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PROLOG

 

 


PROLOG

 


Spenge, Freitag, d. 1.August 2003.

 

In einem schmucklosen Reihenhaus mit offenen Läden sind nur zwei Fenster im Erdgeschoß noch hell erleuchtet. Vorne an der Pforte ist zu lesen:

J. Nolte, Schaffrat a.D.

Obwohl vorzeitig pensioniert, ist Jochen Nolte aller Welt auch heute noch als Schaffrat Nolte ein Begriff, und gilt weiterhin als bedeutender Einfluss im Kulturbetrieb der westfälischen Gemeinde Spenge, oft zu Unrecht als “Spenge bei Bielefeld” apostrophiert. Vor der Tür, im Parkverbot, steht ein klappriger Toyota Pickup. Er ist Eigentum des Margarinefabrikanten Bodo Wontoschka, Teilhaber bei Eros-Tours, der gerade Nolte in seiner Bibliothek gegenübersitzt, die Beine auf Noltes Schreibtisch, während er einer dicken, schwarzen Delgado blaue Wolken entlockt, die ihn seinen ihm gegenübersitzenden Freund nur schemenhaft erkennen lassen.

“Eins ist sicher, Wontoschka,” sagt Nolte grade, und stellt sein Sherryglas auf einem Stapel alter Nummern des “Westfälischen Salonspiegels für Kultur und Politik“ ab, “wir sind doch alle Freudianer, im Grunde genommen.”

“Freudianer?” Wontoschka kneift die Augen zusammen, und versucht, sein Gegenüber durch die Rauchschwaden zu erkennen, “wat is dat denn?”

Seine hochgegelte Stirnlocke steht in deutlichem Kontrast zu seinem fliehenden Kinn, aber seine feingliedrigen Hände verraten Sensibilität und Geschick. Er schiebt die Sonnenbrille auf die Stirn und stellt überrascht fest, dass er jetzt alles viel deutlicher erkennen kann. Nolte macht eine unwillige Geste mit der Hand, die gerade den Sherry wieder genommen hat, sodass einiges auf den Salonspiegel schwappt. “Äh, Sauerei”, murmelt er, bemüht sich aber sogleich, auf Wontoschkas Entgegnung einzugehen.

“Was wir brauchen, mein lieber Wontoschka, ist ein echtes Anliegen. Im Grunde ist es doch so, dass die Welt zunächst einmal aus zwei Arten von Menschen besteht: Solchen, die ihren Vater erschlagen haben, und solchen, die dies noch nicht getan haben, und es vielleicht auch nie tun werden, sei es weil sie noch, und für immer, zu klein dafür sind, sei es weil sie es nicht übers Herz bringen.”

Wontoschka, sichtlich betroffen, runzelt die niedrige Stirn, leert sein Sherryglas mit einem Zug und sagt gepresst, in Richtung auf seine Stiefelspitzen: ”.....meine Mudder....” Es scheint als wolle er noch etwas hinzufügen, dann stellt er entschlossen das Glas auf den Schreibtisch, wobei er sich, da er die Beine auf dem Tisch hat, mühsam nach vorn recken muss, dann lehnt er sich ächzend zurück, und zieht dreimal hintereinander heftig an seiner Delgado, wie um sich hinter dem aufsteigenden Qualm dem forschenden Blick seines Gesprächspartners zu entziehen, der dies mit verstohlenem Schmunzeln zur Kenntnis nimmt. 

Irgendwo dudelt ein Radio, ein Regalbrett knackt unter der Last Schweinsleder gebundener Folianten. Nolte, ein drahtiger, kurzgeschorener Mittfuffziger mit randloser Brille und Junggesellenstrickjacke mit Rautenmuster, von der Sorte, die er jedes Jahr von seiner Mutter zu Weihnachten kriegt, stemmt sich aus dem Sessel hoch, um die Sherrygläser nachzufüllen. “Du weißt, wie ich deine Mutter schätze. Sie ist einer von den Menschen, die mühelos zwischen Innen-und Außenwelt unterscheiden, und vor allem weiß sie, wo die Kohle herkommt. Dass sie dir die Margarinefabrik übertragen hat, ist eine echte Mission, und ein Segen für unsere Stadt.”

