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Grenzgänger

 



                                                         




                                                                Prolog



Keiner soll behaupten, der Schlüssel zu dieser Geschichte sei aus Gold, und der Moment, sie zu öffnen, so einzigartig, dass es vermessen sei, ihn selbst zu bestimmen, als sei er ein heiliger Bogenschuss aus einem zeitlosen Impuls heraus, der nicht getan wird, sondern geschieht, wenn er dem Schützen gegeben ist. Da könnten wir lange warten, in Demut und Stille, und die Kunde von dem, was geschehen ist, und weiterhin geschieht, so unerhört sie auch ist, würde nie vernommen. Die Mächtigen haben zu allen Zeiten darüber gewacht, dass die Ereignishorizonte der Mitwisserschaft Zonen ohne Wiederkehr bleiben. Dennoch gibt es Grenzgänger. Werden sie gefasst, schüttet man ihnen flüssiges Blei in die Ohren: Gepriesen seien die Kulturen, und der blühende Zweig, der mit der Spitze in die Erde fährt, um zu den Wurzeln zurück zu wachsen. Sein Name ist Tradition.

Warum muss man durch einen Tunnel aus so viel Getöse, um zum Ursprung dieser Namenlosigkeit vorzudringen, wie ein Geschepper von tausend eisernen Bratpfannen, und dazwischen Fetzen von Gelächter, als käme es aus einer Grotte? Was ist das für ein Gebrüll, das sich da über uns wälzt, wie eine fette Magma aus dem Innern der Erde, und was für eine offene, stille Weite ist dieser endlose, sandige Strand mit den flachen Spiegeln der Priele, als seien wir durch eine Membran in die Dimension der einzig rettenden Einsamkeit geflüchtet!

Dass von jener winzigen, fernen Silhouette auf der Linie zwischen Meer und Land, in einer mehr geahnten als wahrgenommenen Wendung in seine Richtung, der stechende Blick einer bösen Macht sich fühlbar machte, war damals für ihn so sehr Gewissheit, dass sein zehnjähriger Verstand nicht einen Augenblick lang die sachliche Unmöglichkeit in Erwägung zog, sondern ihn nur bewog, sich mit einem Schauder davon zu machen. Erst später war es der Einfluss des heranwachsenden Rationalen, der die Erinnerung an diesen Moment oberflächlich zerstreute, bis sie irgendwann später, wenn auch in aufgeklärter Form, ihren ursprünglichen Platz in seinem Bewusstsein wieder eingenommen hat, zusammen mit der Erkenntnis, dass der böse Blick ein Produkt von Ausdruck und Wahrnehmung ist, und seine Wirkung auf den Betrachter abhängt vom Gefälle zwischen den beiden.

So hatte auch später, wenn der Schwarze Mann mit seinem eingefrorenen Ausdruck einer hörigen, geilen Besessenheit ihm in der einen oder der anderen persönlichen Identität begegnet war, dessen Wirkung auf den Grenzgänger viel von jener dunklen Drohung verloren. Seine Scheu vor dem schwarzen Mann verlor sich in dem Maße, wie er selbst aufhörte dessen Macht anzuerkennen. Was jedoch blieb war die Abscheu vor einem Menschen, der über der Welt thronte wie ein steinernes Denkmal, als Wächter einer Einheit, zu der zu gelangen Menschen nicht beschieden ist. Das, wodurch er zur Einheit findet, ist ein seltsames, oft unmoralisches Ding, die Integrität, welche, in Momenten der Vollendung, ihn mit Gewissheit sein lässt, was er ist und kund tut, wie zum Festtag in Schwarz gekleidet, wie aus dem Nichts auf den Dorfplatz hingestellt, wie eine Feldherrenstatue mit heruntergezogenen Mundwinkeln: Endlich böse! Und all die armen Menschen huschen vorüber, schwach und schwankend in ihrer Güte, und nicken ihm respektvoll zu: Jawohl, Herr Böse, jawohl, Herr Böse, und ein mancher hat sich verwundert gefragt, warum ihm so jeder Zweifel fehle, dass jener dort und in jenem Augenblick seinen rechtmäßigen Platz habe. Auch wunderte sich niemand, wie lange er dort schon stand und noch stehen würde, wie ein Fels in die Ferne blickend, vielleicht immer schon, oder für immer - gewiss würde er bei Einbruch der Nacht ohne viel Aufsehens mit der Dunkelheit verschmelzen, und ebenso im Morgengrau wieder zum Vorschein kommen, wie eine Telefonzelle oder eine Litfasssäule. Tatsache jedoch ist, dass das eherne Gewand seiner Fraglosigkeit mit der Zeit Löcher bekam, durch die manche der guten Leut gesehen haben wollen, wie er dann regelmäßig in die Kneipen schlurfte, sich voll soff, und dann auf dem Klo junge Männer anhielt, ihr Geschlecht vor ihm zu entblößen. Meist war er danach eine Weile nicht mehr zu sehen, aber dann, völlig unvermutet, war er wieder da, am selben Ort, in Hut und Anzug, legitim und wirklich, wie eine Festung aus Ganzheit. Von wem hier die Rede ist? Vom schwarzen Mann. Von dem daheim im Dorf. Von dem in einer kleinen Stadt, fern davon. Von dem in einer großen Stadt, in einem andern Land. Von dem ohne Obdach, unter einem nassen Brückenbogen, auf einen Krückstock gestützt, mit zerzaustem Haar und glühenden Augen, und reglos wie ein Monolith. Und die Penner strichen vorüber, wie seine leibeigenen Unterteufel, und nickten sich zu mit einem Schafsgrinsen:

”Schon gesehn? Er hats wieder. Ei, der Säckel!”

Was mag da im Dunkel alles geschehen sein, auf dem Weg zwischen Himmel und Hölle. Sicher ist nur, es gibt Kreaturen, denen ist kein Preis zu hoch für einen Augenblick lichter Gewissheit. Zwar war er jedes Mal ein bisschen anders, wenn man ihm wieder begegnete, aber immer in einem Alter, in dem ein Mann aussehen kann, wie ein verwitterter Fels, meistens schwarz gekleidet, oft mit einem Hut, Besessenheit verströmend mit der energetischen Schwere eines Neutronensterns, erfüllt vom lautlosen, lebendigen Triumph, genau die Mitte einzunehmen von seinem persönlichen Synchronfeld. Wie der Grenzgänger ihm einmal in einer Arztpraxis in einer hessischen Kleinstadt gegenübersaß, um sich von ihm ein Rezept gegen seine ständig wiederkehrende Haschischbronchitis ausstellen zu lassen, wusste er noch nicht, mit wem er es zu tun hatte, zumal der Doktor nichts schwarzes, sondern einen weißen Kittel trug. Er dachte nur: Was für ein Kauz, als spräche er nur zu sich selbst, und kommt niemals heraus, nicht mal um einen anzusehen. Aber da war ihm der eine kurze Blick entgangen, den der Schwarze Mann für jeden hatte. All seine Rede klang wie ein Nuscheln, oder ein Schnaufen, und wenn eine Weile nichts mehr kam, dann war es eine Aufforderung, den Raum zu verlassen, mit dem Papier in der Hand. Erst als der junge Patient seinen Hausarzt mitten auf dem Marktplatz stehen sah, verwegenen Hohn im Gesicht, wie ein glänzender Rabe in einem tiefschwarzen, sonntäglichen Gehrock und Schlapphut gekleidet, am hellen Mittwochnachmittag, da nahm er sich vor, auf weitere, ohnehin immer kürzer ausfallende Krankschreibungen zu verzichten, und verließ bald darauf die Stadt.

Oder es begab sich ebenso, und doch wieder anders, in einer großen Stadt im Nachbarland. Es kann nur die Einsamkeit gewesen sein, die den Grenzgänger dazu getrieben hatte, an jenem, wie an vielen verregneten Sonntagen, endlose, zugige Boulevards abzulaufen, ebenso mechanisch wie unermüdlich, so lange, bis die Umgebung unvertraut aussah, sodass er anfing, aufzusehen, um sich zu orientieren. Da stand er vor einem schäbigen Kino, das sah aus, als zeige es nur Horrorfilme, eine Art, für die er eine Vorliebe hatte. Es gab “ Das Ungeheuer aus der Lagune”, ”Der gelbe Mann”, und “Das Ding aus dem All”, alle drei für siebzehn Francs.

Er trat näher, und sah sich die braunstichigen Bilder an. Man sah allerhand Fangarme mit Saugnäpfen und entsetzte Gesichter mit aufgerissenen Augen, und die Frau an der Kasse rauchte, sah aus wie die Dicke Lola aus einer Zirkusschau, und hatte Lockenwickler im Haar. Aus dem Regen kam er in das warme, trockene Dunkel mit den knarrenden Holzsitzen. Die fahl beschienenen Gesichter des spärlichen Publikums sahen starr und hungrig auf die Leinwand, wo gerade ein Mann mit einer Baskenmütze einen erregten Dialog mit einer Bäckersfrau führte. Der Grenzgänger setzte sich in die dritte Reihe von vorn, klemmte ein Knie in die Lücke zwischen den Sitzen vor sich, und rutschte mit dem Rücken tief hinunter, um leichter nach oben sehen zu können. Viele der Zuschauer husteten, und manche spuckten auf den Boden, auch roch es nicht gut. Auf einmal musste er heftig pissen, und sah, dass vorn neben der Leinwand eine Stiege zu den Toiletten führte. Er ging durch das flackernde Dunkel, dann die drei Stufen hoch, und musste noch durch einen schwarzen Vorhang, bis er eine rissige Holztür mit einer schiefen Messingklinke vor sich hatte. Er öffnete sie. Ein Schwall kalt und verpisst riechender Luft umfing ihn wie Gischt, aus unzähligen Hähnen troff und rauschte Wasser über Kacheln und fleckige, bröckelnde Wände, durch ein hohes Fensterluk fiel ein milchiges Zwielicht aus Grün, Gelb und Braun, und mitten darin, umgeben von viel unklarem Gewimmel und Bewegung, stand in Hut und Anzug der Schwarze Mann, und sein völlig lautloses Lachen drang dem Grenzgänger grell in die Sinne, wie der Triumph einer höllischen Macht. Das Gewusel ringsherum aber waren nur halbwüchsige Knaben, alle von derselben Größe und Altersgruppe, die dem Alten mit offenem Hosenladen und heraushängenden Schwänzen den Hof machten. Wenn welche hinausgingen, kamen neue herein, und suchten sich jeder einen Platz in dem Gedränge, von dem aus er dem Dämonen huldigen konnte. Keiner sagte ein Wort. Das Kommen und Gehen war vom Saal her nicht wahrzunehmen, vielleicht war irgendwo hinter dem Vorgang noch ein Zugang, der direkt nach draußen in den Hinterhof führte.

Dem Grenzgänger genügte die Sekunde, in der ihn der funkelnde Blick des schwarzen Mannes einfing, um in einer taumelnden Bewegung umzuschwenken dahin, wo neben dem höllischen Pissoir noch ein brüchiger Verschlag war, für den Abort, mit einem wackligen Riegel auf der Innenseite. Als er wieder herauskam, hechelte etwas an ihm vorbei, und stieß ihn gegen die Wand. Unten im Kino war alles normal. Auf der Leinwand glibberte ein pulsierender Schleimhaufen, und aus den Tiefen des Alls drang eisiges Gelächter zur Erde:

Ich bin. Sei mein. Ich bin

 

                                                                 *

 

 

 

 

 

 

Nicht einmal das Land des Königs ist größer als der Abdruck seiner Füße. Setzte er sich hin, hätte er doppelt so viel.

Aus der "Sprache des Regens".

 

 

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                                                                           1. Kapitel

                                                   

                                                                    Grenzgänger




Ich war drei Mal bei Colette. An der käme man nicht vorbei, sagte ein Freund eines Nachmittags, was ich, mangels Erfahrung, als eine Art Gesetz verstand. Ihre vier Bilder waren sicher nicht der einzige Grund ihres Ruhmes. Sie hatte sie an einem Tag gemalt, und sie zeigten irgendetwas namenloses, was auf vier verschiedene Weisen ICH sagte, so laut, dass man sich keinen Gedanken darüber machen musste, was sie eigentlich darstellten. Sicher war, dass bei ihr die Seele im Handstreich die Macht über das Irdische errungen hatte. Derart in den Adelsstand erhoben hielt sie Hof auf einem Küchenstuhl, als säße sie auf einem Thron aus lichtem Blau, und nichts war wohlgeordneter, als ihr Haar und der fließende Fall ihrer schillernden Robe.

Ich trat ans Fenster, sah hinaus, und wandte mich wieder zu ihr um

“Da ist eine Katze auf dem Dach," sagte ich, ”sie ist ganz weiß.”

“Ich weiß," sagte sie, und lächelte. Es gab keinen Tee, nur den stillen Klang ihrer Gnade. In ihm fiel jedes Wort zu seiner Zeit, es gab keine Ursache und keine Wirkung und nur einen Grund für alles. Erst als wir wieder draußen waren fiel mir auf dass wir gegangen waren. Es war wohl Zeit gewesen. Diejenigen, die behaupten, Colette sei eine Hexe, seien gewarnt, denn sie selbst sind es, die gebannt in das Feuer starren, das es zu zähmen gilt. 

“Colette ist eine Hexe," sagte der, der mich mit ihr bekannt gemacht hatte. Tatsächlich schien mir, als habe er damit einen Gedanken aus der Tiefe meines Bewusstseins geholt, der nur darauf gewartet hatte, geweckt zu werden. Ich war noch überrascht über meine stille Zustimmung, da gewahrte ich in meiner Erinnerung auch schon das Hexenhafte an ihrer Haltung, ihrem Ausdruck, den feinen, geordneten Linien in ihr Gesicht, und sah einen silbrigen Triumph irgendwo hinter ihren intensiven Augen.

“Kein Mann bleibt bei ihr,” fuhr er fort, “nur die Katzen.” Jetzt sah ich auch ihre Bilder vor mir. In hieroglyphenhaften Zeichen sprachen sie von Lust und Tod. Sie waren auf Glas gemalt. 

“Katzen und Kinder sagen dir, ob deine Welt in Ordnung ist," sagte ich, ”ich schätze, sie ist viel allein.”

 “Weißt du noch, warum wir gegangen sind?” Ich konnte mich nicht erinnern, auch nicht daran, wer zuerst den Entschluss gefasst hatte. Letzten Endes erinnerte ich mich nicht einmal an den Weg zur Tür, und hinunter durchs Treppenhaus. 

“So ist es immer bei Colette," sagte er. ”Am seltsamsten ist es, wenn sie singt. Das heißt, sie summt eigentlich nur, und schwankt dabei vor und zurück. Unvermittelt verstummt sie und hält inne. Wenn sie wieder beginnt, ist es, als hätte ihr irgendetwas das Signal dazu gegeben, bis sie wieder stockt und lauscht.” 

“Es singe wem Gesang gegeben," sagte ich, ”sie nimmt es halt genau. Sie hat ja sonst nichts zu tun.” Ich habe nie erfahren, wovon sie ihre Miete bezahlte. Ich glaube sie war mal verheiratet.

Einige Tage später, es war ein milder Spätsommerabend, ging ich an der Reihe der großen Straßencafes entlang über den belebten Boulevard. Über die breiten Fahrbahnen floss in beide Richtungen ein dichter Verkehrsstrom, unter der Lichtflut der Straßenlaternen und der glitzernden Pracht der erleuchteten Fassaden. Eine schlanke Frauengestalt, die mir in einem wehenden Kleid entgegenkam, zog meine Aufmerksamkeit auf sich, und einen Moment lang war ich sicher, Colette erkannt zu haben. Als sie näher gekommen war, erkannte ich jedoch, dass ich mich getäuscht hatte, und als sie, umgeben von einer Gruppe von Personen, auf meiner Höhe war, vermochte ich nicht einmal mehr zu sagen, von welcher von ihnen der Eindruck der Ähnlichkeit ausgegangen war. Ein Stück weiter sprang irgendwo vor mir eine Ampel auf Rot, und auf beiden Seiten des Überwegs staute sich dicht an dicht der Fluss der Fahrzeuge. Es war ungewöhnlich genug, dass sich nur eine einzige Person anschickte, die Fahrbahn zu betreten, um sie zu überqueren. Im Licht der Scheinwerfer aber erkannte ich, diesmal zweifelsfrei, Colette im langen Sommerkleid, einen hinterdrein wehenden Umhang um die Schultern. Während ich überlegte, ob es richtig sei, ihr zu folgen, um sie anzusprechen, hatte sie schon die Straßenmitte erreicht. Kaum war sie an der Gegenfahrbahn angekommen, da löste sich aus dem dunklen Wall der stehenden Fahrzeuge ein schweres Motorrad, und bot ein seltsames Schauspiel, indem es mit einem Satz nach vorn preschte, entweder einer optischen Täuschung oder einem irrigen Reflex des Fahrers folgend, während alle anderen reglos stehen blieben, da die Ampel noch nicht umgesprungen war. Ohne den fließenden Lauf ihres Schrittes zu ändern, oder auch nur den Kopf zu wenden, hob Colette gleichzeitig auf der dem Motorrad zugewandten Seite die Hand, und machte damit eine leichte, kreisende Bewegung wie um es zu dirigieren. Anstatt mit ihr zusammenzuprallen, fuhr das Motorrad kurz vor ihr über den Überweg, umkurvte sie in einer engen, fast anmutigen Pirouette, und kehrte zurück zu dem Pulk, aus dem es gekommen war, wo es dann, nach einer weiteren Drehung, wieder Aufstellung nahm. Alle Augen folgten der Frau. Als diese den Fuß auf den gegenüberliegenden Gehsteig setzte, erlosch für etwa eine Sekunde die gesamte Straßenbeleuchtung, um gleich darauf wieder zu erstrahlen, als habe das Licht für einen Moment die Augen geschlossen, und wieder geöffnet. Die Ampel sprang auf Grün, und der Verkehr zog wieder rauschend seine Bahn. Drüben ging Colette auf das große Café zu, in dem noch andere ihrer Art verkehrten. Ich stand noch da, von wo sie die Straße überquert hatte. Als sie den Eingang erreichte, blieb sie stehen, und drehte sich um. Trotz der großen Entfernung traf mich der klare Blick ihrer Augen. Dann ging sie hinein.

An einem trüben Tag im Frühherbst war ich zum zweiten Mal bei Colette. Auch dieses Mal war ich nicht allein, sondern in Gesellschaft von zwei verschrobenen Künstlern, die immer von Colette sagten, es lohne sich zu ihr zu gehen, immer wenn man wieder ging, sei man nicht mehr der, der man gewesen ist, als man kam. Ich verstand nicht, ob sie nicht sein, oder nicht werden wollten, was sie waren, aber ich ging mit, weil ich Colettes Großmut schätzte, und fühlte dass ich in ihrer Gunst stand. Der graue Vorhang hinter der Glastür glitt beiseite, und ein ausgemergelter Typ mit zugekifften, sumpfigen Augen, in einer indischen Batikhose und einer zerschlissenen Jeansjacke, öffnete, und wandte sich sogleich wortlos von uns ab. Am Boden lagerte allerhand Volk in einer Landschaft aus Aschenbechern und überquellenden Mülltüten. Die Fenster waren geschlossen, die Luft waberte bläulich, es roch schwer nach Wein, Cannabis und Räucherstäbchen. Colette lag auf dem Sofa, wandte kurz den Kopf, zog die Wolldecke etwas höher, und machte eine Bewegung mit den Schultern, als ob sie fröstelte. Die beiden, die mit mir gekommen waren, ließen sich irgendwo nieder, ich stieg über eine Rotweinpfütze und einige Paar Beine, und gelangte ans Fenster. Auf dem Schieferdach hockte missmutig eine fette, graue Katze mit gelben Flecken. Colettes Stimme rief mich zurück ins Innere, indem sie mich bat, ihr vom Tisch eine Flasche Rotwein zu reichen. Ich gab sie ihr, sie setzte sie an, trank und gab mir die Flasche zurück. Ihr Gesicht war alt und fleckig von verschmiertem Rouge, sie sah niemanden an, nur in sich hinein. Niemand sprach. Die einzige Autorität im Raum war das Fanal ihrer vier Bilder, wie ein unbewegtes Banner des Sieges über einer elenden Zuflucht geschlagener Truppen.

