dalag und überlegte, wurde ihm klar, dass die Möglichkeit bestand, dass es sich um Ihre Gegner, die Normannen handelte, die versuchten, sich ihnen unbemerkt zu nähern. Er dachte fieberhaft nach, was sie wollen könnten. Eigentlich bestand nur die Gefahr, belauscht zu werden. Was war also zu tun. Es konnte eigentlich nichts passieren. Das einzige, das eine gewisse Gefahr barg, war, dass sie verraten könnten, wer ihren Gral versteckt hatte. Die Gefahr war gering, da sie beschlossen hatten, nicht weiter darüber zu sprechen. Aber die Situation, falls das Geräusch wirklich von einem der Normannen herrühren sollte, war zu interessant, um nicht etwas daraus zu machen. Wenn ein Normanne sie belauschen sollte, dann könnte man ihm falsche Informationen geben und ihn in die Irre führen. Auch wenn sie dadurch den Gral der Gegenseite nicht finden würden, so könnte man doch durch eine intelligente Aktion den Feind an der Nase herumführen und damit seine eigene Überlegenheit beweisen. Nach der Niederlage, die die Normannen durch den Angriff auf Isabell eingesteckt hatten, wäre das ein zweiter Sieg, den sie für sich verbuchen könnten. So würden sie zwar keinen KO-Sieg erringen, wie man es beim Boxen nannte, man würde also nicht durch Eroberung des Grals auf ganzer Linie und vollständig siegen. Aber man könnte quasi einen Sieg nach Punkten erringen, indem man die besseren Aktionen als die anderen durchführte. Das alles schoss Louis innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. Als erstes galt es zu prüfen, ob man sie wirklich belauschen wollte. Er schaute weiter auf sein Buch, konzentrierte sich aber ganz aufs Hören. Er drehte ein bisschen den Kopf, indem er zum See herunterschaute, so dass er sein Ohr dem Gebüsch rechts neben sich zuwandte. So verharrte er einige Sekunden. Tatsächlich. Wieder hörte er auffällige Geräusche. Sie gingen im allgemeinen Lärm fast unter, aber eben nur fast. Es bewegte sich eindeutig jemand durchs Unterholz, nur wenige Meter entfernt. Louis dachte angestrengt nach. Er musst die anderen darüber informieren, ohne dass der Lauscher etwas davon mitbekam. Sofort fiel ihm etwas ein. Sie nannten ihre Gegner „die Normannen“. Er würde seinen Freunden erzählen, dass er ein Buch über die Normannen lese. Die anderen würden sich wundern, da er allen erzählt hatte, dass er augenblicklich für Napoleon schwärme. Auch hatten sie das Buch über den französischen Kaiser gesehen, das er ausgepackt hatte. Oben prangte in großen Buchstaben: Napoleon. Der Lauscher konnte das eigentlich nicht gesehen haben. Wenn er den anderen von einem tollen Buch über die Normannen erzählte und ihnen gleichzeitig sein Napoleonbuch zeigte, dann würde jeder seiner Freunde, denn sie waren nicht dumm, sofort begreifen, dass irgendetwas nicht stimmte. Glücklicherweise nannten sie die Gruppe Ihrer Feinde nur unter sich „die Normannen“, so dass eigentlich niemand sonst darüber Bescheid wusste, bis auf Arnie natürlich, der ja schon halb dazugehörte. Trotzdem könnten die Lauscher etwas davon wissen. Es wäre ja möglich, dass sie nicht das erste Mal heimlich zuhörten. Also musste er seinen Plan verfeinern. Er würde nicht Normannen, sondern Nordmannen sagen. Und dann würde er kurz die Geschichte der Schlacht von Cannae erzählen, allerdings leicht abgewandelt. Statt der Kimbern und Teutonen, würde er von den überfallenen Nordmannen berichten, die von den Gegnern heimlich beim Baden beobachtet worden waren, bevor sie angegriffen worden waren. Eine bessere Parallele fiel ihm so schnell nicht ein. Die ungebildeten Normannen würde diese Verdrehung der Wahrheit sicher nicht bemerken. Die seinen würden den Wink, dass die Gegner in der Nähe wären, sicher verstehen. Außerdem würde er erwähnen, dass nach den Nordmannen die Normandie benannt war. Spätestens dann sollten seine Leute Bescheid wissen, dass die Normannen gemeint waren. Ok, bis dahin war ihm alles klar. Aber wie sollte es weiter gehen?
