Cover

Eins




Liebes Ich,

ist es verständlich, wie ich fühle? Ist es verständlich, dass ich ihn nicht loslassen kann, egal, wie sehr ich mir wünsche, ich könnte es?
Ich spüre, ich zerbreche innerlich. Und je länger mein Herz ihn festhält, desto größer sind die Auswirkungen auf mein Herz, meine Seele...
Ist es verständlich, dass ich mich selbst kaputt mache, um ihn nicht zu verlieren?

Absender : Ich


Ich faltete das Blatt Papier sorgsam, drückte die Kanten extra stark zusammen, nur um etwas Zeit zu gewinnen.
Ich dachte nach.
Das war die beste Phase. Die Phase nach dem ‚Alles aufschreiben’. Nun war alles auf Papier, eine Art Beweis für meine Gefühle. Jetzt konnte ich mir nichts mehr vormachen.
Dieses Ich, das die Briefe schrieb, war vollkommen ehrlich. Es belog nicht die anderen ( wie auch, nur ich kannte dieses Ich), aber vor allem belog es mich, somit sich selbst, nicht.
Ich dachte nach. Hatte ich etwas vergessen? Ich versuchte, tief in mich hineinzuhören.
„Cory! Komm sofort her, so geht das wirklich nicht weiter, was denkst du denn wo du hier bist?“
Tief in mich hineinhören war also nicht. Ich fragte mich, was ich wohl diesmal wieder angestellt hatte, dass meine Mutter so ein Geschrei veranstaltete.
Die Joghurtbecher! Die mussten es sein. Ich hatte sie in der Küche stehen lassen, was Mum gar nicht leiden konnte.
Ich lief nach unten, zwei Stufen auf einmal nehmend, um so schnell in der Küche zu sein, damit sich der Ärger nicht vergrößern konnte, während ich oben rumtrödelte.
„Ach Mum, das sind nur Joghurtbecher, reg dich bitte nicht so auf. Sei doch lieber einmal froh, mich zu sehen. Und sag zur Abwechslung mal so etwas wie „Hallo mein Schätzchen, wie war denn dein Schultag?“. Aber halt, Stopp... Du hast Recht, die blöden Becher sind wichtiger als ich.“ Ich ließ meinen Blick im Raum umherwandern, stets darauf bedacht, ihr nicht in die Augen zu sehen. Im Reden war ich groß, aber danach die Konsequenzen zu bekommen, dafür war ich dann doch nicht mutig genug.
“Ach Schatz, das war nicht so gemeint, das weißt du. Ich freue mich immer dich zu sehen. Aber du kannst nicht überall dein Essen rumstehen lassen. Wir haben schon so oft mit dir geredet! Bemüh dich bitte, daran zu denken, okay?“ Sie beugte sich unter mein Gesicht, um mir in meine Augen sehen zu können, die starr auf den Boden gerichtet waren.
Ich versuchte vergeblich, ein kleines Lächeln zu unterdrücken. „Ja, ich versuchs, Mum“, flüsterte ich leise und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Ich versuche, mich daran zu erinnern.

Zwei


Ich wache auf.
Ein leises tropfendes Geräusch dringt an mein Ohr. Ich versuche, zu erkennen, was es sein kann, aber nach ein paar Sekunden gebe ich schon auf. Mein Kopf dröhnt wie verrückt.
Gott, was habe ich nur wieder angestellt?
Erst jetzt fällt mir etwas dickes, störendes in meiner Nase auf. Doch auch durch heftiges Ausatmen will es nicht verschwinden. Also kann es schon mal kein Staubteilchen sein.
Was ich mir auch hätte von Anfang an denken können. Es ist viel zu schwer und zu dick, als das es etwas hätte sein können, das ich kenne. Ich überlege fieberhaft.
Da lenkt mich wieder das tropfende Geräusch zu meiner linken ab. Jetzt höre ich auch leise Schritte, dann ein rollendes Geräusch, wie wenn man einen großen Einkaufswagen durch die Gänge eines Supermarktes rollt.
Was? Einkaufswägen in meinem Zimmer? Was soll das?
Nachdem mir eingefallen ist, dass ich ja nachsehen könnte, öffne ich widerwillig meine Augen. Mit so einem dröhnenden Schädel sollte ich doch eigentlich noch ein bisschen weiterschlafen?
Ich schließe meine müden Lider sofort wieder. Wie hell das ist! Ich versuche mich zu erinnern, ob ich jemals schon einmal etwas so helles gesehen habe, doch mir fällt nicht ein, ob ich überhaupt schon mal etwas Helles gesehen habe.
Ich kneife meine Augen zusammen, wie als eine Vorbereitung für sie, noch einmal dieser Helligkeit ausgesetzt zu werden. Diesmal öffne ich sie langsamer, behutsamer. Nichts überstürzen.