Ich überlegte, was wohl geschehen würde, wenn ich laut zu ihr sagte, dass sie nun, da ihre Hexenseele den Schirm zugeklappt hatte, anstatt im Kreis der Pharaonen in der goldenen Stadt zu sitzen, sie wohl genötigt sei, auch billige Kundschaft zu bedienen, mit Wein, Pizza und einer Lagerstatt, und ihrem letzten Rest von Integrität und Selbstlosigkeit, wie das Gesetz es befiehlt. Im übrigen, der Müll ziehe die Ratten an, und lasse sie wachsen, bis sie zu groß sind, um sie abzuwehren. Da fragte sie einer aus der dösenden Runde mürrisch nach einem Hunderter, um Pizza zu holen für alle, und weil sie nicht antwortete, wälzte er sich schwerfällig herum, und zog an ihrer Wolldecke, die zu Boden glitt. Sie kam hochgeschossen, in ihrem bunten, seidenen Morgenrock, der vorne offen war, so dass man ihre schwankenden Brüste sah, und ihr greller Mund spie Verwünschungen, wie ein Drache das Feuer, und wir sollten uns alle zum Teufel scheren, schleimiges Gewürm und Blutsauger die wir seien. Überall erhoben sich blöd glotzende Gesichter, mit offenen Mündern und trunkenen Augen, und sahen ungläubig auf ihre zerzauste Silhouette, die sich im Gegenlicht des Fensters erhob, um nach einigen schwankenden Gehversuchen längelang hinzuschlagen. Ob sie irgendetwas zu Fall gebracht hatte, oder ob sie nur das Gleichgewicht verloren hatte, konnte ich nicht erkennen. Mit verdoppelter Wut kam sie wieder hoch, und begann, herumliegende Gepäckstücke ihrer Gäste durch die geöffnete Tür in den Flur hinauszuwerfen, wobei sie ein irres Keuchen ausstieß, und die Worte:

”Raus, alle raus, sonst schleif ich euch an den Haaren bis auf die Straße!” Selbst der letzte kam nun aus schweren Träumen zurück, und es dauerte eine ganze Weile, bis die lahmen Beschwichtigungsversuche erstarben, und einer nach dem anderen im Treppenhaus verschwunden war. Keiner setzte ihr Gewalt entgegen, es gab nur halbherziges Aufbegehren, sprachlose, betäubte Überraschung, und schließlich eilige Flucht. Ich war der letzte.

“Du auch, aber schnell," zischte sie, und knallte die Tür hinter mir zu. Beim Hinuntergehen prägte ich mir die ausgetretenen, bleichgescheuerten, hölzernen Treppenstufen ein, und ein buntes Glasfenster zum Hof. Auf einem Schild stand, man solle keine Fahrräder abstellen. Monate vergingen, bis es wieder einen Grund gab, zu ihr zu gehen. Einer ihrer Bekannten, derselbe, der mich beim ersten Mal mitgenommen hatte, sprach mich auf der Straße an, ob ich Geld für Blumen hätte, Colette würde heute aus dem Krankenhaus entlassen. Ich fragte, wieso, was sie denn gehabt habe. Sie habe sich die Pulsadern aufgeschnitten, und ein paar Valium zuviel genommen, das mache sie einmal im Jahr. Wir gingen mit den Blumen zu ihr, um alles schön herzurichten, und zu ihrem Empfang etwas zu essen zu kochen. Ein paar saßen schon da, und rauchten. Auf dem Dach war keine Katze zu sehen. Die Wand war leer.

“Wo sind die Bilder?” fragte ich. 

“Sie hat sie mit dem Hammer zerschlagen," sagte einer. Ich machte mich daran, ihre Wohnung zu putzen, während andere die Blumen auf den Tisch stellten, und das Essen vorbereiteten. Das Saubermachen war sehr schwierig. An manchen Stellen, besonders in der Küche, lag der Dreck wie eine Glasur in mehreren Schichten, sodass man mit dem Crêpewender darunter fahren musste, um ihn abzuheben. Die zwei, die von ihr den Hausschlüssel bekommen hatten, waren losgezogen, um sie abzuholen. Aber nach zwei Stunden, wir saßen schon lange vor einem Haufen Couscous mit Lamm, waren sie immer noch nicht zurück. Ich glaube, wir warteten noch eine Weile, dann aßen wir fast alles auf. Dann tranken wir den Wein, und rauchten wieder. Niemand kam. Ich ging, als es dunkel wurde. Im Treppenhaus war das Licht kaputt. Etwas wischte an mir vorbei, es war wohl eine Katze, aber welche Farbe sie hatte, konnte ich nicht erkennen.

 

 





                                                                                      *

 

 

 

 



Ich kannte in jener Zeit einige Leute, die mehr Bilder gemalt hatten als Colette, aber einige hatten auch weniger, so zum Beispiel einer mit dreien, allerdings sehr großen, die er Mühe hatte, mit sich herumzutragen, da er keine feste Unterkunft hatte, und jede Nacht woanders schlief. Ich kannte niemanden mit zwei Bildern, aber mehrere mit einem, in den meisten Fällen nicht allzu großen, das jederzeit zur Hand war, und überall vorgezeigt werden konnte. Der mit den drei Bildern wurde gelegentlich von Dämonen heimgesucht, die ihn zwangen, irrational zu handeln. Er hatte ein gut versorgtes Leben gelebt, bei einer Frau, die ihn ausgehalten hatte, bis sie sich von ihm trennen wollte, worauf er ihr die Wohnung in Brand setzte, und nackt auf die Straße lief, seine Blöße mit den drei großen Bildern bedeckend. Dabei hielt er zwei übereinander vor sich, und eins hinter sich, so dass es aussah, als ob er für etwas Reklame liefe, einen Scheich auf einem Thron, und ein schwarzes Ross, das durch ein buntes Glasfenster sprang. Das dritte Bild, das vom zweiten verdeckt war, zeigte ein paar Gestalten mit dreieckigen Köpfen, die in einem blauen Äther schwammen, in dem es kein Oben und kein Unten gab. Er kam nur sehr langsam voran, da an seinen Bildern keine Griffe waren, und man brachte ihn noch am selben Tag in die Psychiatrie, wo man ihn eine Woche lang zur Beobachtung festhielt. Als er wieder herauskam, hatte er ein paar schöne Buntstiftzeichnungen angefertigt, von seinen Mitpatienten. Dazu wusste er jeweils die passende Krankheitsgeschichte zu erzählen. Die von dem schrecklich dreinschauenden arabischen Greis, den alle wegen seiner Wutanfälle fürchteten. Die von einem hageren Jüngling der, ein Fremdling vor sich selbst, auf alle Hinweise auf seine Unvernunft mit besserwissender Entrücktheit reagierte, und den er in einer Laube im Anstaltsgarten sitzend gezeichnet hatte. Und schließlich die Darstellung einer gebeugten, jungen Frau mit schwarzen Rändern unter den Augen, die der Schwermut verfallen war.

Alle diese Portraits waren auf Löschpapier angefertigt, das vom vielen Begrabbeln und Herumzeigen schon nach kurzer Zeit zu faserigem Staub zerfiel. So blieben ihm nur seine drei großen Ölbilder, die er nun von Unterkunft zu Unterkunft schleppte. Er übernachtete auch bei Colette, und hoffte wohl, bei ihr Fuß zu fassen. Offenbar waren jedoch ihre Dämonen den seinen überlegen, sodass sie ihn hinauswarf, bevor er ihr die Wohnung anzünden konnte.
Ich wohnte damals noch in einem zentralen Bezirk der Stadt, und an einem klirrend kalten Dezemberabend war die Reihe an mir, ihm Unterkunft zu gewähren. Ich tat dies nicht ohne ein Gefühl der Beklommenheit, und eigentlich nur, um Colettes Beispiel zu folgen. Ich musste mir dann viel anhören, von seiner schicksalhaften Berufung zur Malerei, und dass ihm damit der Schlüssel versprochen sei zu einer Schatzkammer mit unsäglichen Reichtümern. Doch immer wieder klang ein Ansinnen aus seine Visionen heraus, das in seiner Natur so fremd und widerwärtig war, dass ich ihn fragte, ob nicht zum Erlangen der von ihm angestrebten Vollendung eine entschlossenere Ausrichtung auf die schönen Dinge im Leben notwendig sei, worauf er entgegnete, sein Leben sei der Weg durch eine schillernde Welt verborgenen Zaubers, dessen Schönheit zu schätzen einer besonderen Gabe des Erkennens bedürfe. Was immer ich davon erkennen konnte, ließ mich auf der Hut sein. Seine großen Bilder waren in der engen Wohnung überall im Weg, sodass ich sie im Klo abstellte. Am Morgen verließ er das Haus, und als er am Abend wiederkam, um eine weitere Nacht bei mir zu verbringen, ließ ich ihn nicht herein, und reichte ihm seine Bilder durchs Fenster hinunter auf die Straße. Er hatte aus Gewohnheit keine große Mühe, sich damit abzufinden, bat jedoch um einen Bindfaden, um sie zusammenzuschnüren, damit sie etwas handlicher würden. Dies schlug ich ihm nicht ab, und sah ihn mit seiner Last bald in der kalten Nacht verschwinden.

Manche jener Botschafter fremder Welten traten so kurz und unerwartet in meinen Gesichtskreis, dass sie dabei wie bleiche Geister wirkten, in deren weiten Augen, als einziger Gruß, ein Ausdruck des Bedauerns glomm, und die sogleich mit einem matten Seufzer wieder in der Nacht verschwanden, oder wie emporgestiegene Fische aus der Tiefsee, die sich an die Grenze zu einem feindlichen Element verirrt hatten, sodass sie, mit einer Drehung ihres weißen Leibes und einer stummen Klage in den Augen, in den Abgrund zurücktauchten. Ihnen war jedes Erwachen wie ein Schmerz, und das Vergessen eine Heimat, doch oft erklang ihr fernes Rufen aus der Tiefe, ihnen in ihre Welt zu folgen, damit endlich wahr würde, was sie stets aufs neue verkündeten: Es bedürfe nur der Erkenntnis, die wahre Gnade sei das Dunkel, und das Hinabsinken das Ende der Einsamkeit.

Als sich eines Nachts gegen drei die Tür zu meiner Wohnung öffnete, die ich meistens unverschlossen ließ, wenn ich zu Hause war, befand ich mich, wie immer um diese Zeit, in einem so hellwachen Zustand der Konzentration über meine Arbeit gebeugt, dass ich nicht einmal den Kopf wandte, um zu sehen, wer hereingekommen war, so sehr war das, was sich um mich herum abspielte, Teil meiner inneren Erlebniswelt, die mit meinem kreativen Willen in vollkommenem Einklang stand. Jemand grüsste leise, und näherte sich von der Seite, bis er im Lichtkegel meiner Lampe stand. Ich erblickte einen jungen Mann in schwarzer Kleidung, dem üppige, blonde Locken bis über die Schultern fielen. Ich entsann mich, dass ich ihm im Umfeld von Colette einmal begegnet war. Seine leicht schwimmenden, von einer tranigen Traurigkeit gefüllten Augen waren weit geöffnet, so, als bemühe er sich, den Himmel in sich hineinzulassen, nachdem er, ganz in Schwarz, soeben sein irdisches Dasein zu Grabe getragen hatte. Weil ich den Moment näher kommen sah da, ich ihm die Tür weisen würde, sah ich keinen Grund ihm entgegenzueilen.

“Sieh die Engel, die mich rufen," sagte der Besucher, und schlug ein Notizbuch vor mir auf, das er in der Hand hielt. In farbtrunkenen Collagen drängte sich ein apokalyptisches Getümmel von Ikonen des Wahnsinns, Zeugen seiner Schicksalskatastrophe, mit runden Mündern und Augen und Flügeln auf dem Rücken über den emporgereckten Händen schwarzer, kniender Mönchs - und Nonnenfiguren. Er zwang mich zum Nachdenken. Gleich würde er mich fragen, ob ich mitkäme zum Sportgelände hinter der Kirche, wo um Punkt Viertel vor das Raumschiff der Gorok landen würde, um uns und eine Handvoll Eingeweihter mitzunehmen nach Ahaldr`nath, dem dritten Planeten von Sirius. Meistens heißen sie Gorok, dachte ich noch, oder Shlibahim. Oder würde er einfach vorschlagen, dass wir uns die Atemöffnungen mit Plastiktüten bedeckten, um als erlöste Geistwesen zum fernen Hort der Glückseligkeit zu fliegen, wo wir für immer sicher wären vor den lästigen Zerfallsprozessen unserer organisch gebundenen Existenz? Ich hatte gehört, dass das Brauch sei bei gewissen Erlösungssekten. Unwillkürlich schaute ich, ob ihm Plastiktüten aus der Tasche quollen.

“Und dies," rief er mich zurück, indem er in seinem Buch weiterblätterte, ”ist die heilige Agnes, wie sie einen Seufzer ausstößt, unter der Offenbarung des göttlichen Hermaphroditen Waamash.” 

Ich sah sie mir gut an. Sicher würde ich nie wieder eine Frau sehen, die vor einer derartigen Erscheinung einen Seufzer ausstößt. Durch das vergitterte Fenster ihrer Zelle drang ein Strahl goldenen Lichts, und traf die kniende Frau genau in der Mitte, dabei war ihr Mund rund und offen, als wenn sie ooooh sagte. Ihr verklärter Blick aber war auf eine Gestalt gerichtet, die über ihr schwebte, ein gelocktes, rosafarbenes Wesen, das entfernt an die Knabenbilder von Blake erinnerte, und mit so viel universeller Geschlechtlichkeit ausgerüstet war, wie sie nur infolge eines schweren genetischen Schadens in einer einzigen Person zusammentreffen konnte. Ich hatte genug gesehen, und wandte mich übergangslos wieder meiner Arbeit zu, die mich mit wohltuender Vertrautheit in ihrer Welt willkommen hieß. Obwohl er neben mir noch weiter blätterte und dazu sprach, hatte ich keine Schwierigkeiten, mich auf das zu konzentrieren, wonach mir der Sinn stand. Irgendwann hörte ich wie sich die Tür öffnete und schloss. Ich war wieder allein.

Viele von ihnen haben nur ein einziges Bild. Es erinnert seinen Besitzer an den einen Weg, das eine Versprechen, das eine Gesetz und die eine Hoffnung, die fortan sein Leben bestimmt. Es ist die einzige von ihm selbst als wahr anerkannte Botschaft, die je aus seinem Kern nach außen gedrungen ist, so wichtig wie die Geburt der Welt aus einem Ei, dessen Schale nicht gemacht war, um seinen Inhalt zu bewahren, sondern um zu gegebener Zeit unter dem Druck einer Lichtflut zu zerreißen. Vor der verheerenden Kraft dieser Botschaft zerstieben wie Spreu die relativen, naturbedingten Wahrheiten, die durch alltägliche Notwendigkeit und differenzierende Vernunft ein irdisches Leben bestimmen. Die Inquisition hat nie aufgehört ihr Werk zu verrichten, und was bleibt, sind elende Relikte einer missachteten Menschlichkeit, missachtet am fernen Ursprung der Katastrophe, missachtet, und der blinden Majestät der Mitte ausgeliefert, bei ihrem späten, unausweichlichen Ausbruch. Denn nur die gleißende Mitte des Lebens beherrscht zu allen Zeiten den Tod, und mächtiger als die Furcht vor diesem ist nur das Versprechen der ganzen Erlösung. Die misslungenen Versuche, dem Absoluten zu folgen, füllen seit Jahr und Tag die Friedhöfe, die Irrenhäuser und die Tempel, und manche der kauernden Gestalten hinter Pappkartons und Brückenpfeilern, den Blick in der Nacht auf die Lichter am anderen Ufer gerichtet, werden von unsichtbaren, goldenen Ketten gewürgt, in der Tasche ein zerknülltes, fleckiges Blatt: Den Plan des universellen Schatzsuchers, auf dem sein eigener Standort nicht verzeichnet ist, nur das Ende des Regenbogens hinter einem ständig zurückweichenden Horizont. Nicht immer ist dieser Plan aus Papier, oder aus Leinwand. Als es beides noch nicht gab, wurde er in Holz geritzt, das längst zerfallen ist, in Höhlenwände gekratzt, oder in Steinplatten graviert, während noch der flackernde Schein des Feuers darüber tanzte, aus dem die Stimme kam. Bekannte Namen zeichnen dieses Vermächtnis, und eine Unzahl von unbekannten, deren Glut erlosch, noch ehe sie Zeit hatten, sich mitzuteilen.

 

 

 




                                                                                      *

 

 

 

 




Dass ich meine Wohnung in der mondänen südwestlichen Innenstadt aufgegeben hatte, um an den östlichen Stadtrand zu ziehen, lag zunächst daran, dass es mit meiner Arbeit nicht so recht vorwärts ging. Zu bewegt waren die Tage und Nächte in dieser Welt eines Stammes, der sich ganz der Schatzsuche verschrieben hatte, ohne dabei auf ein gehöriges Maß an Lustgewinn verzichten zu wollen. Keiner entkam seinem Platz in der Hierarchie, so sehr er auch nach der Krone strebte. Es war eine rechte Rangelei, bei der man immer hörte: hier ist viel, aber wo ist mehr, und immer wieder blühte der Glanz im Rücken derer, die ihre Augen auf das Gleißen richteten, und es führte sie herum und herum, indem sie sich enttäuscht und überrascht hin und her wandten, ohne je aus ihrer Armut auszubrechen. Da die Arbeit nicht voranging, benötigte ich mehr Zeit für mein Projekt als vorgesehen. Mein Auftraggeber, ein Verlag in Deutschland, willigte ein, musste mir aber die Mittel kürzen, sodass ich gezwungen war, mich nach einer erschwinglichen Bleibe umzusehen. Über eine Wohnungsvermittlung geriet ich an die Familie M., die in einem der östlichen Vororte auf einem weitläufigen Waldgrundstück ein altes Landhaus besaß, nicht weit von einer Metrostation. An einem kühlen, klaren Oktobertag, nach einem kurzen Telefongespräch, fuhr ich hinaus, um mich vorzustellen. Ich wusste um den sozialen Status der Familie - der Mann bekleidete ein hohes Amt im Innenministerium - und ich hatte mich sorgfältig eingekleidet. Von den drei Sätzen, die die Frau am Telefon gesagt hatte, hielt ich nur den Klang ihrer Stimme fest: Kalt, herrisch, voller Ungeduld und Überdruss. Sie hätte mir genauso gut ein Foto schicken können: In den besten Jahren, attraktiv, unbefriedigt, bürgerlich und borniert. Der Preis und die Konditionen für die Miete eines Zimmers waren vergleichsweise verlockend, und wenn man die Regeln der Unterwerfungsrituale dieser Leute beachtete, war es leicht, sich mit ihnen zu arrangieren, ohne seine Unabhängigkeit zu verlieren. Menschlich gesehen war es sicher nicht so, wie ich es mir gewünscht hatte, aber es kam meiner Lage gerade soweit entgegen, wie ich es brauchte, um die nächsten zwei Jahre zu überbrücken.

Das Schloss von Vincennes stand im vollen Fahnenschmuck: Hakenkreuzbanner überall, in den Fenstern, von den Zinnen, den Flaggenmasten, auf den rollenden Wehrmachtskübelwagen, die im Schritttempo die Parade abfuhren, Monokel tragende Generäle darin, die im Stakkatorhythmus die Arme hochrissen, rot-weiße Standarten und braun uniformierte Paradebataillone. Hacken knallten, Befehle wurden gebrüllt. Ich konnte zum Schloss hinübersehen, als ich von der Metrostation schon ein Stück gegangen war. Die Menge stand und gaffte. Gewiss, was wir da sahen lag schon vierzig Jahre zurück, hier wurde nur ein Film gedreht. Jahre später, in irgendeinem Kino, erkannte ich die Szene wieder, und versuchte mich zu erinnern, wie sich der Tag angefühlt hatte: Die kühle, klare Herbstluft, die Zuversicht, der Weg durch den Park, dann nach links die lange Zufahrt zum Haus der Familie M. hinauf, zwischen sorgfältig gestutzten Hecken hindurch. Ein hagerer, älterer Mann mit einer Schiebermütze, der unter mächtigen Buchen, Eichen und Kastanien das Laub zusammenharkte, und auf einen Karren lud, warf mir einen aufmerksamen Blick zu, bevor er mit einem Kopfnicken grüßte, und sich wieder seiner Arbeit zuwandte. Die altherrschaftliche Fassade, mit mehreren Balkonen und Erkern unter einem tief gezogenen Giebeldach, war mindestens zum Teil modernisiert worden, und was sicherlich einst ein eichenes Portal mit bronzenen Beschlägen gewesen war, war jetzt eine aluminiumgefasste Glasfront an die man gelangte, nachdem man ein übermannshohes, schmiedeeisernes Gittertor mit goldbronzeverzierten Spitzen durchschritten hatte. Ringsherum stand herbstlicher Wald, bis dahin wo hinter der Umzäunung ein streng gepflegter Hausgarten begann, mit einzelnen Nadelbäumen und den letzten Blüten der Jahreszeit, mit einer Art Jugendstilplastik in der Mitte, wohl ein Brunnen mit einem Fisch darauf, auf dem rittlings eine Gestalt saß. Es floss jedoch kein Wasser, denn es war nicht mehr lang bis zu den ersten Nachtfrösten.

