Bei dieser Geschichte handelt es sich um eine kostenlose Bonusstory aus dem Sammelband
Liebe auf den ersten oder zweiten Blick
Gay Romance Storys Band 1
Bestimmt zum dritten Mal ermahnte sich Orell, dass ihn die Angelegenheiten fremder Menschen nichts angingen. Zuverlässig meldete sich jedoch der andere Gedanke: War man sich wirklich fremd, wenn man zwar noch nie ein Wort gesprochen hatte, sich aber tagtäglich im Zug begegnete? Jeden Morgen vierzig Minuten auf dem Weg in die Innenstadt und relativ oft auch auf dem Rückweg in die Einöde der Vororte. Natürlich kannten sie sich nicht und sie waren nicht mal so weit, dass sie sich jedes Mal grüßten, wenn sie sich sahen. Und selbst diese flüchtigen Momente des gegenseitigen Erkennens bestanden lediglich aus einem kurzen Nicken, oft sogar nur angedeutet.
Orell sah aus dem Fenster und stellte wie immer fest, dass es nichts zu sehen gab. Eine Betonwüste. Nein, einmal hatte er ihm fast zugelächelt. Der Mundwinkel hatte kaum wahrnehmbar gezuckt. Ein bisschen mehr und es hätte eine Einladung sein können, sich vielleicht besser kennenzulernen. Womöglich wären sie inzwischen bei einem eindeutigen Nicken oder gar beim »Hallo« angekommen, wenn er selbst ein deutlicheres Lächeln zurückgeschickt hätte.
Er schaute doch wieder hinüber, obwohl er es eigentlich nicht wollte. Aber dieser Kerl war nun schon seit Monaten die einzige Aussicht, die zu betrachten sich lohnte. Und wirklich, man konnte nicht behaupten, dass der Mann ihm fremd war. Orell wusste so einiges. Er schätzte ihn auf Ende zwanzig, vielleicht sogar Anfang dreißig. Er besaß fünf verschiedene Anzüge, die sich jedoch alle recht ähnlich waren. Im Wechsel wählte er eine von etwa zehn Krawatten. Ein Schlips fiel mit einem auffälligen Grün aus der Reihe der gedeckten Töne. Wahrscheinlich arbeitete er bei einer Bank oder Versicherung. Dazu passte, dass er sehr regelmäßig zum Friseur ging und sich stets perfekt rasierte. Im Grunde sah er jeden einzelnen Tag gleich aus. Orell konnte sich nicht erinnern, dass dieser Typ auch nur einmal müde gewirkt hätte oder krank. Sein Gesichtsausdruck war zuverlässig
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: © Melanie Elberfeld
Bildmaterialien: Foto © Coka - Fotolia.com / Frame © Giraphics - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 09.06.2015
ISBN: 978-3-7368-9911-7
Alle Rechte vorbehalten