Sie mussten durch Ihr Gespräch einen Sieg gegen Ihre Widersacher erringen. Wie machten das die großen Feldherren? Sie lockten ihre Gegner in eine Falle. Also mussten sie den Normannen eine Falle stellen. Man konnte sie Glauben machen, dass der Gral irgendwo versteckt sei, wo er gar nicht war und ihnen dann auflauern.
Aber wie sollten sie das machen? Ihm fiel nichts ein. Er hätte ins Wasser gehen können und sich dort mit den anderen besprechen. Aber die Chance, dass der Feind Verdacht schöpfen würde, wenn sie im Wasser miteinander diskutierten und vielleicht ein paar neugierige Blicke in Richtung Ufer geschickt würden, war einfach zu groß. Er musste die Sache selbst in die Hand nehmen, wenn es klappen sollte. Und eigentlich war es auch genau das, was er wollte. Er überlegte. Zum Schein blätterte er zur nächsten Seite seines Buches. Da hatte er die rettende Idee. Gerade noch rechtzeitig, denn die Freunde kamen aus dem Wasser.
Alles verlief nach Plan. Martin und Moritz hatten ihn verdutzt angeschaut, als er von den Nordmannen in seinem Buch sprach, aber sein Blick hatte sie schweigen lassen. Er hatte sie über die Schlacht bei Cannae aufgeklärt, die in seiner Erzählung von den Nordmannen und nicht von den Germanen geführt worden war und er hatte auf die Nordmannen als die Namensgeber der Normandie hingewiesen. Jetzt waren seine Freunde mehr oder weniger im Bilde. Der erste Teil der Schlacht war geschlagen. Jetzt musste die Falle gestellt werden.
Nachdem sich Martin, Lars, Max und Moritz abgetrocknet und auf Ihre Badetücher gelegt hatten, begann Louis:
„Also Leute, ich habe noch mal nachgedacht. Der Platz, den wir ausgesucht haben, ist nicht gut, denke ich. Überlegt mal, wenn sie irgendwie dahinter kommen, dann haben wir praktisch keine Chance, ...“, hier sprach er plötzlich deutlich leiser, aber immer noch laut genug, wie er vermutete, dass die Lauscher es hören mussten: „...den Gral zu verteidigen oder ihn rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.“
„Aber wie sollten sie es denn erfahren? Die Stumpfnasen würden es doch nicht mal merken, wenn man ihn in einer Kiste auf den Schulhof stellen würde,“ ließ sich Martin vernehmen, der wohl eine vage Vorstellung davon hatte, worauf Louis hinaus wollte.
„Man soll seine Feinde nie unterschätzen,“ gab Louis eine allgemeine Kriegsregel zum Besten.
„Und was schlägst Du vor?“ fragte Isabell, die nicht genau wusste, was los war und was gespielt wurde, die aber schlau genug war, das Gespräch so voranzutreiben, dass Louis daraus machen konnte, was er wollte.
„Ich habe eine bessere Idee. Wir holen ihn heute Nacht wieder vom Dach der Turnhalle runter und bringen ihn in dieses Waldgebiet, an dessen Rand wir uns mit Felix‘ Leuten geprügelt haben. Dort gibt es auf den Lichtungen total zugewucherte Gebüsche, voll von Brombeersträuchern, Brennnesseln, Disteln und was nicht noch alles. Ich bringe die große Heckenschere von zu Hause mit, dann können wir einen Gang hineingraben und die Kiste dort drinnen unterbringen. Dort hat man viel besser die Chance, sie zu verteidigen und sie unauffällig im Auge zu behalten, da wir ohnehin oft in der Gegend unterwegs sind.“
„Keine schlechte Idee. Ich bin dafür,“ sagte Martin. Die anderen stimmten ebenfalls zu. Daraufhin wandte sich Louis wieder seinem Buch zu, während die anderen schweigend da lagen. Jeder überlegte, was das eben gesagte zu bedeuten habe, aber natürlich sprach keiner davon. Kurze Zeit später wollte auch Louis ins Wasser. Die anderen kamen alle nochmal mit. Sie wollten dem Lauscher die Chance geben, unauffällig zu verschwinden.