Nachdem ich die Schelle gedrückt hatte, öffnete mir eine junge Frau, ich hatte jedoch keinen Zweifel, dass dies nicht die Hausherrin war, sondern offenbar eine Hausangestellte: Sie war von mediterranem Typus, dunkelblond, mit weichen, runden Zügen und sanften, braunen Augen, und bat mich mit einer scheuen Geste, ihr durch die Vorhalle zu folgen. Aluminium, Marmor und Messing waren hier reichlich verarbeitet, ebenso wie wertvolle Hölzer in den Türen und Täfelungen. Statt der in solchen Häusern üblichen Ahnenporträts waren einige überdimensionierte abstrakte Gemälde zu sehen und eine oder zwei Landschaften, die eine stark synthetische Stimmung vermittelten. Wir gingen jetzt auf einem tiefen, roten Läufer, und das Mädchen öffnete die Tür zum Salon. Obwohl noch Nachmittag war, drang kaum Tageslicht in den von einem Kronleuchter erhellten Raum, den ich jetzt betrat. Madame M. kam mir entgegen, reichte mir die Hand, und lächelte bemüht, während ich ihre Erscheinung mit dem Eindruck verglich, den ich von ihrer Stimme gehabt hatte. Ihr Haar war platinblond und hochgesteckt, und sogleich war da noch eine knabenhafte Gestalt neben ihr, mit pomadisiertem Scheitel, in einem dunklen Zweireiher, das war ihr Mann. Was sie bei dieser ersten Begegnung trug, weiß ich nicht mehr genau, ich glaube, es war ein himmelblauer, flauschiger Hausmantel und goldene Pantoletten, aber es kann sein, dass mich meine Erinnerung täuscht, denn das war es oft was sie trug, wenn ich vormittags, am Monatsanfang, hinaufging, um die Miete zu bezahlen.

Ich weiß auch nicht mehr, warum so wenig Tageslicht in den Raum fiel. Ich denke, die hohen Fenster waren irgendwie verhängt, und überall, so schien es mir, war Brokat und andere, schwere Stoffe, wie ich sie gelegentlich in den Wohnungen älterer, wohlhabender Leute gesehen hatte. Viele Möbel und Gegenstände, deren Natur ich nicht gleich ausmachen konnte, machten den großen Raum eng. Berge von Kissen und einige Plüschtiere lagen herum. Ein dunkelhaariges, kleines Mädchen wurde von der Hausangestellten hinausgetragen, und hielt, bis sie durch die Tür verschwunden war, ein Paar großer, fragender Augen auf mich gerichtet.

Madame sprach jeweils kurz und knapp, mit einer spürbaren Betonung auf Unmissverständlichkeit, und erklärte gleich, dass sie es nicht nötig hätte, zu vermieten, aber sie meine, dass es schade wäre um vergeudeten Wohnraum, was heißen sollte, sie war reich, habe aber ein soziales Gewissen. Ob diese Eigenschaften auch für ihren Mann galten, ließ sie offen, da sie stets in der Ich-Form sprach. Die Einwürfe von Monsieur kamen eilig dazwischen, wie ein warmer, feuchter Schwall, und er hörte nicht auf zu lächeln, und immer wieder glitt sein Blick frohlockend über meine Kleidung. Ich hatte mir Mühe gegeben. Innerlich zog es mich ein wenig zusammen, aber es verlief alles wie erwartet: Ich hatte meine Bleibe gefunden, ein schlichtes Zimmer mit Dusche und Toilette im Tiefparterre, wo das Mädchen Felice und der Gärtner Gaston meine Nachbarn waren. Mit ihnen lebte ich in gutem Einvernehmen, meine Arbeit fasste wieder Tritt. Ich verbrachte die Tage in den einschlägigen Instituten und Bibliotheken, und bevor ich mich abends an den kleinen Tisch in meinem Zimmer setzte, um das Material aufzuarbeiten, kam es oft zu einer Begegnung mit einem meiner Mitbewohner, oder mit beiden, wobei wir rauchten, und auf der Bank im rückwärtigen Hof saßen, der durch eine Hecke an der Seite des Hauses vom vorderen Garten getrennt war, und die Gemüsebeete, einige Gerätschaften und eine alte, von Brombeerbüschen halb überwucherte Laube enthielt. Gespräche über die Familie M. gab es kaum, und wenn, dann nur in zurückhaltenden Andeutungen, außer, wenn Felice in ihrem holprigen Französisch von einem der Kinder erzählte. Ihre Unbeholfenheit in der Landessprache mag ein Grund gewesen sein, weshalb sie wenig sprach, ihre ständige, nach innen gekehrte Versonnenheit ein anderer. Dass ich sie an Tagen, an denen ich zu Hause war, gelegentlich von einsamen Spaziergängen durch den Wald heraufkommen sah, ließ meine Neugier in unverhohlenes Interesse an ihr umschlagen. Jeder Versuch aber, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, als die unserer Zigarettenpausen im Hof, scheiterte jeweils an ihrem brüsken Rückzug auf sich selbst, sodass ich sie schließlich in Ruhe ließ. Gaston überging diese Momente mit nicht viel mehr, als einem wissenden Blick in meine Richtung, meist stand er dann auf, um irgendwas zu richten, ein hängendes Stück vom Drahtzaun, eine verrutschte Steinplatte vom Gartenweg, oder er sammelte irgendein liegen gebliebenes Gerät auf, und schloss es in die Laube ein. Auch er sprach wenig, war aber in Haltung und Ausdruck so beredt wie nur wenige die ich kannte.

Meine Miete zahlte ich in bar, und ging dafür einmal im Monat die Kellertreppe hoch, durchquerte die Halle mit den gläsernen Schwingtüren, und klopfte schließlich an die weißlackierte, goldgeränderte Tür zum Salon. Es war immer Madame, die mir öffnete. Ich war stets aufs Neue betroffen von der herben Strenge in ihrem schönen Gesicht, und von dem herrischen Ausdruck ihrer Augen. Meistens stand das jüngere der beiden Mädchen im Hintergrund, und heftete reglos seinen ernsten Blick auf mich. So kurz ich mich zu fassen suchte, gelang es mir doch selten, mich zurückzuziehen, ohne irgendwelche Ermahnungen zur Instandhaltung und Pflege meiner bescheidenen Bleibe zu hören zu bekommen. Ihr Mann, den sie sich vielleicht wegen seines hohen Amtes als zu ihr passend ausgesucht hatte, ohne recht zu erkennen, was für ein Mensch er war, schien, abgesehen von seinem materiellen und gesellschaftlichen Beitrag zur Lebensführung der Familie, einen Status völliger Entbehrlichkeit zu haben. Einen halben Kopf kleiner, bübchenhaft und pomadisiert, schien er stets winselnd um seine Herrin herumzutapsen, die zumindest in meiner Anwesenheit nicht ein einziges Mal mit einer persönlichen Reaktion zeigte, dass sie ihn überhaupt zur Kenntnis nahm, und ihn sich stets durch einen Schild kalter Verachtung vom Leibe hielt. Nie erinnerte mich ein Mann mehr an eine Drohne mit ihrer Königin, und ich fragte mich oft, warum sie ihn nicht nach der erfolgreichen Zeugung zweier Kinder nicht einfach getötet hatte. Sie schien allein wohlhabend genug zu sein, durch ihr Familienvermögen, und es gab auch einen Kreis lebenslustiger Freunde. Deshalb war mir nicht klar, bei all der Selbstbestimmtheit ihrer Art, wozu sie ihn überhaupt noch brauchte.

Die Rasenflächen vor dem Haus wurden von Gaston regelmäßig so kurz geschoren, dass die Ameisen sich ducken mussten, wenn sie nicht gesehen werden wollten. Später, in der warmen Jahreszeit, stand dort eine Sitzgruppe aus seidenbezogenen Plastikstühlen, einem Gartentisch und hawaigemusterten Baldachinen vor der Wasser speienden Marmorstatue eines sich aufbäumenden Fisches, der von einer Nixe mit prallen Brüsten geritten wurde. Das Wasser stürzte in ein flaches Auffangbecken, in dem im Sommer die Mädchen planschten. Madame saß dann in einer der überdachten Hollywoodschaukeln, und stöberte in Stapeln von Papieren, während eine goldrandige Brille ihrer gouvernantenhaften Erscheinung den letzten Schliff gab. War an den Wochenenden ihr Mann dabei, dann sah man diesen in ständiger Bewegung, kleine, unverständliche Laute des Entzückens ausstoßend, bis er unweigerlich in ihren Gravitationsbereich geriet, und damit an ihre Duldungsgrenze stieß, wie ein Ochse an den elektrischen Weidezaun, und, ohne dass dabei ein Wort fiel, daran erinnert wurde, dass er sich um sich selbst zu scheren habe, wonach er sich wieder reflexartig von ihr entfernte, um kopflos mit irgendwelchen Utensilien zu hantieren, oder bei den Kindern Zuflucht zu suchen, bis alles von vorn begann. Diese Eindrücke erhielt ich nur im Vorübergehen, und anlässlich einiger weniger Einladungen zum Nachmittagskaffee. Da sich ansonsten für mich ein Aufenthalt in diesem Teil des Grundstücks nicht schickte, und ich auch kein Bedürfnis danach verspürte, ging ich oft an den brusthohen, exakt geometrisch gestutzten Hecken entlang auf einem längeren Plattenweg in den verwilderten Park hinaus. Dabei tauschte ich gelegentlich, wenn sie im Garten waren, mit den Eheleuten einen förmlichen Gruß. Irgendwann hörte der gepflasterte Weg einfach auf, die letzten Platten waren zerbrochen, und halb im Erdreich versunken.

Das Anwesen war sehr weitläufig, und nur in unmittelbarer Nähe des Hauses gepflegt und übersichtlich. Gaston hat mir erzählt, dass es von unschätzbarem Wert sei, und durch Vererbung der Hausherrin zugefallen war. Trotz seiner bisherigen Randlage im Osten der Stadt wurde der Besitz doch in zunehmendem Maße interessant für Spekulanten, und geriet immer öfter ins Visier städtebaulicher Planungsämter, Madame M. hatte es aber immer verstanden, mit juristischen und anderen Mitteln eine Zerstückelung des Geländes oder einen Teilverkauf zu verhindern. In der Nähe des Hauses stand ein Gemisch von Laub- und Nadelbäumen, vereinzelte Pinien und Kiefern wechselten sich ab mit Buchen, Eichen und Kastanien, dann begann reiner Laubwald, und zwischen den Bäumen waren große Flächen zugewuchert von Brombeeren, Brennnesseln und allerhand üppig gedeihendem Unkraut. Es war jedes Mal von neuem ein Abenteuer, einen Weg da hindurch zu finden, denn nur ab und zu waren Reste alter Pfade zu erkennen. Hier und da lag verrostetes Gerät im Gebüsch, ein eisernes Bettgestell vielleicht, oder die Trümmer eines Karrens. Ich nahm an, dass die Besitzer des Geländes nie hier spazieren gingen, denn sie hätten sicherlich ihrem Gärtner aufgetragen, Ordnung zu schaffen.

Nach einer Weile gelangte man so an die südliche oder südöstliche Grenze des Grundstücks, was sich durch das schwache Rauschen des Verkehrs von einer nahen Ringstrasse ankündigte. Man sah dann unvermutet durch das Dickicht die dunklen Brocken einer alten Mauer, die streckenweise ganz oder teilweise eingestürzt war, und oft durch einen windschiefen Zaun ersetzt wurde, und auch in diesem klafften große Lücken, bis schließlich in südlicher Richtung außer ein paar im Laub liegenden, morschen Pfosten und verrosteten Drähten nichts mehr davon übrig war, und das private Grundstück stufenlos in das angrenzende Waldgebiet überging. Im Sommer herrschte hier auch bei prallem Sonnenschein nur ein grünes Dämmerlicht, und der Boden war ein dicker Teppich von moderndem Laub, nur unterbrochen von Buschwerk, mannshohen Farnen, den bemoosten Leibern gefallener Stämme und morschem Astwerk.

Eines Tages im Spätherbst, wenige Wochen nach Beziehen meines neuen Domizils, versuchte ich, dem kaum mehr wahrnehmbaren Verlauf der Grundstücksgrenze in südwestlicher Richtung zu folgen, und stieß plötzlich auf einen grasgrün lackierten, offenbar metallenen übermannshohen Kubus, etwa von der Form eines größeren Kiosks, der etwas schief und mit halb geöffneter Tür auf dem unebenen Waldboden stand. Ob es als ehemaliges Gerätehaus der Forstverwaltung für Waldarbeiten genutzt wurde, vermochte ich nicht zu sagen, wusste aber dass dieser entlegene Teil des Grundstücks nicht zu Gastons Arbeitsbereich gehörte. Mein erster Impuls war, die Tür weiter zu öffnen, um hineinzusehen, da sah ich an der Seite, etwa in Kopfhöhe, ein kleines Glasfenster. Ich sah hinein, ohne eine andere Erwartung, als im Innern altes Gerümpel oder einen Berg hineingewehtes Laub vorzufinden, oder einen leeren, durchgerosteten Boden. Wie groß war meine Überraschung, als ich im Inneren einen jungen Mann in einem Korbstuhl sitzen sah, vertieft damit beschäftigt, einer alten Weste mit Nadel und Faden einen Flicken aufzunähen. Wie er da so saß, in einer ruhigen, ebenso konzentrierten wie arglosen Haltung, ohne den Hauch einer Ahnung, dass er beobachtet wurde, da er mir den hinteren, seitlichen Teil seines Kopfes zuwandte, schien er mir, in seiner seltsamen Kleidung und der Art seiner Bewegungen, gleichzeitig von unerhörter Fremdheit, und doch solcher Vertrautheit, dass ich einen Moment der Ratlosigkeit überwinden musste, um zu verstehen, was ich sah. Irgendwie unterstrich die Jugend in seinem glatt rasierten Gesicht seine Seltsamkeit, auch die Mütze, die er trug, mit einer hohen, hochgeklappten Krempe über der Stirn, und ein buntscheckiges, wollenes Wams, das ihm bis zu den Schenkeln reichte und nicht viel mit einem modernen Pullover gemeinsam hatte. Er trug dunkle Hosen und an dem einen Fuß, der mir sichtbar war, einen derben, hohen Schnürstiefel.

Hätte ich einen Waldarbeiter bei der Vesper oder einem Nickerchen vorgefunden, oder einen verschissenen Penner, der seinen Suff ausschnarcht, und sich im Schlaf den Schorf von der Krätze pult, meine Überraschung hätte sich schnell gelegt, und ich wäre gleich meines Weges gegangen. Ich kam schnell auf den Grund der Vertrautheit mit dem was ich sah. Er bestand darin, dass der Junge nähte, und in seiner fleckig geröteten Gesichtsfarbe, die ich deutlich erkennen konnte, da durch ein zweites Fenster auf der gegenüberliegenden Seite des Häuschens genügend Licht hereinfiel. Er war zweifellos einer von denen, in denen das Feuer einer Besessenheit brannte, einer Besessenheit, die Leute wie ihn zu ausgestoßenen Kindern machte. Ich hatte schon viele von ihnen getroffen: Gesichter voller gläubiger Schicksalsergebenheit, aber wie getrieben von einem fiebernden inneren Zwang. Und da sie keine gewöhnlichen Vagabunden sind, und nicht aus purer Gewohnheit regelmäßig karitative Hilfe in Anspruch nehmen, halten sie ihre Sachen instand, so gut sie können. Oft mit skurrilen Ergebnissen. Bindfäden und Flicken aller Art halten auseinander fallende Teile zusammen, Fundstücke kommen hinzu, einst alltägliche Kleidungsstücke werden der Notwendigkeit angepasst, ändern ihre ursprüngliche Form, und verleihen ihrem Träger schließlich jenes ebenso eigene wie fremdartige Aussehen zwischen Zirkus und Freibeutertum, in dem Kinder gern, lässt man sie gewähren, an die Verwirklichung ihrer Träume gehen. Eine erlernte Kühnheit kommt hinzu, und ein immer irgendwo im Innern mitgesummtes Heldenlied, das die alte Geschichte vom tapferen Wagnis und dem versprochenen reichen Lohn erzählt.

Während er still an seiner Arbeit saß, sah ich mir seine Umgebung an. Am Boden lag ein offener Leinensack, eine Anzahl verschieden weit abgebrannter Kerzen waren auf einer Kiste aufgestellt. Einen Gaskocher konnte ich erkennen, Konservendosen und mehrere Wasserflaschen. Längs der Wand, der er zugewandt war, lag so etwas wie eine Schlafstatt aus einem Schlafsack und zwei sauber aufgerollten Wolldecken. Außerdem sah ich eine Menge voller und leerer Plastiktüten, ein halbes Brot, einen Tee- oder Wasserkessel, Blechgeschirrteile und Konservengläser, die wohl als Tassen dienten. Ich hatte mir inzwischen, mehr aus Neugier, vorgenommen, ihn zu fragen, ob er irgendwelche Hilfe brauchte, um mehr über ihn zu erfahren, als ich bemerkte, dass er seine Position verändert hatte, und mir jetzt mehr von seinem Gesicht zuwandte. Er hielt in seiner Arbeit inne, und schien irgendwie in emotionelle Bewegung zu geraten. Sein zuvor sanftes und ruhiges Gesicht geriet in einen Zustand der Angespanntheit, und er sah fixiert vor sich hin, als habe etwas seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wenn er hinten keine Augen hatte, konnte er mich unmöglich bemerkt haben, und ich hatte auch kein Geräusch gemacht.

Während sein Blick sich weitete, verzog sich sein Mund wie zu einem Fletschen, und, von einer ruckartigen Bewegung seines Kopfes unterstrichen, schien er einen kurzen Laut auszustoßen. Ich meinte etwas wie ein Knurren zu hören, gefolgt von mehreren unverständlichen Silben, die mir wie eine Folge von Zischlauten klangen. Dann kam ein hartes, bellendes Lachen, böse und triumphierend, und er bewegte einige Male den Kopf hin und her, wie ein Raubtier, das ein gepacktes Opfer schüttelt. Dabei rutschte ihm der Seeräuberhut vom Kopf, und gab den Blick frei auf einen ziemlich verfilzten, dichten, roten Haarschopf. Wie der Hut zu Boden kollerte, schien er zu sich zu kommen, und stierte noch einen Moment lang blöd in die Luft, wobei er allmählich eine entspanntere Haltung annahm. Seine Schultern hoben und senkten sich deutlich, als er ein paar Mal tief durchatmete, dann schloss er den Mund, setzte sich den Hut wieder auf, und nahm in derselben gefassten und konzentrierten Weise wie vorher seine Arbeit wieder auf.

Ich ließ von meiner Absicht ab, ihn anzusprechen, obwohl ich nicht sonderlich schockiert war von dem was ich gesehen hatte, und entfernte mich vorsichtig von dem Häuschen, wobei ich mich bemühte, nicht auf verräterisch knackende Zweige zu treten. Ich gelangte bald auf die südliche Zufahrt zum Haus, und wandte mich heimwärts. Schon nach wenigen Metern musste ich über den Graben bis dicht an den Maschendrahtzaun ausweichen, weil der silberne Roadster von Madame M., der die schmale Straße hoch kam, die gesamte Breite der Auffahrt einnahm. Als sie neben mir hielt, und mir erklärte, sie nehme ja normalerweise keine Anhalter mit, würde aber in meinem Fall eine Ausnahme machen, täuschte mich ihr gut gelaunter Tonfall kaum über die reglose Forderung in ihren Augen hinweg, obwohl ich diese durch die Gläser ihrer Sonnenbrille mehr ahnte, als dass ich sie sehen konnte. Mit der Brille und dem hochgesteckten Blondhaar sah sie am Steuer ihres Cabrios aus wie ein Filmstar der sechziger Jahre, irgendwas zwischen Grace Kelly und Doris Day. Sie fragte nach dem Fortgang meiner Arbeit, und ich erzählte etwas von einer schöpferischen Pause und einem ausgedehnten Spaziergang durch das südliche Waldstück.

 “Passen sie auf, da gibt es noch Wölfe," sagte sie neckisch, und ich lächelte, sagte ihr aber nicht, wie recht sie hatte. Ich hob ihr die beiden Designerstühle, die sie in der Stadt gekauft hatte, vom Rücksitz, und trug sie ihr direkt in die Veranda, wo sie ihren Platz haben sollten. Sie waren aus Stahl und tropischem Holz, und würden dort herumstehen wie Museumsstücke aus der Zukunft, denn ich hatte noch nie jemanden in der verglasten Veranda sitzen sehen, und bezweifelte, dass die neuen Stühle daran etwas ändern würden.

 

 





                                                                                        *



 

 

 

Wie alle, die für ihren Broterwerb auf freiwillige Zuwendungen angewiesen sind, legte Maria Wert darauf, zu verhindern, dass bei der Kundschaft der Eindruck entstand, in dem Korb auf ihrem Tisch habe sich bereits ein kleines Vermögen angesammelt. Zwar waren die Tarife ordentlich und für alle sichtbar auf einer Tafel aufgelistet, aber wenn sie regelmäßig den Korb in die Tasche unter ihrem Tisch entleerte, vor allem dann, wenn bereits ein paar Silbermünzen darin lagen, dann gaben viele, mit einem mitfühlenden Blick auf die ebenso verhärmt wie wachsam und würdevoll dasitzende Frau, die meistens an einem Schal oder einem Pullover strickte, mehr als den Pflichtbetrag, in der Meinung die armseligen Almosen, die nicht einmal den Boden des Korbes bedeckten, seien das einzige, was sie an diesem Tag eingenommen hatte. Denjenigen aber, die sich ihrer Schuld ganz entzogen, indem sie mit eingezogenem Kopf vorübereilten, sei es weil sie kein Kleingeld hatten, oder weil sie der Auffassung waren, dass schon genug südländisch aussehendes Volk versuchte, sich etwas vom Wohlstand der Hauptstadt abzuzweigen, flog von hinten manch derbes Schimpfwort in Marias Heimatsprache an die Ohren, wobei immer sicher war, dass die Nachricht den erreichte, für den sie bestimmt war, und mit ihrem ganzen Sinngehalt. Die wenigsten von diesen entkamen ihr ein zweites Mal, weil es schien, dass Maria immer im richtigen Moment aufschaute, um sie schon beim Eintreten zu erkennen. Manche kauften sich dann mit einer größeren Münze frei, um einen Skandal zu vermeiden, oder sie kamen gar nicht erst in die Metrotoiletten, sondern pinkelten irgendwo oben in die Büsche.

