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« Bis hier hin », sagte ich und zeigte mit meinem Zeigefinger auf meinen Nacken.

„Sicher?“, fragte die Friseurin.

„So sicher wie das Amen in der Kirche.“

Ich wollte mich ändern. Ich weiß, durch eine neue Frisur würde sich garantiert niemand ändern. Aber mir würde das sicherlich helfen. Ich habe welliges langes Haar, das mir bis zum Hintern reicht. Naja. Reichte.

Ich saß auf einem sehr bequemen blauen Stuhl. Mein Körper versank förmlich darin.

Das Friseurstudio lag in einer kleinen Straße. Es sah innen genau so aus, wie von außen: Kahl.

Das Friseurstudio bestand aus Spiegeln, die Wand dahinter konnte man kaum sehen. Auch gab es Regale mit der Ausstattung, die Friseure brauchten: Kämme, Scheren, Haarsprays, Föhne und so weiter. Aber sonst gab es auch nur einen Stuhl mit nur einem Arbeiter. Keine Kunden, außer mir. Es sah wirklich leer aus.

Die Friseurin hatte mir einen Kittel um den Hals gelegt. Er umschloss meinen ganzen Oberkörper. Sie kämmte mein Haar, besprühte es mit Wasser und nahm dann die Schere in die Hand. Sie schnitt mir Stück für Stück das Haar kürzer.

Okay. Hatte ich wirklich gesagt, dass ich mir sicher sei? Nicht beantworten. Das war eine rhetorische Frage. Ja, ich war mir sicher. Doch ich hatte auch Panik. Ich weiß, es ist unlogisch, aber ich fühlte mich, als wäre ich in einem Flugzeug, das gleich starten würde. Ich hatte eben Schiss. Ich sah wie meine Haare zu Boden fielen. Strähne für Strähne, sie fielen, sie schwebten leicht in der Luft und bevor sie auf den laminierten Boden kamen, teilten sie sich zu einzelnen Haaren auf und lagen überall verstreut. Ich atmete aus. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte. Ich schloss die Augen, um das nicht sehen zu müssen.

 

Ich erinnerte mich, wie Alisha, Emily und ich uns geschworen hatten nie unsere Haare abschneiden zu lassen. Ich weiß die beiden hatten es schon vergessen. Ich nicht.

Es war an einem Sommertag, der Rasen war grün und die Nelken blühten. Wir saßen unter unserem Lieblings Baum. Er war alt und knorrig und seine Krone mit den Blättern schenkte uns einen angenehmen kühlen Schatten. Wir saßen gerne dort und taten so als wären wir erwachsen.

Aber wir waren acht und unsere Haare gingen uns schon bis unter die Schulterblätter. Ja, wir waren einer dieser Mädchen, die auf Prinzessinnen standen oder besser gesagt liebten. Natürlich wollten wir Prinzessinnen sein. So welche mit langen Haaren. Wir waren wie besessen.

Nun ja. Ich nicht so. Ich war immer die, die sich bewegen musste. Die, die ihr weißes Kleid schmutzig machte. Die, die immer ihre Limonade verschüttete. Oder die, die barfuß im Schlamm lief.

All das, während Alisha und Emily ruhig und brav auf ihren Stühlen saßen. In schönen Kleidern, die Beine aneinander, damit man nicht ihre Schlüpfer sah und die Hände gefaltet auf den Schoß gelegt. Ich muss sagen ich war ziemlich ungezogen, aber manchmal machte es mir Spaß mich wie Alisha und Emily zu benehmen.

Ich war ziemlich selbstbewusst. Ich wünschte, ich hätte mein Selbstbewusstsein behalten, doch mit der Pubertät schwand es ein bisschen.

Alisha sagte:„Wir müssen uns schwören, dass wir nie unsere Haare abschneiden werden.“

Sie lächelte während sie das sagte. Alisha war schon immer hübsch gewesen. Sie hob ihre kleine Faust und streckte den winzigen Finger nach oben. Emily tat es ihr gleich und umfasste ihre kleinen Finger mit dem Finger von Alisha.

