Eigentlich hat sie es nie so ganz verstanden. Seine Mutter, nun, die hat sowieso nichts verstanden, aber...
„Ich werde alt.“
, sagt sie leise zu sich selbst und eine Stimme in ihrem Kopf antwortet:
„Du bist schon lange alt.
Man ist nur so alt wie man sich fühlt, sagen die jungen immer, aber wir beide sollten es doch besser wissen.“
Ja, eigentlich sollte sie es besser wissen:
Der schmerzende Rücken, die Angst vor einem kalten Winter, das Gefühl manchmal keine Ahnung zu haben wovon ihre Enkel reden. Das alles sollte ihr zeigen das sie alt geworden ist.
Und dennoch, bis vor kurzem hatte sie sich nicht so gefühlt.
„Ja führen wir denn schon wieder Krieg?“
Das hatte sie ihn gefragt als er weggeflogen ist, als es schon längst zu spät war. Ihr hatte das noch nie an ihm gefallen, dieses militärische, aber Paul ist schon immer ein Sturkopf gewesen, schon seit seine Mutter ihn auf die Welt gesetzt hatte.
Ein bockiger Junge, einer der immer mit dem Kopf durch die Wand wollte und jetzt? Jetzt ist er weg, verschlungen von einem Monster das sie für besiegt gehalten hatte. Wieder hatte ihr der Krieg einen geliebten Menschen genommen und wieder verstand sie nicht im geringsten weshalb.
Wieder war es nichts weiter als ein schlichter Brief, ein weiterer Brief mit dem Beginn:
„Wir müssen ihnen mitteilen...“
, gefolgt von einem Haufen Schwachsinn darüber was für ein tapferer Junge Paul gewesen ist.
Afghanistan, natürlich hatte sie schon davon gehört, der 11. September und das was darauf folgte:
Ein verrückter Präsident der USA und die Kriegserklärung an das, was sie „die Achse des Bösen“ nannten, waren auch an ihr nicht spurlos vorrübergegangen.
Mit routinierten Bewegungen spült sie das Geschirr ab und ordnet es wieder ein.
Eigentlich ist es Mord
,
denkt sie und setzt sich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch.
Das es immer dasselbe bleibt, dass sich nie etwas ändert. Immer nehmen sie die Jungen, die noch grün hinter den Ohren sind und lassen sie ihre Kriege auskämpfen. Egal ob es dabei etwas zu gewinnen oder zu verlieren gibt und am Ende bleibt nichts übrig, außer einem Sarg und einem dieser Briefe.
Sie empfindet keinen Stolz auf ihren Enkel. Sie weiß nur, dass er es nicht besser wusste, dass sie es nie besser wissen, egal was sie einem erzählen.
Vielleicht hätte ich mit ihm reden sollen?
, denkt sie, aber es ist keine Zeit gewesen. Von einem Tag zum andern war er weg. Er hatte es für sich behalten, nicht einmal seine Mutter hatte davon gewusst.
„Ja,“
hatte er damals ihre erstaunte Frage beantwortet
„wir führen wieder Krieg, aber wir sind nicht alleine. Soldaten aller Länder sind in Afghanistan stationiert. Wir müssen dort die Infrastruktur neu aufbauen und die letzten Nester der Terroristen ausräuchern. Mach dir keine Sorgen Oma, mir wird schon nichts passieren. Ich kann auf mich aufpassen.“
Das war jetzt drei Monate her. Im Sommer ist er geflogen, im Herbst kam der Brief.
Während Ilse Kitschop, die dieses Jahr 89 Jahre alt wird, an ihrem Küchentisch sitzt, fühlt sie sich schrecklich alt und alleine. Sie denkt an ihren Vater, der im ersten Weltkrieg ein Bein und einen Arm verloren hat. An ihren ersten Mann, der den zweiten Welkrieg nicht überlebt hat und jetzt auch an ihren Enkel. An ihren Enkel der ermordet wurde, der solange mit Lügen eingesponnen wurde bis er selbst anfing daran zu glauben und der schließlich starb, weil er einem alten Mann helfen wollte, der eine Straße blockierte und nicht merkte, dass es sich dabei um einen Hinterhalt handelt.
Es gab keinen Ruhm und keine Ehre für ihren Paul, nur eine Explosion und einen hoffentlich schmerzlosen Tod, aber Ruhm und Ehre gab es onehin nie. Ruhm und Ehre sind etwas für Feuerwehrmänner, für Künstler, für Ärzte und Wissenschaftler, aber nicht für Soldaten. Soldaten bekommen Schüsse in den Körper und Granatsplitter in die Köpfe. Sie bekommen ,wenn sie überleben, Orden an ihre Brust geheftet, aber das hat für sie nichts mit Ruhm zu tun. Die Orden dienen einzig und alleine dazu zu überdecken was diese jungen Männer tun müssen:
Morden. Morden im Namen der Freiheit, im Namen der Menschenrechte. Morden für einen Frieden der nie kommen wird solange das töten weitergeht.
In zwei Tagen wird Pauls Sarg ankommen und das alte Kriegerdenkmal in der Mitte des Dorfes wird um einen neuen Namen erweitert werden müssen. Für einen Moment denkt sie an damals, an die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Die Zeit zu der ein ganzes Land sich geschworen hatte niemals, unter keinen Umständen, wieder Krieg zu führen. Diese Zeit ist jetzt vergessen, eine neue Zeit ist angebrochen und Ilse ist, das geht ihr jetzt mit ganzer Konsequenz auf, wohl kein Teil dieser Zeit mehr. Sie ist ein alter Mensch auf den niemand mehr hören wird und einzig das Wissen, dass sie in einigen Jahren tot sein wird, beruhigt sie.
Sie will mit dieser Welt nichts mehr zu tun haben, mit dieser Welt in der junge Deutsche in fremden Ländern in die Luft gesprengt werden, aus Gründen die sie selbst nicht verstehen.
Mit müden Augen betrachtet sie das Bild ihres zweiten Mannes das an der Küchenwand hängt. Vielleicht hätte er sie jetzt trösten können, hätte ihr sagen können das alles gut ist, doch auch er ist weg. Der Krebs hat ihn erwischt.
„Wann habt ihr endlich genug?“
ruft sie in die Stille hinein, doch wie zu erwarten, gibt ihr niemand eine Antwort auf diese Frage.
Alles was bleibt ist die Stille.
Tag der Veröffentlichung: 29.10.2010
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