Während Felice an diesem ihrem freien Nachmittag ihrer Mutter beim Stricken eines Schals zusah, hoffte sie inständig, er sei nicht wieder ein Geschenk für sie, da der Geruch seiner Herkunft, trotz oftmaligen Waschens, hartnäckig haften blieb, und gleichzeitig der Wunsch, ihre Mutter nicht zu kränken, indem sie ihn nicht trug, sie, wie schon oft, in arge Verlegenheit bringen würde. Um sich selbst von diesem störenden Gedanken abzulenken, erzählte sie, nicht ohne reichliche Ausschmückungen, wie sie am Vorabend, als Monsieur noch spät zu einem überraschenden Treffen ins Ministerium gerufen worden war, ihm in letzter Minute noch einen Knopf angenäht hatte, nachdem sie ihn auf sein Fehlen aufmerksam gemacht hatte. Beim Hinausgehen hatte er sie väterlich in die Wange gekniffen, und sie seinen Engel genannt. Ein solches Rollenspiel stand Monsieur selbst beim Umgang mit seinem Dienstmädchen schlecht zu Gesichte, aber das wusste ihre Mutter nicht. Diese ließ nun für einen Moment die Stricknadeln ruhen, und ihre braunen Augen waren mit innigem Glanz auf ihre Tochter gerichtet.

Felice, die der Eingangstür zugewandt saß, schaute ab und zu auf zur eintretenden Kundschaft, während sie an ihrer Zigarette zog, und wenn die Leute an ihrem Tisch vorüber waren, die Frauen nach links, die Männer nach rechts, dann machte sie oft mit einer Bewegung ihres Kinns ihre Mutter auf einzelne aufmerksam, die ihr aufgefallen waren. Meistens war es Stammkundschaft, über die sie dann hinter vorgehaltener Hand Kommentare tuschelte, sodass ihre Mutter das ständig spielende Kofferradio leiser stellen musste, um sie zu verstehen. Hinterher stellte sie es wieder lauter, da es dazu diente, ihr den Tag erträglicher zu machen indem es die Geräusche aus den Kabinen übertönte. Der Ausdruck jäh erwachter Aufmerksamkeit, der nun auf dem Gesicht ihrer Tochter erschien, veranlasste Maria, ihrem Blick zu folgen, und zur Tür zu sehen. Der junge Mann, der hereingekommen war, ging mit seinen zwei Plastiktüten geradewegs auf den Wasserhahn in der Ecke zu, nachdem er den beiden Frauen einen scheuen Blick zugeworfen hatte. Wäre er in seinem Aufzug vor zweihundert oder fünfhundert Jahren über den Marktplatz der Stadt gegangen, ohne seine Plastiktüten, er hätte kaum Aufsehen erregt. Solche Hüte mögen Turmwächter getragen haben, solche groben, ausgebeulten Hosen und Jacken, mit seltsamen Falten, Borten und Knöpfen, wie man sie an der Kleidung von Landsknechten oder Handwerksleuten fand, zu allen Zeiten seit dem Mittelalter. Er war ziemlich unrasiert, und trug schon den Ansatz eines rötlichen Bartes, und ebensolche Haare, die ihm bis auf den Kragen fielen. Sein Blick war der eines Kindes, voller Gleichmut und Ergebenheit, und wenn man versuchte sein Alter zu schätzen, dann schien es, als ob er die dreißig noch nicht erreicht hatte.

Der Wasserhahn in der Ecke diente dazu, zur Reinigung des gekachelten Raumes die Eimer zu füllen, und einen Schlauch anzuschließen. Nun stand der Fremde dort, ohne sich noch einmal umzusehen, und füllte etwa ein Dutzend großer Mineralwasserflaschen, wie sie in der freien Natur in diesem Land allzu reichlich vorkommen, mit Wasser, worauf er sie eine nach der anderen wieder in den Tüten verstaute. Maria hatte sich wieder dem Stricken zugewandt, ohne in der gewohnten Weise auf den fragenden Blick ihrer Tochter zu antworten, die jetzt nur noch Augen für den Fremden hatte. Ob es seine ernste Bestimmtheit war, die sie fühlte, oder aber seine Einsamkeit, oder seine Bestimmung zur Einsamkeit, irgendetwas drängte sie dazu, die Aufmerksamkeit des Fremden auf sich zu ziehen. Er war es selbst, der ihr Gelegenheit dazu gab. Als alle Flaschen gefüllt waren, ließ er die Tüten in der Ecke stehen, und kam zu ihrem Tisch herüber, um eine Münze in den Korb zu legen. Sein Blick ging zwischen den beiden Frauen hin und her, als sei ihm aufgefallen, dass sie Mutter und Tochter waren. Als Felice ihm jetzt mit einem koketten Lächeln eine Zigarette anbot, erschien ein verlegener Ausdruck um seine Augen, dann schüttelte er den Kopf, während der einen Fünfziger in den Korb legte, worauf ihm Maria freundlich zunickte. Ob er denn nicht rauche? Doch, aber nicht jetzt. Er murmelte einen Dank, und ging seine Tüten holen. Sie waren jetzt so schwer geworden, dass es aussah, als ob gleich die Griffe reißen würden. Während er sie hinaustrug, schaute er noch einmal herüber, und grüßte zum Abschied.

Nun erst ließ Maria ihr Strickzeug sinken. Einen Moment lang sahen die beiden einander an, als wartete jede darauf, dass die andere zuerst sprach. Dann lachte Maria, und begann wieder zu stricken. 

“Der kommt jede Woche einmal, holt sein Wasser, und zahlt dafür. Ich glaube, er ist sehr arm, und schläft irgendwo draußen.” 

“Draußen? Vielleicht macht er Musik in der Metro. Oder er jongliert.” 

“Braucht man dazu Wasser?” wandte Maria ein, “Der ist obdachlos, und hat sich irgendwo eingenistet, vielleicht unter einer Brücke, oder in einem Abbruchhaus.” 

“Er ist noch jung und scheint gesund zu sein. Er könnte doch arbeiten.” 

“Es ist immer dasselbe," entgegnete Maria mit einem Schulterzucken, “ohne Wohnung kriegst du keine Arbeit, und ohne Arbeit keine Wohnung. Und außerdem vielleicht will er gar nicht arbeiten. So wie er rumläuft.“ Felice war nicht einverstanden, und wollte noch etwas entgegnen, aber sie fühlte bereits, dass ihre Gedanken über den Sonderling ihre Privatsache waren. Sie ging am frühen Abend, da sie zu Hause noch gebraucht wurde, merkte sich aber den Wochentag.

Als das Abendessen abgeräumt war, half sie die Kinder ins Bett zu bringen, und hatte den Auftrag, in einer Stunde noch einmal nach ihnen zu sehen, da ihre Herrschaft ausgehen wollte. Sie versprach daran zu denken, wünschte einen angenehmen Abend, obwohl Monsieur einen seifigen, leidenden Gesichtsausdruck hatte, und auch die übliche unterkühlte Strenge der Hausherrin nicht versprach, dass an diesem Abend die Herzlichkeit zwischen den Eheleuten allzu hohe Wellen schlagen würde, was auch immer sie vorhatten. Als sie später in ihrer Kammer stand, ein paar Dinge gerichtet hatte, und bereit war, einmal nach den Kindern zu sehen, da sah sie im Spiegel, dass einer ihrer Ohrringe fehlte. Da, wo er gewesen war, baumelte nur das Ende des silbernen Kettchens herab. Sie fasste sich zerstreut ans Ohr, und dachte, dass es ihr schon den ganzen Abend schwer gefallen war, sich mit der gebotenen Aufmerksamkeit auf alles zu konzentrieren, was sie tat, und dachte an den Fremden von der Metrostation. Da sie den Ohrring in ihrem Zimmer nicht finden konnte, dachte sie, dass er vielleicht im Kinderzimmer lag, da die kleine Amélie die Gewohnheit hatte, danach zu greifen, und ging hinauf. Als sie an der Tür zum Salon vorbeikam, beschloss sie, zunächst dort nachzusehen, weil sie die Kleine von dort auf dem Arm in ihr Zimmer getragen hatte. Dass sie kurz anklopfte, war nur ein Reflex, denn ihre Herrschaft war sicher längst gegangen, und so öffnete sie fast gleichzeitig die Tür, ohne abzuwarten, ob sie jemand hereinbat.

Sie erstarrte in der offenen Tür, denn das Licht war an, und Madame stand mitten im Zimmer, in einem hautengen, dekolletierten Abendkleid. In ihrem Gesicht stand ein grausamer Ausdruck von Verachtung, und von ihrer bewegungslosen, erhobenen Hand baumelte ein Ledergürtel. Was da vor ihr auf allen Vieren, und in langen Unterhosen, über den Teppich kroch, und eben in diesem Moment ein hündisches Wimmern ausstieß, war zweifellos ihr Mann, und später sah Felice dasselbe Bild in ihrer Erinnerung immer als die direkteste Darstellung dessen, was die beiden Eheleute in allen, auch den unverfänglichsten Situationen, füreinander gewesen waren. Felice erschrak so sehr, dass ihr bei ihrer hastig gestammelten Entschuldigung fast die Stimme versagte, und wollte sich zurückziehen. Da sagte Madame, während ihr kauernder Mann den Hals nach hinten reckte, um zu sehen, ob von da auch noch Züchtigung drohte:

 “Ach, da sind sie ja, helfen sie doch bitte meinem Mann suchen, ihm ist eine Kontaktlinse heruntergefallen, wir werden uns verspäten.” Nichts in ihrer Stimme verriet, dass sie die Fassung verlor. Sie warf den Gürtel auf die Couch, und verschwand im Bad. Felice suchte dann eine Weile allein, weil Monsieur ging, um sich seine Hose anzuziehen, fand aber keine Kontaktlinse, zumal Monsieur höchstens, und nur zum Lesen, eine Brille aufzusetzen pflegte. Stattdessen fand sie ihren Ohrring, und durfte sich schließlich zurückziehen, nachdem Madame sie mit den Worten entlassen hatte:

” Dann muss er halt seine Brille wieder aufsetzen.”

An ihrem nächsten freien Nachmittag - er fiel wieder auf denselben Wochentag - war Felice zur Stelle, nicht nur um ihre Mutter zu besuchen, sondern vor allem in der Hoffnung, den geheimnisvollen Wasserträger wieder zu treffen. Er kam aber erst am Tag darauf, als sie wieder arbeiten musste. Und noch einmal verfehlte sie ihn. Maria fiel auf, dass ihre Tochter ihren ganzen freien Nachmittag bei ihr verbrachte, während sie sonst gern noch einen Stadtbummel machte. Beiden ging der Gesprächsstoff aus. Felice dachte nicht daran, von der bizarren Begebenheit zu erzählen, die sich im Haus abgespielt hatte, weil sie das Weltbild ihrer Mutter nicht erschüttern wollte, behielt den Eingang im Auge, und rauchte zuviel. Schon drei Tage später hatte sie wieder frei, setzte sich hin, und gab sich redselig. Sie wirkte gestresst, und erzählte dass das kleinere der beiden Mädchen ihr Sorgen machte, weil es manchmal tagelang kein Wort sprach, und beim geringsten Anlass anfing zu weinen. Madame sei schon ganz ratlos, und überlegte, ob es besser war, mit ihr zu einer Therapeutin zu gehen, oder eine ins Haus kommen zu lassen.

Unvermittelt stellte Maria das Radio ab, gerade als Jacques Dutronc sang: “J`attendrai...” und sagte: 

“Heute kommt er.” Felice fragte nicht, wen sie meinte, aber schaute zur Tür. 

“Er war die ganze Woche nicht da, wenn er heute nicht kommt, holt er sein Wasser woanders.”

 “Wie willst du das wissen?” Maria antwortete nicht. Stattdessen entrollte sie den fertigen Schal, und untersuchte ihn, als ob sie feststellen wollte, ob sie eine Masche vergessen hatte. Auf ihre häufigen Fragen nach Männern aus dem Bekanntenkreis des “Herrn Ministers” hatte Felice nie etwas brauchbares geantwortet, nur, dass er nicht Minister sei, sondern höchstens Staatssekretär. Solche Details kümmerten Maria nicht. Aber das Interesse ihrer Tochter an jemandem, der wie ein verlorenes Kind durch eine Traumwelt streunte, machte ihr Sorgen. Nachdem sie noch eine ganze Weile so dagesessen waren, während die Geräusche aus den Kabinen ungehindert an ihre Ohren drangen, schien Felice auf einmal hellwach zu werden. Eine Gestalt in einem triefnassen Armeeparka war eingetreten, stellte zwei große Plastiktüten mit dem Logo eines bekannten Kaufhauses beim Wasserhahn in der Ecke ab, und streifte die Kapuze vom Kopf. Ein stümperhaft geschnittener, und dennoch ungebändigter, kupferroter Haarschopf kam zum Vorschein, das jetzt glatt rasierte Gesicht darunter aber erkannte Felice sofort an den ernsten Kinderaugen. Der junge Mann wandte sich zu den Frauen um, und grüsste. Felice bückte sich hastig zu ihrer Tasche am Boden, und entnahm ihr ein Päckchen mit einem Mohnkuchen, dem gleichen, den sie die Woche zuvor unverrichteter Dinge wieder mit nach Hause genommen, und Gaston geschenkt hatte. Jetzt stand sie auf, und lief mit ihrem Geschenk zu dem jungen Mann hinüber, der wie immer seine Flaschen abfüllte, wobei sie sich bemühte, gemessenen Schrittes zu gehen, und ihr Herzklopfen zu ignorieren. Als er sich aufrichtete, um eine soeben gefüllte Flasche zu verschließen, stand sie vor ihm und sagte:

“Es regnet wohl?” Er troff. Sie bemühte, sich langsam zu sprechen, da man ihr gesagt hatte, wenn sie spräche klänge es wie portugiesisch mit französischer Aussprache, oder umgekehrt. 

“Setz dich doch zu uns, bis es wieder aufgehört hat.” Dass sie du sagte, kam ihr vermessen vor, doch meinte sie, zwischen sich und ihm keine Standes - oder Altersunterschiede feststellen zu können, die dies gänzlich ausschlossen. Sie hielt das Kuchenpäckchen so nah vor ihn hin, dass er überrascht zurück wich.

 “Magst du keinen Kuchen?” fragte sie, und setzte ein furchtsam-betrübtes Gesicht auf. 

“Doch, äh, das ist sehr freundlich von ihnen, Dankeschön," sagte er und nahm den Kuchen. Entweder, sie hatte trotz allen Bemühens zu undeutlich gesprochen, oder er wollte nicht geduzt werden. Sie schluckte. Er senkte den Blick, und suchte mit seiner freien Hand in seiner Manteltasche, in der eine Menge Kleingeld klimperte.

 “Bezahlen musst du bei meiner Mutter," sagte sie mit ihrem mutigsten Lächeln, ”der Kuchen ist umsonst," dabei wies sie auf die Frau am Tisch, die zu ihnen herübersah.

 “Deine Mutter," sagte er und sah sie kurz an. Na also.

Von einer der Kabinen ertönte eine Eruption, so heftig, dass sie nur die Folge einer Rohkostdiät sein konnte. Während erneut ein Verzagen in ihr aufstieg, ließ er sie stehen, und ging zu Marias Tisch hinüber. Sie folgte ihm und, legte sich ihre nächste Frage zurecht. Während er die Münze in den Korb legte, und Maria ihm dankend zunickte, sah Felice ihn von der Seite an, und fragte: 

“Wozu brauchst du das Wasser?”

 “Jeder braucht Wasser," sagte er, “oder nicht?” 

“Doch, sicher," sagte sie schnell, und setzte nach: ”die meisten haben zu Hause einen Wasserhahn.” Sie hatte gleich das Gefühl, es habe wie ein Vorwurf geklungen. 

“Ich nicht," sagte er spröde. Felice getraute sich nun nicht mehr, ihm noch einmal einen Platz am Tisch anzubieten, da ihr jetzt erst auffiel, dass nur zwei Stühle da waren. 

“Wohnst du hier in der Nähe?” bohrte sie weiter, und ihre Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren, sank ins Bodenlose, als sie sah, dass er die Augenbrauen zusammenzog, und Anstalten machte, zu gehen. Dennoch bequemte er sich zu einer Antwort auf ihre letzte Frage. 

“Im Wald," sagte er, ohne sie anzusehen. Nun war ihr Mitgefühl stärker als ihre Verlegenheit.

“Wenn es da kein Wasser gibt, dann gibt es sicher auch keine Heizung? Es ist doch fast Winter.”

“Oh, keine Sorge, es ist trocken und warm. Und ich bin froh, dass ich hier mein Wasser holen kann. Sie sind wirklich beide sehr freundlich.”

Der letzte Satz klang sehr förmlich, und Felice fühlte sich abgefertigt und ratlos. Ihre Mutter hatte inzwischen ein neues Werk in Angriff genommen. Von ihr kam keine Hilfe, nur das Klappern der Nadeln und ein gelegentliches Aufschauen. Der Fremde hatte die Augen auf den Kuchen gerichtet, wandte ihn in der Hand hin und her, und Felice erwartete fast, dass er höflich fragte, wozu man so etwas benutzte. 

“Also dann, bis nächste Woche," sagte er schließlich, und fügte mit einem Lächeln hinzu:” Und vielen Dank für den Kuchen.” Dann ging er seine Tüten holen, legte den Kuchen in eine davon, stieß mit der Schulter die Tür auf, und verschwand.

“Er hat einen Akzent," sagte Felice zu ihrer Mutter.

 “Kann sein, vielleicht ist er Engländer.” Sie schaltete das Radio wieder ein, und setzte schweigend ihre Arbeit fort.

 “Was hast du mit ihm vor?” sagte sie auf einmal, mit einer gewissen Entschiedenheit in der Stimme, sodass es kaum wie eine Frage klang. 

“Ich weiß nicht. Bald ist Weihnachten. Vielleicht kann ich ihm was schenken. Er ist so arm.”

 “Was willst du ihm denn schenken?” Sie bemerkte dass der Blick ihrer Tochter auf dem Schal ruhte. 

“Der ist für Madame Ginette," sagte sie hastig. Felice wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte, dass sie nicht selbst auserkoren war. 

“Mir wird schon was einfallen," sagte sie dann trotzig, “ich hab eine Woche Zeit.” Ihre Mutter hob die Schultern, seufzte und ließ die Nadeln klappern. Es sollte ein wunderschöner Pullover werden, eine Überraschung für ihre Tochter. Bis Weihnachten musste er fertig sein.

 

 




                                                                                        *





 

Die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, hatte dazu geführt, dass er sich mit absoluter Sorglosigkeit bewegte. Jeder Tag, so mühevoll er auch sein mochte, war für ihn wie ein offener Weg. Widrigkeiten gab es genug, und Menetekel, die ihm erschienen, wenn er auf der Suche nach Vorahnungen ins Dunkel der Zukunft starrte. Aber er wurde sich schon lange nicht mehr schlüssig, ob beides jemals übereinstimmte. Sicher blieb nur die Vision einer goldenen Zukunft am Ende des Weges, und dass alle Hindernisse ihm bestimmt waren, und nur dazu dienten, ihn schneller ans Ziel zu bringen. So fürchtete er die schweren Zeiten nicht, da an ihrem Ende immer eine Belohnung wartete. Als er eines Tages vor dem schief stehenden, verlassenen Gerätecontainer im Wald gestanden war, hatte er fast erwartet, seinen Namen auf der Tür zu finden, sein Lager unter einer Autobahnbrücke geräumt, und seine neue Bleibe in Besitz genommen. Wenn er ausging, um Wasser und Nahrung zu besorgen, ließ er sorglos die Tür offen, und immer wenn er heimkam war alles unberührt. Er fand dann eine neue Wasserquelle, nur zwanzig Minuten entfernt in der Haltestelle der Expressmetro, mit der freundlichen Duldung durch die Toilettenfrau der Spätschicht, einer Spanierin oder Portugiesin mittleren Alters. Auch das Nahrungsangebot war reichlich. Es gab einen Straßenmarkt und mehrere Supermärkte, in denen er sich die Taschen füllen konnte, wenn er Zucker kaufte, oder Nudeln. Sein Mantelsack war immer schwer von Münzen, und sein neues Revier weitläufig genug, um im nächsten Frühjahr noch nicht abgegrast zu sein.