Emily sagte:„Ich schwöre.“

Mir lief ein Schauder über den Rücken. Ich hatte noch nie einen Schwur geleistet und ich hatte Angst. Ich hatte gehört, dass man starb, wenn man ihn brach.

Ich kam den beiden einen Schritt näher und dann umfasste auch ich deren Finger und wiederholte Emilys Worte. Ich starrte beide mit großen Augen an und fragte mich, ob vielleicht irgendetwas Feuer fangen würde oder der Baum auf uns fiel, doch es geschah nichts dergleichen.

Dann lächelten wir uns verlegen an und wussten auch nicht so recht, was man nach einem Schwur macht, also fragte ich, ob wir nicht Mutter-Vater-Kind spielen sollten? Sie nickten. Ich musste den Vater spielen. Schon wieder. Na ja, egal. Der Schwur war schon lange her. Und die beiden würden sich auch nicht daran erinnern. Also war es mir auch sicherlich erlaubt, den Schwur zu brechen. Er war ja sowieso lächerlich und...-

„Fertig.“

„W-was?“, fragte ich erschrocken und unterbrochen von meinen Gedanken. Ich war ein wenig zusammen gezuckt.

„Fertig“, wiederholte die Friseurin.

Ich hatte meine Augen immer noch geschlossen, fest. Ich riss sie auf und mir war es peinlich, dass ich halb eingeschlafen war. Dann sah ich die Person im Spiegel an. Mich. Ich blinzelte mehrmals. Mein eigentlich leicht gewelltes Haar, wellte sich jetzt ziemlich stark. Es sah nicht schlecht aus. Aber ich sah anders aus. Mein Gesicht sah man viel deutlicher. Jedes kleine Detail. Meine ohnehin schon großen Augen wirkten viel größer und viel dunkler und auch meine dichten Wimpern sahen viel länger aus. Meine Sommersprossen auf der leicht geschwungenen Nase stachen sehr hervor. Das Kinn meines herzförmigen Gesichts wirkte noch spitzer.

Doch wie schon erwähnt: Es sah nicht schlecht aus.

Ich stammelte meinen Dank herunter, weil ich immer noch peinlich berührt war, dass ich mich nicht auf ihre Arbeit konzentriert hatte, sondern irgendwie weggesackt war. Als ich bezahlen wollte, fiel mir dann noch das Portemonnaie runter und dann, als ich mich runter beugte um es aufzuheben, verschüttete ich den ganzen Inhalt meiner Tasche auf den Boden. (Dabei waren ein paar Binden.) Rot im Gesicht, gab ich der Friseurin das Geld und stürmte schnell aus den Laden. Ich hatte Glück, dass ich nicht mit irgendjemanden zusammen gestoßen war. Ich hätte es mir zugetraut, so tollpatschig, wie ich war. In schnellen Schritten - ich lief praktisch, ging ich die dunkle Straße entlang, bedacht niemanden in die Quere zu kommen.

Als ich an meinem Haus ankam, schlich ich mich von der Hintertür in mein Zimmer. Ich hatte niemandem gesagt, dass ich weg war und das würde Ärger geben. Auch wenn ich schon in drei Monaten sechszehn wurde.

Hoffentlich hatten sie es nicht bemerkt, aber spätestens wenn sie mich sahen, würden sie es dann doch merken. Noch nicht jetzt, beschloss ich, zog Schuhe und Kleidung aus und legte mich mit Unterwäsche ins Bett. Morgen.

Es war nicht leicht einzuschlafen. Nicht so wie im Friseursalon. Ich versuchte immer wieder die Augen geschlossen zu halten, aber sie flogen wieder auf, ohne, dass ich es bemerkte. Doch nachdem mein kalter Körper durch meine Decke aufgewärmt war, wurde es leichter und ich fiel in einen traumlosen Schlaf.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich ziemlich spät. Ich hatte den Wecker nicht gestellt. Na toll. Ich sprang schnell aus dem Bett und zog meinen Morgenmantel an, als ich merkte, dass ich nur in Unterwäsche war. Er war dunkelgrün und fühlte sich kühl an meiner Haut an. Und er war sehr schön. Ich ging schnell ins Badezimmer mit meinen Klamotten unterm Arm. Ich duschte schnell und als ich fertig war, rieb ich heftig mit meinem Handtuch an meinem Körper um trocken zu werden. Dann putzte ich meine Zähne und wusch mein Gesicht, bis es rot wurde.