Wontoschka macht eine abwiegelnde Handbewegung und seufzt. “Die meisten Leute wollen Butter. Sie haben nie vergessen, dass man sie einmal vor die Wahl zwischen Butter und Kanonen gestellt hat. Als sie merkten, dass man Kanonen nicht aufs Brot schmieren kann, war es zu spät. Hätten sie damals gleich Butter genommen, hätten sie heute genug davon, und Margarine hätte Hochkonjunktur."

Nolte schüttelt energisch den Kopf. “Ich sehe diesen Irrweg eher als das Resultat einer Projektion der Sehnsucht nach dem Phallus des Vaters, die sich in der Wahl der Kanonen niederschlug. Das nachfolgende Verlangen nach Butter war dann eine Verdrängung dieses Urmotivs, infolge des erwachenden Schuldbewusstseins, könnte aber auch über eine Brücke der phonetischen Assimilation eine Hinwendung zur Mutter bedeuten-...meine Mutter schmiert die Butter... -wobei wir bei unserem ureigensten ambivalenten Widerstreit angelangt sind, dem Verhältnis zwischen Todestrieb und Eros...” Wie elektrisiert fährt er hoch, erneut Sherry verschüttend, diesmal auf die gute Trevirahose. 
“Das ist deine Chance, Bodo,“ bringt er keuchend hervor, und stößt mit dem Zeigefinger ein Loch in die rauchgeschwängerte Luft, “du musst dein Markenzeichen erotisieren! Kein Mensch ist geil auf 'Wontoschkas 1-A naturreine Pflanzenmargarine'. Wie wärs mit LUBRI-GOLD- Bodos Gleitsalbe auf Margarinebasis? Oder: PHALLOSTAR, die Erektionscreme aus der Kraft derSonnenblume?

 Ein tiefes, drohendes Grollen lässt ihn unvermittelt abbrechen, und blinzelnd durch den Rauch zu Bodo hinüber spähen, dessen Gesicht halb durch seine Stiefelspitzen verdeckt ist. Wontoschka ist eingeschlafen, und stößt Schnarchlaute aus, die klingen wie das Knurren eines Rottweilers, dabei hat er die Hände auf dem Bauch liegen, und zwischen den Fingern, die Asche nach oben, die erloschene Delgado.

 

 

Die Sardinientour

DIE SARDINIENTOUR

 

Spenge-Rom-Sardinien-Korsika-Toulon-Poitiers-Paris-Spenge

 

Arbatax, Sardinien. Donnerstag, d. 14. August 2003

 

Schiermeyer, Ehrenmitglied des Erostours-Betriebsrats, am Mikrofon:

“Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Sardinientouristen, liebe Kollegen vom Vorstand, vom Betriebsrat, und ganz besonders möchte ich Herrn Wontoschka und Schaffrat Nolte vom Fremdenverkehrsverein Bielefeld, Sektion Spenge, ganz ganz herzlich zu unserem gemeinsamen Frühstück begrüßen. (Räuspern, Rascheln, Husten). Ein herrlicher Tag liegt vor uns, und der gesamte, nördliche Teil der Insel steht zur Erkundung zur Verfügung, mit abschließender Überfahrt von Bonifacio nach Korsika. (Zwischenruf: Dat is doch auf Korsika!) Zwischendurch laden wir zum Mittagessen in ein Inselgasthaus ein, und Schaffrat Nolte wird anschließend gemeinsam mit Herrn Wontoschka eine hochinteressante Verkaufsvorführung präsentieren, bei der einige wertvolle und nützliche Kreationen aus der Produktpalette des traditionsreichen und allseits bekannten Margarinehauses Wontoschka zu besonders für unsere Rentner verlockenden Spezialtarifen erworben werden können. Hier heißt es dann: Schnäppchenjäger aufgepasst! Herr Wontoschka wird auf der Fahrt in unserem komfortablen, vollklimatisierten Luxusreisebus selbst hierzu noch einen videounterstützten Vortrag halten.

(Wontoschka, von der Seite: Einführungsvortrag, hä, hä.)

Der Bus steht nach dem Frühstück, ab neun Uhr dreißig, links vom Anleger beim Kiosk zur Abfahrt bereit. Ich möchte nun noch Herrn Wontoschka Gelegenheit geben, gewissermaßen 'in eigener Sache', noch ein paar Worte zu sagen.”