Eines Nachts im Dezember erwachte er, schaute sich um, und wusste nicht, wo er war. Das dröhnende Gewölbe über ihm war verstummt. In die stille Schwärze drang nur ein schwaches Dämmerlicht, dessen Ursprung sein umherirrender Blick lange suchte, um Halt zu finden, und Erinnerung. Die Winkel stimmten nicht, und seine Position darin war von rätselhafter Unbestimmtheit. Dann schien alles auf ein schwach schimmerndes Rechteck in der Ferne zuzulaufen, wie durch einen Tunnel. Er hatte noch das panikartige Gefühl, darauf zu zu fallen, da nahm der Raum seine vertrauten, nahen Konturen wieder an, und er ließ sich schwer atmend zurückfallen auf das Polster, während ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Er wusste wieder wo er war, doch für einen Moment umfing ihn ein übermächtiges Gefühl der Verlorenheit, und aus seiner Mitte stieg ihm unvermittelt das Bild der jungen Frau in den Sinn, die er beim Wasserholen getroffen hatte. Er hatte eine ganze Weile nicht mehr an sie gedacht. Nun sah er ihre lebhaften Augen vor sich, und ihr dichtes, dunkles Haar, und hörte den fremdländischen, melodischen Klang ihrer Stimme, in dem ebensoviel Koketterie wie Mitgefühl war. Mit tiefen, gleichmäßigen Atemzügen schlief er wieder ein.

Der nächste Tag war ein Freitag. Eine Woche zuvor hatte sie ihm den Kuchen geschenkt. Er sah, dass sein Wasser noch zwei Tage reichte, nahm aber trotzdem die Tüten mit den leeren Flaschen, und machte sich auf den Weg. An der Grenze des Privatgrundstücks im Norden entlang, das zunächst durch Reste eines verfallenen Zaunes markiert war, folgte er einem Weg, der bald in ein Parkgelände einmündete, auf dessen anderer Seite die Metrostation lag. Es war ein klarer, frostiger Tag eine Woche vor Weihnachten. Die Vorhalle der Metro empfing ihn mit ihrem Geruch nach Gummibelägen und erhitztem Metall. An der Reihe der Fahrkartenautomaten entlang ging er zum Toiletteneingang. Da lief er direkt in die Arme einer Viererpatrouille, die sich breitbeinig, mit blinkenden Schnallen und Abzeichen, vor ihm aufbaute. Endstation.

Jedes Mal wenn sie direkt vor ihm standen, hatte er für einen Moment das Gefühl, dass die glänzenden Schäfte ihrer Stiefel bis in Höhe seiner Augen reichten. Auch fragte er sich immer wieder, ob es notwendig war, dass sie soviel Metall an sich trugen, als wären sie Cyborgs, sodass von ihnen ein ständiges Klicken, Klirren und Blinken ausging, das so kalt war wie die schneidende, dünnlippige Distanziertheit, die in ihren spitznasigen Jünglingsgesichtern stand. Bei ihrem deutlich älteren, schnauzbärtigen Brigadier kam ein feistes Funkeln hinzu, und ein gereiztes Schnaufen, wenn er mit sichtlich gedehntem Genuss sein Opfer taxierte, bevor er zu ihm sprach.

“...und dieser hier will nach Disneyland, das sieht man an der Mütze.” Die Untergebenen ließen folgsam ein meckerndes Lachen vernehmen, und klemmten die Daumen hinter das Koppel. 

“Fragen wir ihn doch einmal, ob er eine Fahrkarte hat.” Der Tonwechsel zum offiziellen Teil kam lässig, präzise und gut einstudiert: 

“Ausweiskontrolle, ihre Papiere bitte.” Vier Augenpaare wanderten von seinen Stiefeln bis zu seiner Mütze und zurück, bis sie gleichzeitig bei seinen Plastiktüten haltmachten.

 “Waren sie einkaufen? “ Wieder eine Salve meckernden Lachens. Er überlegte, ob das Öffnen der Tüten jetzt Vorrang hatte vor dem Zeigen des Ausweises. Noch jemand trat plötzlich in ihren Kreis, und stellte sich vor ihn hin.

“Da bist du ja endlich. Hast du die Flaschen? Meine Mutter wartet schon...” Sie nahm ihm die Tüten mit den Flaschen aus der Hand.

”... was ist los, hast du Ärger?” Ihr offener, überraschter Blick ging der Reihe nach über die konsternierten Gesichter der Polizisten. Er hatte inzwischen seinen Ausweis hervorgeholt, und reichte ihn dem Brigadier, der ihn aber nicht annahm, da er verärgert die junge Frau fixierte: 

"Wer sind sie, was wollen sie, dies ist eine Ausweiskontrolle. Zeigen sie bitte ihre Papiere.” 

“Die muss ich erst holen," sagte sie, und wollte sich entfernen, da grabschte der am nächsten stehende Polizist nach dem Ärmel ihrer Strickjacke, die ihr von der Schulter glitt.

 “Mama?“ rief sie in Richtung der Schwingtüren. ”Mama!” Während sie dem Beamten, der sie zurückgehalten hatte, einen empörten Blick zuwarf, brachte sie ihre Kleidung in Ordnung. Die Tür ging auf, und Maria steckte den Kopf heraus. 

“Bringst du bitte meinen Ausweis?" Sichtlich erschrocken verschwand ihre Mutter, und kam wenig später mit der Handtasche ihrer Tochter heraus, die diese an sich nahm, um darin herumzukramen. Währenddessen ging Marias besorgter Blick zwischen ihnen allen hin und her, und die Aufregung ließ ihren Akzent noch holpriger klingen als gewöhnlich. 

"Was ist geschehen? Hat meine Tochter was angestellt?” Da der Brigadier inzwischen mit dem Ausweis des jungen Mannes beschäftigt war, stellte ein anderer die Gegenfrage:

 “Sie arbeiten hier?” Maria nickte. 

“Ist dies ihre Tochter?” Sie nickte wieder. 

“Kennen sie den jungen Mann?”

 “Natürlich kenn ich ihn. Er ist der Verlobte meiner Tochter. Er ist bei uns zu Besuch, und hat eine Besorgung für uns gemacht.” Sie stemmte die Fäuste in die Seiten, nachdem sie auf die Plastiktüten gezeigt hatte. Der junge Mann hatte bis jetzt kein Wort gesagt, erhielt vom Brigadier seinen Ausweis zurück, und steckte ihn weg.

 “Wenn er länger als drei Monate bei ihnen wohnt, müssen sie ihn bei der Fremdenpolizei anmelden.” Maria nickte würdevoll. Der Brigadier legte die Hand an die Mütze, und die ganze Staffel zog klirrend von dannen, während die drei stumm hinterher sahen.

Maria rollte mit den Augen. Felice wischte sich die Stirn. 

“Oulàaaa," sagte sie in akzentfreiem Französisch, und fügte hinzu: “Ai Jesus! Mama, meinst du wir können meinen Verlobten heute zum Kaffee einladen? “ Maria zog die Stirn in Falten als müsste sie überlegen. 

“Ich denke das geht," sagte sie dann, “ so eine Verlobung muss schließlich gefeiert werden.” Sie schüttelten sich vor Lachen, während er etwas mühsam lächelte, und sich vorkam wie ein Spielball höherer Mächte. Wenn er nur seinen Namen wüsste.

 





                                                                                           *

 

 




     “Wie kannst du sagen, du hast ihn vergessen, du brauchst doch nur in deinem Ausweis nachzusehen.”

“Mein Ausweis geht mich nichts an, der ist für die Polizei.” Längst bereute sie, mit ihm gegangen zu sein. Sie hatte geglaubt, ihn zu kennen, bis er sich geweigert hatte, seinen Namen zu sagen, was die beiden Frauen in arge Verlegenheit gebracht hatte, nachdem ihnen klar geworden war, dass er es ernst meinte. Schließlich hatten sie gutmütig gelacht, und von etwas anderem gesprochen. Sie überlegte, wie viele deutsche Männernamen sie kannte, und kam auf Fritz, Adolf, Wilhelm und Ludwig. Aber das waren Namen von früher. Vielleicht gab es heute ganz andere. 

“Fritz? “ fragte sie vorsichtig. Er drehte sich zu ihr um. 

“Was?” Auf dem schmalen Weg, der vom Ende des Parks in das angrenzende Waldstück führte, ging er vor ihr her, und trug die Tüten mit den Wasserflaschen. 

“Heißt du Fritz?” Sie lachte hilflos.

 “Wie kommst du denn da drauf.” 

“Viel Deutsche heißen Fritz.”

 “Heute nicht mehr," sagte er kurz, und ging entschlossen weiter. Das hatte sie sich gedacht. Es war längst dunkel. Um sieben wurde sie von Madame M. daheim erwartet, um in der Küche zu helfen, und die Kinder zu Bett zu bringen. Er blieb vor ihr stehen, und wartete, bis sie herangekommen war.

“Es ist nicht mehr weit," sagte er, “ich brauch immer zwanzig Minuten.” Dann ging er, wie vorher, mit sicherem Schritt über den unebenen, dunklen Weg voran. Sie war immer noch neugierig auf sein Haus im Wald, aber ihr war nicht wohl dabei, und ihrer Mutter hatte sie angesehen, dass sie dagegen war, dass sie mitging. Aber schließlich musste ihm jemand den Karton mit den Lebensmitteln tragen, die sie ihm geschenkt hatten, da er keine Hand frei hatte. Und außerdem wollte sie seinen Namen wissen. Dass er ihn nicht sagen wollte, konnte mehrere Gründe haben. Entweder er war nur albern, und sie würde ihn in Ruhe lassen, sobald sie es herausgefunden hatte. Oder er wollte sich um ihretwillen interessant machen, was sie zwar unnötig fand, da ihr Interesse an ihm offensichtlich war, aber sie fand die Idee nicht unangenehm. Die dritte Möglichkeit war, dass er irgendein seltsames Problem hatte, dessen Art ihrer Vorstellungswelt gänzlich fremd war. In dem Falle musste sie auf der Hut sein. Sie hatte versprochen, ihre Mutter am nächsten Tag gleich anzurufen. Sie schloss zu ihm auf und sagte:

“Mein Haus ist ganz hier in der Nähe, man müsste da drüben schon fast die Lichter sehen.”

 “Wir sind gleich da,” sagte er, als wenn er nicht zugehört hätte, während sie überlegte, ob sie nachher nicht direkt durch das Waldstück nach Hause gehen könnte, obwohl es sicher nicht leicht sein würde, im Dunkeln den Weg zu finden. Er verließ jetzt den Pfad, und ging über den weichen Waldboden nach links, bis sie an die Reste eines Zauns kamen, und daran entlanggingen. Während sie aufpassen musste, wohin sie ihre Füße setzte, überlegte sie, wie er noch heißen konnte.

“Adolf? Heißt du Adolf?” Sie trat in eine Kuhle, und knickte um. “Merde!”

“Quatsch," sagte er.

“Quatsch ist auch ein schöner Name.”

“Besser als Adolf Merde," sagte er, mehr zu sich selbst, und blieb stehen. ”Wir sind da.”

Sie war damit beschäftigt, ihren Knöchel zu massieren, und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Als sie aufschaute, sah sie erst mal gar nichts, dann aber den dunklen Umriss eines kleinen Häuschens oder Schuppens. Er setzte eine Tüte ab, öffnete die quietschende, unverschlossene Tür, und ging hinein. Sie wartete im Eingang, bis ein Streichholz aufflammte, und er eine Kerze anzündete.

“Du kannst dich schon mal hinsetzen," sagte er, und zeigte auf einen ausgefransten Korbsessel, der in der Mitte des Raumes stand. Sie blieb stehen, hielt das Paket fest und schaute sich um. Ein säuerlicher Geruch lag in der kalten Luft, und im Schein der Kerzenflamme sah sie die Dampfwolken ihres Atems, die Schatten und Konturen der spärlichen Einrichtung, sein Lager, einige Kisten und etwas Hausrat, sichtlich aus Sperrmüllwannen zusammengesucht. Er stellte die Tüten in der Ecke ab, und begann, weitere Kerzen anzuzünden, die er in Dosen auf den Kisten und am Boden abstellte. Bald sah es aus wie in einer Kirche. Etwa ein Dutzend brennender Kerzen erhellten den Raum mit einem unwirklichen Glanz, und verbreiteten bald spürbare Wärme. Ihr Gastgeber ließ sich auf einer Kiste nieder, und machte sich an einem Gaskocher zu schaffen. Einmal sah er auf.

“Warum setzt du dich nicht?” Sie stellte den Karton ab, setzte sich vorsichtig in den Korbsessel, und rieb wieder ihren Knöchel. Er sah sie fragend an.

“Ich bin umgeknickt.”

“Ist es schlimm? “

“Es geht. Wem gehört das hier?”

“Was, das Haus? Keine Ahnung. Ich bin vor ein paar Monaten zufällig darauf gestoßen. Außer mir scheint sich niemand dafür zu interessieren.”

 “Und wo hast du vorher gewohnt?”

"Unter einer Brücke.”

“Immer schon?” Sie war erleichtert, dass er lächelte. Er schüttelte den Kopf, während er aus einer Flasche Wasser in einen Topf goss, und ihn aufs Gas stellte. Es kam kein Dampf mehr aus ihren Mündern, so warm war es geworden.

“Was willst du machen?” fragte sie und zeigte auf den Topf.

“Tee," sagte er.

“Aber wir haben doch gerade erst Kaffee getrunken.”
Er zuckte mit den Schultern.

“Abends trinke ich immer Tee. Er wärmt von innen.”

“Meine Mutter mag dich," sagte sie. Sie war nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte. “Warum sagst du uns nicht, wie du heißt? “

“Ich habe es vergessen," sagte er, den Kopf zur Seite gewandt, als versuche er sich zu erinnern.

“Zeig mir deinen Ausweis.”

“Nein," sagte er mit einem seltsam bockigen Gesichtsausdruck, und tat mit einem Löffel Tee in eine kleine Kanne. Sie hielt es für ratsam das Thema zu wechseln.

“Du solltest aufpassen, mit so viel offenem Feuer in dem kleinen Raum.” Er nickte.

”Ich weiß. Ich öffne ab und zu die Tür.” Das Wasser kochte. Er goss den Tee auf, stellte ihn auf die Kiste in der Mitte, ging in eine Ecke, und kam mit zwei Tassen und einem Paket Zucker zurück. Dann setzte er sich auf die Kiste neben ihr. Ihr fiel auf, dass er nie von sich aus etwas sagte. Die Kerzen blakten. In die Stille hinein fiel irgendwas oben aufs Dach, ein kleiner Zweig oder eine Eichel. Es klang wie ein Gong, der die Einheit zelebrierte, und im Raum sekundenlang nachschwang. Sie sah ihm zu, wie er sich eine Zigarre anzündete, und wunderte sich, dass er für so etwas Geld hatte. Dann dachte sie, dass ihr noch genügend Zeit blieb, auch noch eine zu rauchen, und holte ihre Zi garetten hervor. Schließlich fiel ihr noch etwas ein.
    "Bei uns wohnt einer zur Untermiete, der ist auch aus Deutschland.” Er sah sie an.

“Ach, ja?”

“Ja," sagte sie”, er ist ganz nett, vielleicht solltet ihr euch mal unterhalten.” Er holte eine Packung Kekse hervor, und öffnete sie.

 “Mir ist es lieber, wenn niemand etwas von mir weiß, der so in der Nähe wohnt. Sag ihm besser nichts, und auch niemand anderem.”

  “Nein, bestimmt nicht," sagte sie eilig, und sah auf die Uhr.
Er schenkte durch ein kleines Sieb die Tassen voll.

 “Was wirst du tun?” fragte sie, wirst du immer so leben?” Er schwieg eine Weile, bevor er antwortete.

 “Es wird sich etwas ändern," sagte er dann. Damit konnte sie nichts anfangen.

 “Hast du keinen Beruf?”

 “Nicht wirklich. Eigentlich bin ich Kunstmaler.”

 “Du kannst malen?”

 “Nein, leider nicht.”

“Wie kannst du dann Kunstmaler sein?” Zum ersten Mal lachte er, obwohl es nicht besonders fröhlich klang.

“Das hab ich mich auch schon gefragt.” Er bemühte sich nicht um weitere Erklärungen, und sie saß mit einem weiteren unlösbaren Rätsel da. Sie machte ihre Zigarette aus.

“Ich muss los," sagte sie”, hoffentlich finde ich den Weg von hier.”

“Ich weiß wo du hin musst. Es muss das große Landhaus sein, mit der langen Zufahrt zur Hauptstraße. Ich bin sie einmal fast ganz hinaufgegangen. Da war ein älterer Mann, er schnitt die Hecke. Er hat mich weggeschickt. Ich befände mich auf Privatgelände, hat er gesagt.” Sie nickte.

“Das war Gaston, unser Gärtner.”

“Ich zeig dir, wo der Weg anfängt. Wenn du ihm folgst, kommst du direkt hin.”

Sie wartete in der offenen Tür, bis er die Kerzen ausgelöscht hatte. Er bewegte sich so sicher in der Dunkelheit vor ihr, dass sie Mühe hatte, ihm zu folgen. Etwas kaltes, nasses streifte ihre Wange. Durch die kahlen Baumkronen hatte man vorher den Sternenhimmel gesehen. Nun hatte er sich bezogen, und zuerst vereinzelt, dann immer zahlreicher, begannen Schneeflocken vom Himmel zu fallen. Schließlich wurde der Waldboden fester unter ihren Stiefeln. Sie hatten den Weg erreicht, der zum Garten der Familie M. hinaufführte. Er hielt an. Einen Moment lang standen sie in der Dunkelheit voreinander. Der Schnee fiel ringsum mit einem Flüstern, das kaum lauter war als das Geräusch ihres Atems. 

 "Machs gut," sagte er, und fasste kurz nach ihrer Hand. Bevor sie ihn fragen konnte, wann sie sich wieder sähen, entfernten sich seine Schritte in der Dunkelheit. Sie folgte dem Weg, so gut sie konnte, und atmete auf, als sie einen Lichtschimmer vor sich sah. Sie verließ noch einmal den Weg, um einen Bogen um den Garten zu machen, und gelangte über die Zufahrt zum Haus. Auf dem Weg zum Hintereingang kam sie am Fenster des Untermieters vorbei. Die Läden standen noch offen, und als sie kurz hineinsah, sah sie ihn am Tisch sitzen. Das Klappern seiner Schreibmaschine war zu hören, und irgendeine seltsame Musik. Sie schalt sich für ihre Neugier, und ging in ihre Kammer, um sich fertigzumachen.

Monsieur war seit einigen Tagen dienstlich verreist. Madame wollte an diesem Abend ausgehen, und bat sie, sich im Salon auf der Chaiselongue niederzulegen, und ihre Rückkehr abzuwarten, da Amélie in letzter Zeit unruhig schlief, und oft aufwachte, und weinte. Kurz nachdem die Kinder im Bett waren, fuhr ein Wagen vor, um die Hausherrin abzuholen, und Felice setzte sich im Salon vor den Fernseher. Nachdem sie eine Stunde lang auf den Schirm gestarrt, und dabei an andere Dinge gedacht hatte, schaltete sie ab, und lauschte, ob die Kinder sich rührten. Alles blieb ruhig. Sie dachte, wie gut es war, dass sie in ihrem Zimmer keine Wanduhr hatte, die mit ihrem knackenden Pendel so gnadenlos die Stille schraffierte, dass man wie hinter einem Gitter aus Zeit gefangen saß. Später legte sie sich auf der Chaiselongue nieder, zog die Wolldecke über sich und schlief ein.

Sie erwachte vom Geräusch eines vorfahrenden Wagens, schaltete die Stehlampe an, und sah auf die Uhr. Es war kurz vor vier. Sie stand auf, und wollte die Decke zusammenlegen, als sie in der Bewegung innehielt, um dem Klang männlicher Stimmen zu lauschen, die von draußen hereindrangen, durchsetzt von wieherndem Gelächter und wüstem Gelalle. Der Vorname der Hausherrin wurde gerufen, stoßweise, versoffene Flüche und scharrende Bewegungen waren zu hören, und: c'est pas vrai, ah la salope, und schlimmeres, das sie mehr ahnte, als dass sie es verstand. Das Gartentor schlug zu, und als sie zum Fenster ging, um den Vorhang beiseite zu ziehen, hörte sie die Autotüren und das Geräusch des anfahrenden Wagens. In der mondlosen Nacht sah sie noch den Schein der Lichter hinter der Hecke vorbeiziehen, und hörte wie der Wagen sich entfernte. Dann war Stille. Ihre erste Sorge war, ob der Tumult die Kinder geweckt hatte. Als sich nichts rührte, fragte sie sich, warum Madame noch nicht eingetreten war, ob sie ihren Schlüssel nicht finden konnte, und warum sie dann nicht klingelte. Auf ihrem Weg zu Tür schaltete sie jeden Lichtschalter ein, an dem sie vorbeikam, zuletzt die Außenbeleuchtung.

Im Vorgarten war es hell wie in einem Zimmer. Hätte das Bündel, das schief an die Glasscheibe gelehnt war, nicht an seinem oberen Ende einen platinblonden, zerzausten Haarschopf gehabt, sie hätte es für einen Wäschesack gehalten. Während sie zur Tür eilte, schien es sich schwach zu regen, glitt vollends zur Seite, und kam auf den weißen Stufen zu liegen.

