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Mehr Schaukelstühle als Schaukelpferde




Deutschland 2006: Wissenschaftler sprechen von einer sozialen Zeitbombe. Durch Geburtenschwund, Arbeitslosigkeit und Massenabwanderung droht sich der ländliche Raum in einen "Ozean von Armut und Demenz" zu verwandeln - eine Entwicklung, die ein Kartell der Parteien tabuisiert. Eine mahnende Serie auf SPIEGEL online, die hier dokumentiert wird, verhallt ohne Wirkung. Der Abwärtstrend nimmt seinen Lauf.



Monatelang durchstreifte Wolfgang Büscher auf Wanderschuhen die grenznahen Ecken und Enden der Bundesrepublik. Unlängst, in seinem Bestseller "Deutschland, eine Reise", bilanzierte der preisgekrönte Autor, ihm sei auf dem langen Marsch durch die Grenzregionen klar geworden, dass sein Heimatland "große geisterhafte Teile" umfasse.

Manche gottverlassene Gegend jottwedeh, schrieb der reisende Reporter, erinnere an "verbotene Flügel eines weitläufigen Hauses, die nicht betreten werden dürfen".

Finster war's an der Ostseeküste: Büscher durchstreifte heruntergekommene Bahnhöfe, die ihn an eine "Station in der Steppe" erinnerten, und triste Orte mit ärmlichen Läden, die "Resterampe" oder "Vietnamesischer Kleidungsmarkt" hießen. Dann kam der Wandersmann in die abgewrackte Industriestadt Guben an der Neiße. Dort fand er nicht nur bestätigt, wovor er tags zuvor gewarnt worden war: "dass es kein Wirtshaus in Guben gab". Büscher: "Es war so, dass es Guben nicht gab."

"Provinzialisierung der Provinz"



Ähnlich verstört wie Büscher reagieren Reisende, die sich in der westdeutschen Provinz umtun, weit abseits der Rennstrecken und der Ballungszentren. Wenn der baden-württembergische Autor Rüdiger Bäßler in die dörfliche Welt zurückkehrt, deren Enge er einst als junger Mann entflohen ist, dann befällt ihn "Mitleid an Stelle von Überdruss" angesichts all der "verwitternden Bahnhofsgebäude, pflanzenbewucherten Gehwege, zerfallenden Spielplatzgeräte, leeren, staubblinden Schaufenster" - für ihn traurige Symptome einer rapide fortschreitenden "Provinzialisierung der Provinz".

Mehr und mehr Merkmale schleichenden Verfalls hat auch die frühere Agrarministerin Renate Künast bei ihren Dienstfahrten ins ländliche Deutschland, Ost wie West, bemerkt. "Sie können durch Dörfer gehen, in denen gibt es eigentlich nichts mehr", erzählt sie. "Wo ein Mastbetrieb war, fällt heute der Stall zusammen. Die Dorfkneipe liegt im Dornröschenschlaf. Die Jungen haben die Gegend verlassen."

Die Grüne Künast zählt innerhalb der politischen Klasse zu den Ausnahmeerscheinungen. Die meisten ihrer Kollegen in den Hauptstädten von Bund und Ländern verdrängen lieber, dass der grassierende Geburtenschwund und die Arbeitslosigkeit, die Vergreisung und die Abwanderung vielerorts ein verlorenes Land hinterlassen haben, keineswegs nur auf dem Gebiet der einstigen DDR - Dunkeldeutschland goes West.

"Ab in die Wälder - Wölfe treten an die Stelle der Menschen"



Ausländische Beobachter scheinen dem Phänomen mehr Aufmerksamkeit zu widmen als manch ein deutscher Großstädter, dem die breiten Speckgürtel rund um die Metropolen den Blick auf den galoppierenden Niedergang an den Rändern des Landes und tief in seinem Innern verstellen.

"Ab in die Wälder" - so war voriges Jahr eine Titelgeschichte des Nachrichtenmagazins "Newsweek" überschrieben, das die europaweite Entvölkerung des ländlichen Raumes grell beleuchtete: Auch in Deutschland fielen ganze Landstriche "zurück in den urzeitlichen Zustand, Wölfe treten an die Stelle des Menschen". Und die "Neue Zürcher Zeitung" berichtete schon über Mahnungen, die Landflucht vor allem jüngerer, besser gebildeter Deutscher führe unweigerlich zur "Verödung" und "Verblödung" weiter Teile der Bundesrepublik.

Wissenschaftler, die dem Trend seit längerem in ihren Studierstuben und auf Symposien nachgehen, sind sich über die fatalen Folgen der Entwicklung weithin einig: In Ost- wie Westdeutschland schrumpft auf Grund der niedrigen Geburtenrate die Bevölkerung - kaum spürbar vorerst noch in einigen Ballungsgebieten, rasend schnell aber in jenen provinziellen Zonen, die nicht von Zuzug und Zuwanderung profitieren können, sondern, im Gegenteil, selbst unter massenhafter Landflucht in wirtschaftlich stärkere Regionen leiden, vor allem in den reichen Süden der Republik.

"Erst keine Kinder zeugen und dann nicht sterben wollen"



"Seit Jahrzehnten werden in Deutschland weniger Menschen geboren als sterben. Mittlerweile können selbst Zuwanderungen den natürlichen Schwund nicht mehr aufhalten - das Land hat begonnen zu schrumpfen. Regional tun sich bereits jetzt enorme Verwerfungen auf", kommentiert das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung das Ergebnis seiner jüngsten Studie. Stadt für Stadt, Kreis für Kreis analysieren die Experten die Perspektiven - von Berlin ("Marode Hauptstadt, florierendes Umland, sieche Peripherie" über Sachsen-Anhalt ("Land der Leere") bis hin zum Saarland ("Wo der Westen heute schon schrumpft").

"Dass die Deutschen erst keine Kinder zeugen und dann nicht sterben wollen", wie der Historiker Michael Stürmer die tückische Kombination von sinkender Geburtenzahl und steigender Lebenserwartung beschreibt, macht schon heute ganze Landstriche zu Verliererregionen mit schrumpfender und zugleich überalterter Bevölkerung.

Der "demografische Wandel" finde "überall in Deutschland" statt, doziert der Berliner Wirtschaftswissenschaftler Ulrich Busch, im Osten allerdings habe er sich bereits zur "demografischen Katastrophe" ausgewachsen. Busch: "Großstädte wie Halle, Magdeburg, Frankfurt (Oder), Cottbus, Neubrandenburg, Gera und Dessau verlieren innerhalb weniger Jahrzehnte bis zur Hälfte ihrer Einwohner." Der Ökonom weiß, dass es für Außenstehende "kaum vorstellbar" ist, "was es für eine Stadt mit früher mehr als 300.000 Einwohnern wie Halle oder Magdeburg bedeutet, innerhalb von zwei Generationen auf 150.000 herunterzugehen".

Während die großen Städte schrumpfen, sterben bereits die Dörfer. "Ganze Regionen wie Nordthüringen, Ostprignitz, Altmark, Uckermark, Vorpommern und die Lausitz sind der Verödung preisgegeben," konstatiert Busch. In Vorpommern beispielsweise, das mit knapp 500.000 Einwohnern nur noch 65 Prozent der Bevölkerung von 1970 hat, würden Wüstungen, also aufgegebene Siedlungsstätten, allmählich zum "Flächenphänomen", hat der Greifswalder Bevölkerungswissenschaftler Helmut Klüter beobachtet.

Einwanderer ziehen nicht in die schrumpfenden Zonen



Dort und anderswo, abseits der prosperierenden Städte und ihres Umlandes, vollziehen sich sogenannte "kumulative Schrumpfungsprozesse", rotieren tückische Teufelskreise. Wirtschaftsprobleme - Abwanderung - vermehrte Wirtschaftsprobleme - vermehrte Abwanderung und so weiter und so fort: Eine Abwärtsspirale ohne Ende führt nach dem Urteil der Experten dazu, dass sich Deutschland in Ost und West ähnlich tiefgreifend verändern wird wie zuletzt im Mittelalter.

Die Entwicklung, von manch einem gerade erst bemerkt, scheint kaum noch abwendbar. Denn mit nur noch 1,36 Kindern pro Frau hat Deutschland mittlerweile eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU. Damit die Bevölkerung stabil bleibt, müsste der Schnitt jedoch bei 2,1 Kindern liegen. So aber wird jede neue Kindergeneration um ein Drittel kleiner sein als die ihrer Eltern - ein säkularer Trend, der weit hinein in die Zukunft wirkt, weil all die Ungeborenen von heute und morgen als Eltern von morgen und übermorgen ausfallen.

Auch ein noch so starker Zuzug von Einwanderern allein könnte, entgegen weitverbreitetem Irrglauben, die "Unterjüngung" und "Entdichtung" in den Verliererzonen nicht aufhalten. "Die Problematik liegt darin", sagt der Landesplaner Horst Zimmermann, "dass die Zuwanderer nicht in dieselben Orte wandern werden, die derzeit unter Bevölkerungsrückgang leiden". Denn Immigranten ziehen in aller Regel der Arbeit hinterher und eben nicht der Arbeitslosigkeit - und schon gar nicht in raue Regionen, die wegen ihrer Fremdenfeindlichkeit verrufen sind.

Zigarettenautomat als letztes Stück Infrastruktur



Vor allem Politiker waren es, die lange Zeit die Augen verschlossen haben vor jener bedrückenden Zukunft, die auch im Westen bereits begonnen hat. Es gibt sie ja schon überall: die verödeten Orte, aus denen die klugen Köpfe abgewandert sind; die Provinznester ohne Post und ohne Polizei, ohne Pfarrer und ohne Arzt, ohne Kneipe und ohne Laden - Dörfer, deren wirtschaftliche Infrastruktur oft gerade mal aus einem Zigarettenautomaten besteht, allenfalls noch aus einem Bushäuschen oder einer Tankstelle, und wo Koma-Saufen der beliebteste Zeitvertreib für Skinheads und andere Halbwüchsige ist.

Jahrelang, urteilt die hannoversche Akademie für Raumforschung und Landesplanung, seien Ausmaß und Auswirkungen der Entvölkerung "ein politisches Tabu" gewesen. Wer in einer mental auf Wachstum gepolten Gesellschaft das Schrumpfen thematisiere, könne beim Wähler eben "keinen Blumentopf gewinnen", glaubt der Berliner Regionalsoziologe Professor Hartmut Häußermann: "Das Schrumpfen zu planen ist keine attraktive Aufgabe, ist nicht sexy."

Dabei werde sich diese Thematik, so James Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung, ohne Zweifel zur zentralen Frage der kommenden Jahrzehnte entwickeln. Jeder im Raum, beschwor der Professor im Berliner Reichstag staunende Abgeordnete, werde "den Rest seiner politischen Karriere damit verbringen, die Folgen des demografischen Wandels zu bewältigen".

Dass die "demografische Bombe", vor der jüngst auch die Bertelsmann-Stiftung warnte, in vielen Regionen ein soziales Niemandsland hinterlassen wird, dass ganzen Stadtvierteln die Abrissbirne droht - solche Einsichten haben immerhin in einem Teil des Landes viele Menschen schon erreicht: im Osten Deutschlands, wo derzeit 1,3 Millionen Wohnungen (mit Platz für mindestens vier Millionen Bewohner) leerstehen und wo viele überzählige Plattenbauten längst plattgemacht worden sind.

Während das Problembewusstsein in der ostdeutschen Bevölkerung mittlerweile "relativ gut ausgeprägt" sei, hat Philipp Oswalt, der im Auftrag der Kulturstiftung des Bundes das Zukunftsthema "Schrumpfende Städte" bearbeitet hat, in den alten Ländern ganz andere Reaktionen beobachtet: "Der Großteil der Westdeutschen realisiert bestimmte Problemlagen nicht." Schon warnt auch SPD-Spitzenmann Matthias Platzeck ignorante West-Genossen: "Was heute schon im Osten geschieht, steht auch im Westen mit voller Wucht bevor."

Dass die Gefahr in den alten Ländern noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, hat einen schlichten Grund. Die westdeutsche Geburtenrate kann zwar schon seit Anfang der Siebziger die Sterbefälle nicht mehr ausgleichen. Doch die zeitweise extrem starke Zuwanderung zumeist jüngerer Menschen aus Ostdeutschland und aus dem Ausland hat die Folgen der Gebär- und Zeugungsmüdigkeit im Westen zunächst nicht voll durchschlagen lassen und den Schrumpfungs- und Vergreisungsprozess vorübergehend gebremst.

Goldene Atolle in einem Ozean von Armut und Demenz



Der Anti-Aging-Effekt der Zuwanderung hat mittlerweile deutlich nachgelassen. Die Bevölkerungsforscherin Juliane Roloff wundert das nicht: "Eine ausländische Bevölkerung in einem Land/einer Region trägt langfristig nicht zur Verjüngung der Gesamtbevölkerung bei, da auch sie, simpel ausgedrückt, altert." Zudem nähere sich ihr Gebärverhalten im Laufe der Zeit dem im Zuzugsland.

Widerstehen konnten dem Negativtrend vorerst viele der wuchernden Speckgürtel am grünen Rand der großen Städte, wo sich viele junge Familien - einem sich bereits abzeichnenden Gegentrend zum Trotz - oft lieber niederlassen als in den lauten Zentren, die großenteils ebenfalls schrumpfen. Zu den Wanderungsgewinnlern zählen daher vor allem Landkreise um Städte wie München und Stuttgart, aber auch rings um Hamburg, Hannover, Düsseldorf oder Frankfurt am Main sowie vereinzelt Gegenden im Osten, in der Nachbarschaft von Berlin, Leipzig und Dresden.

Zwischen diesen goldenen Atollen des Wachstums zeigt sich den Sozialforschern beim Blick in die Zukunft ein "Ozean von Armut und Demenz", wie die "Süddeutsche Zeitung" drastisch formuliert - eine weite Zone ohne Hoffnung, deren Bewohner sich von den Politikern in den Metropolen zunehmend vergessen fühlen, wenn nicht verraten.

Fördergelder nur noch für die "Leuchtturmregionen"?



Argwöhnisch vernehmen sie die Worte des Bundespräsidenten Horst Köhler, der seit längerem darauf hinweist, dass es "große Unterschiede in den Lebensverhältnissen" - "von Nord nach Süd wie von Ost nach West" - immer schon gegeben habe, um sogleich hinzuzufügen: "Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat."

Misstrauen weckt im Land außerhalb der Speckgürtel und der blühenden Zonen im Süden auch die Politiker-Ankündigung, die knapper werdenden Gelder sollten nicht mehr mit der Gießkanne verteilt werden. Förderungswürdig seien nur noch ausgewählte Entwicklungszonen, die mal "Wachstumskerne" genannt werden, mal "Agglomerationszentren", mal "Leuchtturmregionen".

Eine solche Strategie, so sinnvoll sie aus ökonomischer Sicht ist, liefe hinaus auf eine Abkopplung der halben Republik, auf eine Zwei-Klassen-Gesellschaft neuen Stils - hier die Nutznießer gehätschelter Arbeits- und Vorzeigeregionen, dort die zu vernachlässigende Restbevölkerung in den stillschweigend abgeschriebenen Provinzen, darunter womöglich mehr und mehr Menschen, die apathisch dahinvegetieren oder sich in Alkoholismus und Extremismus flüchten.

"Die Fläche wird geräumt, die Fläche wird geschliffen"



Offen und öffentlich raten politische Köpfe wie der Jenoptic-Aufsichtsratsvorsitzende und Christdemokrat Lothar Späth, "nicht Kohlen nachzulegen, wo der Ofen aus ist". Experten wie Joachim Ragnitz vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle empfehlen die "passive Sanierung" der Randgebiete, das "Handelsblatt" fordert vom Staat "wirksame Rückzugsstrategien" - "bis zur vollständigen Entsiedelung und Renaturierung einiger Regionen".

"Man kann das brutal Sozialdarwinismus nennen", kritisiert der Berliner "Tagesspiegel" derlei Rezepte. Dabei handele es sich, so das Blatt, allerdings um exakt jenes Prinzip, nach dem in Wahrheit längst stillschweigend verfahren werde: "Nur hat die Politik sich bisher nicht getraut, das öffentlich zu machen." Fachleute haben die Folgen längst bemerkt: "Die Fläche wird geräumt, die Fläche wird geschliffen", klagt Wulf Haack, langjähriger Geschäftsführer des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes.

Zu den besten Kennern der Problematik zählen die Forscher des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Die Wissenschaftler haben mit Hilfe ihrer Datensammlungen eine Landkarte generiert, die das Deutschland der Zukunft zeigt - und die, anderthalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, eine zweite Teilung des Landes dokumentiert.

Ein Rostgürtel zieht sich quer durch die Republik



Die neue innerdeutsche Grenze trennt nicht mehr Ost und West voneinander, sondern umschließt eine breite Schneise der Entvölkerung genau dort, wo früher einmal das Herz des Landes pochte: Betroffen sind unter anderem die einstigen Industriegebiete von Sachsen über Thüringen bis zum Kohlenpott - eine Art Rostgürtel quer durch die Republik.

