Er erwachte so gegen elf Uhr mittags.
Es war ein krampfhaftes, ein schmerzhaftes erwachen. Der Schmerz war alt, ein Schmerz wie man ihn niemals von einem Tag auf den andern bekommen kann.
Es war ein Schmerz der sich über die Jahre angesammelt hatte und es unmöglich machte ihn zu ignorieren. Jedesmal wenn er verschwand war es nur wie ein kurzes verschwimmen.
Er war sich bewusst das der Schmerz jetzt ein Teil von ihm war, ein Teil der nie wieder gehen würde und er versuchte sich mit ihm zu arrangieren.
Er lag auf dem Rücken, irgendwann war er wieder zu dieser kindlichen unbekümmerten Art zu schlafen zurückgekehrt. Zwar konnte er nie so einschlafen, einschlafen tat er immer auf die Seite gedreht, aber jeden Tag erwachte er so. Auf dem Rücken liegend die Zimmerdecke anstarrend als gäbe es dort etwas besonderes zu sehen, doch dort war nichts.
Nur weiße Zimmerdecke, sonst nichts.
Einer seiner ersten Gedanken jeden morgen, er hatte ihn schon so oft gehabt das er ihn nicht einmal mehr warnahm, galt dieser Decke.
Er überlegte sich jeden Tag auf´s neue ob er sie nicht einmal anstreichen sollte, ihr eine schöne Farbe geben und noch im selben Atemzug verwarf er den Gedanken.
Derselbe Gedanke, die selbe Verneinung jeden morgen. Beides ging auch heute unbemerkt vonstatten, aber weiß das Bewusstsein denn jemals was das Unterbewusste sich denkt? Er hasste diese Decke, er hasste dieses endlose Weiß auf das er jeden morgen starrte, aber auch das wusste er nicht.
Der Hass auf die weiße Decke war irgendwann einfach Teil des Schmerzes geworden und der Schmerz wiederrum war allumfassend.
In ihm gab es keine seperaten Teile mehr die man beachten konnte.
Andre Hanke war ein Nachtmensch, schon immer gewesen und zu einem der vielen Privilegien die er sich in seinem Leben erarbeitet hatte gehörte auch das, lange in den Tag hinein schlafen zu können. Früher hatte er oft bis drei, vier Uhr nachmittags geschlafen nachdem er die ganze Nacht gearbeitet hatte.
Jetzt arbeitete er immer noch die ganze Nacht, aber sein Körper spielte ihm einen Streich und ließ ihn jeden morgen etwas früher und etwas müder aufstehen. Er wusste, auch heute würde den ganzen Tag nichts mit ihm anzufangen sein, wenn er so müde war wie jetzt dann konnte er nur herummaulen, sonst ging nichts.
Deshalb besuchten auch seine Kinder ihn immer seltener. Wer wollte sich schon mit einem stets schlecht gelauntem Alten Knacker unterhalten?
Auch dieser Gedanke war ein Teil seines Schmerzes geworden.
Einen Moment gab er sich noch der Illusion hin wieder einschlafen zu können, etwas das, wie er schon seit seiner Jugendzeit wusste, ihm völlig unmöglich war.
Er würde den ganzen Tag keinen Schlaf mehr finden.
Müde sein? Ja.
Schlafen? Nein, also stand er auf. Erhob sich langsam und nahm das Stöhnen das er dabei von sich gab ebensowenig war, wie die gemurmelten Flüche. Er redete schon so lange mit sich selbst das er sich erschrocken hätte, hätte ihn jemand darauf hingewiesen.
Andre verließ sein Schlafzimmer und begab sich auf direktem Wege in die Küche.
Dabei musste er das Wohnzimmer durchqueren, ein unaufgeräumter Raum, der trotz dem ganzen Krempel der dort herum lag, so gut wie unbenutzt war.
Hier hielt er such nur auf wenn er etwas suchte von dem er dachte das es dort war, oder wenn er viel Besuch hatte.
Viel Besuch hatte er schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehabt, Dinge suchen tat er immer noch.
Andre´s Schritte auf dem Parkettboden waren die müden schlurfenden schritten eines grießgrämigen alten Mannes. Jene Art von Schritten bei denen man sofort weiß das man der zu ihnen gehörigen Person besser aus dem Weg geht.
Während Andre jetzt in die Küche geht um sich den ersten Kaffee des Tages zu machen (unzählige weitere werden folgen) werfen wir einen Blick in sein Wohnzimmer:
Wir finden ein gemütliches Ledersofa mit dazu passendem Sessel gruppiert um einen massiven Holztisch der mit wunderbaren Schnitzarbeiten verziert ist.
Sowohl Sofa als auch Sessel sehen aus als wären sie einmal sehr teuer gewesen, würden jetzt aber nur noch für die zu verschenken Rubrik der zweiten Hand taugen.
Der Tisch hat die lange Zeit die er hier schon steht, plus einige Umzüge, besser Überstanden, was daran liegt das Andre Hanke sehr viel besser Acht auf Geschenke gibt als auf Dinge die er sich selbst gekauft hat.
Diese Aussage wird bestätigt durch die große Sammlung an Fotos in seinem Wohnzimmer. Einige sind gerahmt, andere in Fotoalben und wieder andere liegen einfach lose herum.
Andre selbst ist auf den wenigsten dieser Fotos zu sehen, die meisten zeigen Freunde und Bekannte die er in den Zweiundsechzig Jahren seines Lebens kennengelernt hat.
Lächelnde Gesichter von Männern und Frauen für immer gebannt auf Zelluloid kann man hier betrachten, es sind sehr, sehr viele.
Andre selbst betrachtet sie hier im Wohnzimmer nur noch selten. In seinem Kopf betrachtet er sie oft. Denkt an diese Menschen, daran was sie jetzt wohl tun und wann er sie zuletzt getroffen hat.
Einige von ihnen sind schon tot. Zu anderen hat er den Kontakt verloren und einige sieht er noch, hin und wieder. Zumindest redet Andre sich das ein, doch in Warheit hat er schon seit drei Jahren keinen dieser Menschen mehr gesehen. Nicht mehr seit seinem fünfzigsten Geburtstag.
Auch heute hat Andre Geburtstag, aber das sei nur am Rande erwähnt. Es ist nicht einmal klar ob er selbst es weiß,
warscheinlich jedoch hat er es vergessen.
Tag der Veröffentlichung: 12.06.2010
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