“Kommen sie, Madame," sagte Felice atemlos, und versuchte, ihre Herrin zum Aufstehen zu bewegen. Der Geruch von Erbrochenem stieg ihr übel in die Nase, vermischt mit Eau de Calandre und allen Ausdünstungen einer abgesoffenen Party. Als Madame wieder aufrecht saß, rutschte sie gleich zur anderen Seite, und ihr nach links geknickter Kopf fiel schlaff nach rechts, als habe man ihr die Halswirbel ausgebaut. Von welcher Seite sie Felice auch zu fassen versuchte, ihre Herrin erwies sich als eine derart unhandliche Last, dass es schien, als wolle sie in Zukunft nur noch der Schwerkraft gehorchen, zumal sie auf keinerlei Ansprache mehr als ein Stöhnen und Gurgeln hervorbrachte, und an vielen Stellen glitschig war. Ihr Mantel stand offen, und das Abendkleid darunter hatte arg gelitten. Das Dekolleté reichte bis zum Ansatz der Oberschenkel, und deshalb dachte Felice dass es nicht gut wäre, Gaston zur Hilfe heraufzuholen, sie musste es allein schaffen, wenn sie vermeiden wollte, dass ihre Herrin bloßgestellt würde. Einen Moment jedoch befürchtete sie, dass sie einen Arzt rufen müsse, da auf der bloßen Haut der Liegenden rote Schrammen zu sehen waren. Sie fand schließlich, dass diese einen recht oberflächlichen Eindruck machten, und machte sich daran, Madame an den Füßen von der Glasscheibe wegzuziehen, wobei ihr auffiel, dass ein Schuh fehlte, sodass sie losging, und den Gartenweg und ein Stück der Auffahrt danach absuchte, jedoch vergebens, wahrscheinlich war er im Auto zurückgeblieben. Sie zog Madame noch ein Stück an den Füßen, bis ihr Kopf mit einem hohlen Geräusch auf die nächste der zwei flachen Eingangsstufen fiel, dann trat sie hinter sie, hievte ihren Oberkörper in die Höhe, und nahm sie von hinten in eine Art Rettungsgriff, der es, nach zweimaligem Absetzen, möglich machte, die Hausherrin durch das Foyer bis in den Salon zu schleifen, wodurch eine feuchte Spur auf dem glänzenden Marmorboden zurückblieb.

Es war nicht daran zu denken, sie die Treppe hinauf bis ins Schlafzimmer zu schleppen, so wuchtete sie sie auf die Chaiselongue, wo Madame zunächst mit der Nase in den Kissen zu liegen kam, und anfing zu röcheln, sodass sie gedreht werden musste, und wie ein Sack wieder zu Boden kollerte. Ihr Wachkoma schien mittlerweile in einen gesunden Schlaf übergegangen zu sein, und sie ahnte nicht, wie viel Mühe ihre Dienerin aufwandte, um sie noch von der verschmutzten Kleidung zu befreien, und unter der Decke zur Ruhe zu betten. Wenn Madame erwachte, würde sie kaum eine Erinnerung haben an das, was geschehen war, und vielleicht annehmen, sie habe sich aus eigener Kraft entkleidet, und schlafen gelegt.

Den Rest der Nacht verbrachte Felice auf dem Fußboden im Kinderzimmer, nachdem sie sich dort ein Lager bereitet hatte, und schon um sieben stand Amelie vor ihr, und berührte sie mit dem Fuß, und fragte was machst du da, während Julie in ihrem Gitterbettchen stand, und zusah, und es war offensichtlich, dass die Situation für die Kinder einen hohen Unterhaltungswert hatte. Als sie hinunter kamen in den Salon, hatte Madame sich bereits in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, und Felice bereitete das Frühstück, schickte Gaston mit Amélie zur Tagesstätte, und sagte, Madame wäre krank. Dann schlief sie mit dem Kopf auf den Armen am Tisch ein, während Julie vergnügt brabbelnd am Boden spielte, und sie erwachte, als Madame im Zimmer stand, und Julie sah von ihren Bauklötzen auf, und rief Maman! und Madame fasste sich an den Kopf, und sagte oui, cherie. Sie war totenbleich und stark geschminkt, und sagte, sie habe Kopfschmerzen, ohne eine Frage, als der, die in ihrem ausgebrannten Blick lag, und da man sie nie um Auskunft gebeten hat, hat Felice nie eine Erklärung zu den Ereignissen dieser Nacht abgeben müssen, und auch niemandem davon erzählt. 

 

 

 

 


                                                                  *




 

Wie so oft, brachte schon der Januar Tage von so überraschender Milde, dass er die eben zurückliegende dunkle Strenge des nassen, eisigen Dezembers wie den Traum einer kurzen, schweren Nacht erscheinen ließ, obwohl der plötzliche, friedvolle Glanz, der sich über die noch ruhende Natur legte, wahrscheinlich mehr versprach, als er halten konnte. So, als sei er nur das Auge im Sturm des Winters, der den ersten wahren Frühlingszeichen erst nach einer Zeit wüsten Zerrens und schneidend kalter und auszehrender Entbehrung das Feld überlassen würde. An der Nordseite des Anwesens, welches durch einen undurchdringlichen Wall aus Brombeergebüsch, Holunder und Brennnesseln gegen die nach Osten führende Trasse der Expressbahn abgeschirmt war, streifte die Sonne an diesem Nachmittag gerade zum ersten Mal, da sich der Schatten des Hauses verkürzt hatte, die alte, überwucherte Gartenlaube, die jetzt nur von dürren, braunen Ranken eingehüllt war, welche aussahen wie vielfach gewundener Stacheldraht. Das Regenwasserfass, aus dessen Fugen kleine, glänzende Rinnsale quollen, und aus dem Gaston im Frühling und im Sommer die Gemüse- und Kräuterbeete bewässerte, hatte sich auf dem weichen Boden leicht zur Seite geneigt, und der dunkle, waagerechte Spiegel des Wassers, auf dem eine Spreu von Blättern und kleinen Zweigen schwamm, stand auf einer Seite bis an den Rand. Das Gras zwischen den Beeten lag braun an den Boden gedrückt. In der kühlen, reinen Luft war dem Garten nur der eine Geruch der feuchten Erde geblieben, und harmonierte wohltuend mit der friedvollen Windstille und dem goldenen Glanz der Nachmittagssonne.

 Etwas abseits, in einer Nische im Dornengebüsch, welche, dem Licht zugewandt, vom Schatten des Hauses nicht erreicht wurde, saß Gaston auf einem Stapel alter Gartenwegplatten, und sah dem in der Luft fast stillstehenden Rauch seiner Zigarette hinterher. Obwohl Sonntag war, und er dienstfrei hatte, trug er seine gewohnte Arbeitskleidung: Stiefel, die blaue Latzhose, wegen der Wärme nur ein kariertes Flanellhemd und eine alte Ballonmütze, die schon lange keine definierbare Farbe mehr hatte. Der derbe Zinken seiner gebogenen Nase gab seinem hageren Gesicht mit den halb geschlossenen, aber wachsamen Augen etwas raubvogelartiges, und sein Ausdruck, zwischen Zähigkeit und Duldsamkeit, war der eines indianischen Kriegers. In dem weiten Gefühl, das ihn umschloss, blickte er gleichzeitig in sich hinein und nach vorn, durch die langsam davonziehenden Rauchschwaden an der Laube vorbei, bis zum südlichen Saum des Waldes. Eine Amsel schlug, einsam und beharrlich, wie sie es nur an milden Wintertagen tun. Ein metallisches Summen entstand in der Luft, schwoll an und verging. Es war die Bahn, die nach Osten fuhr. Während Gaston daran dachte, dass es Zeit war, Saatgut zu kaufen, bewegte sich von der Schattenseite des Hauses her eine Gestalt über den Plattenweg in sein Blickfeld. Die Erscheinung überraschte ihn so wenig, als sei sie zuerst in seinem Innern aufgetaucht, und habe sich dann außen manifestiert. So wandte er nicht einmal den Kopf zum Haus hinüber, sondern wartete, bis die Person auf Höhe des Tiefparterreeingangs den Plattenweg verließ, und über den holprigen, aufgeweichten Boden auf die Gartenlaube zuhielt. Sobald ihn die Sonne traf, fing der seltsame Kobold an in prächtigen Neonfarben orange, grün, metallisch blau und gelb zu schillern, dass es Blitze warf, während er sich tapsig, mit rudernden Armen und krummen Knien, durch das unwegsame Gelände bewegte. Die rote Schirmmütze und eine futuristische Sonnenbrille verliehen ihm endgültig das Aussehen einer Comicfigur. An der Laube angekommen, reckte der bunte Gnom sich in die Höhe, soweit er konnte, und suchte mit der Rechten tastend in eine Nische über dem Türrahmen zu gelangen, fuhr jedoch mit einem halblauten Ausruf der Abscheu zurück, als ihm ein Fuß mit dem dünnen Sportschuh in ein vom ablaufenden Regenwasser gebildetes Schlammloch unter der hölzernen Schwelle des Laubeneingangs geriet. Hastig nahm er die Rennbrille ab. Mit einer heftigen Bewegung seines Fußes versuchte er, die Nässe abzuschütteln während er sich mit der Hand, die die Brille hielt, an der Laubenwand abstützen wollte. Mit einem erneuten, diesmal deutlich empörten Ausruf zog er seine Hand von der dornenüberzogenen Laubenwand zurück, als habe er in ein Hornissennest gefasst, während ihm die Brille in den Schlamm fiel. Er lutschte greinend an seinem Finger, und rang um sein Gleichgewicht. Dann versuchte er erneut, die Nische über der Tür abzutasten, während er gleichzeitig nach unten blickte, und sich mit der freien Hand an der Türklinke festhielt. Da seine Suche ohne Erfolg blieb, trat er schließlich entmutigt einen Schritt zurück, und blickte in fassungsloser Ohnmacht zu dem leeren Versteck empor, bevor er sich plötzlich eines anderen besann. Er fischte seine Brille aus dem Schlamm, wischte sie mit einem Taschentuch leidlich sauber, trat dann ein wenig vom Laubeneingang zurück, bis er sicher auf trockenem Grund war, und ließ sich vorsichtig auf allen Vieren nieder, wobei er den kobaltblauen Hintern in die Luft reckte. Während er so versuchte, in den Hohlraum unter der Türschwelle zu sehen, schaute ihm Gaston mit so mitleidlosem Interesse von seinem Platz aus zu, als beobachte er einen Mistkäfer bei der Arbeit.
   “Ich hab ihn an mich genommen," sagte er dann, und von dort wo er saß klang seine Stimme so unvermittelt und klar in den Ohren von Monsieur M. dass es diesem in die Glieder fuhr, als habe ein Erzengel zu ihm gesprochen. Ungläubig wandte er den Blick, im Schmutz kauernd wie ein herausgeputzter Zirkusaffe. Dann rappelte er sich hoch, schob die Brille auf die Stirn, und begann, mechanisch seine beschmierten Hände am Trikot abzureiben, wo sie braune Striemen hinterließen. Sein entgeisterter Blick blieb auf Gaston gerichtet, der still hinter den blauen Schwaden seiner Zigarette saß, die schmalen Augen unverwandt auf seinen Herrn gerichtet.

“Sie...sie haben...”

“Ich habe ihn an mich genommen, weil Madame es so wünschte. Es sind Landstreicher in der Gegend. Sehen sie, Monsieur.”

Er knöpfte die Brusttasche seines karierten Hemdes auf, und zog an einer Schnur den Schlüssel heraus.

 “Hätten sie nicht...ich meine...sie haben doch gesehen, dass ich ihn gesucht habe...”

"Es tut mir leid, Monsieur," sagte Gaston jetzt, und stand auf, “ich war ganz in Gedanken.”

Er kam näher, und hielt ihm den Schlüssel entgegen. Monsieur M. machte eine unwirsche Handbewegung, die Ungeduld und Verärgerung ausdrückte.

 “Nun, äh...öffnen sie doch bitte die Laube, und holen sie mein Fahrrad heraus, ich möchte noch ein paar Runden drehen bevor die Sonne untergeht.”

 “Jawohl, Monsieur.”

 Gaston steckte den Schlüssel ins Schloss, und öffnete die Tür. Die Räder von Madame und Monsieur waren von allerlei Gartengerät zugestellt, sodass er eine Weile brauchte, bis er das blitzende Rennrad, das in denselben Farben schillerte wie sein Besitzer, herausgeholt und vor Monsieur auf den Ständer gestellt hatte.

“Da ist keine Luft auf dem Hinterreifen, Monsieur," bemerkte er dann.

“Nun, was warten sie, pumpen sie auf," sagte der Hausherr quengelig, und trat nervös von einem Bein aufs andere. Gaston holte die Pumpe aus einem Regal in der Laube, und tat wie ihm geheißen. Schon nach wenigen Schüben wurde offensichtlich, dass die Luft mit einem vernehmbaren Rauschen irgendwo entwich. Gaston richtete sich auf und deutete mit der Pumpe auf das Hinterrad.

"Es tut mir leid, Monsieur, das muss geflickt werden.”

“Dann flicken sie es," sagte Monsieur M., “ich geh mir inzwischen ein sauberes Trikot anziehen.”

Während er im Haus verschwand, stellte Gaston das Fahrrad auf den Sattel, und holte Werkzeug und Flickzeug aus der Laube. Nachdem er das Hinterrad demontiert, den Schlauch herausgeholt, und diesen aufgepumpt hatte, ging er zur Regentonne, und wischte den Unrat von der Wasseroberfläche. Dann hielt er den Schlauch ins Wasser, und drehte ihn langsam. Eine perlende Blasenspur zeigte ihm das Leck.

“Was machen sie denn da?” Monsieur M. stand in einem sauberen Trikot hinter ihm.

“Ich habe gerade das Leck gefunden. Aber der Schlauch scheint ziemlich porös zu sein.”

“Porös? Aber ich bin doch höchstens zweimal gefahren.”

“Deshalb hat er sich etwas abgestanden. Das Rad von Madame ist vorne und hinten platt. Aber ich werde gleich den Flicken auftragen.”

Während Gaston den Reifen flickte, das Rad wieder montierte, und es aufpumpte, stolzierte der Sportsmann im Garten auf und ab, kam schließlich zurück, nahm sein Rad in Empfang und sagte:

“Es sind Vagabunden in der Gegend? Vorne bei der Einfahrt hat jemand den Maschendrahtzaun untergraben, haben sie das bemerkt? “

“Das wird ein Fuchs gewesen sein," sagte Gaston”, ich werde mich darum kümmern. Oder ein Hund.” Er sah auf Monsieur M. hinab, sein Blick und seine Stimme waren ohne Bewegung.

“Vielleicht war es ein Hund," wiederholte er. Monsieur blickte irritiert zu ihm auf, während Gaston sich eine Zigarette aus der Packung klopfte, und dabei mit dem Blick den Waldrand absuchte.

“Angenehme Fahrradtour, Monsieur," sagte er noch, während der Hausherr schon sein Fahrrad über den Plattenweg schob, und um die Ecke verschwand. Gaston kehrte zurück zu seinem Platz auf den Steinplatten, und dachte an die Dinge, die er am nächsten Tag zu tun hatte. Er saß noch da, als die Sonne schon hinter den Dachfirst gesunken war, obwohl es spürbar kühler wurde, und sah Felice vom Waldstück heraufkommen. Anstatt sich dem Kellereingang direkt von der Seite her zu nähern, machte sie einen Bogen über die Auffahrt, solange sie von der Hausfront her noch nicht zu sehen war, ging durch den Vorgarten um das Haus herum nach hinten, und verschwand im Eingang zum Tiefparterre, ohne Gaston zu bemerken. Kurz darauf kam der deutsche Untermieter nach Hause, eine Mappe unter dem Arm. Er grüsste herüber, und ging hinein. Schließlich kam Monsieur M. zurück. Er schob sein Rad mit versteinertem Gesicht bis zur Laube, wo er es mit einem Schnauben ins Gras fallen ließ. Dann nahm er die Sonnenbrille ab, und schaute sich suchend um. Sobald er gesehen hatte, dass Gaston noch an seinem Platz saß, deutete er anklagend auf das am Boden liegende Rad.

“Ich war schon am Schloss vorbei. Von da musste ich zurückschieben. Man macht sich zum Gespött. Ich hätte es selber flicken sollen.” Er schmollte sichtlich, und sah dabei aus, als wolle er in den Arm genommen werden. Er wollte sich dem Haus zuwenden, da rief Gaston:

“Warten sie, Monsieur," und kam eilig herüber. Er hob das Rad auf, drehte es um und prüfte stückweise die Oberfläche des Hinterrades.

“Sehen sie...hier.” Er zog etwas aus der Reifendecke und hielt es ihm hin.

“Sie sind durch Glas gefahren. Ein ziemlich großes Stück, hat sich tief hineingebohrt. Es tut mir wirklich leid, sie haben einfach Pech gehabt. Ich werde es gleich noch einmal flicken.”

“Nein, nein, mein Bedarf ist gedeckt, stellen sie es nur weg," sagte Monsieur beleidigt, und ging steifbeinig zum Haus hinüber, während Gaston das leise sirrende Hinterrad drehte, und ihm hinterher sah, bis er um die Ecke verschwunden war.


 

 

 

                                                             *



 

 

 

Ich hatte die letzte Woche des Jahres bei Freunden in Norddeutschland verbracht, zwischendurch die Reise zu einem Gespräch mit meinem Verleger genutzt, und war mit einer gewissen Vorfreude an meinen neuen Wohnort zurückgekehrt, mit dem Vorsatz, mich durch nichts vom Fortgang meiner Arbeit ablenken zu lassen. Ich mied die Stadt, bis auf meine üblichen Gänge in die Archive und Bibliotheken, und genoss die Abgeschiedenheit meiner Bleibe im Haus der Familie M., und die wenigen Momente der Geselligkeit mit Felice und Gaston, meinen freundlichen Wohnungsnachbarn im Tiefparterre. Als mich einmal Gaston fragte, welcher Art meine Arbeit sei, und ich ihm erklärte, dass ich mich zur Zeit mit den psychologischen Aspekten der Kulturen unserer beiden benachbarten Länder befasste, und damit, wie sie sich in diesem Jahrhundert, das durch zwei Weltkriege geprägt war, entwickelt hatten. Da fragte er mich, ob man denn an der Universität lernen könne, die Menschen zu kennen, und ob nicht Begriffe wie Kultur und Psychologie einer reellen Menschenkenntnis eher im Wege stünden. Ich musste zugeben, dass ich um eine Antwort etwas verlegen war, und dachte für mich, dass die Zeilenschinderei für meinen Lebensunterhalt eine nicht unerhebliche Rolle spielte, sagte ihm aber dass es einflussreiche Menschen in Politik und Wirtschaft gäbe, die man mit solchen Untersuchungen dazu bringen könnte, klügere Entscheidungen zu treffen. Da lächelte er, und entließ mich mit einem Augenzwinkern, und ich kam mir vor wie ein Junge, dem der Vater erlaubt hatte im Hof Ball zu spielen, mit der Auflage, keine Scheiben einzuschießen.