Abstiegskandidat Nummer eins innerhalb dieser Region ist das Ruhrgebiet. Das Statistische Landesamt in Düsseldorf sagt dem Schimanskiland eine Schrumpfung um rund zehn Prozent voraus; am schlimmsten treffe es die Stadt Hagen, die sogar 16,3 Prozent ihrer Einwohner verlieren werde. Schon frotzelte die linke "taz": "Ruhrgebiet wird zur Ostzone".

Kaputte Straßen, halbleere Busse, ungenutzte Klassenzimmer, unvermietbare Wohnungen - die gleichen Symptome des Niedergangs wie in der Ex-DDR und im Ex-Kohlenpott sind laut Berlin-Institut aber auch in einer weiteren Armutszone zu erwarten, die wie ein Hufeisen das alte Bundesgebiet umschließt.

"Deutschland leert sich in der Mitte und an seinen Rändern"



Dazu zählen entlang der Westgrenze etliche abgelegene Teile von Baden-Württemberg und eine Zone vom Saarland über die Eifel bis zum Niederrheinischen. Im Norden folgt der Kümmerring der Küste, die unter der Werften- und Fischereikrise leidet, im Osten schließen sich der ehemalige Zonenrand und der Bayerische Wald an.

"Deutschland leert sich in seiner Mitte und an den Rändern", fasst das Berlin-Institut seine Prognose zusammen. "Mittelfristig", sagt Susanne Dahm vom Karlsruher Uni-Institut für Städtebau und Landesplanung, "muss davon ausgegangen werden, dass die Bevölkerung aller Bundesländer, auch Baden-Württembergs, sinken wird und zumindest im europäischen Umfeld kein ausreichendes Zuwanderungspotential zur Verfügung steht, um diese Entwicklung auch nur annähernd auszugleichen."

Laut Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung werden die Schrumpfregionen bereits im Jahr 2020 drei Viertel aller kreisfreien Städte und jeden zweiten Landkreis umfassen. Dort überall würden, beispielsweise im Schulwesen, die Folgen des Babyknicks zunehmend dramatisch zu Tage treten. "Im Jahr 2020", schreibt das Berlin-Institut, "wird es in den alten Bundesländern fast 20 Prozent weniger Kinder im Vorschulalter geben als 1991."

Auf Dauer mehr Schaukelstühle als Schaukelpferde



Gemeinden aber, in denen es mehr Schaukelstühle als Schaukelpferde und mehr Rollstühle als Rollschuhe gibt, müssen zunehmend Kindergärten und Schulen schließen oder zusammenlegen, Alten- und Pflegeheime eröffnen, Verkehrslinien und Versorgungsleitungen anpassen - kaum lösbare Aufgaben für Kommunen, die aufgrund der Schrumpfungsprozesse kontinuierlich Steuereinnahmen verlieren.

So kommen auf diese Gemeinden und ihre Bürger schwere Zeiten zu. "Sinkende Nachfrage nach öffentlichen Dienstleistungen mag Nutzer zunächst freuen (kleine Klassen, leere Hallenbäder), aber die Pro-Kopf-Ausgaben wachsen rasch", gibt der Berliner Urbanistik-Professor Heinrich Mäding zu bedenken. Schon bald drohten "Schul- und Bäderschließungen, wachsende Einzugsbereiche, weite Wege".

Als zynisch und ignorant empfinden Kommunalexperten in den betroffenen Regionen denn auch Kommentare wie den des Ökonomieprofessors Thomas Straubhaar vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut. Der Schweizer Wissenschaftler vertritt schlankweg die Ansicht, für die wenigen in den Schrumpfzonen zurückbleibenden Menschen werde doch "alles besser". Straubhaar: "Toll, endlich Platz!"

Wissenschaftler klagen über "Allparteien-Schweigekartell"



Den Bielefelder Bevölkerungsforscher Herwig Birg ärgert die "Unwilligkeit" von Ökonomen, über die sozialen Folgen des Wandels ernsthaft nachzudenken. "Ich bin selbst Volkswirt und kenne deshalb meine Kollegen gut", sagt der Professor: "Demografie passt nicht in das enge Tunneldenken der Wirtschaftswissenschaftler heutiger Prägung."

Für das, was Deutschland bevorstehe, urteilt der langjährige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demografie, tauge "nicht einmal der Dreißigjährige Krieg als Vergleich": "Der endete nach drei Jahrzehnten mit einem Frieden und alles ging wieder nach oben."

In den Abwanderungsregionen dagegen seien "die Weichen dauerhaft auf Schrumpfen gestellt". Dieser Umstand erkläre auch das "Allparteien-Schweigekartell gegen die existenzbedrohende demografische Fehlentwicklung". Denn, so Birg: "Ein Problem, das keine Lösung hat, verschweigt man normalerweise.


"Keine Zukunft für die Kuhzunft"




Bauerndörfer ohne Bauern, Landgemeinden ohne Gemeinderat, ohne Kneipe, ohne Arzt - das Dorfsterben hat begonnen. Nicht einmal die Kirche ist heilig. Kritiker befürchten eine "soziale und politische Erosion größten Ausmaßes". Doch das Land ohne Volk hat keine Lobby in Berlin.



Soll man Reisende aufhalten? Ja, findet Gerd Goebel, Bürgermeister im niedersächsischen Tiftlingerode, einem Dorf nahe dem ehemaligen Todesstreifen, einem dieser von Abwanderung und Geburtenrückgang geplagten Orte, von denen es Abertausende gibt - Dörfer ohne Laden und ohne Bank, ohne Bäcker und ohne Kneipe.

Bürgermeister Goebel stemmt sich gegen den Abwärtstrend. Er möchte verhindern, dass weiterhin die Jüngeren abwandern und Tiftlingerode "zum Altersheim wird". Statt dessen will er erreichen, dass die Einwohnerschaft wieder wächst.

Um die Zahl der Bürger von seinerzeit 984 auf mindestens 1000 zu erhöhen, ließ Goebel von 2003 an die Kinderspielplätze renovieren und eine zusätzliche Grundschulklasse einrichten. Medienwirksam offerierte er allen jungen Paaren im Dorf als Babyprämie einen kostenlosen Leihwagen für drei Monate, dazu Lottoscheine, Zoobesuche und allmorgendlich knackfrische Brötchen. Zweimal pro Monat, versprach der Bürgermeister, werde er persönlich den Babysitter spielen.

Wegzugsprämien für Bewohner sterbender Dörfer?



Goebels Kalkül, mit dem Image des familienfreundlichen Dorfs Zuwanderer anzulocken, ging auf. Im April vorigen Jahres begrüßte er den sechsjährigen Till, der mit seinen Eltern zugezogen war, als 1000. Bürger, pflanzte ihm zu Ehren eine "Tilly-Eiche" auf dem Schulhof - und ergatterte allerhöchstes Lob: Beim Festakt zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Städtetages in Berlin rühmte Bundespräsident Horst Köhler den kreativen Kommunalpolitiker aus Niedersachsen als strahlendes Beispiel.

Kann man Reisende aufhalten? Nein, fürchtet Jochen Ragnitz, Wirtschaftsexperte in Halle. Selbst wenn sich einzelne Gemeinden noch gegen den Trend stemmen können - unweigerlich würden binnen 15 Jahren ganze Regionen im Innern und an den Rändern der Republik bis zu zwei Drittel ihrer Bewohner verlieren. Geldverschwendung, meint der Wissenschaftler, wäre es daher, jetzt noch Unsummen in die Infrastruktur solcher Landstriche zu investieren, sinnvoll dagegen, "Anreize" zu schaffen, um auch noch die dörfliche Restbevölkerung zum Fortzug in die Ballungsräume zu bewegen.

Bleibebonus oder Wegzugsprämie, Dauersubventionierung oder Tabula rasa in den Abwanderungszonen - um nicht weniger geht es in einer Diskussion, die oft noch hinter vorgehaltener Hand geführt wird: Wie soll das Land umgehen mit all dem Raum ohne Volk, den die demografische Wende voraussichtlich in jedem zweiten Landkreis und in jeder zweiten Stadt hinterlassen wird?

Vom Ausgang der Debatte wird die Zukunft weiter Teile der Republik abhängen - und nicht zuletzt das Überleben einer Kultur- und Siedlungsform mit jahrtausendealter Tradition: des Dorfs in seiner überkommenen Gestalt mit Kirche, Krug und Kramladen, mit Landarzt, Landwirt und Landgendarm.

Fackelmärsche für die Rettung der Dorfschule



Eine Schlüsselfunktion für die Lebensfähigkeit von Landgemeinden kommt der Dorfschule zu, deren Sterben längst begonnen hat, nicht nur im Osten. Im Saarland beispielsweise, wo die Landflucht überall ihre Spuren hinterlassen hat, will Kultusminister Jürgen Schreier in den nächsten vier Jahren jede dritte Grundschule schließen. Schon protestieren Dörfler mit Fackelmärschen und Unterschriftensammlungen. Erstmals, sagt der Minister, werde nun für die Saarländer "fassbar, was es konkret bedeutet, wenn eine Gesellschaft zu wenig Kinder hat".

Im Osten lässt sich schon seit Jahren beobachten, was auf den Westen, und dort vor allem auf die Schrumpfzonen, zukommen wird. Schon jetzt haben sich fast überall in den neuen Bundesländern die Grundschülerzahlen gegenüber der Wendezeit halbiert, nahezu 2000 Schulen sind bereits dichtgemacht worden. Und mittlerweile hat der "historisch einmalige Rückgang" (Sachsens Kultusminister Steffen Flath) auf dem Boden der einstigen DDR bereits die weiterführenden Lehranstalten erreicht; erste Sekundarstufe-I-Schulen sind geschlossen worden. Bis 2008 werden im Osten auch die Oberschülerzahlen auf 40 Prozent des einstigen Standes abgesackt sein.

Während das Schulsterben im Osten anschließend langsam abebben wird, steht es dem Westen noch bevor: In den alten Ländern erreicht die Schülerzahl derzeit mit knapp 10,2 Millionen ihr Maximum. Von nun an aber bis 2020 wird sie auf weniger als 8,3 Millionen sinken, überdurchschnittlich stark auf dem Lande.

"Praxis zu verschenken mit Wohnung im ersten Stock"



Lässt sich vom Osten lernen? In den neuen Ländern haben einzelne Dörfer ihre eigene Schule retten können, indem sie Zwergschulunterricht in jahrgangsübergreifenden Klassen eingeführt haben. Wo aber, wie so häufig, Schulbus-Wartehäuschen die alte Dorfschule ersetzt haben, ist für viele Kinder die Nacht schon um fünf Uhr früh zu Ende.

Und oft bewahrheitet sich der Erfahrungssatz: Stirbt die Schule, stirbt das Dorf. "In Orten ohne Schule gibt es keinen Familienzuzug, wohl aber massiven Wegzug," berichtet das Schweriner Bildungsministerium. Auch eine Ansiedlung neuer Betriebe, ohnehin schwierig genug, kann dann am Fehlen qualifizierter Nachwuchskräfte scheitern.

Mit der Schule verlässt oft die letzte staatliche Institution den Ort. Dorfpolizisten etwa gibt es vielerorts seit langem nicht mehr. Selbst im reichen Baden-Württemberg sind 208 der noch verbliebenen 578 Polizeistationen gestrichen worden.

Und immer weiter werden auf dem Land auch die Wege zur nächsten Klinik und zum nächsten Arzt. Jedes siebte Krankenhaus wird nach Expertenschätzungen binnen zehn Jahren aufgeben müssen. Vor allem in den neuen Bundesländern stehen bereits jetzt Hunderte Landarztpraxen leer, obwohl an manchen Häusern Schilder hängen wie "Praxis zu verschenken mit Wohnung im ersten Stock".

"Tante Emma liegt auf der Intensivstation"



Das ist erst der Anfang. Im Osten wird jeder dritte Landarzt in den kommenden fünf Jahren in Rente gehen. Für die Nachfolge sind selbst arbeitslose Hippokratesjünger aus Berlin schwer zu begeistern. Viele lassen sich eher von einem norwegischen Krankenhaus oder einer properen Pharmafirma anwerben, als für vergleichsweise geringes Honorar ein medizinisches Notstandsrevier im kulturellen Ödland zu betreuen.

Der akute Ärztemangel hat dazu geführt, dass Patienten im ausgedünnten Brandenburg 20 Kilometer bis zur nächsten Praxis fahren müssen, in der Uckermark sogar bis zu 60 Kilometer. Und wenn dort ein Landarzt in Urlaub geht, kann es schon mal vorkommen, dass er eine Vertretung aus dem Iran einfliegen lassen muss, weil Berliner Kollegen sich in der Hauptstadt privat zu sehr vernetzt fühlen, um ins Brandenburgische auszurücken.

Weite Wege sind viele Dörfler auch vom Einkaufen gewohnt. Ursache für den Exitus von immer mehr Läden ist, neben dem Bevölkerungsschwund, oft der Discounter auf der grünen Wiese vor der nächsten Stadt, zu dem manch einem kein Weg zu weit scheint. "Jeder achtet nur auf den Cent, nicht auf die Benzinkosten", klagt Helmut Stein, ehemals Betreiber eines inzwischen geschlossenen hessischen Dorfladens.

Auch hier liegt der Osten in der Rückentwicklung ganz vorn. In Brandenburg müssen Kunden, wie Christine Minkley vom dortigen Einzelhandelsverband berichtet, "bis zu 30 Kilometer fahren, um den nächsten Laden zu besuchen". Aber auch im Musterländle Baden-Württemberg wird es schon bald keine Gemeinde unter 3500 Einwohnern mit einem Lebensmittelladen mehr geben. "Tante Emma liegt auf der Intensivstation", schreibt das Fachblatt "Der Handel".

Keine Möglichkeit, eine Rolle Bindfaden zu kaufen



Weniger mobilen Menschen bleibt der Weg in den Nachbarort auf Grund mieser Verkehrsverbindungen immer häufiger versperrt. "Der Fortschritt, wenn man darunter auch eine funktionierende Nahversorgung und die Teilhabe von Frauen und Kindern, Senioren und Jugendlichen am öffentlichen Leben versteht, flieht Dörfer und Gemeinden", schildert die "Stuttgarter Zeitung" den "Irrwitz unserer Moderne". Zwar könne sich längst auch das Landvolk an TV-Decodern für hundert Kanäle delektieren - "aber es gibt für jene, die krank oder ohne Auto sind, keine Möglichkeit mehr, eine Rolle Bindfaden vor Ort zu kaufen".

Auch wenn wieder mal ein Dorfgasthaus dichtmacht, hat vor allem diese Gruppe der weniger Mobilen das Nachsehen. Doch je schlechter die wirtschaftliche Lage einer Region ist, desto mächtiger wird der Trend zum Billigbier auf der heimischen Couch. Gegen die Preise im Supermarkt komme kein Kollege an, sinniert ein mecklenburgischer Gastwirt: "22 Cent für einen halben Liter - das geht doch gar nicht."

In Gegenden wie in Mittelhessen sitzt schon jedes fünfte Dorf auf dem Trockenen. Viele Wirte müssen den Zapfhahn abdrehen, weil die Schwarzgastronomie überhand genommen hat. "Das Land birst von Stadelfesten, Beachpartys und Kiesgrubentreffs, wo mit dem Alkohol so großzügig umgegangen wird, dass jeder Wirt, der es damit ähnlich hielte, für seine Konzession fürchten müsste", meldet die "Süddeutsche Zeitung" aus der bayerischen Provinz.

Ohne Kirche verliert ein Ort sein Gesicht und seine Mitte



Wo es bereits an Wirten, Ärzten, Krämern mangelt, ist oft nicht einmal sicher, ob wenigstens die Kirche im Dorfe bleibt, zumal auch die Christengemeinden weiter schrumpfen. In Kirchenkreisen, berichtet der christlich orientierte "Rheinische Merkur", kursierten Zahlen, nach denen jedes dritte der 24.000 deutschen Gotteshäuser langfristig "zur Disposition" stehe.

Natürlich ist Experten wie Professor Thomas Sternberg vom Zentralkomitees der deutschen Katholiken sehr wohl bewusst, dass Kirchen "Kristallisationspunkte" sind und "wesentlich Heimat" ausmachen: "Ohne sie verliert ein Ort sein Gesicht und seine Mitte."

Doch die sakralen Bauten bilden zugleich eine schwere Last, vor allem im Osten, wo nur ein Bruchteil der Bevölkerung Kirchensteuer zahlt. Gerade im Gebiet der Ex-DDR wird ein Heidengeld schon für die Notsicherung jahrzehntelang vernachlässigter, einsturzgefährdeter Kirchen benötigt - in Mecklenburg allein binnen zehn Jahren rund eine Viertelmilliarde Euro.