Wontoschka, im stahlblauen Sportblazer, greift sich lässig das Mikrofon, sagt zunächst laut: ”Is dat an”, zuckt zurück, und beginnt dann:

“Lieber Seniorenverein, sehr verehrte Damen und Herren vom Vorstand, lieber Kollege Nolte-” er hält inne, runzelt die Stirn, und zieht dann ein zerknittertes Papier aus der Jackentasche. Nachdem er es eine Weile studiert hat, fährt er fort:

“Im Grunde genommen sind wir ja alle Freudianer. (Beifälliges Nicken von Nolte). Niemand weiß wirklich, was der heutige Tag bringen wird: Triebbefriedigung, Triebverdrängung, oder Triebsublimierung. Sicher ist, er bringt uns allen viel Freud.” Beifälliges Gemurmel und Gehüstel antwortet ihm. “Und damit-” er macht eine spannungsgeladene Pause, in der alle spürbar den Atem anhalten, und setzt augenzwinkernd fort: “...ist das Frühstücksbüffet eröffnet.”

Nun kommt Bewegung in die Menge, und es beginnt eine rechte Drängelei um die besten Plätze.

“Wie gefällt dir das Hotel?” frage ich ihn, während er sich eine gehörige Portion Quarkspeise auf den Teller lädt. “Geiler Schuppen”, nickt Bodo, “soll dem Palast von Kaiser Hadrian nachgebildet sein. Hast du gesehen, wie die in die Knie gehen vor den goldenen Türklinken?” Er deutet mit dem Kinn auf die Mitglieder des Seniorenvereins, die mit Plastiktüten ans Buffet stürzen. “Wie die Russen in Ungarn. Die kriegen wohl zu Hause nix.” Ich lege ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. “Warte nur, Wontoschkachen, bis du in dem Alter bist, dann denkst du auch jedes Mal, wenn du essen gehst, es sei vielleicht das letzte Mal”, und füge hinter vorgehaltener Hand hinzu: ”Wenn du überhaupt bis hinkommst.”

“Hauptsache, sie kaufen mein Zeug”, knurrt Wontoschka, du weißt ja, dass du mit drinhängst.” “Dat wird schon”, sage ich, und drehe prüfend ein Hühnerbein zwischen Daumen und Zeigefinger, “wenn sie da nur halb so gierig sind.”

Später, im Hinterland: Das Thermometer an der Windschutzscheibe steht auf 40 Grad. Der Bus ist so gründlich klimatisiert, dass einige Mitglieder der Gesellschaft bald Symptome einer Lungenentzündung zeigen, und im Hospital von Nuora abgeladen werden müssen. “Dat is alles Kaufkraft, wat da verloren geht”, jammert Wontoschka, während der Bus sich schon wieder durch das verbrannte Bergland windet. Finster sieht er hinaus auf die monotone, gelblichbraune Hügellandschaft. “Wenn man bedenkt, dass hier die Sardine erfunden wurde...” “Na, hier wohl nicht”, gebe ich zu bedenken, “das muss unten am Wasser gewesen sein. Da fällt mir was ein: Lass uns doch mal die ganze Fuhre an der Küste zum Baden absetzen. Ich will, dass die ins Warme kommen.” Direkt vor ihm krümmt sich der alte Hollmann in einem Hustenanfall.

 

Der Unfall

Eine geplatzte Wasserleitung sorgt für eine Überschwemmung in unserem nagelneuen Vier-Sterne Hotel aus Marmor, Glas und Messing, in dem das Telefon nicht funktioniert, und die Chefin wie die Königin von Saaba durch die Gänge eilt, mit Schweißperlen auf der Stirn: Es sei halt alles nagelneu. War das der Grund dafür, dass die Dusche nicht über der Duschwanne angebracht war, mit einem suppentellergroßen Duschkopf, sondern rätselhafterweise seitlich daneben wohin dann auch alles plätscherte? Und weil es ein ganz besonderer Tag werden sollte, knallte es laut, beim Frühstück auf der Terrasse.

