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Rosanna und der hunderjährige Ruf

                                      Rosanna und der  hundertjährige Ruf

 

Niemand ist verpflichtet, sich beliebt zu machen, aber jeder sollte dazu beitragen, dass er verstanden wird.

Wer mit dem hundertjährigen Ruf sein Verlangen nach Zuwendung stillt, ist mit nutzlosem Überfluss gesegnet, wie ein Verdurstender auf dem Ozean.  Der Zwang zu Trinken bleibt dennoch, und wird genährt durch die Erinnerung an den süßen Lohn der Unterwerfung.

Obwohl ihre Zeitlinie wundersamen Schleifen folgt, und es vor manchem Knoten gilt, den Rückweg anzutreten, vermag Rosanna, als die fordernde Stimme des Vaters ertönt, durchaus zu unterscheiden, ob sie gerade im Hausflur Himmel und Hölle spielt, weil sie zwölf ist, oder ob sie im Badezimmerschrank nach der Rheumasalbe sucht, weil sie die sechzig längst überschritten hat.

Zum Besessensein dressiert und entrechtet, muss sie hören und gehören, auch wenn der Ruf nur mehr ein Empörungsritual weckt, das sie liebgewonnen hat, und dessen libidinöser Sog zur Brücke wird hinüber ins Wollen des ungewollten, um folgsam Rede und Antwort zu stehen. Wie könnte sie ihn leugnen, den Herrscher über ihr Sein und ihr Nichtsein. Harsch und fordernd, gütig und lockend, setzt er ihr nach, in die Küche, auf die Bank am Waldrand, in den Keller, aufs Klo, in den Schlaf, um sie an ihren Pakt zu erinnern: Dass er immer da sei, als Schutz vor der schwarzen Leere, aber dass sie ihn dafür so bedingungslos in sich hineinlassen müsse, dass seine Gegenwart ihre eigene vollkommen ersetze, sodass von ihr selbst alles überflüssig und entbehrlich würde, außer einer letzten fadenscheinigen Kontur, die immer wieder blass und verweht zum Vorschein kommt, und mit vergeblicher Klage an ihre Rechte erinnert, wie ein schlecht übermaltes Graffiti.

Ein einziges Wort nur musste er ihr nehmen, und als Pfand behalten, um sie für immer so wehrlos zu machen, und die Erinnerung daran hat er gleich mitgenommen. Nur mir fällt auf, dass das fehlende Wort in allem was sie sagt, zu mir, zu ihrem Vater, und zu der ihm folgenden hundertjährigen Verwandtschaft, eine klaffende Lücke hinterlässt.

Wie ich auf der Trittleiter vor ihrem Fenster stehe und nach den Markierungen für die Gardinenstangen suche, blickt sie kurz zu mir hoch, dann zur Seite, und ihre Aufmerksamkeit verteilt sich zu gleichen Teilen auf meine Arbeit und die herbeieilende Schar der Verstorbenen. Sie bewegt die Lippen, zieht die Augen ein wenig zu, und stößt ein besserwissendes Schnauben aus, das mir anzeigt, dass sie im Begriff ist, in der Resignation Schutz zu suchen.

“Ich weiß nicht, ob ich das jetzt hier kann”, sagte sie dann zu mir, oder eher geradeaus gegen die Leiter, “bei dem Ruf....” Sie tut unvermittelt einen Schritt zur Seite, als müsse sie jemanden vorbei lassen, und sagt halblaut “Jajaja. Das hat der doch deshalb gesagt. Hat er doch.”

“Du brauchst dich um gar nichts zu kümmern jetzt, Rosanna, ich mach die Gardinenstangen schon alleine dran. Warum gehst du nicht ein bisschen Musik machen.”

“Drecksack.”

“Schon gut.”

“Ha ha, des weiß der net was gut is.”

Ich steige von der Leiter und pack den Schlagbohrer aus.

“Ich hab den hundertjährigen Ruf”, sagt sie halblaut in irgendeine Richtung, und ohne am Tonfall erkennen zu lassen, dass sie zu mir spricht, was offensichtlich wäre, da außer uns beiden niemand zu sehen ist, aber ich bin informiert.  Der hundertjährige. Da hat sie viel zu tun. Da hängt die vorige Generation mit dran, vom Vater mitgeschleppt, denn der ist erst seit sechzehn Jahren tot, und wird nicht müde, seine eigenen Ahnen vorzuführen, wie Gläubiger, deren Forderungen er an seine Tochter weiterleitet, die für alles, was er hatte, seine rechtmäßige Erbin ist: Vier Wohnungen, drei Häuser, und den hundertjährigen Ruf.

Auch dieser Umzug hat nichts daran geändert: Sie sind alle mitgekommen. Aber sicherlich bringen Bewegung und der Reiz des Neuen Erleichterung, weil sie verstärkte Aufmerksamkeit für die dingliche Welt erfordern, wenn auch nur für kurze Zeit.

“Wie soll ich da Musik machen, bei dem Ruf....” Sie steht jetzt da, als habe man ihr all ihr Spielzeug genommen, und sie warte nur noch darauf, dass man sie auch noch holt. Das Sirren des Bohrers ist ihr einen Blick wert. “Damit kann ich auch Musik machen”, sage ich, um ihrer Wahrnehmung eine Aufgabe zu geben, und drücke ein paar Mal rhythmisch auf den Abzug.

Sie entdeckt die Abdeckplane auf dem Stuhl, nimmt sie hastig, legt sie auf die Fensterbank, und zurück auf den Stuhl. “Es ist doch alles schon da”, sage ich, und zeige auf die sechs Saxofone, die in ihren verschieden großen Koffern an der Wand entlang stehen, “nur das Klavier fehlt noch.” Es war eine volle Fuhre gewesen mit meinem neuen Sprinter. Außer dem Stuhl haben wir keine Möbel mitgebracht, aber genug Musikinstrumente, um zwei Orchester auszurüsten.

Rosanna folgt selten einer Empfehlung. Zu groß, zu vielfältig und widersprüchlich sind die Bedenken, die von den Vorfahren vorgetragen werden, und sie immer wieder mit hängenden Armen dastehen lassen, wie ein Kind, das sich besinnen muss auf das, was es noch darf:  Rote Pluderhosen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Bodo Wontoschka
Bildmaterialien: Bodo Wontoschka
Tag der Veröffentlichung: 22.03.2009
ISBN: 978-3-7309-3659-7

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Janny

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