"Stopp, es reicht, wir können nicht mehr"



Ausweglos mutet die Lage von Orten an, die zusätzlich unter einer Reihe misslicher Entscheidungen auf höchster Ebene zu leiden haben: Entwicklungen in Berlin oder Brüssel gehen seit langem überproportional oft zu Lasten der Schrumpfregionen in Ost und West.

Wenn die Bundeswehr die Zahl ihrer Standorte binnen fünf Jahren, wie beschlossen, von 572 auf 392 reduziert, sind vielfach abgelegene Gemeinden betroffen wie zum Beispiel der erzgebirgische Ort Schneeberg. Dort, wo bereits vier von acht Schulen geschlossen werden mussten, lässt der Abzug von 1400 Mann samt Partnern und Kindern den Bürgermeister Frieder Stimpel nahezu verzweifeln: "Stopp, es reicht, wir können nicht mehr."

Mit der Schließung der ländlichen Standorte habe der Bund "zum wiederholten Mal seinen gesetzlichen Auftrag zum Schutz strukturschwacher Gebiete verletzt," moniert der Städte- und Gemeindebund. Doch solche Klagen stoßen im Verteidigungsministerium auf taube Ohren: Das Haus, heißt es dort, entscheide nach betriebswirtschaftlichen Kriterien, basta.

Erst recht lehnen die Bahn und die Post es ab, verantwortlich gemacht zu werden für die Auswirkungen ihrer unternehmerischen Entscheidungen auf die Lebensfähigkeit der Orte im Hinterland und im Hinterwald. Die Post, kritisiert der Gemeindebund, habe seit ihrer Privatisierung "jegliches Augenmaß für ihren öffentlichen Auftrag verloren". Während der gelbe Riese in China und in den USA "Milliarden in den Aufbau der dortigen Infrastruktur" investiere, habe der Monopolist in seinem "Schließungsrausch" weite Teile der deutschen Provinz "praktisch zur postfreien Zone" erklärt.

Zum Geldabheben muss Oma in die Nachbarstadt

Erst wurden massenhaft Briefkästen abgeschraubt und Postämter durch Postagenturen ersetzt, nun werden mehr und mehr Postagenturen dichtgemacht. Briefmarken gibt's dann nur noch beim Zusteller, wenn man ihn denn abpassen kann. Und zum Geldabheben muss sich die Oma mit ihrem Postsparbuch auf die Reise in die Nachbarstadt begeben.

Und längst hat auch die Bahn in ihrem Drang an die Börse den Service in der unrentablen Fläche reduziert und Fahrpläne zusammengestrichen, Zug um Zug. Mancher Triebwagen ruckelt nur noch so lange über Land, wie die Politiker genügend Geld für die Bezuschussung des Regionalverkehrs zusammenkratzen können.

Beschleunigt wird der Trend noch durch die jüngste Kürzung der Zuschüsse zum Nahverkehr um 2,1 Milliarden Euro bis 2009, die das Bundeskabinett im Februar beschlossen hat. "Der Bund," protestierte der Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge, "vernachlässigt damit vor allem die Fläche" - deren Bewohner, die ohnehin betroffen sind vom Abbau der Pendlerpauschale, nun auch noch mit Fahrpreiserhöhungen und Streckenausdünnungen im öffentlichen Nahverkehr rechnen müssen. Die Fahrgast-"Allianz pro Schiene" fürchtet für die nahe Zukunft: "Es drohen massive Verschlechterungen."

Den Bauerndörfern gehen die Bauern aus



Verlass ist in der Ära der Landflucht nicht mal mehr darauf, dass wenigstens der Landwirt auf dem Land bleibt und sich dort redlich ernähren kann. Die Agrarpolitik trägt seit Jahrzehnten dazu bei, dass einstigen Bauerndörfern mehr und mehr die Bauern ausgehen, dass sich die Dörfer als soziale Einheit auflösen.

Viele Landwirte - früher Stützen und Wortführer der ländlichen Gesellschaft - scheinen angesichts provinzfeindlicher Entscheidungen in Berlin oder Brüssel zu resignieren. Manch einer mag schlicht nicht mehr. Nahezu 50.000 Landwirte würden laut Bauernverband sofort den Beruf wechseln, wenn die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt nicht so schlecht wären.

So ziehen immer mal wieder protestierende Milchbauern wegen ruinöser Erträge mit ihrem Vieh etwa vors Brandenburger Tor, um die Politiker aufzufordern: "Melkt die Kühe selber." Manche halten Transparente mit dem Klageruf empor: "Keine Zukunft für die Kuhzunft."

Tatsächlich wird allein in Bayern die Zahl der Milchbetriebe binnen zehn Jahren von 60 000 auf 30 000 schrumpfen, wie das Münchner Institut für Agrarökonomie meldet. Denn das Brüsseler Subventionssystem bevorzugt große Einheiten, fördert die Agrarindustrie und bestraft den Familienbetrieb.

"Soziale und politische Erosion größten Ausmaßes"



Beim Kuhhandel um Subventionen, derzeit 40 Prozent des EU-Etats, seien "kleine Landwirte nur Statisten", analysiert das Wirtschaftsmagazin "Capital" die Misere der Betriebe, von denen jeder dritte - von Außenstehenden oft unbemerkt - bereits am Rande der Existenzfähigkeit wirtschaftet: "Bauernhöfe sterben langsam. Sie zehren jahrelang von der Substanz, bis der Generationenwechsel den Schlusspunkt setzt."

Schon seit Jahrzehnten beobachten Fachleute wie der emeritierte Kasseler Agrarkultur-Professor Sigmar Groeneveld das "Verschwinden des Landes als Lebensraum" - eine "soziale und politische Erosion größten Ausmaßes", die "längst zum lauten und öffentlichen Skandal geworden sein müsste".

Groeneveld beklagt den Untergang der traditionellen bäuerlichen Lebenswelten samt ihrer Familienbetriebe, der alten Nutztier- und Pflanzenarten, der Blumen und Bäume an den wegrationalisierten Feldwegen. Das Sterben dieser Höfe gehe einher mit dem von Brüssel geforderten und geförderten Aufstieg einer Agrarindustrie, die letztlich zur Arbeitslosigkeit auf dem Lande beitrage.

"Wenn", so argumentiert der Agrarkundler, "die landwirtschaftlich genutzten Flächen aus den Händen der Dorfbewohner entschwinden und so genannte Tieflader-Bauern als Fremde die Dorfgemarkungen übernehmen, dann verschwinden die letzten Beziehungen der Menschen zu ihrem Land. Dann verschwinden die Kleinbetriebe und ihre Bauerngärten... Mit großer maschineller Schlagkraft und mit Fruchtfolgen, die diesen Namen nicht mehr verdienen, können dann leicht 800 oder auch 1000 Hektar Fläche von zwei so genannten 'Vollbeschäftigten' bewirtschaftet werden. Das ist die Flächengröße ganzer Dorfgemarkungen. Man braucht dann keine Dorfbevölkerung mehr. Aber man darf sich dann auch nicht über wachsende Arbeitslosigkeit wundern. Man braucht in einer solchen Agrarindustrie keine Menschen mehr, die Schafe scheren oder Kühe melken können."

"Auf dem Land ist es menschenwürdiger"



Der Niedergang der Provinz vollzieht sich, je nach Region, in unterschiedlichem Tempo. Im Osten sind neben den Landgemeinden auch die meisten Städte schon vom Abwärtssog erfasst. Im Westen wiederum existieren selbst in den Randlagen noch Dörfer, in denen allenfalls erste Krisensymptome erkennbar sind.

Dort, in Aberhunderten von Gemeinden, überwiegen noch immer jene Vorzüge, die Christine Brandmeir, Generalsekretärin bei der katholischen Landjugend, dem Dorfleben attestiert: "Auf dem Land ist es menschenwürdiger", sagt sie - nicht nur dank der Naturnähe und der guten Nachbarschaft, sondern auch wegen der Möglichkeit, in örtlichen Angelegenheiten leichter mitreden und mitwirken zu können, als das in der Anonymität der großen Städte möglich ist.

Doch auch die bürgernahe Verwaltung auf dem Lande ist längst in die Zange aus Finanznot und Landflucht geraten. Geldknappheit und Abwanderung führen dazu, dass sich immer mehr Gemeinden genötigt sehen, ihre Bürgervertretungen zu verkleinern oder ihre Eigenständigkeit gänzlich aufzugeben und ihr Gemeindebüro oder Dorfrathaus zu schließen.

Zehntausende von Feierabendpolitikern sind überflüssig



Beispiel Brandenburg: In dem Bundesland ist die Zahl der selbständigen Gemeinden seit der Wende von fast 2000 auf 727 zusammengeschnurrt. Wer nicht freiwillig mit dem Nachbardorf fusionieren wollte, wurde vom Land zwangsvereinigt. Ein Volksbegehren gegen den weiträumigen Demokratieabbau scheiterte, wie der Berliner "Tagesspiegel" kommentierte, an der "inzwischen großen Lethargie" in der entkräfteten, erschöpften Provinz.

Wenn solche Sparmaßnahmen Schule machen, werden bundesweit Zigtausende von idealistischen Feierabendpolitikern überflüssig - was allerdings manch ein Parteifunktionär insgeheim mit Erleichterung quittieren würde. Denn in den ausgedünnten Regionen ist nicht nur die Bereitschaft gesunken, Posten in der Feuerwehr oder im Sportverein zu übernehmen, auch den Parteien fällt es immer schwerer, geeignete Bewerber für Ratsmandate zu finden. Selbst in größeren Kommunen wie Schwerin, klagte das grüne Stadtpräsidiumsmitglied Edmund Haferbeck, fehle mittlerweile "die intellektuelle Basis, um die Stadt voranzubringen".

Dass der finanzielle Spielraum der Gemeinden gerade im ländlichen Raum gen Null tendiert, dass es in den Gemeinderäten mehr denn je gilt, Gelder zu streichen statt Zuschüsse zu gewähren - all das trägt nicht dazu bei, Ehrenamtliche für ein Engagement für die kommunale Selbstverwaltung zu gewinnen. Und der Fortzug jedes einzelnen Steuerzahlers, ob in West- oder Ostdeutschland, vermindert das Finanzaufkommen gerade auf dem Land - einer Region, die bei der Verteilung von Steuereinnahmen ohnehin traditionell benachteiligt ist.

Für Stadtbewohner ein "Lackschuh-Privileg"



Während etwa in Niedersachsen einer Landgemeinde pro Einwohner ein Euro zugewiesen wird, fließen in die Kassen einer Großstadt jeweils 1,80 Euro. Kommunalexperten sprechen von einem historisch begründeten "Lackschuh-Privileg" der Städte: Beim Aufbau des Steuersystems vor siebzig Jahren galt noch die Ansicht, dass das Landvolk im Gegensatz zu den Lackschuhträgern keine Kanalisation braucht, sondern mit seinen Holzschuhen über unbefestigte Straßen laufen kann.

Zum Lachen finden die Finanzverwalter in den Entvölkerungsregionen die Laien-Ansicht, Gemeinden könnten sich dank des massenhaften Fortzugs gesundschrumpfen. In Wahrheit bedeutet der demografische Wandel eine massive Belastung für die Kassen der betroffenen Kommunen:

Unverhältnismäßig viel Geld verschlingt, wegen hoher Fixkosten, die Unterhaltung überdimensionierter Verkehrsnetze, Schwimmbäder oder Kläranlagen, die für die zwei- oder dreifache Einwohnerzahl konzipiert worden waren. Weil bei abnehmender Bevölkerung pro Kopf immer mehr Siedlungsfläche samt Infrastruktur bereitgehalten wird, werde das Leben für die Zurückgebliebenen immer "ressourcenaufwendiger und teurer", sagt der Dresdner Siedlungsforscher Stefan Siedentop.

Mezzogiorno zwischen Elbe und Weser



So stecken die klammen Kommunen in einer Zwickmühle - was immer sie auch tun, sie stoßen an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Jede Schließung eines Freibades, eines Sportplatzes oder eines Jugendzentrums, zu der sie sich gezwungen sehen, mindert weiter ihre Attraktivität - und verstärkt aufs neue den Fortzugsdrang vor allem der Jüngeren und der Gebildeten.

Um den Osten sei es schon heute in vielerlei Hinsicht schlechter bestellt als um Italiens Süden, den Mezzogiorno, urteilt der Münchner Wirtschaftforscher Hans-Werner Sinn. Für die neuen Länder haben Ökonomen bereits den sarkastischen Begriff "Ossogiorno" geprägt.

Ein anderer Kalauer bietet sich an: Der "Wessigiorno" ist näher, als manch einer ahnt. Zur Jahreswende kam aus Brüssel die Nachricht, als erste westdeutsche Region könne auch das strukturschwache Elbe-Weser-Dreieck jene Finanzhilfen beanspruchen, die bislang Süditalien, Griechenland und ähnlichen Armutszonen vorbehalten waren, in denen die Wirtschaftskraft 75 Prozent des Durchschnitts der alten 15er-EU unterschreitet.

Polinnen als letzte Hoffnung




Auf der Suche nach einem guten Job oder einer guten Partie fliehen junge Frauen massenhaft vom Land in die Städte. Zurück bleiben Männer, die sich in Fernsehsucht, Suff und Fremdenhass flüchten. Politiker erwägen bereits, Ausländerinnen für die Frustrierten anzuwerben - ein fragwürdiges Konzept.



Die blonde Polin heißt nicht Potemkin, sondern Pasikowska. Doch wie der legendäre russische Feldmarschall versteht es die junge Künstlerin, mit Leinwand, Leim und Farbe triste Realitäten aufzuhübschen.

Während Fürst Grigorij Alexandrowitsch Potemkin im Jahre 1787 in Südrussland der durchreisenden Zarin Katharina II. mit bemalten Kulissen blühende Dörfer vorgetäuscht haben soll, nahm sich Anita Pasikowska der deutschen Provinzstadt Görlitz an - eines Gemeinwesens, in dem sich wie kaum irgendwo sonst die Widersprüchlichkeiten des wiedervereinigten Deutschland spiegeln.

Obwohl der Westen seit 1990 mit Multi-Millionen-Aufwand geholfen hat, die matt gewordene "Perle der Lausitz" mit ihren mehr als 4000 denkmalgeschützten Bauwerken aufzupolieren, steht die aufwendig sanierte Altstadt heute fast zur Hälfte leer, wirken die toten Fenster in den fein restaurierten Renaissancefassaden auf Besucher wie "Grabsteine der Urbanität" ("Frankfurter Allgemeine").
Seit der Wende sind aus der schmucken Geisterstadt an der deutsch-polnischen Grenze mehr als 20.000 Menschen gen Westen gezogen, jeder vierte Einwohner.

Ein Fall für Anita Pasikowska. Sie sorgte dafür, dass plötzlich nachts in vormals schwarzen Fenstern warmes Licht leuchtete; hinter den Scheiben waren Blumentöpfe und Kinderköpfe wahrnehmbar; Schatten huschten über bunte Vorhänge; Wohnzimmerlampen erstrahlten und erloschen wieder.

Alles war nur schöner Schein: die Installation einer Illusionistin, die "traurig" gewesen war über die Stadtkulisse mit den "vielen leerstehenden Häusern und den wenigen Menschen auf der Straße".

Bis 2010 verlassen eine Million Menschen den Osten



Wenngleich Kunst-Events wie die Pasikowskaschen Häuser, illuminiert im Dienste von Stadtmarketing und Imagepflege, Seltenheitswert haben - die Probleme von Görlitz teilen mehr und mehr deutsche Kommunen. Während in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten rund eine Billion Euro an Subventionen gen Osten flossen, wanderten mehr als zwei Millionen Menschen gen Westen - und ein Ende der gegenläufigen Entwicklung ist nicht absehbar.

Bevölkerungswissenschaftler rechnen bis 2020 mit einer Schrumpfung des Ostens um mindestens eine weitere Million Einwohner. Zu den Fortzugswilligen zählen beispielsweise Fernpendler, die jahrelang die Woche über im Westen gearbeitet haben und nun, der Fahrerei überdrüssig, dort auch wohnhaft werden wollen.

Zurück in die alten Länder zieht es auch Wessis, die einst per Buschprämie in den Osten gelockt worden waren. In Sachsen-Anhalt etwa, das seit 1990 zehn Prozent seiner Bevölkerung verloren hat, ist zum Bedauern des evangelischen Bischofs Axel Noack auch "von den früheren Ministern, Staatssekretären, Regierungsbeamten fast keiner mehr hier".

Mittlerweile, beobachtet Markus Goldschmidt, Baudezernent der früheren Textilstadt Forst, "gehen sogar die Alten weg, sie ziehen ihren Kindern hinterher, in den Westen". Seit der Wende hat der Ort in der Lausitz jeden fünften Einwohner verloren. Goldschmidt: "Wenn die Entwicklung so weitergeht wie jetzt, dann werden ganze Städte von den Landkarten verschwinden."