Nun ist es bekanntlich so, dass der Aufprall selbst, obwohl er das wichtigste ist, vom gesamten Unfallgeschehen den geringsten Zeitraum einnimmt. Der Knall ist gewissermaßen die Sekunde null, was vorher war, wissen wir nicht, weil siebenundvierzig Augenpaare grade woanders hingesehen haben, zum Beispiel in die Bild-Zeitung, Ausgabe Sardinien, und erst in diesem Moment den Kopf heben, sodass wir immerhin noch einiges mitkriegen. Zwei Personen befinden sich hoch in der Luft, während sich unter ihnen metallene Massen ächzend ineinander schieben. Es pratzelt und splintert. Teile lösen sich, und sind auf einmal woanders. Etwas klingelt. Die Personen setzen zur Landung an. Sie tragen obenrum gute, schwere Ausrüstung, die mit ihnen fliegt. Da die Personen für diese Zwecke einen Helm tragen, landen sie mit ihm zuerst, zumindest eine von beiden, die Beine schlagen derweil oben ein Rad. Die breiteste Aufschlagfläche bietet die Windschutzscheibe des roten Automobils, das als Hindernis quer in den Weg gestellt ist. Ein Eindringen in das Fahrzeug, gewissermaßen “mit dem Kopf durch die Wand”, ist der landenden Person nicht möglich, da der Aufprallwinkel dafür nicht geeignet ist. So dellt sich die Frontscheibe federnd nach innen, und bildet dabei ein faseriges, Netz, welches, von der vehementen Einbuchtung her, die landende Person mit einem Überschlag auf den ausladenden Kühler des Autos fallen lässt, wobei die Beine jetzt nach unten gelangen, und dort eher ungeschickt aufschlagen. Hinzu kommt, dass die gute Ausrüstung, der Hitze wegen, nur den oberen Teil der Person bekleidet, während die unbedeckten unteren Gliedmaßen durch den Vorgang sichtlich heftig betroffen sind. Mittlerweile ist die andere fliegende Person in einer eher seitwärts gerichteten Schleuderbewegung gegen die Flanke des Automobils geprallt, wo sie überrascht, und mit hoher Geschwindigkeit, zu Boden gleitet. Dabei führen die ebenfalls unbedeckten, unteren Gliedmaßen eine fliehkraftbedingte, seitliche Spreiz - und Drehbewegung aus, die mit einem spröden Klang auf dem erhitzten Asphalt ihr Ende findet, nicht jedoch ohne in einer abschließenden Rollbewegung der gesamten Person auszulaufen, wobei sich der Helm vom Kopfe löst.

Auch die andere, auf der Windschutzscheibe gelandete Person, hat inzwischen die breite Asphaltbahn als das eigentliche Ziel des Landevorgangs erkannt, und sie dafür genutzt. Der Verursacher des Unfalls, ein bebrillter Herr mittleren Alters, der mit unbekleidetem Oberkörper hinter dem Steuer sitzt, und im übrigen einen rüstigen und sonnengebräunten Eindruck macht, verharrt nun, da alles vorläufig zur Ruhe gekommen ist, in völliger Reglosigkeit, vielleicht in der Erkenntnis, dass er das eigentliche Hindernis für das Rollerfahrzeug mit den beiden Personen darauf dargestellt hat hatte, und nun nicht weiter stören sollte. Er ist allerdings hinter dem faserigen Sicherheitsnetz seiner zentral eingebuchteten Windschutzscheibe nur undeutlich zu erkennen. Irgendwie ahnt man sein völlig ausdrucksloses Gesicht, als sei er es, der einen betäubenden Schlag, und gleichzeitig eine schlechte Nachricht erhalten hat. Das schnittige Rollerfahrzeug, ein aktuelles Modell einer mir unbekannten Marke, liegt mit der Frontpartie des Autos in einer befremdlichen, starren Verkeilung, so, als habe ein kühner Kopf im Fahrzeugbau sich etwas völlig unkonventionelles einfallen lassen, und nun stand man davor, als wüsste man nicht so recht, wie das ganze eigentlich funktionieren soll.

Die beiden gelandeten Personen, sportlich aussehende junge Männer, sitzen nun auf dem heißen Asphalt, und führen, jeder in seinem eigenen Rhythmus, ausgeprägte Schaukelbewegungen aus, der eine auf und ab, der andere hin und her, als könnten sie sich nach rasanter Fahrt mit einem Zustand erzwungener Bewegungslosigkeit nicht abfinden. Nun entsteht viel Teilnahme ringsum, ein ganzer Fahrzeugpark aus dem Verkehrsstrom bildet eine schützende Wagenburg, und viele stehen in Bereitschaft, um weiteres Leid von den geschundenen abzuwenden. Einer beginnt schon einen mitfühlenden Dialog mit dem am höchsten geflogenen, um ihm seine Bewunderung auszusprechen. Dabei muss er,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bodo Wontoschka
Bildmaterialien: Bodo Wontoschka
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2009
ISBN: 978-3-7309-3662-7

Alle Rechte vorbehalten

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