Der Januar war schon fast vorüber, und der Winter hatte mit einem ständigen Wechsel zwischen klarem Frost und Schneeregen einen neuen Anlauf genommen. An einem Sonntagnachmittag hatte ich ein dringendes Bedürfnis nach Bewegung und frischer Luft. Es war nicht mehr lang bis zum Einbruch der Dunkelheit, und ich nahm mir vor, einmal durch das Waldstück bis zum Beginn des Parks, und über die Auffahrt zurück zu gehen, als mir der seltsame Fremde im Gerätehäuschen wieder einfiel, und ich mich fragte, ob er tatsächlich den Winter dort verbrachte, oder sich inzwischen davongemacht hatte. Durch das kahle Gezweig konnte ich den grasgrünen Kubus von weitem erkennen. Das Tageslicht war schon fahl geworden, und als ich langsam näher kam, fiel mir ein, dass ich das letzte Mal den Eindruck gehabt hatte, der junge Mann würde von irgendeiner unseligen Besessenheit geplagt, und ich versuchte abzuwägen, wie groß die Möglichkeit war, dass er mir mit einem Wutschrei an die Kehle ging, wenn ich seine Ruhe störte. So blieb ich eine Weile in sicherer Entfernung stehen, während die Dämmerung voranschritt, bis ich dachte, dass es besser war, meinen Weg fortzusetzen, damit mich nicht die Dunkelheit im Wald einholte. Da öffnete sich unversehens, und mit einem Quietschen, die Tür des Häuschens, und eine Gestalt trat heraus. Da ich noch ein gutes Stück entfernt war, und überall dicke Eichenstämme guten Sichtschutz boten, trat ich zur Seite, und zog mich dann noch hinter ein mannshohes Brombeergebüsch zurück, da ich den Eindruck hatte, die Person bewege sich in die Richtung, aus der ich gekommen war. Zwar fragte ich mich, warum ich nicht einfach meines Weges ging, denn ich hatte genauso ein Recht, im Wald zu sein, wie jeder noch so verschrobene Einzelgänger, aber ich glaube, ich hatte ein schlechtes Gewissen, wegen meiner Neugier, und weil ich bereits spioniert hatte. Für den Fall, dass ich zur Rede gestellt würde, suchte ich in Gedanken bereits nach einer unverfänglichen Erwiderung, als die dunkel gekleidete Gestalt nur zwei Meter vor mir vorüberhuschte. Ich erkannte trotz der Dämmerung nicht nur, dass es eine Frau war, in Kopftuch und Mantel, mit einer Tasche oder einem Leinensack unter dem Arm, sondern konnte auch einen sekundenlangen Blick in das mir wohlbekannte Gesicht werfen, mit dem sanften, mediterranen Zug um die mandelförmigen, braunen Augen und dem vollen, weichen Mund. Erst in diesem Moment der Eifersucht gestand ich mir ein, dass schon seit einiger Zeit in mir eine geheime Zuneigung erwachsen war zu Felice Tostao, die jetzt im Halbdunkel in Richtung des Hauses verschwand. Offenbar hatte sie heute einen freien Nachmittag, und nutzte ihn zu einem Rendezvous mit dem Bewohner des Gerätehauses. Was hatte sie mit diesem Waldschrat? Dauerte das schon länger? Ich hatte gerade noch genug Übersicht um meine Gedanken irrational zu finden, trat aber trotzdem aus meinem Versteck, und ging auf das Häuschen zu, in der Absicht mehr herauszufinden. Ich klopfte, aber niemand hieß mich eintreten. Wer weiß, was Felice hier gesucht hatte. Vielleicht war der Fremde schon längst weg, und sie wusste gar nichts von ihm. Ich zog am Riegel, die Eisentür kantete in der Fassung, und ging scharrend und quietschend auf. Ohne sie hinter mir zu schließen, trat ich ins Innere. Die deutlich wärmere Luft, die mich umfing, roch nach vielen Dingen, deutlich aber nach Kerzenwachs, feuchten Lumpen und gebratenen Zwiebeln. Die vier dicken Kerzen, die auf einem umgedrehten Blecheimer am Boden brannten, beleuchteten eine armselige Aufgeräumtheit. Auf dem Lager an der gegenüberliegenden Wand, auf dem ich mehrere Schichten Decken ausmachen konnte, hob jemand mit einer schwachen Bewegung den Kopf, und versuchte mit trüb in den Schein der Kerzen blinzelnden Augen zu erkennen, wer eingetreten war.

“Felice?“ vernahm ich eine heisere Stimme, fast nur ein Wispern, dann fiel der Kopf aufs Kissen zurück.

 “Ich bin ein Bekannter von Felice," sagte ich, und entspannte mich. Von dem drohte keine Gefahr.

“Wir wohnen beide im selben Haus...ich bin ihr eben auf dem Weg begegnet," fügte ich hinzu, während mir klar wurde, dass es derselbe junge Mann war, den ich im Herbst durchs Fenster beobachtet hatte, und dass er fieberte. Sein Gesicht glänzte von Schweiß, die Haare klebten ihm auf der Stirn, und sein Bart war mehrere Tage alt. Der Geruch von Urin stieg mir jetzt in die Nase, und ich vermutete seine Quelle in einem Eimer der in der Nähe des Lagers stand. An einer Wand entlang aufgereiht stand etwa ein Dutzend Wasserflaschen aus Plastik, von der Art, wie man sie überall, ob in der Stadt oder in der freien Natur, auflesen konnte, als wären sie große, blinkende Kristalle die die Erde hervorgebracht hatte, damit sie der Gesundheit dienten. Manche trugen dafür sogar die Aufschrift: C'est la santé. Gemessen an der Tatsache, dass der Fremde auf dem Lager mehr als einen Grund hatte, sich um seine Gesundheit zu sorgen, war dies blanke Ironie. Das Geschirr war jetzt in einer Kiste aufgestapelt, der Gaskocher obendrauf gestellt. Plastiktüten mit undefinierbarem Inhalt, vielleicht der Hausmüll, standen in einer Ecke, der Korbsessel immer noch in der Mitte, ein Haufen Kleider darauf, und ein paar Schnürstiefel davor. Ich spürte jetzt die kalte Luft, die von draußen hereinkam, und schloss die Tür. Dann trat ich ein wenig näher an sein Lager, und fragte:

“Sind sie krank?“ Die Antwort war offensichtlich, aber ich wollte ihn wissen lassen, dass er von mir nichts zu befürchten hatte, und versuchte, meine Stimme mehr mitfühlend, als befangen klingen zu lassen. Er nickte schwach, und hielt die Augen geschlossen, sein Atem ging stoßweise, dann schüttelte ihn ein röchelnder Husten. Er wandte sich mühsam zur Seite, sein Arm kam unter dem Deckenhaufen hervor, und nahm ein Papiertaschentuch von der Kiste neben seinem Bett, auf der neben einem halbvollen Glas Wasser eine geöffnete Packung Aspirin lag. Er wischte sich zuerst das Gesicht ab, und spuckte dann in das Taschentuch, was er ausgehustet hatte. Er zerknüllte das Taschentuch, und warf es zur Seite. Es sah nach einer schweren Bronchitis aus, die, je nach Zustand seines Immunsystems, leicht in eine Lungenentzündung übergehen konnte. Aspirin war da nicht das richtige. Mein Freund John fiel mir ein.

“Wie wäre es, wenn ich ihnen Tabletten besorgen würde, die wirklich helfen, und sie vor größerem Schaden bewahren?”

Ich war nicht sicher, ob er mich verstanden hatte. Er sagte nur:

“Felice...” dann schüttelte ihn wieder ein Hustenanfall, so heftig, dass auch mir die Bronchien wehtaten. Ich bezweifelte, dass Felice in der Lage war, ihm ein Antibiotikum zu besorgen. Da ich im Moment für den Kranken nichts tun konnte, als ihm meine Hilfe beim Anlegen fiebersenkender Wadenwickel anzubieten, was er mit einem gequälten Gesichtsausdruck ablehnte, versprach ich, am nächsten Tag mit den Tabletten wiederzukommen. Bevor ich ging, entschuldigte ich mich für die Störung, und stellte mich vor. Da er keine Anstalten machte, mir zur Erwiderung seinen Namen zu nennen, sondern nur mit geschlossenen Augen dalag, ging ich hinaus, und schloss die Tür hinter mir. Es war inzwischen stockfinster, und ich hatte einige Mühe, den Weg zur Auffahrt zu finden. Es war noch früh am Abend, und die Wohnzimmerfenster der Familie M. waren hell erleuchtet. Unten im Gang brannte Licht. Der Boden war nass, und ein Eimer stand im Weg. Die Tür zur Putzkammer stand offen, und heraus drang Geklapper und eine vertraute Stimme, die ein Lied summte. Felice bewegte sich rückwärts aus der engen Kammer, in den Händen einen Kanister und einen Wischmop haltend. Sie trug eine blaue Schürze, und hatte das dichte, braune Haar hochgesteckt, sodass man ihre großen, goldenen Ohrringe sah. Diese gerieten in heftige Bewegung, als sie herumfuhr, und ich unvermutet vor ihr stand, aber ihr Blick blieb fest, ihr wachsamer Ausdruck löste sich mit dem vorsichtigen Lächeln, mit dem sie mich meistens grüßte, und ich sah ihr an, dass sie nichts anderes von mir erwartete, als dass ich ihren Gruß erwiderte, und an ihr vorbei in mein Zimmer ging. Stattdessen blieb ich stehen, sah mich kurz um ob die Tür zum Parterre geschlossen war, und sagte mit gedämpfter Stimme:

“Ich war vorhin auch im Wald, bei dem Container.”

“Container?” Sie sah mich entgeistert an, und drückte den Kanister an sich, als habe sie Angst ihn fallen zu lassen.

“Na, bei dem grünen, eisernen Haus, in dem der Mann wohnt.”

“Der Deutsche? Sie kennen ihn?“ Ich fand, dass sie etwas zu laut sprach, und legte den Finger an den Mund.

“Nein, nicht wirklich, ich wusste auch nicht, dass er Deutscher ist, er bringt ja kaum ein Wort heraus. Aber ich geh morgen noch mal zu ihm, und bring ihm ein Antibiotikum. Es hat ihn wirklich schlimm erwischt.” Sie verstand, und sah erleichtert aus.

“Ja “ sagte sie, “ das ist gut.”

“Er wird bald wieder gesund,“ sagte ich noch, da öffnete sich am oberen Ende der Treppe die Tür, und Madame rief nach ihr, sodass sie die Sachen niederlegte, und eilig hinaufging.

Wenn Felice mit ihm befreundet war, dann war das ein Grund mehr, zu helfen, gerade deshalb, weil ich meine Eifersucht nur mit einer Geste der Großmut abkühlen konnte. Dr. John Schlosser, der in der rue Lepic eine Praxis für Neurologie, Psychiatrie und Psychoanalyse führte, hatte hervorragende Fachkenntnisse, und fand trotz seines jugendlichen Alters - er war Mitte dreißig - im Kreis seiner Kollegen viel Anerkennung, und hatte Erfolg in seinem Beruf. Obwohl die Behandlung einer Bronchitis nicht zu seinem Fachbereich gehörte, würde er mir gern ein Antibiotikum besorgen, er hatte mir denselben Gefallen schon einmal getan, da ich in Frankreich nicht versichert war. John war alles andere als ein Fachidiot, und verfügte gleichermaßen über sensible Menschenkenntnis, den lässigen Humor eines Crooners und die Fähigkeit zum Mitgefühl. Schon während seiner Studienzeit war er den Reizen einer attraktiven Französin aus gutem Hause erlegen, was mir in eindringlicher Weise vor Augen führte, dass Menschenkenntnis im Geschlechterkampf ohne Bedeutung ist. Viviane wusste, dass sie einen guten Fang gemacht hatte mit dem blitzgescheiten, gut aussehenden Charmeur, der daherkam wie Gary Cooper in seinen besten Jahren. Ihre Hingabe an ihr gemeinsames Leben aber erschöpfte sich bald in einem selbstzufriedenen Anspruch auf einen Platz in der gehobenen Gesellschaft an der Seite eines Akademikers mit amerikanischem Akzent, wobei das letztere zumindest damals in entsprechenden Kreisen noch den Status eines raffinierten, modischen Accessoires hatte. Sie hatten zwei Kinder, Gregory und Madeleine, die beide schon zur Schule gingen. Die Reife seiner Mannes- und Ehejahre hatte Johns jungenhaftem Gesicht einen leicht kummervollen Zug hinzugefügt, und sein Gang war schlurfend geworden, was ich nur zum Teil seinem rasant einsetzenden Haarausfall zuschrieb, aber sein Humor und seine großzügige, joviale Art hatten kaum an Qualität eingebüsst. Sie hatten keine Hausangestellten, und wenn ich bei den Schlossers zu Besuch war, zeigte sich Viviane als eine Virtuosin in Oberflächenverschönerung, sowohl im kosmetischen Bereich, als auch im Umgang mit Möbel- und Bodenpolitur. Es schien mir manchmal, dass John, wenn sie an ihm vorüberrauschte, etwas zurückwich, als befürchte er, dass sie mit den Lappen, die sie herum trug, auch ihn entstaubte und glatt polierte, dabei musste sie allerdings hinnehmen, dass er sich ausbat in seinem Arbeitszimmer selbst sauber zu machen. Oft trafen wir uns an freien Tagen auch in Cafes zu langen Gesprächen, oder er kam zu mir nach Montparnasse, in die rue des Plantes und brachte Gregory mit, der bei schönem Wetter die Zeit, die sein Vater bei mir war, im Innenhof der Villa unter dem Fenster mit anderen Kindern spielte, sodass wir ein Auge auf ihn hatten, und er von Zeit zu Zeit jubelnd zu uns herauf winken konnte. Seit meinem Umzug im Herbst hatte ich John nicht mehr gesehen, und seine Einladung zu Weihnachten hatte ich ausschlagen müssen, da meine Reise nach Deutschland Vorrang hatte. Als ich ihn am Montag anrief, war er hocherfreut, von mir zu hören, und sagte, ich solle gleich kommen, da er am Abend zu einem Kongress nach Chartres musste. Auf meine Andeutung über den Mann im Wald sagte er: ”Was ist das für ein Vogel?”, und ich versprach ihm, mehr zu erzählen, sobald ich mehr herausgefunden hatte. Ich fuhr gleich hin, und wir hatten kaum Zeit füreinander, da er gerade seine Sachen für die Reise zusammensuchte und Viviane um uns herum war, und versuchte, ihn davon abzuhalten, sein verbeultes Lieblingsjackett anzuziehen (vraiment affreux, chéri) sodass er mir diskret die Tabletten in die Hand drückte, und auf englisch sagte: “For your hermit weirdo.”

Ich zog mit meiner Beute ab, nachdem wir uns versprochen hatten, uns bald wieder zu treffen, und ging direkt von der Metrostation in den Wald. Der Kranke lag, tief in seine Decken verkrochen, mit dem Gesicht zur Wand. Anscheinend hatte das Geräusch der Tür ihn geweckt. Er wälzte sich langsam herum, sein Gesicht kam zum Vorschein. Er sah mich teilnahmslos an. Ich ging vor ihm in die Hocke, und hielt ihm die Tabletten hin. Als ich ihn jetzt auf Deutsch ansprach, brauchte er einige Sekunden um zu verstehen, dann wurde er um einige Grade wacher, und begann wieder zu husten.

“Dies ist ein Antibiotikum, das verhindern wird, dass sie eine Lungenentzündung bekommen," sagte ich, obwohl ich nicht wusste, ob er nicht schon eine hatte. “Die Packung reicht für zehn Tage. Nehmen sie jeden Tag zwei, eine morgens, eine Abends, und hören sie nicht, auf bis alle aufgebraucht sind.” Ich zog noch eine Packung aus der Tasche, die ich auf dem Weg in einer Apotheke gekauft hatte.

“Dies ist eine Hustenmedizin. Die können sie zusätzlich nehmen, immer einen Löffel voll. Sie werden dann auch besser schlafen.”

Er nickte, und lächelte schwach. Ich holte eine Tablette heraus, nahm das halb volle Einmachglas mit Wasser, das auf der Kiste stand, und hielt ihm beides hin. Er nickte wieder, stützte sich hoch, und nahm die Tablette, spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter, dann sah ich mich nach einem geeigneten Löffel um, den ich in der Geschirrkiste fand, und half ihm, den Hustensaft einzunehmen. Er ließ sich zurückfallen, und schloss die Augen. Ich ließ die Medizin auf der Kiste zurück. Ich wusste nicht, ob er nicht schon wieder eingeschlafen war, sagte aber noch:

“Ich hoffe, man sieht sich mal, wenn es ihnen wieder besser geht. Felice wird sicher bald wieder kommen. Und vergessen sie die Tabletten nicht.” Ohne die Augen zu öffnen sagte er deutlich: “Vielen Dank.”

Ich ging nach Hause, und sah Felice, als sie später herunterkam. Ich sagte ihr, dass sie nach ihm sehen müsse, um dafür zu sorgen, dass er seine Medizin nahm, und sie versprach, dass sie jeden Abend, wenn ihre Arbeit getan war, noch zu ihm hinausgehen würde. Dabei dankte sie mir, und sah mich auf eine Weise an, die ich persönlich genommen hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, dass es um seinetwillen war.
    Auch Madame kam des Öfteren ins Tiefparterre hinunter. Mal hörte ich sie mit Gaston sprechen, mal mit Felice, und manchmal brachte sie mir irgendetwas, von dem sie annahm, dass ich es gebrauchen könne, einen Bettvorleger etwa, oder eine beschichtete Pfanne aus ihrer Küche. Ich fragte mich dann, warum sie nicht Felice damit geschickt hatte. Eines Abends, kurz nachdem ich von Felice erfahren hatte, dass es ihrem Freund besser ging, klopfte jemand an meine Tür. Ich öffnete. Es war Madame M. Sie trug eine hochgeschlossene, geblümte Schürze, und hatte die Haare zu einem straffen Knoten gebunden. In den Händen hielt sie einen Toaster. Sie habe sich einen neuen angeschafft, erklärte sie, und dieser solle nun zum Inventar meines Zimmers gehören, was unmissverständlich bedeutete, dass ich ihn bei meinem Auszug zurücklassen müsse. Ich zeigte mich sehr erfreut, und nachdem ich mich bedankt hatte, stand sie für mein Gefühl einen Moment zu lange da, entweder, weil sie noch etwas sagen wollte, was mit der üblichen, schicklichen Distanziertheit und ihrer selbstbeherrschten, dominanten Art nicht recht vereinbar war, oder weil sie erwartete, dass ich die Grenzen der Förmlichkeit selbst einmal überschreiten würde, weil es nun an der Zeit war. Währenddessen ging ihr Blick an mir vorbei über das Innere meines Zimmers, und indem ich noch überlegte, ob ich sie fragen sollte, ob sie nicht hereinkommen wollte, sah ich, dass ihre Augen müde waren, und dass unter ihrer kühlen, aufrechten Bestimmtheit eine gebeugte, bittende Ratlosigkeit zu spüren war. Sie sagte aber dann nur etwas über die Notwendigkeit, Sauberkeit und Ordnung zu halten, und dass einer meiner Vorhänge schief hing, weil sich ein Ring gelöst hatte. Dann wünschte sie mir eine gute Nacht, und ging wieder hinauf. Die Art, wie sie die Schürze trug, die ich noch nie an ihr gesehen hatte, irritierte mich, und ich überlegte, wo ein derart unverfängliches Kleidungsstück schon einmal eine ähnliche Wirkung auf mich gehabt hatte. Erst spät in der Nacht, kurz vor dem Einschlafen, fiel es mir ein. In meiner Schulzeit hatten wir auf einer Klassenfahrt nach Berlin eine Aufführung von Jean Genets “Zofen” besucht. Unser Lehrer war schwul, und ich glaub er war der einzige, dem das Stück gefallen hat. Ich war nur sicher, dass ich nichts verstanden hatte, außer den Schürzen und den weißen Häubchen der Zofen, und auch das nur, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben. Ich schlief ein über meinen Gedanken an Madame, und an das, was ich von Genet wusste, von seinen Nächten im Gefängnis, seinem unruhigen Schlaf, eingehüllt in kratzige Decken, laue Fürze und Blumenphantasien.



 

 

 

                                                                   *    

                         



 

 

Wie so oft wurden seine eigenen Gedanken und seine Erwartungen an die Zukunft zu einem Sog, der ihn in den Abgrund riss. Wie ein Wettersturz der Seele fiel ihn die Verdammnis an, und peitschte ihn nieder mit einem Schwall eiskalten Hohns. Wie die erste Bö eines Unwetters eine Ladung Dreck durch offen stehende Türen und Fenster ins Haus treibt, so überraschend, und so geradenwegs drangen ihm tausend Nadeln der Strafe in die entblößten Flächen seiner Verwundbarkeit. Oh, gewiss gab es kein anderes Maß für die Strenge des Gerichts, als die plötzlich enthüllte Obszönität seiner Verworfenheit. So war auch nie Zeit, zu fragen warum, wenn es ihn zwang, zu kauern wie unter Hieben aus siedendem Sand, und warum es hier mitten in seiner stillen Einsamkeit so gnadenlos lebendig wurde. Wie es ihn auf die Lumpen seines Lagers warf, dass er mit dem Kopf an die eiserne Wand schlug, und das Dröhnen von außen nach innen ging, wie von innen nach außen, war ihm der körperliche Aufprall wie eine Linderung, und doch eine vergebliche Flucht vor dem lautlosen Gebrüll des Unsichtbaren. Unter Ächzen und Zähnefletschen wich er zurück vor dem allgegenwärtigen Rachen des Molochs, von überall her trieb es ihn hinein in die letzte Zuflucht der Selbstauflösung, bis die Schläge nichts mehr trafen, als die Mitte des formlosen, zuckenden Klumpens, die seine Menschlichkeit geworden war. Alle Versuche, seinen Zustand weiter zu optimieren, blieben erfolglos. Den Kopf und die Glieder an die Wand zu schlagen war das einzige, was einen Halt bot, bis ihm Schmerz und Erschöpfung die Tränen ins Gesicht trieben. Erst mit dem Abflauen des Schubes erwachte sein Groll, und brach sich schließlich seine Bahn als einen Sturzbach schreienden Hasses, der ihn schüttelte, mit allen Namen des Bösen, und ihn empor trug auf wahnwitzige Höhen absoluter Machtsicherung. Vergessen war das grüne Tal des Lebens. Knurrend wie ein Höllenhund sah er auf, Speichel troff ihm aus dem Mund. Felice stand in der offenen Tür, mit aufgerissenen Augen, leicht nach vorn gebeugt, als müsse sie näher hinsehen, um es zu glauben, wobei sie mit beiden Armen ihre schwarze Tasche an sich presste.

“Was hast du? “ fragte sie so leise und verwundert, als spräche sie mehr zu sich selbst.