Mehr als alles andere aber schreckt die Fachleute ein Trend, der im Osten bereits spektakuläre Ausmaße angenommen hat und auch in den alten Ländern bereits wahrnehmbar ist: die Massenflucht junger Frauen aus dem ländlichen Raum in die prosperierenden Stadtregionen.

Dieser Aderlass trifft die Abwanderungsregionen doppelt hart: Die Frauen sind zumeist besser gebildet als die Männer, zugleich verlieren die Regionen potenzielle Mütter - weiterer Schwund ist damit programmiert.

Exodus der Frauen - ein historisch einmaliges Phänomen



"Nirgendwo auf der Welt ist die überproportionale Abwanderung von Frauen so groß wie in Ostdeutschland", sagt Wolfgang Weiß von der Universität Greifswald. Rainer Klingholz vom Berlin-Institut spricht von einem "historisch einmaligen Phänomen". In der Geschichte der Menschheit hätten bei Völkerwanderungen sonst stets Männer die Vorhut gebildet.

In Ost wie West zeigen sich nun die Frauen auf der Suche nach einem guten Job oder einer guten Partie deutlich mobiler als junge Männer. Die weiblichen Landeier - vielleicht beflügelt von der tollen Lolle, dem Publikumsliebling aus der TV-Kultserie "Berlin, Berlin" - haben kaum Angst vor dem Asphaltdschungel der Großstädte. Statt daheim auf einen Heiratsantrag zu warten, wollen sie sich im Beruf verwirklichen. "Sie migrieren eigenständig", sagt Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut. Und: Sie kehren, sind sie erst einmal fortgezogen, seltener wieder heim als junge Männer.

Warum sollten sie auch. Frauen neigten dazu, sich ihren Partner möglichst in höheren Sozialsphären zu suchen, erklärt die Magdeburger Professorin Christiane Dienel: "Frauen heiraten nach oben, Männer nicht." Besser ausgebildete, besser verdienende Männer aber werden auf dem Lande zunehmend knapp.

"Das Gefühl, die Arschkarte gezogen zu haben"



Im Osten hat die Abwanderung der Klügeren bereits lange vor der Wende begonnen; schon unter den Republikflüchtigen der SED-Ära waren akademisch Gebildete überrepräsentiert. Und seit dem Fall der Mauer hat sich die Negativspirale noch beschleunigt.

Die Folgen des seither anhaltenden brain drain sind inzwischen in den Pisa-Statistiken ebenso erkennbar wie in den flächendeckenden Intelligenztests an Wehrpflichtigen: Die dümmsten jungen Deutschen leben demnach in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Verlagsvertreter, die das einstige Leseland bereisen, berichten von weinenden Provinz-Buchhändlerinnen - die einstige Stammkundschaft hat sich auf und davon gemacht.

So hat der IQ-Export weite Regionen im neuen Osten abermals zu dem werden lassen, was er während der Massenflucht durch den Eisernen Vorhang schon einmal gewesen zu sein schien: ein Auswanderungsland, in dem nur "der doofe Rest" noch ausharrt, wie damals die Zurückgebliebenen selbstironisch "DDR" buchstabierten.

Ganze Abi-Jahrgänge setzen sich mittlerweile aus den Problemzonen des Ostens geschlossen in den Westen ab. Als Ostdeutsche, sagt eine Abiturientin aus Neubrandenburg, habe sie "das Gefühl, die Arschkarte gezogen zu haben".

"Sie schrauben an ihren Mopeds statt an ihrer Freundin"



Die meist schlechter ausgebildeten und oft arbeitslosen jungen Männer, die im Lande bleiben, gelten als wenig attraktiv. Die Junggesellen "am sozial unteren Ende des Heiratsmarktes" finden daher nach einer Analyse des Berlin-Instituts "ganz selten eine Partnerin zur Familiengründung" - was den Bevölkerungsschwund weiter beschleunige.

"Sie schrauben an ihren Mopeds herum, statt an ihrer Freundin" - mit dieser Formulierung beschreibt die "Sächsische Zeitung" die Lage der jungen Männer etwa im Landkreis Riesa-Großenhain. Während die Mädchen, wild auf den Westen, teils sogar als Kellnerinnen in Österreich und in der Schweiz jobben, lungern die Jungs mancherorts, die Pulloverkapuze ins Gesicht gezogen, mit der Bierdose in der Hand im Bushäuschen herum und reißen Zoten.

Schon heute kommen in den neuen Ländern auf 100 Männer im Schnitt gerade mal 84 Frauen, im thüringischen Ilm-Kreis nur noch 78 - dort geht rechnerisch fast jeder vierte Mann leer aus. Und die Schieflage wird noch dramatischer, weil sich die Geburtenzahl im Osten 1990 schlagartig halbiert hat. "Was da auf uns zukommt, ist wie ein Hurrikan, der auf die Küste zurast," sagt der Chemnitzer Soziologieprofessor Bernhard Nauck: "In sechs bis sieben Jahren werden sich im Osten zwei Männer um eine Frau bemühen müssen, das ist sicher."

Die Regel, dass junge Frauen unattraktive Regionen meiden, bestätigt sich auch im Westen. So haben bajuwarische Mannsbilder an der bayrischen Ostgrenze und im Donauried deutlich schlechtere Chancen, eine Partnerin zu finden, als im Münchner oder Nürnberger Umland. "Bislang ungeklärt" sei, schreibt das Berlin-Institut, "welche Folgen stark männerlastige Bevölkerungsstrukturen für eine Gesellschaft haben" - vor allem wenn die "überzähligen Männer häufig arbeitslos, schlecht ausgebildet und sozial unterprivilegiert sind".

Wetttrinken in der Depressionszone



Die "Vermännlichung" einer Region, glaubt der Dresdner Soziologe Wolfgang Engler, führe bei den Zurückgebliebenen dazu, "dass man sich gegenseitig in seiner Perspektivlosigkeit noch bestätigt" - Tenor: "Aus uns kann nichts werden."

Im Bauwagen der Dorfjugend, im Vereinshaus der Feuerwehr, im Clubheim der Motorradfreunde wird der Frust ertränkt, nicht selten beim "Wetttrinken bis zur Alkoholvergiftung", wie die Ex-Bundesdrogenbeauftragte Marion Caspers-Merk klagt. Mitunter dröhnen dazu die Böhsen Onkelz aus dem Rekorder: "Deutsche Frauen, deutsches Bier, Schwarz-rot-gold, wir stehn'n zu dir."

Statistiken zeigen: Vor allem in den Depressionszonen mit überdurchschnittlich hohem Anteil unfreiwilliger Singles fließt der Alk in Strömen. Während in Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg nur fünf beziehungsweise sechs Gramm pro Person und Tag verzehrt werden, ist die durchschnittliche Alkohol-Ration in Brandenburg (12 Gramm), Sachsen-Anhalt (12,5 Gramm) oder Mecklenburg-Vorpommern (14,5 Gramm) doppelt oder dreimal so hoch.

Dort flüchten sich die Zurückgebliebenen auch mehr als anderswo in exzessiven Fernsehkonsum. In Sachsen-Anhalt, einem Land mit fast 21 Prozent Arbeitslosigkeit, sitzen die Menschen am längsten vor der Glotze - pro Tag 275 Minuten, macht pro Jahr sage und schreibe 2,3 Monate TV total und nonstop.

In den neuen Ländern mit ihrem "Männerproletariat" liege aber auch die Kriminalitätsrate, bezogen auf die Einwohnerzahl, höher als im Westen, warnt Forscher Klingholz. Besonders hoch ist der Anteil der jugendlichen Straftäter.

"Hier im Osten brennt die Luft", spürt der Greifswalder Dozent Wolfgang Weiß; der Männerüberschuss lasse sich "auch nicht durch verordnete Homosexualität ausgleichen", sagt er sarkastisch. "Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wohin der Testosteronüberschuss in Zukunft führen wird," kommentierte die "FAZ".

Als Sozialwissenschaftler die Schrumpfungsfolgen in der sächsischen Stadt Weißwasser analysierten, die seit 1990 ein Drittel ihrer Einwohnerschaft verloren hat, stießen sie in der Restbevölkerung vor allem auf Apathie und Trostlosigkeit. Auf die lokale Arbeitslosenquote von 22 Prozent reagierten die ehemals werktätigen Plattenbau-Bewohner, die in der DDR immerhin noch verbal als "führende Klasse" hofiert worden waren, mit "kognitiver Einigelung".

Typische Äußerungen: "Die ganze Gegend ist heute schon an den Westen verraten und verkauft worden." - "Die deutsche Einheit wird es wohl nie geben. Hass zwischen Ossis und Wessis." - "Ein Staat gegen die kleinen Leute, schlimmer als bei Honecker. Alle Ostdeutschen haben Wut im Bauch."

Politisch führt das allgegenwärtige Gefühl des Gekränkt- und Abgehängtseins in Randregionen wie dem Erzgebirge (Volksmund: "Schmerzgebirge") teils zur ostalgischen Verklärung der SED-Staates, teils geradewegs in den Rechtsradikalismus. Immer häufiger zielen in den Zonen mit gestörter Sexualökonomie die Aggressionen der alkoholisierten Zwangssingles auf Fremde - nicht zuletzt wohl auch aus Angst, Eindringlinge könnten den Einheimischen die ohnehin knapp gewordene Ressource Frau streitig machen.

Schrumpfende Regionen - Nährboden für Radikalismus?



Nirgendwo in Deutschland, außer im platten Schleswig-Holstein, registriert der Verfassungsschutz pro Kopf ähnlich viele rechtsradikale Gewalttaten wie in den ausblutenden neuen Ländern. "Rechtsextremismus - eine Begleiterscheinung in schrumpfenden Städten?" war schon das Thema einer Fachtagung in Berlin.

Pogromartige Ausschreitungen gegen Ausländer wie früher in Rostock-Lichtenhagen oder in Hoyerswerda machten, so die Erkenntnisse von Experten, kaum noch Schlagzeilen. Stattdessen dominiere auf dem Land die gewöhnliche, nahezu alltägliche Gewalt locker organisierter Kameradschaften gegen einzelne Fremde, aber auch gegen linksverdächtige Jugendliche.

Die Täter tragen heute statt Bomberjacke und Springerstiefel oft Zivil. Mancher entspreche, erklärt Jürgen Kanehl, Bürgermeister im vorpommerschen Wolgast, eher dem Bild vom idealen Schwiegersohn als dem Neunziger-Jahre-Rambo mit Glatze.

Das größte Problem sei nicht die absolute Zahl der Rechtsextremisten, glaubt der Berliner Schrumpfungsexperte Philipp Oswalt. Mehr Sorge bereiten ihm die "fehlenden gesellschaftlichen Abwehrkräfte" in den Abwanderungsregionen, die oft auch von allen guten Geistern verlassen scheinen.

"Du siehst aus wie ein Jude"



Dazu zählen Dörfer wie das 600-Einwohner-Kaff Potzlow in der Uckermark - ein Ort, der 2002 zum Menetekel des moralischen Niedergangs in Schrumpfdeutschland wurde. Dort bemerkte ein Kommunalpolitiker über die Reaktion der Dörfler auf Rüpeleien der ortsansässigen Rechtsradikalen: "Da traut man sich doch schon lange nicht mehr, was dagegen zu sagen." Eine Sozialarbeiterin gestand unter Tränen ihre Ohnmacht: "Die Gesellschaft verroht immer mehr."

Erst hatte einer aus dem Ort in einer Nachbarstadt einen Afrikaner zusammengeschlagen. Dann quälte er mit anderen jungen Rechtsradikalen einen 17-jährigen Kumpel bestialisch zu Tode, bevor sie seinen Leichnam in eine Jauchegrube warfen - ihnen hatte die Frisur des Opfers nicht gefallen: "Du siehst aus wie ein Jude."

Als 150 ortsfremde Antifa-Aktivisten mit Lautsprecherwagen in Potzlow einfielen, um die Mordtat anzuprangern, hielten angereiste Reporter die Reaktion von Dörflern fest: "Fahren wir nach Berlin, wenn dort einer ermordet wird?" - "Ein bisschen rechts denkt doch jeder." - "Da wird doch ein Pups zu einem Donnerschlag aufgeblasen."

Typisch für die Mentalität, die in den Schrumpfregionen aufkeimt, mögen Extremfälle wie Potzlow nicht sein. Symptomatisch ist eher schon das Wahlverhalten, das in den Abwanderungsgebieten stärker zu Tage tritt als anderswo: Kaum zufällig erzielten gerade dort nicht nur PDS-Kandidaten, sondern auch die radikalen Rechten bei den Landtagswahlen im vorigen Jahr Rekordwerte.

In Brandenburg kam die DVU auf 6,1 Prozent. In Sachsen ist die NPD mit 9,2 Prozent seither fast so stark wie die SPD. Dort votierten 20 Prozent der männlichen Erstwähler für die radikale Rechte, im westdeutschen Schrumpfland an der Saar immerhin 14 Prozent.

Die "ugly citizens" können "den Osten wegreißen"



Solche Resultate geben, ebenso wie die extrem niedrige Beteiligung von Jungwählern, Wahlanalytikern zu denken. "Die psychologische Wirkung des Wegzugs insbesondere jüngerer Ostdeutscher in den Westen kann kaum noch hoch genug eingeschätzt werden", urteilt die Allensbach-Forscherin Renate Köcher.

Das extreme Wahlverhalten in diesen Landstrichen, meint auch der Dresdner Soziologe Engler, entspringe dem "Gefühl, verlassen, abgekoppelt zu sein". Für diesen Wählertypus hätten die Angelsachsen den Begriff ugly citizen geprägt: Gemeint ist der hässliche Bürger, "der sich gerade noch politisch äußert, aber in einer Art, die schon eine Verwerfung des politischen Systems ist".

Wenn sich gleich "ganze Regionen in Verzweiflung, Depression und Radikalisierung verabschieden", werde das, meint Engler, fatale Folgen haben: "Das kann den Osten wegreißen."

Dieses "Grundgefühl der Zweitklassigkeit", sagt SPD-Chef Matthias Platzeck, habe auch schon bei den Anti-Hartz-Protesten vorgeherrscht, die in den schrumpfenden Provinzen den meisten Zulauf hatten. Wenn der Trend anhalte, warnte der Sozialdemokrat bereits voriges Jahr, könnten die benachteiligten Regionen "stimmungsmäßig" mehr und mehr aus Deutschland herausrutschen. Platzeck: "Die Demokratie als Grundlage unserer Gesellschaft verliert - und zwar gravierend - an Zustimmung."

Verstärkte Immigration kein Patentrezept



Weil antidemokratische Ressentiments sich häufig mit Fremdenfeindlichkeit paaren, scheint in vielen Schrumpfregionen auch der Ausweg verstellt, den Fortzug von Deutschen durch Zuzug von Ausländern zu kompensieren - ein ohnehin fragwürdiges Konzept.

Zwar wäre massenhafte Immigration ganz im Sinne des Zuwanderungsrats, der schon 2004 unter Vorsitz der CDU-Politikerin Rita Süssmuth der Bundesregierung die gezielte Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte empfohlen hat. Ohne Zuwanderung, so das Gremium, werde das Arbeitskräfteangebot in der Bundesrepublik ab 2010 stark einbrechen und bis 2040 von derzeit 45,3 Millionen auf nur noch 26,7 Millionen Menschen absacken.

Eine Patentlösung für die Schrumpfregionen sei verstärkte Immigration keineswegs, wenden dagegen politische Praktiker wie auch Regionalplaner ein. Weil es einen Großteil der Migranten in die Parallelwelten der Ballungsgebiete ziehe, würden sich dort nur die ohnehin beträchtlichen Integrationsprobleme verschärfen, ohne dass dem ländlichen Raum nennenswert geholfen wäre.

In Berlin zum Beispiel scheint es für die inzwischen von vielen Politikern geforderte "nachholende Integration" in manchem Viertel fast schon zu spät. Eine interne Studie des Polizeipräsidiums hat bereits in neun "Problemkiezen" bedrohliche Entwicklungen ausgemacht. Dort registrieren die Beamten "mafiose" Strukturen, "bewaffnete Gewalt" und eine "heranwachsende Frust-Generation", die "nach eigenen Regeln und Gesetzen lebt". Fazit: "Szenarien, die aus amerikanischen, englischen und französischen Großstädten beziehungsweise deren Ghettos bekannt sind", seien "auch hier vorstellbar".

An der Ruhr schrumpft alles - außer dem Ausländeranteil



Auch angesichts von bald fünf Millionen Arbeitslosen hatte schon voriges Jahr der seinerzeitige Innenminister Otto Schily die Zuwanderungsempfehlungen des Süssmuth-Gremiums mit spitzen Fingern entgegengenommen: Sie müssten mit "sehr, sehr großer Sorgfalt geprüft werden".

