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Es geht nur nachts, am Tag ist es zu gefährlich, es darf einen keiner sehen, gut muss man sein, schnell muss man sein, aufpassen muss man. Ich bin gut, ich bin schnell, ich passe auf. Ich bin wirklich gut ich schmiere nicht nur Tags, ich male, ich bin Künstler. Meine Kunst lebt, sie fahrt auf Zügen und Bussen durch die Stadt. Sie taucht an unmöglichen Stellen auf. Ich mache Kunst, die lebt, die aufweckt soll, die wachrütteln soll.

Sprühdosen, Rucksack, MP3-Player, Skateboard. Ich brauch mehr Farben. Farbgroßhandel, Baggyhosen, zwei Dosen zahle ich meisten und sechs Dosen nehme ich so mit – Baggyhosen. OK, alles ist geplant wir sind zu zweit. Wir sind am Umschlagbahnhof, hier gibt es Wachmänner mit Hunden, aber wir sind gut. Der Zaun ist schon vorbereitet, schnell rein, unser Zug steht ganz in der Nähe. Wir arbeiten oft zusammen, dann sind wir noch schneller, das ist wichtig, denn wenn man einen Zug nicht fertigbekommt, hat man keine Chance mehr. Es wird heute Nacht eine Scene aus dem Paradies, aus unserem Paradies. Wir arbeiten von der Mitte aus. Es ist nichts zu hören außer dem leisen Zischen der Sprühdosen. Wir kommen gut voran.
Ich habe schon viel nachts erzählt, meine Lebensgeschichte. Ich habe früh damit angefangen. Meine Familie, die typische Vorstadtfamilie, wenn es die gibt. Sohn einer Hausfrau und eines Angestellten, keine harmonische Ehe aber eine Scheidung wäre unvorstellbar für meine Eltern, also, in regelmäßigen abständen Ehekrach, Streiterei und Heulerei. Da haben schon früh, die Wasserfarben, Filzstifte, Nagellacke und was auch immer, weiter geholfen. Mein Paradies, da gib es nichts weiter, nur ein Jetzt und Hier. Als ich größer wurde, klaute ich meine erste Sprühdose und sprühte meine erste Geschichte, naja das war eher ein Form- und Farbenwirrwar, aber da wusste ich, dass ist es. Es gibt nichts weiter als du und das Bild, das entsteht, es gibt keine Gedanken, es gibt keine Probleme, es gibt keine Sorgen, es gibt nur dich und das Bild. Später kam dann noch der Kick hinzu an verbotenen Stellen zu malen, da musst du voll im Hier und jetzt sein, darfst dich nicht ablenken lassen, da bleibt noch weniger Zeit für Gedanken, Probleme und Sorgen. Das war meine Flucht, mein Paradies. Und von diesem Paradies erzähle ich in jedem Bild. Ich will mein Paradies weitergeben, ich will den Bewohnern in ihrer grauen Alltagswelt Farbe und Formen bringen. Aber das Grau ist schon so eingebrannt, dass man, wenn man erwischt wird für Farben und Formen und Geschichten, Strafe zahlen muss, Arbeitsstunden ableisten muss und wenn dass alles nicht hilft, dann in eine quadratische graue Welt eingesperrt wird um auch so werden wie die Grauverteidiger. Die, die keine Sonne und keinen Mond auf ihrer Fassade haben wollen, die die sich zwischen Vorabendserie und Lidl-Sonderangeboten bewegen aber auch die, die zwischen Plasmabildschirm, Audisport und Rolexuhren gefangen sind. Sie haben es noch nicht kapiert, was es heißt, wirklich zu leben. Ich lebe jede Nacht, wenn ich meine Geschichte erzähle, wenn ich Sonne und Mond zusammenbringe.
Wir kommen gut voran, unsere Geschichte wächst, Formen und Farben erwachen zum Leben, verbinden sich und erzählen.
Weg, da kommt jemand, wenn nur die Hunde nicht wären. Wir rennen, wir erreichen den Zaun, wir trennen uns, jeder in eine andere Richtung, und rennen, fliegen durch die Nacht, das Adrenalin steigt, ich höre einen Hund hinter mir, aber ich bin schneller, kenne die Umgebung, weiß, welche Mauern mich retten können, weiß das das Sicherheitspersonal mit seinen kolbigen Klamotten einfach nicht so gewandt ist. Auch hier, ich lebe, ich denke an nichts, ich hab keine Sorgen, es gibt nur mich und meine Instinkte, ich bin wie ein wildes Tier, das sich ganz auf sein Gehör und Gefühl verlässt . Ich habe eine neue Geschichte zu erzählen. Ich erlebe jede Nacht. Ich lebe jede Nacht.
Ich habe meinen Rucksack und meine Farben verloren, aber ich habe ein Stück vom Paradies geschaffen, für diejenigen, die es sehen können. Es ist offensichtlich, es ist zugänglich, es ist nicht hinter Museumsmauern eingesperrt, aber für viele ist es unzugänglich, der Zugang unerreichbar. Ich lade sie alle ein, aber die meisten haben die Augen verschlossen oder krasse Brillen davor, die das Paradies verzehren, sodass es ihnen Angst macht. Trotzdem, ich gebe nicht auf.
Wir sind eine Minderheit. Wir wachsen aber nach, man kann uns nicht ausrotten, man kann uns nicht verbieten zu sehen, zu fühlen, zu leben und, wir laden jeden ein, das Sehen zu lernen.
Wir, mein Kumpel und ich treffen uns nach drei Stunden in meiner Wohnung. Wir haben die Nacht gelebt und gefühlt, wir haben was zu erzählen. Es dämmert langsam. Unser Stück vom Paradies ist nun vielleicht schon unterwegs durch Deutschland und die Wenigen die fähig sind es zu sehen haben ihre Freude daran, spüren das Kraft und das Leben darin.
Jetzt ist es Zeit sich wieder anzupassen, die Nacht ist vorbei. Der Job ruft, Reisen in einem Billigreisebüro zu verkaufen für Leute, die sich das Paradies erkaufen wollen, die nicht mit sich sein können und wegfahren müssen, um wo anders nicht zu sein und nichts sehen. Die, die Monate im Voraus an ihren Urlaub, an ihre Reise denken und darüber hinaus das Hier und Jetzt, das Leben im Moment vergessen, die, die in ihrem Urlaub darüber nachdenken wie sie ihre Urlaubsgeschichten am wirkungsvollsten ihren Bekannten erzählen und die, die nach ihrem Urlaub, in ihren Erinnerungen an ihren Urlaub leben. Und dabei gar nicht bemerken, dass sie nie da sind, wo sie eigentlich sind.
Auch in der kommenden Nacht werde ich wieder ein Angebot machen, werde ich eine Geschichte erzählen, werde ich einladen daran teilzunehmen, die Schönheit zu sehen, werde ich versuchen das Sehen, das Fühlen, das Sein zu lehren. Ich gebe nicht auf.

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Tag der Veröffentlichung: 16.04.2009

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