“Hau ab, du...lass mich in Ruhe...” kam es heiser und gepresst von der kauernden Gestalt an der Wand, und im Blick der blutunterlaufenen Augen war kein Erkennen. Sie stand noch unbewegt, atmete stoßweise, und hielt ihren fassungslosen Blick auf ihn gerichtet, da gewahrte sie eine schnelle Bewegung seines Armes, und etwas gläsernes zerplatzte neben ihr an der eisernen Türfassung. Ein wildes, gutturales Lachen war in ihrem Rücken zu hören, als sie sich zur Flucht wandte, und während sie überlegte, was sie da hinter sich zurückließ, und keine Antwort fand, begann sie hemmungslos zu schluchzen. So schnell sie auch lief, dem Gefühl der Kälte, das sie umfing, konnte sie nicht entkommen. Sie wusste nur, wenn sie sich nicht beeilte, würde sie nicht mehr die Kraft haben, bis zur Metro zu gehen. Als sie am Ausgang des Parks durch die Pforte kam, und am Kiosk vorbei wollte, übersah sie in ihrer blinden Hast einen alten Mann mit einem schwarzen Hut, der gebeugt um die Ecke gehumpelt kam. Der Zusammenprall war heftig, und nahm ihr den Atem. Der Alte stürzte hin, und der Hut kollerte über das Pflaster. Sie beugte sich zu ihm hinunter, eine Entschuldigung stammelnd, trat dabei auf seinen offenen Wintermantel, und sah, wie er den Kopf hob, während er versuchte, sich mit dem Arm Hochzustützen, und sie von unten her einen Moment lang direkt ansah. Im Blick seiner kalten, grauen Augen war keine Spur von Empörung, als habe er nichts anderes erwartet, und wüsste alles, wo sie herkam, wo sie hinlief, was geschehen war.

“ Pas besoin de courir," sagte er, “ ca va mal et ca dure.”

Lachte er? Seine Stimme umfing sie wie ein Dröhnen, sie versuchte, sich aufzurichten, sah noch, wie er weitersprach, aber nur daran, dass er den Mund bewegte, während sein Blick sie gefangen hielt. Einen Moment lang hörte sie nichts, als das Rauschen der Stille, als stünde sie am Strand, und hielte eine Muschel ans Ohr. Dann machte er eine Bewegung mit dem Kopf, und versuchte, auf die Beine zu kommen, wobei ihm dünne, graue Strähnen über die Stirn fielen. Jemand reichte ihm den Hut, und half ihm auf, während sie zur Seite taumelte und davonlief. Dann saß sie ihrer Mutter gegenüber. Nachdem diese sie angehört hatte, ließ sie für einen Moment ihre Stricknadeln sinken, und bekreuzigte sich.

E esta." sagte sie dann leise. “ Possesso. Ai Jesus." Wieder bekreuzigte sie sich. "Coitado. Coitado. Ai Jesus."

 

 

 




                                                                    *





An einem Tag Anfang März war ich auf einem meiner Streifzüge, auf die ich trotz der Dringlichkeit meiner Arbeit nicht verzichten wollte, weil es Frühling wurde, nach längerer Zeit wieder einmal in mein früheres Viertel gekommen, den ich einmal durch Colette kennen gelernt hatte. Ich kehrte zu einem Besuch bei einem alten Maler ein. Er hatte einen bekannten Namen, nannte sich selbst aber nur Old Harp, da er der Meinung war, das Leben selbst spiele auf ihm, wie auf einer Harfe. Er grüsste kurz mit einem Blick, und wandte sich wieder seiner Leinwand zu. Ungefähr eine Stunde lang sprach keiner von uns beiden ein Wort, dann sagte ich unvermittelt:

“Es ist kalt in Paris.”

Da seine Fähigkeit, die Dinge zu überdenken und zu ordnen, der Notwendigkeit, sie immer neu zu sehen, in zunehmendem Maße im Weg war, sah er überrascht auf, und fragte mit einem ehrlichen Ausdruck irritierter Ratlosigkeit: “Was ist Paris ?”

“Die Stadt,“ sagte ich, im Innern leicht beschämt. Er lachte verblüfft, als habe ich ihn mit einem originellen Bonmot erfreut. Er sagte noch einmal etwas, ich glaube er fragte, ob es warm im Raum sei. Ich bejahte. Ich ging dann bald hinaus, wo aus einem grauen Himmel nasse Flocken fielen. Paris, so hätte ich ihm vielleicht sagen könne, hätte ich denn den richtigen Ton getroffen, ist die Stadt, in deren Mitte ein einziger Baum den Beginn des Frühlings verkündet. Meist schon im Februar, an der stromabwärts gewandten Spitze der Ile de la Cité, zeigt sich eine anmutige Trauerweide Jahr um Jahr über Nacht in einem unerhörten, feinen Grün, und ich erwarte immer, dass die Menschen sich sammeln, und mit dem Finger auf sie zeigen, dass die Zeitungen ihr Bild auf der ersten Seite bringen, und die vorüber ziehenden Kähne und Touristenboote zum Gruß dröhnend ihre Signalhörner erklingen lassen. Nichts dergleichen aber geschieht, und es dauert immer eine ganze Weile, bis die anderen Bäume den ersten grünen Schimmer zeigen. Der Tag aber, an dem das Tor zum Frühling dann wirklich aufgestoßen wird, ist immer der, an dem die Kastanien im Jardin du Luxembourg ihre Knospen öffnen. Dies geschieht gewöhnlich an einem warmen, sonnigen Tag im März, innerhalb weniger Stunden, und bietet einen Anblick, so spektakulär, als würde vor unseren staunenden Augen ein Vorhang gehoben, der den Blick freigibt auf eine prächtige Bühne voll von festlicher Lebendigkeit. In diesem Jahr hatte dieses Ereignis nicht stattgefunden. Das erwachende Grün bröselte sich zögernd und gehemmt in eine weiterhin graue und nasse Winterlandschaft hinein, ohne sie wirklich zu verändern. Der feierliche Festakt war einfach übersprungen worden, und nur gelegentlich kündigte ein launisches Aufblitzen von blauem Himmel die lieblosen Streiche des nahenden Aprilwetters an. Als ich so ziellos und trübsinnig meines Weges ging, und soeben die Straße überqueren wollte, hörte ich ganz nah in meinem Rücken eine Frauenstimme die sagte:

"Ca va, Gaston?"

Sofort berührten mich drei Dinge gleichzeitig, oder zumindest in schneller Folge, welche ich wahrnahm, noch ehe ich mich umwandte: Der kurios persönliche und entfernt vertraute Tonfall, das Bild von Gaston mit seiner abgewetzten Schildkappe, und die Einsicht, dass diese Anrede im allgemeinen Sprachgebrauch soviel heißt wie: He, du! vorausgesetzt, man hat es mit einer Person männlichen Geschlechts zu tun. Mit der Hand einen verwaschenen wollenen Umhang vor der Brust zusammenhaltend, die hennagefärbten Haare offen und strähnig, stand Colette vor mir. Ihr freimütiges Lächeln war fast das von einst. Nur die Falten in ihrem Gesicht hatten sich vertieft, ihre Hexenaugen waren dunkel gerändert, und deren einst silbriger, tiefer Schimmer war zu einem listigen Blinzeln geworden. Wir umarmten uns, ehrlich erfreut, uns zu sehen. Sie roch nach Wein, Patchouli und Zigarettenrauch. Seit unserem letzten Zusammentreffen war mindestens ein Jahr vergangen. Nach dem was ich sah war die Frage nach ihrem Befinden überflüssig: Sie trieb dahin, und als sie neben mir ging, bemerkte ich, dass sie leicht hinkte, und ich überlegte, ob sie sich verletzt hatte, oder ob ihre Schuhe nur schiefe Absätze hatten. Sie schien voller Zuversicht zu sein, und sagte, sie würde bald wieder malen, und müsse sich nur einen Satz Farben kaufen, ob ich ihr etwas leihen könne. Ich hatte zwei Hunderter dabei, die ich ihr gab, obwohl ich wusste, dass ich mein Geld nie wieder sehen würde. Als sie sich verabschiedet hatte, und von mir wegging, sah ich noch wie der ausgerissene Saum ihres langen Kleides über das nasse Pflaster schleifte.

Auf der anderen Straßenseite folgte ich dem Rand einer kleinen Grünanlage, die durch einen kniehohen Zaun zum Gehsteig hin abgeschirmt war. Ein hochgewachsener Mann in Regenmantel und Mütze, der mit weiten, wiegenden Schritten vor mir ging, änderte unvermittelt die Richtung, stieg über den Zaun, und bewegte sich über den Rasen der Anlage, während er sich ab und zu bückte, um, wie mir schien, etwas im Gras zu suchen. Es war nicht die Neugier, sondern das plötzliche Erkennen, das mich bewog, ihm zu folgen, und mich ihm von hinten zu nähern, bis ich deutlich sehen konnte, wie er den ausgestreckten Zeigefinger tief in den vom Regen aufgequollenen Boden stieß, gerade als ich hinter ihm stand.

Ca va Gaston?” sagte ich, sodass er sich aufrichtete, in der einen Hand eine Papiertüte, während die andere mit dem schwarzen Zeigefinger in seiner Manteltasche verschwand. Er antwortete mit der üblichen Gegenfrage, und, da er bemerkte, dass ich meinen Blick auf die Tüte in seiner Hand gerichtet hatte, hielt er mir diese entgegen, sodass ich erkennen konnte was es war. „Strauchflieder” stand darauf, und klein darunter “ Aussaat im März “. In der Mitte war ein Photo eines besonders gelungenen Exemplars in voller Blüte. Bevor ich eine Frage stellen konnte, holte er weitere Tüten aus der Tasche, und zeigte sie mir. Da waren goldbraune Tagetes, weißes Schleierkraut, Zinnien mit großen, roten und gelben Blüten, rote und rosa Kerzen vom Rittersporn, japanische Blumenteppiche von paradiesischer Fülle, Primeln, Löwenmaul, Astern und Akelei, Levkojen, Lobelien, Margeriten, Dahlien, Anemonen, Fresien und Ranunkeln, sogar Zierkürbisse und Sonnenblumen die Mannshöhe erreichten, wie man aus dem Photo ersehen konnte, auf dem ein Gärtner daneben stand, der von ihnen um Haupteslänge überragt wurde. Gaston hatte mindestens ein Kilo Samentütchen in den ausgebeulten Taschen seines Mantels, und war damit beschäftigt, wo immer er ging und stand, etwas von ihrem Inhalt in den Boden zu stecken.

“Mir scheint, ihr Dienstbereich hat sich beträchtlich erweitert," sagte ich belustigt. Wir waren mindestens vier Kilometer von zu Haus, in der stillen Avenue René Coty, und nicht weit vor uns begann der Parc Montsouris.

“Sehen sie...” begann er etwas verlegen, “diese städtischen Grünanlagen öden mich an, überall wird gestutzt, gemäht und gejätet, und zu Haus kann ich auch nicht immer machen was ich will. Eigentlich ist mein Garten so groß wie diese Stadt...” Auf meinen zweifelnden Blick entgegnete er:

“Die Rasenflächen rund um das Institut für nukleare Forschung waren im letzten August so voller Zierkürbisse, dass eine Bürgerinitiative versucht hat herauszufinden, ob irgendwo Strahlung entwichen war, die die Genetik der Vegetation aufmischte. Das Institut behauptete, man habe ihm einen Streich gespielt, und konnte nur mit Mühe eine offizielle Untersuchung verhindern. Es stand sogar in der Zeitung.” Der Stolz in seiner Stimme war unüberhörbar.

“Ich bin Gärtner aus Leidenschaft,“ fügte er entschuldigend hinzu, “ich habe meine Freude daran, wenn etwas gedeiht.”

“Aber...es wird doch immer wieder gemäht.”

“Nicht überall. Die Ränder bleiben oft verschont, und die Blumen, die in großen Gruppen zusammenstehen, weil die Stadtbediensteten annehmen, es handle sich um eine offizielle Aktion zur Verschönerung der Stadt. Und außerdem”, fügte er in verschwörerischem Ton hinzu, “ habe ich bei denen einige Verbündete. Und die ganzen Rosenbeete. Ich mag keine Rosen, wissen sie, ich deck sie kiloweise mit Alyssum ein, oder mit Buschbohnen. Und gehen sie mal im Juli in den Bois de Boulogne, oder in den Parc de Sceaux. Oder in den Bois de Vincennes. Meine Spuren sind überall.” Seine Augen leuchteten. “Es ist allerdings besser, wenn das unter uns bleibt.” Ich gab ihm das Versprechen.

“Kommen sie,” sagte er, während er endlich die Hand aus der Tasche nahm, und sie mit einem Taschentuch sauber wischte, “da vorne, wo der Weg zum Pavillon hochgeht, müssen wir noch ein Spalier aus Sonnenblumen stecken, immer am Zaun entlang.”

Als wir fertig waren, schmerzte mein Rücken, aber meine melancholische Stimmung war verflogen. Wir arbeiteten uns dann noch ein gutes Stück durch den Parc Montsouris, und ich sah zu, wie er ein halbes Pfund japanischen Blumenteppich in die Rosen streute.

“Eigentlich müsste man sie stecken," erklärte er, “aber die Menge macht's.”

Ich war schon froh, dass uns niemand zur Rede stellte. Während er zu einem der Papierkörbe ging, um die leeren Samentüten loszuwerden, versuchte ich das, was ich soeben erlebt hatte, in Einklang zu bringen mit meinem bisherigen Eindruck von seiner nüchternen, abgeklärten Art, und ich dachte, wahrscheinlich fehlt ihm eine Frau, oder er hat mal eine gehabt, und er hat sie verloren. Ich hatte des öfteren den Eindruck gehabt, Madame D. fühle sich zu ihm hingezogen, da sie manchmal bei geringsten Anlässen lange bei ihm stehen blieb und das Gespräch in die Länge zog, während die Kinder vertrauensvoll zu ihm aufsahen, als wäre er der eigentliche Vater und Herr im Haus. Offenbar spielte seine schlichte Männlichkeit dabei eine wesentlichere Rolle, als die Tatsache, dass er von geringem Stand und einfachem Gemüt war. Wir trennten uns dann bei Denfert, er kehrte in eine Stehkneipe ein, um Bekannte zu treffen, und ich machte mich auf den Weg nach Montparnasse.   

        

 

 

Nach Süden

                                                                

 

Das All schweigt, während hier unten die Vergangenheit versucht, die Gegenwart zu überholen. So ist es mit der Religion.

Aus der "Sprache des Regens"

 

 

 

                                                        2. Kapitel

 

                                                       Nach Süden

 

Als er an diesem dunklen, kalten Morgen an einer Straßenkreuzung im Industriegebiet von Orange aus der überheizten Kabine eines Lastwagens kletterte, genau in dem Moment, als er im Scheinwerferkegel erkannte, dass das, was seine Stirn gestreift hatte, eine Schneeflocke gewesen war, drang ihm die Erkenntnis in die Sinne, wie die Wachheit mit der kalten Luft, dass er draußen war, und dass es für ihn nur einen Grund gegeben hatte, in dieser Stadt haltzumachen: Ihren Namen. Aber er verstand es kaum mehr, noch weniger später, als er die Stadt gesehen hatte. Er hatte ja nichts weiter, als sein Ziel in der Zeit, so bekam manche flüchtige Vorstellung mehr Gewicht, als ihr zustand. (Eine Farbe, voller Glut und Leben, der Duft einer Frucht, der Süden, die Wärme, das Licht). Hier brannte nicht einmal eine Straßenlaterne. Vorm nahenden Morgengrau erhob sich etwas wie ein Silo, auf dem Feld neben der Straße schimmerten angetaute Schneeflecken. Er nahm die klobige Handwerkertasche auf, schulterte sein Bündel, und ging geradenwegs da hinein, wo der Boden dunkel aussah. Irgendwo, nicht weit von der Straße, fand er festen Grasboden, und legte sich schlafen, den Kopf zur Seite, tief in den Schlafsack verkrochen, um dem ständigen, dünnen Schneefall zu entkommen. Nach unruhigem Traumschlaf erwachte er mit schmerzenden Gliedern im Licht einer tief stehenden Morgensonne auf dem nassen, frei getauten Feld, und hatte eine graue Stadt vor sich, die auf eine flache Senke hingebreitet war. Da ging er die stillen Straßen hinunter, fast bis zum anderen Ende, gefolgt von einer widerwillig steigenden Sonne, die nicht wärmte. Da er sich matt und ein wenig fiebrig fühlte, dachte er, es wäre doch eine Wohltat, sich zu einem Kaffee in ein Gasthaus zu setzen. Er hatte reichlich Münzgeld in der Tasche, und hätte sich auch ein Frühstück leisten können, aber es war ihm nicht wohl, und er hatte keinen Hunger, er würde sich später etwas auf dem Gaskocher zubereiten. Bei einem schäbigen Bistro mit beschlagenen Scheiben, die Wärme verhießen, drückte er die scharrende Tür auf, und trat in die geheizte, verqualmte Gaststube. Der Wirt stand, triefäugig, mit offenem Mund, an den Tresen gelehnt, das Wischtuch baumelnd in der Hand. Hinten, beim eisernen Ofen, saßen massige Kerle im blauen Drillich und karierten Hemden, bei Rouge und Pastis, das Kartenblatt in der Hand, die Gesichter unbewegt, ihm zugewandt. Seine Stiefel lärmten auf dem Dielenboden, und noch ehe er sich beim Fenster zur Straße mitten in einer Bahn aus staub- und raucherfülltem Sonnenlicht niederließ, fragte er hinüber, ob er einen Kaffee haben könne. Der Wirt nickte, und wandte sich ab, und alle bewegten sich wieder, legten ihre Karten, und setzten ihre Unterhaltung fort. Die Tasse vor ihn hingestellt, wurde sogleich der Preis genannt, dabei sein Äußeres gemustert. Er zahlte, und schon lief die gekaufte Zeit, viel zu wenig, um auch nur zur Ruhe zu kommen, damit die Wärme in ihn eindringen konnte. Wie kostbar war dieser Platz auf einem Stuhl, an einem Tisch, wie sicher sein Recht, hier zu sein, in den Augen derer, die von draußen hereinsahen. Und schon ging er wieder wie vorher, jetzt bergan, aus der Stadt hinaus, die Tasche links, das Bündel auf der Schulter. Was sollte er tun? Sicher war es überall kalt, auch in Nimes, in Marseille, in Narbonne, in Montelimar. So wartete er, bis wieder ein Name nach oben trieb, der war wie eine süße Ahnung: Wie ein Lied, das er aus früher Kindheit kannte, und all seine spätere Vertrautheit mit der Landessprache hatte nie das ursprüngliche Bild und den vermeintlichen Sinn der fremden Worte verdrängen können. Es war Lony, die ihn rief, die tanzende Silhouette der Fee auf der alten Brücke. Nie nahm er sich die Zeit, an sie zu denken, es galt nur, ihrem Zauber zu folgen, wie einst, und nicht einmal das wusste er, als er sich in ihre Richtung wandte, so alt und so unverstanden war das Lied in ihm, und so felsenfest seine Weigerung es zu übersetzen, um es zu verstehen... l'on y danse, l'on y danse...

Vielleicht hätte nicht einmal das ihn davon abgebracht, Lony zu suchen, um ihr beim Tanzen zuzusehen, auf den sonnenwarmen, gelben Steinen der alten Brücke. Was auch immer für namenloses Volk dort getanzt haben mag, sie allein war für immer sein, und was es zu wissen gab, hatte er nie wissen wollen. So war nur sein Unterbewusstsein schuld daran, dass er an diesem Abend im strömenden Regen in Avignon eintraf, und sich, endlich am Ziel, nichts mehr wünschte als ein trockenes Obdach.

“Ein Zimmer?” Der Alte vor ihm hatte sich die Plastiktüte eines Supermarktes über den Kopf gezogen. Aus seiner Stimme troff kalter Hohn, wie der Regen aus seinem Bart.

“Du kannst froh sein, wenn du hier ein Bett kriegst, ganz für dich allein.”

Sie standen vorm Tor des Asyls, und warteten auf Einlass. Drei von ihnen passten unter den Torbogen, zusammengedrängt in feindseligem Schweigen. Abseits im Regen stand einer mit einem Schirm, in Anzug und Hut, der ständig seltsame Dinge sagte, ohne dabei jemanden anzusehen, außerdem ein junger Mensch in Mantel und Kapuze, der finster und trotzig von einem zum andern sah, und einer, dem der Regen von seiner Landsknechtsmütze auf die Schultern rann, und hinunter auf eine schwere, unhandliche Handwerkertasche und ein Bündel, welches er zwischen seine Beine gestellt hatte. Für diejenigen, die seit Jahren hier jeden Abend anstanden, mochte es ein Ort der Gleichmut und der Sicherheit sein, für die beiden jungen Leute aber war schon der Anblick dieser triefenden Ziegelmauer im Schein der Straßenlaterne ein Frösteln wert, und so trollten sie sich nach kurzem Einverständnis gemeinsam die dunkle Gasse hinunter. Der Ortskundige von beiden kannte den Weg zur Rhôneinsel, auf der es eine billige Herberge gab, eine grün gestrichene Baracke, die aber schon

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bodo Wontoschka
Bildmaterialien: Bodo Wontoschka
Tag der Veröffentlichung: 26.03.2010
ISBN: 978-3-7309-3660-3

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