Die Städte und Gemeinden sehen in ungeregelter Zuwanderung sowieso ein Zukunftsproblem ersten Ranges. Weil vier von fünf Einwanderern derzeit keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, beruht laut Demografie-Professor Herwig Birg "die prekäre Finanzsituation der Kommunen nicht zuletzt auf der hohen Belastung durch Sozialhilfeausgaben für die großenteils nichtdeutschen Mitbürger"; in Hannover beispielsweise sind 40 Prozent der Sozialhilfeempfänger ausländischer Herkunft.

Besonders schnell wächst der Bedarf an "nachholender Integration", etwa an Deutschkursen für Ausländer, in jenen Städten, in denen alles schrumpft - außer dem Migrantenanteil. Nach einer Studie über "Bevölkerungsentwicklung und Sozialraumstruktur im Ruhrgebiet" werden in den kreisfreien Städten im früheren Kohlenpott, ausgenommen nur Bottrop, Mülheim und Hamm, "bereits im nächsten Jahrzehnt die Mehrheit der Bevölkerung im jungen Erwachsenenalter und die Mehrheit der Kinder ,Ausländer' sein beziehungsweise einen Migrationshintergrund haben".

Soll Deutschland die Arbeitselite Osteuropas abwerben?



Trotz der schon jetzt wahrnehmbaren Integrationsprobleme werde Deutschland ohne Immigration nicht auskommen, argumentiert "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher. Der "Methusalem"-Autor plädiert daher für eine gesteuerte "Zuwanderung aus verschiedenen Kulturkreisen - und eben nicht nur aus der islamischen Welt". Das gleiche wünscht sich, etwas verklausuliert, der sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt, wenn er die Zuwanderung von Menschen fordert, "die keine Integrationskosten verursachen".

Auch der Hamburger Ex-Bürgermeister und Ost-Experte Klaus von Dohnanyi regt an, junge Mittel- und Osteuropäer - sofern sie zur "industriellen Arbeitselite" zählen und "gerne Deutsch lernen" - dafür zu gewinnen, den "großen und zum Teil entvölkerten Raum Ostdeutschlands mit seiner exzellenten Infrastruktur zu nutzen". Dabei solle die Bundesrepublik, so Dohnanyi, allerdings verfahren wie die traditionellen Einwanderungsländer, etwa die USA: "Die nehmen die Leute herein, die ihnen wirklich nutzen können - und das nutzt auch diesen Leuten." Experten sprechen von einer skilled immigration tüchtiger Fachleute.

Solchen Strategien widerspricht der Demograf Birg, der entschieden für eine Steigerung der deutschen Geburtenrate durch eine betont familienfreundliche Politik wirbt und der die Abwerbung fremder Eliten als "demografische Ausbeutung anderer Länder" und als "neuen Kolonialismus" verurteilt. "Wir wollen die Besten importieren und profitieren von Menschen, die anderswo eine Lücke hinterlassen", empört er sich: "Das ist desaströs."

"Brandenburg reicht bis Kamtschatka"



Gleichwohl glaubt auch der Hallenser Wirtschaftsforscher Peter Franz ("Regionalpolitische Optionen für schrumpfende Städte"), dass gerade die besonders schnell schrumpfenden Kommunen an der deutschen Ostgrenze "von einer Zuwanderung aus Osteuropa profitieren könnten". Andere Wissenschaftler wiederum warnen vor übertriebenen Hoffnungen.

"Kein einziges Land der Alten Welt kann sich aus dem eigenen Nachwuchs erhalten," sagt der Bremer Zivilisationsforscher Gunnar Heinsohn. Auch in Osteuropa seien die Geburtenzahlen in der letzten Dekade dramatisch gesunken. Polnische Frauen etwa hätten "mit 1,23 Kindern im Durchschnitt noch weniger Nachwuchs als die Mütter Brandenburgs", und auch Ukrainer, Weißrussen, Russen, Balten, Slowaken und Tschechen lägen "mit 1,2 bis 1,3 Kindern pro Frauenleben unterhalb der Reproduktionsgrenze" von 2,1 Kindern. Heinsohn: "Brandenburg reicht in Wirklichkeit bis Kamtschatka."

So wird sich wohl auch der polnische Beitrag zur Stabilisierung der deutschen Geburtenrate in Grenzen halten. Zwar sind schon jetzt polnische Frauen die begehrtesten ausländischen Ehepartnerinnen deutscher Männer - dennoch sind die absoluten Zahlen ernüchternd: Im vorigen Jahr heirateten gerade mal 4900 Deutsche eine Polin.

Dennoch hat manch ein Bürgermeister an der deutschen Ostgrenze die Hoffnung nicht aufgegeben und schon begonnen, die dort besonders starken "Ängste vor Überfremdung" (Franz) zu überwinden - etwa in der potemkinschen Stadt Görlitz.

Görlitz bald zur Hälfte polnisch?



Links der Oder das ausblutende Stadtkleinod mit seinen 10.000 großenteils sanierten, aber leer stehenden Wohnungen; rechts der Oder, gleich vis-à-vis, das polnische Zgorzelec mit massiver Wohnungsnot - liegt da nicht nahe, was dem langjährigen Oberbürgermeister Rolf Karbaum vorschwebte: die Menschen aus Westpolen zum Umzug nach Ostdeutschland zu animieren? "Die Polen sind unsere letzte Hoffnung", glaubt Karbaum. "Wird Görlitz", fragte bereits die konservative "Welt", "in 20 Jahren zur Hälfte polnisch sein?"

Auch die sächsische Landesregierung setzt bei ihren Bemühungen, wieder Leben in die sterbenden Städte zu bringen, offen auf die Macht der Liebe: Auf ihrer Homepage weist sie darauf hin, dass in diesem Bundesland laut Statistik 70.000 Frauen zwischen 18 und 40 Jahren fehlen, während im benachbarten Westpolen Männermangel herrsche.

Die Sprachbarriere zwischen Deutschen und Polinnen sei "zwar ein Hindernis, aber überwindbar", zitiert die regierungsamtliche Website eine deutsch-polnische Kontaktagentur aus Görlitz. In der Stadt sei bereits jetzt zu beobachten, dass "deutsche Männer durch die Straßen laufen, mit der einen Hand die polnische Freundin haltend, mit der anderen das Wörterbuch".

Der Lockruf der Leere




Was tun mit einem Raum ohne Volk? Weil die Hälfte aller Städte und Kreise schrumpft, fahnden Planer nach Ideen für ein entleertes Land - von Solarparks über Studentenstädte und Telearbeitsdörfer bis hin zur "Pensionopolis" in der Pampa.



Das Leipzig von heute erinnert die örtliche "Volkszeitung" an ein Stück Käse: "Früher war die Stadt wie ein Gouda, dicht bebaut und besiedelt. In den letzten Jahren wurde sie zum Emmentaler, zum Schweizer Käse mit großen Löchern." Nun gehe es darum, schreibt das Blatt, "die Leerräume so zu gestalten, dass sie zu ertragen sind".

Was auf Leipzig zutrifft, gilt für den gesamten Osten und zunehmend auch für weite Landstriche und für viele Großstädte im Westen: Babymangel und Binnenwanderung haben die Republik gleichsam perforiert - und nun sehen sich Planer und Politiker allenthalben gefordert, über den Umgang mit den Vakanzen nachzudenken.

Dabei könnten die Deutschen im Westen von den Erfahrungen profitieren, die ihre Mitbürger im Osten in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gesammelt haben. Doch die Politiker in den alten Ländern, glaubt Stefan Skora, der Baubürgermeister von Hoyerswerda, "die wissen noch gar nicht, was wirklich auf sie zukommt".

Sicher ist: Mit noch so viel Geld allein wird sich das Ausbluten von Stadt und Land nicht stoppen lassen, wie der Aufbau Ost gezeigt hat. Warum eigentlich, witzelt Volkes Stimme, haben die nagelneuen Autobahnen in den neuen Ländern sechs Spuren? Klar doch, eine geht in den Osten, fünf führen gen Westen.

"Wofür zur Hölle," flucht die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", "brauchen Städte Autobahnanschlüsse, deren Bevölkerung schon bald so alt und arm sein wird, dass sie sich vielleicht noch einen Hackenporsche für den Gang zum Lidl leisten kann, aber sicherlich kein Auto?"

Auf welche Städte kann Deutschland verzichten?



Und wozu eigentlich sind neue Gewerbezonen nötig in Gegenden, in denen die einst von Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" nur als vielfältige Trümmer- und Schuttvegetation "auf schon Jahre brachliegenden Gewerbeflächen" existieren, wie die Regionalforscher Thilo Lang und Sascha Vogler aus dem brandenburgischen Erkner spotten?

Ein anderes Beispiel nennt der Aufbau-Ost-Experte und frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi: "Da haben Sie wunderbare elektronische Anzeiger, die angeben, wann die nächste Straßenbahn fährt, aber nur wenige Leute, die einsteigen." Groß sei die Gefahr, "dass die ganze schöne Infrastruktur wieder zerfällt, weil sie keiner bezahlen kann".

Dann aber stünde mehr zur Debatte als nur der Rückbau einzelner Viertel. "Alles läuft auf die Frage zu: Auf welche Stadt kann man verzichten, auf welche nicht?, kommentiert die Hamburger "Zeit": "Wer kann sich in Zukunft Altenburg, Torgau, Sangerhausen noch leisten?"

Mehr noch als an immer neuen Milliarden, so scheint es, mangelt es an intelligenten Plänen für den Umgang mit den Folgen der Schrumpfungsprozesse. Gesucht wird eine Zukunftsvision zum Beispiel für das gewaltige entindustrialisierte Areal zwischen Rügen und Rhön, wo nach den Prognosen des Berliner Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung bereits "die neuen heimlichen Naturparks" entstehen.

Werden sich dort eines Tages nur noch Fuchs und Hase gute Nacht sagen, zur Freude von ein paar Naturtouristen? Werden Windfarmer und Ökobauern das Land bewirtschaften oder werden Alternativos die verlassenen Halbruinen übernehmen, wenn der letzte Einheimische das Licht ausgeknipst hat?

Gefragt sind zugleich aber auch Konzepte für den Umgang mit den Hunderttausenden von verlassenen städtischen Gebäuden, in denen allein im Osten so viele Menschen Unterkunft finden könnten, wie Rostock, Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden, Chemnitz und Erfurt insgesamt (noch) Einwohner haben.

Der "Plattmacher" versteht sich als "Plattenspieler"



In den neuen Ländern scheint der Umgang mit dem Häuser-Leerstand vergleichsweise einfach. Um Abriss und Auflockerung überzähliger Großsiedlungen zu forcieren, hat der Bund in einem bis 2009 laufenden Sonderprogramm "Stadtumbau Ost" 2,7 Milliarden Euro bereitgestellt. Die Beseitigung leerstehender Bauten wird mit 60 Euro pro Quadratmeter gefördert.

Nur vereinzelt melden sich Abrisskritiker zu Wort, die wie der Berliner Architekt Ulrich Peickert die alten Plattenbauten "zum Wegwerfen zu schade" finden. Bei einem Symposium präsentierte Peickert die Idee, ein weitgehend verlassenes Viertel in Stendal-Süd in eine 120.000 Quadratmeter große Solaranlage umzuwandeln, mit Sonnenkollektoren auf allen Dächern und an den Fassaden. Im Innern der angegammelten Gebäude sollten Pilze für medizinische Zwecke gezüchtet werden.

Einen Teil der Plattensubstanz will auch Jürgen Polzehl nutzen, Chef-Planer in Schwedt an der Oder, einer Stadt, die alljährlich rund 1000 Einwohner verliert. Der Stadtentwicklungsdezernent, von der Presse bisweilen als "Plattmacher" tituliert, sieht sich selbst eher als "Plattenspieler": Er lässt wie etliche seiner Kollegen in anderen Städten die oberen Etagen von Plattenbauten kappen und die einst monotonen Wohnblocks zu kleinen Stadtvillen zurechtstutzen.

Bauschild-Aufschrift: "Hier entsteht eine Wiese"



Auf die teilweise Umwandlung von Platte in "Edelplatte" (Volksmund) mit bunten Balkonen im Toskana-Stil und mit großzügig zusammengelegten Wohnungen setzt auch die einstige sozialistische Musterstadt Hoyerswerda. Seit das dortige Industriekombinat "Schwarze Pumpe" dichtgemacht hat, ist die Einwohnerzahl von 70.000 auf rund 40.000 gesunken; bis 2020 erwartet die Stadt einen weiteren Rückgang auf 30.000 Einwohner.

Wegen der massiven Abwanderung müssen auch dort ganze Blocks abgerissen werden. Andernfalls, bei allzu viel Umbau zur "Edelplatte", würden die Wohnungsgesellschaften riskieren, dass bald auch ein Teil der aufwendig hergerichteten Bauten leer steht.

Kommunalpolitiker, die nach der künftigen Nutzung abbruchreifer Plattenbau-Viertel gefragt werden, antworten daher immer öfter wie Baubürgermeister Skora in Hoyerswerda: "Leute, da kommt nichts mehr hin." Eine Künstlergruppe, die in seiner Stadt den Abriss begleitet, hat schon Bauschilder aufgestellt mit dem Hinweis: "Hier entsteht eine Wiese."

"Ganze Stadtteile müssen weg"



Städtebaulich wie finanzpolitisch ist es gleichermaßen sinnvoll, die Überbleibsel der sozialistischen Massenmenschhaltung, die einst sogenannten Arbeiterschließfächer, an der Peripherie der Orte dem Erdboden gleich zu machen. Denn nur eine "konzentrische Schrumpfung" der Kommunen, von außen nach innen, führt zu einem kompakten, ökonomischen Verkehrs- und Versorgungssystem.

Rückbau-Experten wie der Thüringer Andreas Jäger fordern daher: "Ganze Stadtteile müssen weg, samt Straßen und Leitungen, sonst ist die Infrastruktur überdimensioniert und überteuert - zu Lasten der Bewohner."

Sehr viel schwieriger als der Abriss an den Stadträndern ist der Umgang mit verwahrlosten Vierteln in den Zentren - wie in Leipzig, wo die DDR einst die Altbauten so sehr vernachlässigt hatte, dass das Volk spottete, die SED wolle "Ruinen schaffen ohne Waffen". Wo binnen anderthalb Jahrzehnten rund 80.000 Einwohner die Koffer gepackt haben, standen bald Tausende teils einsturzgefährdeter Altbauten leer.

Planer stehen vor Aufgaben wie nach dem Bombenkrieg



Die Gründerzeithäuser einzumotten und auf bessere Zeiten zu warten, ist kaum möglich. "So eine Immobilie ist nichts wert", sagt Stefan Weber von der sächsischen Aufbaubank. "Um sie über mieterarme Jahre zu retten, gibt's von der Bank kein Geld." Eine Renovierung ohne hinreichende Nachfrage wäre ruinös, Nichtstun wiederum verbietet sich schon aus Sicherheitsgründen.

Folglich sind auch in den Zentren vielerorts Abriss- und Aufwertungsaktionen notwendig - was die Planer vor Aufgaben stellt, mit denen sie zuletzt in der "Stunde null" konfrontiert waren: nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs.

Der Berliner Regionalsoziologe Hartmut Häußermann glaubt sogar, dass vergleichbare Probleme überhaupt noch nie zu bewältigen waren: "Für eine Stadtentwicklung ohne ökonomisches Wachstum bei zurückgehender Einwohnerzahl zu planen ist, historisch ohne Vorbild."

Erschwert wird der Umbau der Innenstädte durch die dort oft komplizierten Besitzverhältnisse und durch mangelnde Kooperationsbereitschaft der teilweise ortsfernen Grundeigner. Viele wollen, wie Häußermann sagt, "den Wertverfall ihrer Immobilien nicht wahrhaben und halten an illusionären Preisvorstellungen fest".

Hirschgehege am Bahnhof, Streichelzoo und Gemüseacker in der City, lesen Sie im zweiten Teil, wie die Städte grüner gemacht werden sollen

In der City Gemüsegärten und ein Streichelzoo



Vielleicht auch deshalb stürzen sich Planer mancherorts lieber mit Verve auf die Flächenabrisse am Stadtrand. Dabei werden sie regelmäßig von den großen Wohnungsgesellschaften unterstützt, die schon deshalb auf "Marktbereinigung" drängen, weil der Leerstand aufs Mietniveau drückt.

So ist es in dem vom Bund und Ländern großzügig geförderten "Stadtumbau Ost" zu einer merkwürdigen Schieflage gekommen: Während am Stadtrand der Plattenbau-Abriss vorankommt, hat die nicht minder wichtige Sanierung in der Nähe der Zentren vieler Städte "bisher fast gar nicht stattgefunden", wie der Hallenser Wirtschaftsforscher Peter Franz monierte; gerade in zentraler Lage aber würden neue Stadthäuser "mehr Impulse bringen als der bisherige Regelfall der Umwandlung ehemaliger Plattenbaustandorte in Grünflächen".