Als sie alle im Wasser waren, schwammen sie auf den See hinaus. Auf Isabell mussten sie besonders Acht geben, da sie noch nicht so gut schwimmen konnte. Sie schwammen alle nebeneinander her, Louis in der Mitte, Lars und Martin links von ihm, Max und Moritz rechts. Als sie den Schilfgürtel, der beiderseits der Badestelle in den See hinausreichte, hinter sich gelassen hatten und sich im freien Wasser befanden, berichtete Louis. Er erzählte ihnen von seiner Beobachtung und seinem Plan. Alle waren begeistert von seiner Idee. Als nächstes galt es herauszufinden, ob sie weiterhin verfolgt wurden. Wenn nicht, dann konnten sie davon ausgehen, dass die Normannen glaubten, das Versteck des Grals gefunden zu haben und sich jetzt darauf vorbereiteten, sich den Kelch zu holen. Möglich wäre auch noch, dass Louis sich völlig getäuscht hatte und überhaupt niemand dort gewesen war, der sie belauschte. Aber das ließen sie vorerst außer Acht. Man beschloss daher zu überprüfen, ob sie verfolgt wurden. Die beste Möglichkeit bot die Strecke in die Stadt. Man fuhr eine längere Strecke zwischen Feldern hindurch. Hier war man schon aus großer Entfernung sichtbar. Dann begann mit einem Mal die Stadt, mit Bäumen, Häusern und Gärten. Man konnte sich dort relativ leicht verstecken und schauen, wer alles vom See angeradelt kam. Genau das hatten sie vor. Sie schwammen ans Ufer, zogen sich an und fuhren eilig zurück.
Nachdem sie festgestellt hatten, dass sie nicht verfolgt wurden, radelten sie so schnell sie konnten zur Schule. Das Dach der Sporthalle war flach und die Halle selbst nicht sehr hoch. Allerdings gab es kaum Möglichkeiten hinaufzugelangen. Eine Treppe führte von innen zu einer Dachluke. Aber hier hatte nur der Hausmeister Zugang. Es gab die Chance dem Hausmeister zu erzählen, dass einem der Ball oder etwas ähnliches hinaufgeflogen war. Aber wenn man Zeit zum Suchen brauchte und außerdem mit einer Kiste wieder herunterkam, dann würde der Hausmeister sofort Verdacht schöpfen. Die viel schnellere und unauffälligere Methode boten die Mülltonnen, die an der Seite der Halle standen, an der das Dach am niedrigsten war. Wenn man sie erkletterte und dann noch jemanden hatte, der einem eine Räuberleiter machte, dann war es gar kein Problem hinaufzukommen. Daher rasten die Wölfe zu eben dieser Stelle. Sie wollten den Normannen, wenn sie sich auf dem Dach befanden, um den Gral zu suchen, die Mülltonnen wegschieben, so dass diese nicht wieder herunterklettern konnten.
Und tatsächlich, neben der Turnhalle standen die fünf Räder Ihrer Gegner. Welch ein Triumph. Sie würden ihre Gegener damit nochmals besiegen – nicht endgültig, aber eben wieder ein bisschen. Der Krieg war nicht gewonnen, aber eine weitere Schlacht würde zu ihren Gunsten ausgehen. Dafür mussten sie den Normannen noch zeigen, dass sie sie hereingelegt hatten. Und Fortuna war mit ihnen. Alle fünf Normannen waren anscheinend hinaufgeklettert und befanden sich außer Sichtweite. Damit war der Sieg ganz besonders einfach und effektvoll sichtbar zu machen.