Ein dünner weißer Streifen bildet sich zwischen meinen dichten Wimpern. Ich zwinge meine Lider, sich nicht zu schließen. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht, und ich kann sie weiter öffnen.
Die langsame Methode hilft! Nun sehe ich alles, aber ich wäre genauso schlau gewesen, hätte ich meine Augen geschlossen gehalten. Mit dieser Umgebung kann ich rein gar nichts anfangen! Es ist immer noch sehr hell, jedoch erträglicher.
Ich kann nur Umrisse erkennen. Wieso sehe ich nicht scharf?
Mit meiner gesamten Anstrengung will ich meine Augen dazu bringen, sich scharf zu stellen.
Doch mein Kopf fängt wieder stark an, zu pochen. Es fühlt sich an, als ob er sich ausdehnen, und wieder zusammen ziehen würde. Es ist unerträglich.
Meine Hand will langsam zu meinem Kopf wandern, um zu fühlen, wieso er so schmerzt. Doch als ich sie hebe, spüre ich ein Stechen und Ziehen an meiner Hand. Erschrocken lasse ich sie wieder auf die Matratze sinken.

Langsam haben sie auch meine Augen völlig an das Licht gewöhnt. Es fühlt sich an, als wären sie diesem schon lange nicht mehr ausgesetzt gewesen.
Ich sehe jetzt auch schärfer. Ich schaue mich vorsichtig um.
Ich liege in einem großen Bett und bin mit einer dünnen Decke zugedeckt. Der Bezug fühlt sich weich und seidig, aber auch leicht abgenutzt an. Ich richte mich vorsichtig auf.
Nun kann ich den gesamten Raum erkennen, nach Anhaltspunkten absuchen, die mich darauf schließen lassen, wo ich bin.
Gegenüber meines Betts steht ein großer Schrank. Er ist, wie die Bettbezüge in meinem Bett, in einer hellen Farbe gehalten. Ich will die Farbe benennen, doch ich kann keinen Begriff dafür finden. Ich weiß nur, dass es mich an Sauberkeit und Ordnung erinnert.
Jetzt kann ich auch sehen, woher die große Helligkeit stammt. Von meinem Bett aus habe ich direkten Blick aus einem großen Fenster, durch das die Sonne genau in mein Gesicht scheint.
Bei dem Gefühl von der Wärme und der Sonnenstrahlen auf meiner Haut muss ich lächeln.

Ich setze meine ‚Erkundungstour’ fort: Links neben dem Schrank ist eine breite Tür. Ich weiß nicht, ob Türen normalerweise so breit sind. Ich entscheide mich für Nein, denn bei dem Anblick dieser Tür bekam ich ein komisches Gefühl.
Ich wende meinen Blick von dieser komischen Tür ab, um ihn weiter im Raum schweifen zu lassen.
Neben meinem Bett ist noch ein weiters, und dem kleinen Hügel nach, der sich unter der Bettdecke abzeichnet, liegt auch jemand in diesem. Ich kann nicht erkennen, ob ich diesen Jemand kenne, ob es ein Mann oder eine Frau ist, oder ob es ein Kind ist. Das einzige was ich weiß, ist, dass jemand neben mir liegt.
Ich bin mir sicher, ich werde es noch herausfinden.

Im ersten Moment erschrecke ich ein bisschen, als es an der Tür klopft.
Eine nett aussehende Frau kommt herein, einen Wagen schiebend. Sie lächelt, als sie mich sieht, und eilt zu meinem Bett, um neben mir auf einen roten Knopf zu drücken.
Ich folge ihr mit meinem Blick, und bin mir nicht sicher, ob ich etwas sagen soll.
Doch bevor ich weiter überlegen muss, begrüßt sie mich schon mit einem freudigen 'guten Morgen' und stellt sich als Schwester Marga vor.
Diese Frau ist mir sympathisch.
Sie kontrolliert etwas an dem Ding neben mir, das, wie ich jetzt bemerke, die tropfenden Geräusche gemacht hat. Es ist eine Art Plastiktüte, mit einer milchigen Flüssigkeit in sich. Von der Unterseite dieser 'Tüte' geht ein Schläuchlein in meine Richtung. Ich verfolge es mit meinem Blick, und bemerke, dass es in meinem Arm endet.
schnell schaue ich wieder weg, da mir der Anblick Überlkeit bereitet.

Schwester Marga verschwindet schon wieder durch die breite Tür, nur um ein paar Sekunden später mit einem großgewachsenen Mann wieder zu kommen. Er stellt sich mir als Dr.Bronsus vor. Auch er wirkt sehr nett. In seinen Augen ist eine Art Glanz, der seine inneren Gedanken auszudrücken scheint. Obwohl er schon leicht graue Haare hat, erinnert mich Dr.Bronsus an einen kleinen Jungen.

Mir geht ein Licht auf. Ich bin in einem Krankenhaus !
Aber ... wieso?