Die Emmentaler-Stadt Leipzig soll zur Parkstadt werden. Die Wohnbrache im Stadtkern bietet jede Menge Platz für Grünareale. Ein "Dunkler Wald" aus Ahorn und Esche ist bereits für 600.000 Euro angepflanzt worden, auch ein "Lichter Hain" wurde konzipiert. Diskutiert wurde auch schon über ein Hirschgehege am Hauptbahnhof, über "temporäre innerstädtische Landwirtschaft" mit Anbau von Gemüse oder Weihnachtsbäumen und über einen Streichelzoo in zentraler Lage.

Auf dem Ödland soll Präriegras blühen



Stadtumbau dieser Art würde den Abschied vom bisherigen Leitbild vieler Planer bedeuten: der urbanen Dichte. Die Auflockerung der Kernstädte durch Grün- und Freizeitflächen könnte jedoch die Chance eröffnen, die Abwanderung junger Familien ins Umland zu bremsen. Denn zumeist liegt dem Zug ins Grüne weniger der Wunsch nach Eigentumserwerb zu Grunde als der Verdruss über Lärm und Enge in den städtischen Ballungsräumen.

"Nicht schwarz, sondern grün" sieht Karl Gröger, Baudezernent im sachsen-anhaltinischen Dessau, für die Zukunft der zunehmend durchlöcherten Kommunen im Osten. "Vitale Stadtinseln in einem aufgelockerten Stadtkern" sollen auch in Dessau an die Stelle der Quartiere aus DDR-Zeiten treten; Grögers Entwürfe zeigen bebaute Einsprengsel inmitten grüner Flächen.

Die Gestaltung und Erhaltung neuer Grünzonen bereitet vielen Kommunen jedoch Sorge. Während der Abriss von Gebäuden subventioniert wird, mangelt es an Geld für die Anlage und die Pflege von Parks. Überall wird daher nach Möglichkeiten gesucht, die Brachflächen kostengünstig in pflegeleichte Landschaftszüge zu verwandeln.

Den Berliner Ingenieurbiologen Norbert Kühn inspirierte der Abriss von Plattenbauten im Stadtteil Marzahn zu der Idee, das Ödland mit den robusten Gräsern und Sträuchern der nordamerikanischen Prärien zu bepflanzen. Diese Flora, sagt Kühn, gedeihe nicht nur ohne Pflege, sondern trage auch hübsche Blüten und lasse daher "gar nicht erst den Eindruck von Verwahrlosung" entstehen.

Industrieansiedlung - unwahrscheinlich wie ein Lotto-Sechser



Eine ganze Generation junger Grünplaner hat begonnen, sich der neuen Herausforderung zu stellen. Studentinnen des Instituts für Landschaftsarchitektur der TU Berlin haben der Stadt Dessau vorgeschlagen, in den neuen Grünzonen keine festen Wege zu bauen, sondern es den Anwohnern zu überlassen, Trampelpfade zu schaffen - "Anarchie statt Planung", kommentierte die "Mitteldeutsche Zeitung" die Anregung.

Beleben ließen sich die weiten Ödflächen in den Schrumpfstädten, wie schon 2004 in einer Berliner Ausstellung zum Thema "Shrinking Cities" vorgeschlagen wurde, auch auf überkommene Weise: Warum sollten nicht Kuhherden durch die aufgelockerten Städte der Zukunft ziehen dürfen? Mancherorts muss die neue Auflockerung bereits als Werbeargument herhalten: "Erfurts Lücken locken", heißt es in der thüringischen Landeshauptstadt.

Vor noch größere Herausforderungen als in den Städten sehen sich Politiker und Planer in den Schrumpfzonen des ländlichen Raums gestellt, von der Nordseeküste bis Vorpommern, vom Donauried bis zum Erzgebirge. Denn an der Peripherie des Landes schwindet von Jahr zu Jahr die Aussicht, neue Arbeitsplätze schaffen zu können. "Die Chance auf Ansiedlung eines Großbetriebes ist etwa so groß wie auf einen Sechser im Lotto", klagt Jörg Schulz, Oberbürgermeister der Stadt Bremerhaven, die alljährlich bis zu 2000 Einwohner verliert.

Norddeutsche "Pensionopolis" soll Senioren locken



Wo Arbeitsplätze aber knapp sind und immer knapper werden, können logischerweise nur drei Kategorien von Menschen angelockt werden: solche, die aufs Geldverdienen vor Ort a) nicht, b) vorübergehend nicht oder c) gar nicht mehr angewiesen sind - also Lebenskünstler und Studierende, Telearbeiter und Wochenendler, Urlaubsuchende und Altersruheständler.

Als "Florida Deutschlands" oder als "Pensionopolis" für wohlhabende Senioren preisen sich bereits jetzt strukturschwache Länder wie Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern an. Ruheständler, die aus teuren Stadtdomizilen in vergleichsweise billige Landhäuser und Resthöfe weit draußen im Grünen umziehen, hätten, so der Soziologe Günter Endruweit, oft "einige tausend Euro über", die dann in den darbenden Regionen ausgegeben werden könnten.

Das Leipzig von heute erinnert die örtliche "Volkszeitung" an ein Stück Käse: "Früher war die Stadt wie ein Gouda, dicht bebaut und besiedelt. In den letzten Jahren wurde sie zum Emmentaler, zum Schweizer Käse mit großen Löchern." Nun gehe es darum, schreibt das Blatt, "die Leerräume so zu gestalten, dass sie zu ertragen sind".

Was auf Leipzig zutrifft, gilt für den gesamten Osten und zunehmend auch für weite Landstriche und für viele Großstädte im Westen: Babymangel und Binnenwanderung haben die Republik gleichsam perforiert - und nun sehen sich Planer und Politiker allenthalben gefordert, über den Umgang mit den Vakanzen nachzudenken.

Dabei könnten die Deutschen im Westen von den Erfahrungen profitieren, die ihre Mitbürger im Osten in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten gesammelt haben. Doch die Politiker in den alten Ländern, glaubt Stefan Skora, der Baubürgermeister von Hoyerswerda, "die wissen noch gar nicht, was wirklich auf sie zukommt".

Sicher ist: Mit noch so viel Geld allein wird sich das Ausbluten von Stadt und Land nicht stoppen lassen, wie der Aufbau Ost gezeigt hat. Warum eigentlich, witzelt Volkes Stimme, haben die nagelneuen Autobahnen in den neuen Ländern sechs Spuren? Klar doch, eine geht in den Osten, fünf führen gen Westen.

"Wofür zur Hölle," flucht die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", "brauchen Städte Autobahnanschlüsse, deren Bevölkerung schon bald so alt und arm sein wird, dass sie sich vielleicht noch einen Hackenporsche für den Gang zum Lidl leisten kann, aber sicherlich kein Auto?"

Auf welche Städte kann Deutschland verzichten?



Und wozu eigentlich sind neue Gewerbezonen nötig in Gegenden, in denen die einst von Helmut Kohl versprochenen "blühenden Landschaften" nur als vielfältige Trümmer- und Schuttvegetation "auf schon Jahre brachliegenden Gewerbeflächen" existieren, wie die Regionalforscher Thilo Lang und Sascha Vogler aus dem brandenburgischen Erkner spotten?

Ein anderes Beispiel nennt der Aufbau-Ost-Experte und frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi: "Da haben Sie wunderbare elektronische Anzeiger, die angeben, wann die nächste Straßenbahn fährt, aber nur wenige Leute, die einsteigen." Groß sei die Gefahr, "dass die ganze schöne Infrastruktur wieder zerfällt, weil sie keiner bezahlen kann".

Dann aber stünde mehr zur Debatte als nur der Rückbau einzelner Viertel. "Alles läuft auf die Frage zu: Auf welche Stadt kann man verzichten, auf welche nicht?, kommentiert die Hamburger "Zeit": "Wer kann sich in Zukunft Altenburg, Torgau, Sangerhausen noch leisten?"

Mehr noch als an immer neuen Milliarden, so scheint es, mangelt es an intelligenten Plänen für den Umgang mit den Folgen der Schrumpfungsprozesse. Gesucht wird eine Zukunftsvision zum Beispiel für das gewaltige entindustrialisierte Areal zwischen Rügen und Rhön, wo nach den Prognosen des Berliner Instituts für Weltbevölkerung und globale Entwicklung bereits "die neuen heimlichen Naturparks" entstehen.

Werden sich dort eines Tages nur noch Fuchs und Hase gute Nacht sagen, zur Freude von ein paar Naturtouristen? Werden Windfarmer und Ökobauern das Land bewirtschaften oder werden Alternativos die verlassenen Halbruinen übernehmen, wenn der letzte Einheimische das Licht ausgeknipst hat?

Gefragt sind zugleich aber auch Konzepte für den Umgang mit den Hunderttausenden von verlassenen städtischen Gebäuden, in denen allein im Osten so viele Menschen Unterkunft finden könnten, wie Rostock, Magdeburg, Halle, Leipzig, Dresden, Chemnitz und Erfurt insgesamt (noch) Einwohner haben.

Der "Plattmacher" versteht sich als "Plattenspieler"



In den neuen Ländern scheint der Umgang mit dem Häuser-Leerstand vergleichsweise einfach. Um Abriss und Auflockerung überzähliger Großsiedlungen zu forcieren, hat der Bund in einem bis 2009 laufenden Sonderprogramm "Stadtumbau Ost" 2,7 Milliarden Euro bereitgestellt. Die Beseitigung leerstehender Bauten wird mit 60 Euro pro Quadratmeter gefördert.

Nur vereinzelt melden sich Abrisskritiker zu Wort, die wie der Berliner Architekt Ulrich Peickert die alten Plattenbauten "zum Wegwerfen zu schade" finden. Bei einem Symposium präsentierte Peickert die Idee, ein weitgehend verlassenes Viertel in Stendal-Süd in eine 120.000 Quadratmeter große Solaranlage umzuwandeln, mit Sonnenkollektoren auf allen Dächern und an den Fassaden. Im Innern der angegammelten Gebäude sollten Pilze für medizinische Zwecke gezüchtet werden.

Einen Teil der Plattensubstanz will auch Jürgen Polzehl nutzen, Chef-Planer in Schwedt an der Oder, einer Stadt, die alljährlich rund 1000 Einwohner verliert. Der Stadtentwicklungsdezernent, von der Presse bisweilen als "Plattmacher" tituliert, sieht sich selbst eher als "Plattenspieler": Er lässt wie etliche seiner Kollegen in anderen Städten die oberen Etagen von Plattenbauten kappen und die einst monotonen Wohnblocks zu kleinen Stadtvillen zurechtstutzen.

Bauschild-Aufschrift: "Hier entsteht eine Wiese"



Auf die teilweise Umwandlung von Platte in "Edelplatte" (Volksmund) mit bunten Balkonen im Toskana-Stil und mit großzügig zusammengelegten Wohnungen setzt auch die einstige sozialistische Musterstadt Hoyerswerda. Seit das dortige Industriekombinat "Schwarze Pumpe" dichtgemacht hat, ist die Einwohnerzahl von 70.000 auf rund 40.000 gesunken; bis 2020 erwartet die Stadt einen weiteren Rückgang auf 30.000 Einwohner.

Wegen der massiven Abwanderung müssen auch dort ganze Blocks abgerissen werden. Andernfalls, bei allzu viel Umbau zur "Edelplatte", würden die Wohnungsgesellschaften riskieren, dass bald auch ein Teil der aufwendig hergerichteten Bauten leer steht.

Kommunalpolitiker, die nach der künftigen Nutzung abbruchreifer Plattenbau-Viertel gefragt werden, antworten daher immer öfter wie Baubürgermeister Skora in Hoyerswerda: "Leute, da kommt nichts mehr hin." Eine Künstlergruppe, die in seiner Stadt den Abriss begleitet, hat schon Bauschilder aufgestellt mit dem Hinweis: "Hier entsteht eine Wiese."

"Ganze Stadtteile müssen weg"



Städtebaulich wie finanzpolitisch ist es gleichermaßen sinnvoll, die Überbleibsel der sozialistischen Massenmenschhaltung, die einst sogenannten Arbeiterschließfächer, an der Peripherie der Orte dem Erdboden gleich zu machen. Denn nur eine "konzentrische Schrumpfung" der Kommunen, von außen nach innen, führt zu einem kompakten, ökonomischen Verkehrs- und Versorgungssystem.

Rückbau-Experten wie der Thüringer Andreas Jäger fordern daher: "Ganze Stadtteile müssen weg, samt Straßen und Leitungen, sonst ist die Infrastruktur überdimensioniert und überteuert - zu Lasten der Bewohner."

Sehr viel schwieriger als der Abriss an den Stadträndern ist der Umgang mit verwahrlosten Vierteln in den Zentren - wie in Leipzig, wo die DDR einst die Altbauten so sehr vernachlässigt hatte, dass das Volk spottete, die SED wolle "Ruinen schaffen ohne Waffen". Wo binnen anderthalb Jahrzehnten rund 80.000 Einwohner die Koffer gepackt haben, standen bald Tausende teils einsturzgefährdeter Altbauten leer.

Planer stehen vor Aufgaben wie nach dem Bombenkrieg



Die Gründerzeithäuser einzumotten und auf bessere Zeiten zu warten, ist kaum möglich. "So eine Immobilie ist nichts wert", sagt Stefan Weber von der sächsischen Aufbaubank. "Um sie über mieterarme Jahre zu retten, gibt's von der Bank kein Geld." Eine Renovierung ohne hinreichende Nachfrage wäre ruinös, Nichtstun wiederum verbietet sich schon aus Sicherheitsgründen.

Folglich sind auch in den Zentren vielerorts Abriss- und Aufwertungsaktionen notwendig - was die Planer vor Aufgaben stellt, mit denen sie zuletzt in der "Stunde null" konfrontiert waren: nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs.

Der Berliner Regionalsoziologe Hartmut Häußermann glaubt sogar, dass vergleichbare Probleme überhaupt noch nie zu bewältigen waren: "Für eine Stadtentwicklung ohne ökonomisches Wachstum bei zurückgehender Einwohnerzahl zu planen ist, historisch ohne Vorbild."

Erschwert wird der Umbau der Innenstädte durch die dort oft komplizierten Besitzverhältnisse und durch mangelnde Kooperationsbereitschaft der teilweise ortsfernen Grundeigner. Viele wollen, wie Häußermann sagt, "den Wertverfall ihrer Immobilien nicht wahrhaben und halten an illusionären Preisvorstellungen fest".

In der City Gemüsegärten und ein Streichelzoo



Vielleicht auch deshalb stürzen sich Planer mancherorts lieber mit Verve auf die Flächenabrisse am Stadtrand. Dabei werden sie regelmäßig von den großen Wohnungsgesellschaften unterstützt, die schon deshalb auf "Marktbereinigung" drängen, weil der Leerstand aufs Mietniveau drückt.

So ist es in dem vom Bund und Ländern großzügig geförderten "Stadtumbau Ost" zu einer merkwürdigen Schieflage gekommen: Während am Stadtrand der Plattenbau-Abriss vorankommt, hat die nicht minder wichtige Sanierung in der Nähe der Zentren vieler Städte "bisher fast gar nicht stattgefunden", wie der Hallenser Wirtschaftsforscher Peter Franz monierte; gerade in zentraler Lage aber würden neue Stadthäuser "mehr Impulse bringen als der bisherige Regelfall der Umwandlung ehemaliger Plattenbaustandorte in Grünflächen".

Die Emmentaler-Stadt Leipzig soll zur Parkstadt werden. Die Wohnbrache im Stadtkern bietet jede Menge Platz für Grünareale. Ein "Dunkler Wald" aus Ahorn und Esche ist bereits für 600.000 Euro angepflanzt worden, auch ein "Lichter Hain" wurde konzipiert. Diskutiert wurde auch schon über ein Hirschgehege am Hauptbahnhof, über "temporäre innerstädtische Landwirtschaft" mit Anbau von Gemüse oder Weihnachtsbäumen und über einen Streichelzoo in zentraler Lage.

Auf dem Ödland soll Präriegras blühen



Stadtumbau dieser Art würde den Abschied vom bisherigen Leitbild vieler Planer bedeuten: der urbanen Dichte. Die Auflockerung der Kernstädte durch Grün- und Freizeitflächen könnte jedoch die Chance eröffnen, die Abwanderung junger Familien ins Umland zu bremsen. Denn zumeist liegt dem Zug ins Grüne weniger der Wunsch nach Eigentumserwerb zu Grunde als der Verdruss über Lärm und Enge in den städtischen Ballungsräumen.

"Nicht schwarz, sondern grün" sieht Karl Gröger, Baudezernent im sachsen-anhaltinischen Dessau, für die Zukunft der zunehmend durchlöcherten Kommunen im Osten. "Vitale Stadtinseln in einem aufgelockerten Stadtkern" sollen auch in Dessau an die Stelle der Quartiere aus DDR-Zeiten treten; Grögers Entwürfe zeigen bebaute Einsprengsel inmitten grüner Flächen.