Martin rief noch während sie von den Rädern sprangen: „Louis und ich je eine Tonne und der Rest je eine Tonne. Schiebt sie einfach zwei, drei Meter von der Wand weg, das reicht. Sie müssen weg sein, bevor die Normannen es merken.“ Noch bevor er den Satz beendet hatte, waren sie dabei die Tonnen wegzuschieben, die glücklicherweise aus Kunststoff gefertigt waren und daher kaum Krach machten, als sie verschoben wurden. Gerade als Max, Moritz und Lars die vorletzte Tonne anschoben sowie Martin und Louis zur letzten hinrannten, erschienen die Gestalten Ihrer Gegner am Rande des Dachs. So schnell wie die Wölfe auch die letzten Tonnen wegschoben, konnten die Normannen natürlich nicht heruntersteigen. Das wäre nur mit einem beherzten Sprung von oben auf die letzte Tonne möglich gewesen. Aber keiner der Normannen hatte den Mut und die Geistesgegenwart dazu, dies zu wagen. Somit waren oben die Normannen und unten die Wölfe versammelt. Martin eröffnete das Wortgefecht, das sich jetzt entwickeln musste. Er hatte schon seit Ihrer Rückfahrt darüber nachgedacht und sich für folgendes entschieden.
„Wir wollten einander doch den Gral abjagen. Und Ihr beschäftigt euch stattdessen mit Bergsteigen?“ rief er lachend hinauf und ergänzte: „So wird das nie etwas.“
„Was soll das?“ rief Felix von oben zurück. „Lasst den Scheiß. Schiebt die Tonnen wieder her.“
„Aber klar,“ gab Martin zurück, „ wir wollen auch nichts dafür. Es war Belohnung genug, dass Ihr auf unsere List hereingefallen seid. Ich muss ja zugeben, dass ihr euch große Mühe gebt. Allein, es fehlt noch ein bisschen am Können. Wollen allein reicht eben nicht immer. Ihr solltet es mal mit Karl May Büchern versuchen. Da ist ganz ausführlich erklärt, wie man schleicht. Es ist wahrlich nicht leicht. Aber mit ein bisschen Übung und mit so vielen Hintergrundgeräuschen wie am See sollte es eigentlich machbar sein, jemanden zu belauschen ohne dass derjenige es bemerkt.
Zudem hattet ihr das Pech an jemanden geraten zu sein, der nicht nur aufpasst wie ein Luchs, sondern dabei auch noch geniale Pläne schmiedet.“
„War's das? Oder wird der Vortrag noch länger?“ kam von oben zurück.
„Nein, das wars schon. Wir haben auch besseres zu tun, als unsere Zeit hier zu vertrödeln.“ Damit schoben sie die Tonnen wieder an ihre Plätze zurück. Noch bevor alle Normannen wieder unten angelangt waren, radelten die Wölfe stolz an ihnen vorbei in Richtung Kirchplatz.
Die Sonne schien auf den Kirchplatz herab. Die Stiefmütterchen und Geranien leuchteten in den buntesten Farben, während das Grün des Rasens langsam in Braun überging, da es seit längerem nicht mehr ausreichend geregnet hatte. Der Platz war fast leer. Nur auf der gegenüberliegenden Seite saßen zwei Mütter mit Ihren Kinderwagen im Schatten eines gestutzten Ahornbaums. Die Wölfe hatten sich zur Feier des Tages jeder eine der großen Eistüten mit Sahne und Schokoladensoße gegönnt. Auch sie saßen im Schatten eines Ahorns. Martin, Max, Lars und Louis hatten sich rückwärts auf eine Bank gesetzt, die Beine zwischen Sitzfläche und Lehne hindurch gesteckt, während Isabell es sich auf dem kurzgeschorenen Rasen vor ihnen bequem gemacht hatte. Man sprach über den gelungenen Tag, lachte und machte Witze über die Gegner und über sich selbst. Die Lust, den Wettkampf zu Ende zu führen – siegreich zu Ende zu führen - war wieder zurückgekehrt. Wie sie das angehen wollten, wussten sie noch nicht. Aber ihnen würde sicher etwas einfallen. Und wenn es nicht klappen sollte, dann war das auch kein Weltuntergang. Solange alles in einem sinnvollen Rahmen blieb und nicht wieder so außer Kontrolle geriet, wie bei der Sache mit Isabell. Und dass es dazu nicht noch einmal kommen würde, darin waren sich alle einig. Es sollte ein Spiel sein und mit Mitteln bestritten werden, wie der heutige Sieg. Sie saßen noch lange beisammen. Die Normannen tauchten nicht mehr am Kirchplatz auf. Und so genossen sie den schönen Tag, bis alle nach Hause mussten.
ENDE
© Dirk Wiese 2011
Texte: Dirk Wiese
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2011
Alle Rechte vorbehalten