Drei


"Guten Tag, liebe Corinna. Es freut mich, zu sehen, dass Sie wach sind. Wie fühlen Sie sich heute? Tut ihnen etwas weh?" Ich höre Dr.Bronsuns gar nicht genau zu. Ich bin immer noch ein wenig überrumpelt von den Eindrücken.
Als die Worte in meinen Kopf durchdringen, versichere ich ihm, dass alles okay sei, nur mein Kopf ein wenig weh tue.
"Dr. Bronsus, wieso bin ich hier? Was ist los?" Ich bemühe mich, ruhig zu sprechen und das aufgeregte Zittern in meiner krächzenden Stimme zu unterdrücken.
"Nun, Corinna..."-"Nennen sie mich doch bitte Cory", falle ich ihm ins Wort. Ich hasse es, Corinna genannt zu werden. Nicht einmal meine Eltern, die sich ja diesen Namen für mich ausgedacht hatten, nennen mich so.
"Also gut, Cory... Deine Eltern und du, ich darf doch Du sagen, hattet einen Unfall, mit dem Auto. Ich fürchte, die Erinnerung wird bald wieder zurück kommen, wenn du die Situation verarbeitet hast. Nun, es tut mir sehr leid. Ich habe mir schon Gedanken gemacht, wie ich es dir denn am besten sagen solle, und ich habe mich für die schnelle Methode entschieden. Corinna. Cory, es tut mir leid, aber deine Eltern hatten nicht so viel Glück wie du. Es tut mir wirklich leid, es dir sagen zu müssen. Ich hätte mir gewünscht, man hätte sie noch retten können, aber es war schon zu spät. Deine Eltern sind tot, Cory."
Die letzen Worte dringen nicht mehr zu mir durch. Meine Eltern. Wer sind... waren meine Eltern? Ich versuche, mir ein Bild vor Augen zu führen. Aber ich schaffe es nicht. Ich sehe nur Dr. Bronsus und Schwester Marga vor mir. Was hat das zu bedeuten? Wieso weiß ich nicht, wer meine Eltern sind?
"Ich kann verstehen, dass dich das nun ziemlich aus der Bahn werfen wird. Ich werde dir erst einmal ein wenig Ruhe geben, mit allem zurecht zu kommen. Falls du etwas brauchen solltest, links neben dir ist ein roter Knopf, auf den du drücken kannst, und sofort wird jemand zu dir geschickt. Okay?"
Wie in Trance folge ich den Worten Dr.Bronsus' und bewege meinen Kopf nach links, um zu sehen, welchen Knopf er meinte.
Ich hatte mein Gedächtnis verloren, aufgrund des Schocks, oder sei es wegen eines anderen Grunds.
Dr.Bronsus richtet sich schnaufend auf, um den Raum zu verlassen.
Der Hügel unter der Decke in dem Bett neben mir hat sich die ganze Zeit, als Dr.Bronsus bei mir war,nicht bewegt.
Jetzt höre ich das Rascheln der Decke, und ein leises Schnaufen.
"Du hast also kein Gedächtnis mehr, was? Das mit deinen Eltern tut mir sehr leid. Wenn du über irgendetwas reden willst, ich bin immer hier." Das sollte anscheinend ein Witz sein. In dieser Situation finde ich ihn nicht witzig. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn in irgendeiner Situation lustig gefunden hätte.
Ich entschließe mich für ein Nein.
"Danke für dein Mitgefühl. Aber nein, danke. Ich bin Cory. Und du?" Eigentlich habe ich keine Lust, mich mit diesem komischen Typen höflich zu unterhalten. Ich habe Lust, mich unter dieser fremde Decke zu verstecken und mich selbst zu bemitleiden, wie einsam ich doch bin und wie sehr ich meine Eltern vermisse.
Aber ehrlich gesagt vermisse ich meine Eltern nicht. Ich weiß nicht, wer diese Menschen sind. Sie sind fremde Personen für mich, und Fremde vermisst man normalerweise nicht.
"Hi Cory. Ich heiße Toby. Naja... Wenn du deine Meinung änderst, du weißt, wo du mich findest. Aber jetzt... Lasse ich dich erst mal in Ruhe und mach mich auf den Weg nach außen, es ist wundervolles Herbstwetter. Bis später."
Ich hatte mich auf die andere Seite gedreht, mit dem Rücken zu ihm, zu Toby, wie er hieß. Obwohl ich ihn nicht sehe, merke ich, wie er dasteht und wartet, dass ich etwas sage. Um ihm eine Antwort zu geben, grummele ich einmal, um ihm zu zeigen, dass er doch endlich gehen solle und ich nicht mit ihm runter gehen wolle.
Er scheint mein Zeichen zu verstehen, und verschwindet.
Ich drehe mich mit einem trotzigen Gesichtsausdruck um, um ihm nachzusehen, und da sehe ich, dass er auf Krücken läuft.
Mir ist aus irgendeinem Grund nicht klar gewesen, dass er ja auch krank war. Ich habe mich so auf mein eigenes Leid konzentriert, dass ich andere Menschen völlig ausblende.
"Schäm dich", sage ich mir, und drehte mich wieder auf die Seite, um noch einmal ein bisschen Schlaf zu finden.

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Tag der Veröffentlichung: 14.10.2011

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