Die Gestaltung und Erhaltung neuer Grünzonen bereitet vielen Kommunen jedoch Sorge. Während der Abriss von Gebäuden subventioniert wird, mangelt es an Geld für die Anlage und die Pflege von Parks. Überall wird daher nach Möglichkeiten gesucht, die Brachflächen kostengünstig in pflegeleichte Landschaftszüge zu verwandeln.

Den Berliner Ingenieurbiologen Norbert Kühn inspirierte der Abriss von Plattenbauten im Stadtteil Marzahn zu der Idee, das Ödland mit den robusten Gräsern und Sträuchern der nordamerikanischen Prärien zu bepflanzen. Diese Flora, sagt Kühn, gedeihe nicht nur ohne Pflege, sondern trage auch hübsche Blüten und lasse daher "gar nicht erst den Eindruck von Verwahrlosung" entstehen.

Industrieansiedlung - unwahrscheinlich wie ein Lotto-Sechser



Eine ganze Generation junger Grünplaner hat begonnen, sich der neuen Herausforderung zu stellen. Studentinnen des Instituts für Landschaftsarchitektur der TU Berlin haben der Stadt Dessau vorgeschlagen, in den neuen Grünzonen keine festen Wege zu bauen, sondern es den Anwohnern zu überlassen, Trampelpfade zu schaffen - "Anarchie statt Planung", kommentierte die "Mitteldeutsche Zeitung" die Anregung.

Beleben ließen sich die weiten Ödflächen in den Schrumpfstädten, wie schon 2004 in einer Berliner Ausstellung zum Thema "Shrinking Cities" vorgeschlagen wurde, auch auf überkommene Weise: Warum sollten nicht Kuhherden durch die aufgelockerten Städte der Zukunft ziehen dürfen? Mancherorts muss die neue Auflockerung bereits als Werbeargument herhalten: "Erfurts Lücken locken", heißt es in der thüringischen Landeshauptstadt.

Vor noch größere Herausforderungen als in den Städten sehen sich Politiker und Planer in den Schrumpfzonen des ländlichen Raums gestellt, von der Nordseeküste bis Vorpommern, vom Donauried bis zum Erzgebirge. Denn an der Peripherie des Landes schwindet von Jahr zu Jahr die Aussicht, neue Arbeitsplätze schaffen zu können. "Die Chance auf Ansiedlung eines Großbetriebes ist etwa so groß wie auf einen Sechser im Lotto", klagt Jörg Schulz, Oberbürgermeister der Stadt Bremerhaven, die alljährlich bis zu 2000 Einwohner verliert.

Norddeutsche "Pensionopolis" soll Senioren locken



Wo Arbeitsplätze aber knapp sind und immer knapper werden, können logischerweise nur drei Kategorien von Menschen angelockt werden: solche, die aufs Geldverdienen vor Ort a) nicht, b) vorübergehend nicht oder c) gar nicht mehr angewiesen sind - also Lebenskünstler und Studierende, Telearbeiter und Wochenendler, Urlaubsuchende und Altersruheständler.

Als "Florida Deutschlands" oder als "Pensionopolis" für wohlhabende Senioren preisen sich bereits jetzt strukturschwache Länder wie Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern an. Ruheständler, die aus teuren Stadtdomizilen in vergleichsweise billige Landhäuser und Resthöfe weit draußen im Grünen umziehen, hätten, so der Soziologe Günter Endruweit, oft "einige tausend Euro über", die dann in den darbenden Regionen ausgegeben werden könnten.

Nicht selten bereichern die Neulinge auch das Dorfleben. Viele Rentner "knüpfen dort neue soziale Kontakte" und belebten mit ehrenamtlicher Arbeit die von der Abwanderung geschwächten ländlichen Vereine, berichtet der Kieler Landesseniorenrat.

"Glasfaserkabel wirken wie früher der elektrische Strom"



Aber auch stadtmüde Jüngere folgen dem Lockruf der Leere. "Raumpioniere" nennt sie Ulf Matthiesen vom Institut für Regionalentwicklung in Erkner bei Berlin. Zu dieser Kategorie zählt er Künstler, die in leerstehenden Scheunen großzügige Ateliers finden, fleißige Ästheten, die mit selbstgeschnitzten Holznägeln liebevoll altes Fachwerk restaurieren, sowie Programmierer und andere Telewerker, die an ihrem PC überall arbeiten können - sofern es dort einen schnellen Telefonanschluss gibt.

Ein fixer Zugang zur Datenautobahn ist daher für die Dörfler der Zukunft zumindest ebenso wichtig wie eine gut erreichbare Bundesautobahn. Mit DSL-Anschlüssen jedoch ist der ländliche Raum unterversorgt, und auch die Zukunftstechnik ADSL2+ wird vielerorts kaum verfügbar sein. Bislang vergebens fordern Fachleute wie Peter Hauk, baden-württembergischer Minister für den ländlichen Raum, das Kommunikationsgefälle zwischen Stadt und Land baldmöglichst abzubauen, um die Fläche vor weiterem Niedergang zu bewahren: "DSL oder noch besser Glasfaser wird auf dem Land wirken wie früher der elektrische Strom."

Wenn es auch an Glasfaserkabeln fehlt, an ungenutzten Gebäuden herrscht zur Freude der neuen Landleute kein Mangel. Weil das Förderprogramm "Stadtumbau" außerhalb der Städte nicht greift und den Gemeinden das Geld zum Abriss fehlt, wäre manches alte Haus dem Verfall preisgegeben, wenn es nicht Stadtflüchter übernehmen würden, die den "Luxus der Leere" erleben wollen - so der Titel eines Buches, in dem der Architekturkritiker Wolfgang Kil die "vom Industriezeitalter entlassenen Ländereien als Paradiese für Gärtner und Bastler, für Denker und Träumer und Forscher und Genießer" preist.

Ein-Euro-Immobilien für Familien mit Kindern



"Viel Sympathie" für solche Perspektiven hat Wolfgang Wieland von den Berliner Grünen. Doch er weiß auch, dass solche Lebensmodelle keine Alternative für Jedermann darstellen. Einem arbeitslosen Eisenhüttenstädter Malocher zum Beispiel könne er schlecht vorschlagen: "Werde Lebenskünstler und Spinner."

Regionalforscher haben bereits Modelle entwickelt, wie der ländliche "Entleerungsprozess" zur "Initiierung einer progressiven Populationsdynamik" genutzt werden kann. Hinter dem Fachkauderwelsch verbirgt sich der revolutionär anmutende Vorschlag, der Staat solle zum Symbolpreis von einem Euro unverkäufliche Immobilien auf dem Lande übernehmen und Familien mit Kindern überlassen; die Schenkung könne dann nach einer zehnjährigen Bindungsfrist rechtskräftig werden.

Von solchen Ein-Euro-Immobilien, hieß es auf einer Fachkonferenz der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, seien nicht nur "raumstabilisierende Impulse zur Wiederbelebung demografischer Schrumpfungsgebiete" zu erwarten. Sie könnten in der babyarmen Bundesrepublik auch als "Instrument der Familienförderung" genutzt werden.

Zu Unrecht vernachlässigt wird nach Ansicht von Experten deutschlandweit auch die Chance, Abwanderungszonen zu Ferienzielen aufzuwerten. Drei von zehn deutschen Urlaubern suchten "vor allem ländliche Idylle und Einsamkeit", fänden geeignete Ferienhäuser bislang jedoch überwiegend in Dänemark, hat die Potsdamer Wirtschaftsgeografin Ines Carstensen herausgefunden.

Dabei stünden überall in der deutschen Provinz genügend Höfe oder Scheunen leer, "die nur zu Ferienhäusern umgestaltet werden müssten". Allein in der dünnbesiedelten Uckermark hat Carstensen mehr als 200 für Ferienzwecke geeignete Schlösser, Herren- und Gutshäuser gezählt.

Wird Ostdeutschland zur "Toskana für Polen"?



Wertvolle Chancen zur Bewahrung gewachsener Kulturlandschaften würden vertan, mahnt die Wissenschaftlerin, wenn die Touristiker die Ferienhausgäste weiterhin als unattraktive Kundschaft verkennen. Tatsächlich zeigt jeder Blick in Gästebücher ländlicher Ferienwohnungen und -häuser, was Städtern am Urlaub abseits der Ballungsgebiete gefällt. Typisches Urteil einer Familie aus dem Ruhrgebiet nach einem Urlaub an der idyllischen Oste im halbvergessenen Elbe-Weser-Dreieck: "Hömma! Iss datt ruhich hier... Kumma! Watt datt hier schön iss... Samma! Hasse schon die Äppels probiert? Hamma uns hier pudelwohl gefühlt!"

Auch in den neuen Ländern bieten die Branchen Tourismus, Wellness und Ernährung Arbeitschancen für Hunderttausende. Von einer "Ankopplung an den Megatrend Gesundheit" schwärmt der Schweriner Arbeitsminister Helmut Holter. "Warum sollte Mecklenburg-Vorpommern", fragt der PDS-Politiker, "nicht zum Gesundheitsland werden?" Die "Welt" wiederum sieht in Ostdeutschland schon eine mögliche "Toskana der Polen".

An landschaftlich reizvollen Regionen mangelt es kaum irgendwo im Osten- und ihre Zahl wird zunehmen. In der Niederlausitz etwa, zwischen Berlin und Dresden, soll bis 2018 in den Kratern der ehemaligen Braunkohle-Tagebauten die größte künstliche Seenlandschaft Europas entstehen, ein Paradies für Segler und Surfer. Und vielerorts sind neue Gesundheitsdörfer, Spaßbäder und Ferienrouten entstanden.

"Nicht im Baströckchen vor Fremden tanzen"



Noch allerdings erweisen sich touristisch nutzbare Zonen gerade im Osten häufig als Servicewüste. Oft herrschen Aversionen gegen Wessi-Touristen. Die dickschädeligen Einheimischen, karikiert ein Bürgermeister von der Ostseeküste deren Denkungsart, wollten "nicht im Baströckchen vor den Fremden tanzen"; lieber richte sich mancher mit der Sozialhilfe ein.

Auch die Gastronomie sei vielfach noch "schlicht verheerend", rügt Regionalforscher Matthiesen. Statt die in der DDR-Ära verschüttete traditionelle regionale Esskultur wiederzuentdecken oder attraktive neue Angebote zu entwickeln (Matthiesen-Beispiel: "ungespritzter und mit Buchenholz geräucherter märkischer Schinken zu Beelitzer Spargel"), fertige die Gastronomie beispielsweise in Brandenburg die Besucher oft noch immer ab wie zu DDR-Zeiten - typisches Gericht: Schnitzel mit Sättigungsbeilagen. Wünsche nach pfiffiger, leichterer Kost würden von vielen Wirten abgetan als "Übersteigerung überheblicher Wessis", kritisiert der Professor in einem Papier mit dem Titel "Kost the Ost".

Studenten schwärmen von billigen Buden im Osten



Solange der Tourismus nicht wirklich in Schwung kommt, ist nach Ansicht des Bielefelder Bevölkerungswissenschaftlers Birg der Ausbau des Bildungssektors der beste Weg, die Entvölkerung des Ostens aufzuhalten. Top-Schulen, Top-Universitäten, Top-Forschungsinstitute - darin sieht Birg wie viele andere Fachleute die Schlüssel zu einer besseren Zukunft für die Sorgenländer.

"Investitionen in die Wissenschaft sind die einzige Chance, den Osten wirtschaftlich auf die Beine zu bekommen", glaubt auch Karl Max Einhäupl, langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftsrates. Bislang hat der Staat auf diesem Sektor seine Steuerungsmöglichkeiten gut genutzt; 18 der 80 Max-Planck-Institute etwa sind in den neuen Länder gegründet worden.

Und auch viele Hochschulen ziehen dort junge, aktive Menschen an. In Ost-Städten wie Ilmenau (7500 Studierende bei 27.000 Einwohnern) hat sich das Bildungswesen schon als Mittel gegen Bevölkerungsschwund bewährt. In Cottbus kommt bereits nahezu jeder dritte Studierende aus dem Ausland. Vor allem junge Osteuropäer schwärmen von der Qualität der Lehre und den - dank Abwanderung - niedrigen Mieten in den Universitätsstädten zwischen Elbe und Oder. Die Pförtnerfunktion dieser Hochschulen biete Deutschland die Chance, so Einhäupl, "die besten Nachwuchsforscher Osteuropas zu gewinnen".

Energiewirte sollen Weizen zum Heizen anbauen



Dagegen raten Fachleute davon ab, in der Provinz auf Verdacht immer neue Gewerbeparks zu schaffen, bevor die bestehenden ausgelastet sind. Denn dem Versuch, "im ländlichen Raum Gewerbebetriebe oder Dienstleistungen anzusiedeln, die weder einen Absatzmarkt, ihren Arbeitskräftepool noch ihre Rohstoffquellen in ihrer Umgebung haben", seien "kaum Erfolgsausichten" beschieden, glaubt etwa die Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm, Grünen-Sprecherin für Fragen des ländlichen Raums.

Ähnlich wie auch viele lodengrüne Agrarfachleute will Behm Landwirte dazu ermutigen, "Energiewirte" zu werden, die nachwachsende Rohstoffe produzieren, beispielsweise Weizen zum Heizen oder Biogas zur Stromerzeugung. Nebenher könne auch die Landwirtschaft vom "Wirtschaftsfaktor Tourismus" profitieren, dessen Förderung im übrigen dem gesamten Landvolk zugute komme: Jede Investition in "weiche Standortfaktoren" wie Bildung und Kultur oder die Sanierung von Denkmälern wie alten Kirchen und Gärten, Schlössern und Herrenhäusern schaffe "Attraktivität für Bewohner und Gäste" und bremse daher die Abwanderung.

In detaillierten "Behmerkungen" zur Lage empfiehlt Behm Skandinavien als Vorbild für Deutschlands schrumpfenden Regionen. Denn die nordischen Länder demonstrierten, dass "auch dünn besiedelte ländliche Räume intakt sein können" und "eine hohe Lebensqualität bieten". Dort sei eine bedarfsgerechte Infrastruktur entwickelt worden, die ländlichen und urbanen Räumen zwar nicht gleiche, aber gleichwertige Lebensqualität sichere.

Wo der Mensch geht, kommt der Wolf



Sollte die deutsche Politik hingegen fortfahren, die Problemzonen sich selbst zu überlassen, wäre wohl nur ein einziges positives Resultat zu erwarten: In die von Menschen verlassenen Zonen könnten verdrängte Wildtiere zurückkehren - vorneweg die Wölfe.

Schon in den letzten Jahren haben sich Dutzende Exemplare des menschenscheuen Räubers beispielsweise nach Sachsen gewagt, wo mittlerweile, zur Freude des vormaligen Umweltministers Jürgen Trittin, "die Koexistenz von Wolf und Mensch bereits Normalität" ist. Und bald schon erwarten Naturschützer weitere "erfreuliche Zeichen dafür, dass wir in unserem Land über intakte Naturräume verfügen". Trittin: "Auch in Brandenburg gibt es gute Chancen, dass sich Wölfe wieder ansiedeln."

Auf noch mehr Zuwanderer hofft Hartmut Vogtmann, der Präsident des Bundesamtes für Naturschutz: "Auch Elch und Bär stehen vor der Tür."

Diät für den Speckgürtel




Jahrzehntelang haben hoch subventionierte Eigenheim-Gürtel rings um die Metropolen zur Verödung der Stadtkerne beigetragen. Benzinpreiserhöhungen und der Stopp der Eigenheimförderung haben jetzt eine Trendwende eingeleitet.



Wenn Stadt- und Regionalplaner zu Kongressen und Symposien zusammenkommen, wird in jüngster Zeit öfter mal ein düsteres Wort von Bert Brecht bemüht: "Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind."

Bisweilen macht auch eine nicht minder pessimistische Prognose des langjährigen niederländischen EU-Kommissars Frits Bolkestein die Runde: "Aus unseren Städten, die einmal für ihren Wohlstand berühmt waren, werden Zonen der Armut werden."

Ungläubiges Kopfschütteln erzeugen solche Unkenrufe bei Menschen, die nur die glitzernden Wirtschaftszentren wie München und Hamburg oder die neuerdings aufblühenden Regionen um Dresden oder Jena kennen.
Weniger verständnislos reagiert, wer die sterbenden Städte in den toten Winkeln Ostdeutschlands kennt - und auch jene westdeutschen Kommunen an Ruhr, Saar und Küste, in denen der Niedergang der klassischen Montan- und Werftindustrie Arbeitslosigkeit und Abwanderung hinterlassen hat.

Auch im bärenstarken Bayern geht's bergab



"Schrumpfende und wachsende Siedlungen heben sich immer kontrastreicher voneinander ab", konstatiert die deutsche Demographie-Koryphäe Herwig Birg: "Verödende Ortskerne in Dörfern und Kleinstädten und Ghettobildungen in Großstädten, Rückbau, Abriss und Wohnungsleerstände auf der einen Seite wechseln sich mit prosperierenden Siedlungen und Regionen ab."

Allerdings dürften sich angesichts der kümmerlichen Geburtenraten auch die Wirtschaftszentren nicht in Sicherheit wiegen. Denn, so der Professor: "Niemand kann heute sagen, ob die Wachstumspole in zwanzig oder dreißig Jahren immer noch auf Kosten der Abwanderungsgebiete profitieren können oder ob die Schrumpfung schließlich auch noch die blühenden Regionen einholen und das ganze Land mit einer lähmenden Tristesse überziehen wird."

Auch im ökonomisch bärenstarken Bayern schwächeln die Städte am Rande des Landes. "Nur noch die Metropolen entwickeln sich", klagt Dieter Döhla, Oberbürgermeister von Hof an der einstigen Zonengrenze. Neidisch blickt er auf die Landeshauptstadt: "In München kocht der Kessel über."

Für Bayern verweist der dortige Städtetag auf finstere Aussichten: "Die Städte verändern ihr Gesicht, wenn kein Kinderlachen mehr auf der Straße zu hören ist, die Spielplätze veröden und in den Schulen die Bänke leer bleiben." Nach einem Bevölkerungsanstieg von 12,4 auf 13 Millionen Einwohnern im Jahre 2020 wird es nach Regierungsstudien bis 2050 auch im Freistaat bergab gehen - auf 11,5 Millionen Menschen.

Wer dem Wähler als erster die Wahrheit sagt...



Dann wird auch die Bayern jener Trend erreicht haben, der in Ostdeutschland ganze Stadtviertel entleert und im Westen etwa das Ruhrgebiet voll erfasst hat. "Die Region Rhein-Ruhr," urteilt der Dortmunder Regionalforscher Hans Heinrich Blotevogel, "ist der Vorreiter für das Demographie-Problem im alten Bundesgebiet."

Nicht viel besser ist es um deindustrialisierte Zonen wie das Saarland oder Teile Niedersachsens bestellt. "Wir reißen in Hannover, Bremen und Braunschweig schon jetzt Wohnungen ab", sagt Wilhelm Gehrke, Geschäftsführer der Norddeutschen Immobiliengesellschaft. In der alten Stahlstadt Salzgitter steht bereits jede siebte Wohnung leer.

Dennoch stecken, wie auch die Deutsche Bank beklagt, viele West-Politiker angesichts der Entwicklung weiterhin "den Kopf in den Sand". SPD-Chef Matthias Platzeck erklärt die Verdrängung des Demographie-Dilemmas durch seine Kollegen mit der Erfahrung, Politiker befassten sich nun einmal "am liebsten mit Problemen, für die sie schnelle Lösungen haben", um dann ein bitteres Bonmot zu zitieren: "Wer dem Wähler als erster die Wahrheit sagt, hat verloren."

In vielen Rathäusern herrsche in Sachen Schrumpfung oftmals "Ahnungslosigkeit", urteilt auch der Bundesverband für Wohneigentum und Stadtentwicklung. Manchmal werde noch verlegen von "negativer Dynamik" gesprochen, wenn Schrumpfung gemeint ist.

"Nur noch A-Gruppen: Ausländer, Alte, Asoziale"



Dabei sei, verlautbart der Verband, spätestens 2015 auch "in Westdeutschland mit strukturellen Leerständen in einer Dimension zu rechnen, die denen ostdeutscher Regionen nahe kommt". Schon jetzt, heißt es in einem Verbandsbericht zum Thema "Stadtumbau Ost/West", seien im Ruhrgebiet bis zu 13 Prozent des Wohnraums ungenutzt. In Herne, das binnen zehn Jahren voraussichtlich rund 12.000 Einwohner verlieren wird, müssten nach einer Studie der Uni Bochum jährlich bis zu 270 Wohnungen abgerissen werden, wenn der Markt stabil gehalten werden soll.

Doch Rückbaupolitik ist im Westen mit seinem zersplitterten Grundbesitz schwieriger zu praktizieren als im Osten. Für den "Stadtumbau West" hatte der Bund in den letzten Jahren gerade mal 15 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, zumeist für Forschungszwecke.

Und während im Osten wegen des massenhaften Fortzugs zumeist unmittelbar auf den Leerstand die Verödung folgt, geht das Sterben von Stadtvierteln im Westen mit einem quälenden Prozess einher - Verarmung, Vergreisung, Ghettobildung.

Beispielhaft, so die Verbandsstudie, lasse sich die "negative Selektion" im Zuge des Schrumpfungsprozesses in Duisburg beobachten, dessen Einwohnerzahl binnen 30 Jahren von 650.000 auf 500.000 gesunken ist und wo bis 2016 mit einer weiteren Abnahme auf 450.000 gerechnet wird. In dem Papier heißt es, politisch nicht gerade korrekt, im schrumpelnden Kern der Stadt blieben "nur noch die A-Gruppen: Ausländer, Alte, Asoziale".

Bundesdeutsche, Besserverdiener, Bildungsbürger zieht es unterdessen in ausgewählte, aufgeschickte Stadtteile, wenn nicht hinaus in den Speckgürtel des Umlands. Auch die Bertelsmann-Stiftung, die jüngst ein umfassendes Datenwerk über die Siedlungstrends der kommenden Jahrzehnte vorgestellt hat, bestätigt den zunehmenden Trend zur sozialen Polarisierung. Andere Forscher sprechen von einer Entwicklung zur "Dual City" nach US-Muster, mit scharfer Trennung zwischen "angesagten Vierteln" und "gefährlichen Orten", und erwarten, so der Soziologe Ulrich Beck, eine "Brasilianisierung" der Stadtgesellschaften, in denen eine arme Dienerklasse einer reichen Dienstherrenschicht gegenübersteht.

Kabarettisten-Spott über Speckgürtel mit Aztekenöfen



Beschleunigt worden ist die wachsende räumliche Segregation durch Politiker, die jahrzehntelang die Abwanderung auf die grünen Wiesen rund um die Städte gefördert haben - bis diese Entwicklung in jüngster Zeit zunehmend als fataler Fehler begriffen worden ist.

Während viele Stadtzentren verödeten, setzten sich Millionen vor allem junger Familien in jene Umlandregionen ab, die Planer als Suburbia oder Exurbia bezeichnen - die einzige Siedlungsform, die allerorten stetig wuchs. Während Babyschwund und Binnenwanderung viele Kernstädte ebenso entvölkern wie die Dörfer in der Peripherie, wucherten so die Speckgürtel im Stadtumland, die in den USA "doughnut cities" heißen, nach dem Backwerk mit dem Loch in der Mitte.

Zwar machten sich Kabarettisten wie der rheinische Satiriker Achim Konejung immer wieder lustig über die "Klinkerwüsten im Wüstenrot-Stil", die "Doppelhaushälften mit Azteken-Ofen im Sieben-Quadratmeter-Garten" oder die Vorliebe für "Carports, damit der Nachbar auch ja das neue Auto sieht und sich gelb vor Neid in den Hintern beißt". Und doch ist es noch immer der Traum von 80 Prozent aller Deutschen: das Häuschen außerhalb der Stadt, aber noch in Pendelnähe, irgendwo in der Halbidylle zwischen Kuhweiden und Möbelmärkten.
Vor allem junge Familien mit Kindern besiedelten dort frühere Kartoffeläcker mit Häusern im Walmdach-Einheitsstil, oft montiert aus Modulen und verziert mit Applikationen aus dem Baumarkt. So entstanden (und entstehen noch immer) überall im Dunstkreis der Städte jene uniformen Ortsteile aus der Retorte, die von den Alteingesessenen leise bespöttelt werden als "Zuchtburgen", "Schuldnersiedlungen" und "Hypothekenviertel".

Der Nachbar wohnt in Niesweite



Zwar mangelt es den adretten Neubaugebieten, in denen der Nachbar oft in Niesweite wohnt, am rustikalen Reetdach-Charme der Bauerndörfer ebenso wie an der prickelnden Urbanität städtischer Gründerzeitviertel. Und doch: Schon um die Jahrtausendwende wohnten, so das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, "mehr Menschen im Umland der Kernstädte als in den Kernstädten selbst".

Planer und Politiker in den ausblutenden Großstädten wie auch in den vergessenen Landgemeinden noch weiter draußen verfolgten den massenhaften Umzug ins Umland stets voller Missmut. Denn die Milliardensummen, die in den Speckgürteln für immer neue Straßen und Schulen, Strom-, Gas-, Wasser- und Abwassernetze investiert werden müssen, fehlen anderswo, um die von Abwanderung betroffenen Stadtviertel und Dörfer so umzugestalten, dass die dort noch vorhandene Infrastruktur, vom Kindergarten bis zum Altenheim, vom Busnetz bis zum Schwimmbad, halbwegs ausgelastet werden kann.

So leistet sich Deutschland einen gigantischen Schildbürgerstreich. Während es in den Schrumpfstädten wie in den Schrumpfdörfern an Geld und Lust mangelte, die teils wertvolle Bausubstanz zu erhalten und ungenutzten Wohnraum aufzuwerten, wurden Bauwut und Landfraß in den Speckgürteln hoch subventioniert. Allein die Eigenheimzulage, die zum Jahresbeginn abgeschafft wurde, hat sich der Staat jährlich rund 10 Milliarden Euro kosten lassen, während Instandhaltung und Renovierung in der Regel nicht subventioniert wurden.

Kinder profitieren 10 Jahre vom Haus im Grünen



Viele Investitionen in Krippen und Kindergärten, Grundschulen oder Gymnasien der Umlandgemeinden aber werden binnen einer Generation entwertet sein. Denn wo heute noch junge Familien mit Kinderwagen dominieren, leben dann überwiegend gleichaltrige Grauschöpfe, die nach Alten- und Pflegeheimen verlangen, während sich der Nachwuchs davon gemacht hat.

Kinder würden "höchstens zehn Jahre lang", vom zweiten bis zum zwölften Lebensjahr, vom Häuschen im Grünen profitieren, heißt es in einer Studie des Naturschutzbundes Deutschland: "Später erweitert sich der Aktionsradius, draußen zu spielen wird uninteressant, die Erreichbarkeit anderer Freizeitangebote zunehmend wichtiger."

Kenner wie der Kölner Frank Kirsch, Fachmann für Immobilienmarketing, warnen davor, in irgendwelchen Suburb-Häuschen eine wertbeständige Geldanlage zu sehen: "Die Zeiten, in denen Bauträgern das Nullachtfünfzehn-Reihenhaus irgendwo am Stadtrand aus der Hand gerissen wurde, sind vorbei und werden ziemlich sicher nicht wieder kommen." Der Nürnberger Immobilien-Sachverständige Matthias Kirchner hat ebenfalls eine Trendwende wahrgenommen: "Zuerst kam die Landflucht, dann kam die Stadtflucht und jetzt kommt wieder die Landflucht."

Tatsächlich mehren sich nach Jahren der massenhaften Absetzbewegung in die Speckgürtel zunehmend Anzeichen für eine gegenläufige Entwicklung, jüngst noch verstärkt durch den Abbau der Eigenheimförderung wie auch durch sinkende Einkommen, steigende Benzinpreise und erfolgreiche Bemühungen von Städten, ihre Kerne zu revitalisieren. "Die Leute ziehen nach einer Familiengründung nicht mehr reflexartig aus der Stadt," bestätigt Hasso Brühl vom Deutschen Institut für Urbanistik in Berlin.

"Wir kämpfen auch in 1A-Lagen mit Leerständen"



So stehen die Chancen nicht schlecht, nach Jahren verfehlter Siedlungspolitik das Steuer herumzuwerfen. "Bei einem Bevölkerungsrückgang und einhergehender Überalterung dürfen wir eigentlich überhaupt nicht mehr auf der grünen Wiese bauen", fordert der international renommierte Architekt Albert Speer: "Wir haben genügend Fläche in den Städten."

Die hätten eine Offensive zur Revitalisierung vorhandener Substanz bitter nötig. Nordrhein-westfälische Kommunen, schlägt der Grünen-Politiker und Ex-Städtebauminister Michael Vesper Alarm, "kämpfen nicht nur in den Randlagen, sondern auch in den 1A-Lagen mit Leerständen, zum Teil von bis zu 30 Prozent".

Mittlerweile haben viele Stadtplaner dazugelernt und nutzen den Stadtumbau, um früher begangene Fehler zu korrigieren. Relativ weit vorn liegt beim Stadtumbau im Westen das arme Bremen.

Dort wurde etwa im Stadtteil Tenever mit dem Abriss und der Neugestaltung von teils verwohnten, teils leerstehenden Hochhäusern begonnen, auf die der Stadtstaat einst stolz war; die Großsiedlung mit ihren insgesamt 2650 Wohnungen, ein Demonstrativbauvorhaben des Bundes aus den siebziger Jahren, galt seinerzeit als letzter Schrei. Auch in NRW werden Hochhäuser am Stadtrand, die zu sozialen Brennpunkten und Hochburgen der Kriminalität verkommen sind, abgerissen oder zurückgebaut.

Und bundesweit ist an die Stelle des einstigen Leitbildes, der 1933 verabschiedeten "Charta von Athen" mit ihrer dogmatischen Trennung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitvierteln, weithin der Glaube an einen "New Urbanism" gerückt, der das glatte Gegenteil predigt: Funktionsmischung statt seelenloser Schlafstädte und kalter Büroviertel, dazu Rückkehr zu vertrauten Traufhöhen und anheimelnden Baustoffen - Backstein statt Beton und Glas.

Städte sollen wieder kinder- und altenfreundlich werden



So werden die durch Abriss entstehenden Lücken mehr und mehr genutzt, um die überkommene Monotonie aufzulockern und zu verhindern, dass die geschwächten Städte noch schneller dezimiert werden. Handlungsbedarf bestehe nicht zuletzt in den Kernstädten, sagt Christa Thoben, frühere Direktorin des Regionalverbandes Ruhr. Im einstigen Kohlenpott sind noch immer viele citynahe Straßenzüge als reine Wohngebiete ausgewiesen, ohne Kneipe, Kino und Café. Thoben: "Da können Sie noch nicht einmal eine Werbeagentur eröffnen."

Mit buntem Funktionsmix und der Schaffung "vertrauter Bilder, Räume und Dimensionen" will die Ruhr-Kommune Gladbeck, wie Baurat Michael Stojan ankündigte, sogar zu einer "Modellstadt des New Urbanism" werden. Die neue Bauphilosophie soll die "emotionale Bindung der Bewohner an ihr Quartier" stärken - und damit die Abwanderung bremsen.

Vor allem in Nordrhein-Westfalen ist die Einsicht gewachsen, dass der fällige Bestandsumbau auch genutzt werden muss, um die Städte im Revier den Anforderungen ihrer stetig alternden Einwohnerschaft anzupassen. "Bundesweit als Trendsetter" sieht sich das Düsseldorfer Städtebauministerium, das den Einbau speziell geschnittener Wohneinheiten für Senioren-WGs in bestehende Siedlungen finanziell fördert.

Dass sich auch Großstadt und Kinderfreundlichkeit nicht ausschließen, zeigt sich im wiederbelebten Berliner Szeneviertel Prenzlauer Berg, wo 134.000 Menschen wohnen: Hier sind in Baulücken Dutzende von Spielplätzen entstanden; in fast 180 Kitas werden 13.500 Kinder betreut; Hunderte von Coffeeshops und Kneipen, dazu Programmkinos und Läden aller Art haben den Stadtteil im einstigen Ostberlin aufblühen lassen, nachdem noch vor fünf Jahren Grundschulen wegen Kindermangels geschlossen werden mussten.

"Schrumpfung ist nicht die Schuld des Bürgermeisters"



Allerdings: Ein Patentrezept gibt es nicht, nach dem überalterte Stadtviertel gleichermaßen gesunden können wie die verlassenen Landstriche an den Rändern der Republik.

Forscher der Bertelsmann-Stiftung haben bei der Analyse der Entwicklungstrends in der Bundesrepublik herausgefunden, dass es 15 regional unterschiedliche "Demographietypen" gibt. Für jede dieser Fallgruppen haben sie Grundzüge eines Handlungskonzepts ins Internet gestellt, als Datei zum Herunterladen und zum Ausdrucken, abrufbar unter der Adresse www.wegweiserdemographie.de.

Voraussetzung für eine neue Politik in den Rathäusern ist allerdings die Bereitschaft, die tabuisierten Trends zur Kenntnis zu nehmen und zu begreifen, was der Berliner Urbanistikprofessor Heinrich Mäding unermüdlich predigt: "Schrumpfung ist keine Schande und nicht die Schuld des Bürgermeisters."

Im Übrigen, so der Wissenschaftler, sei in den Rathäusern "Bescheidenheit angesagt": "Bei schrumpfender Gesamtbevölkerung ist es schon ein Erfolg, diesen Prozess für die eigene Stadt zu verlangsamen."

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Tag der Veröffentlichung: 29.01.2013

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