Ich zog eine Jeans an. Es war so eine mit dem Muster des Mondes, dann ein gelbes T-Shirt mit der Aufschrift Shit Happens, meine schwarzen Soldaten Stiefel und eine schwarze kurze Lederjacke.

Ich ging schnell in die Küche und wollte mir einen Apfel holen, als meine Mom mich aufhielt. Sie sah überhaupt nicht so aus wie ich. Sie hatte grüne Augen, eine gerade Nase und einen dünnen schmalen Mund, der wegen seiner Form irgendwie schön aussah. Wir hatten jedoch dieselben Haare, nur dass meine kurz waren und ihre in Lockenwickler.

„Stopp. Ganz ruhig. Wo warst du gestern?“, fragte sie. Mist! Ich hatte total vergessen, dass sie immer später zur Arbeit ging. Und offensichtlich hatte sie es bemerkt, dass ich weg war, noch bevor ich zurück war, denn sie schaute jede Stunde in mein Zimmer, um zu sehen, ob es mir gut ging. Ehrlich. In dieser Familie wurde einem immer nachgestellt.

Als sie mich direkt ansah, weiteten sich ihre Augen.

„Wo sind deine Haare?“, fragte sie blödsinniger Weise, denn die Frage lautete eigentlich: „Was hast du getan?“

„Mom! Ich muss zur Schule!“, antwortete ich. Ich schnappte mir den roten Apfel, der auf dem Tisch in einer Schale lag.

„Na ja. Es sieht eigentlich ganz gut aus. Jetzt kann man ja dein Gesicht sehen.“

„Hahaha! Du siehst ja geil aus!“, sagte mein kleiner Bruder Tommy. Er hatte kurz geschorenes schwarzes Haar und die grüne Augen von meiner Mutter. Er war wirklich zum anbeißen!

Ich verdrehte meine Augen, ging in mein Zimmer und legte mir meinen Rucksack um.

Ich bat meine Mom mich zur Schule zu fahren, weil ich sonst zu spät kommen würde. Sie fuhr mich.

Ich saß auf dem Beifahrersitz und mein Bruder hinten auf dem Kindersitz. Er alberte die ganze Zeit herum und meine Mom hatte keine Gelegenheit mich auszuschelten. Ich aß meinen Apfel und redete sonst auch wenig. Puh, hatte ich Glück.

Ich kam noch rechtzeitig zum Unterricht. Gerade dann, als Mr Might ins Klassenzimmer trat. Das Klassenzimmer war klein. Seine Wände waren gebleicht und man konnte undeutlich erkennen, dass die Farbe früher Himmelblau gewesen sein muss. Die schweren Vorhänge waren rot. Es roch ein wenig muffig, doch sonst sah es ganz friedlich aus.

Der Unterricht verlief eigentlich gut. Wir hatten Englisch und sprachen über das Buch Jane Eyer. Ich beteiligte mich am meisten. Ich mochte das Buch. Es ging um die Geschichte der Jane Eyer, die bei ihrer herzlosen Tante lebt und in ein Internat geschickt wird. Mit achtzehn verlässt sie es dann und wird zur Gouvernante. Sie verliebt sich in den Hausherren, der jedoch ein dunkles Geheimnis hat. Es ist wirklich romantisch.

Dann hatte ich das Fach Chemie, worin ich fast einschlief und die Zeit sich lang ausdehnte und streckte. Es ging um Elektrochemie. Doch nicht nur dieses Fach, denn der Direktor McLain meiner Schule hatte alle Fächer nach oben gestopft, während die Mittagspause meine vorletzte Stunde war.

Ich dachte, die Stunden würden nie zu Ende gehen, als die Klingel zur Pause klingelte. Ich ging in die Cafeteria, wo schon Emily, Alisha und ihr Freund Alec auf mich warteten. Sie saßen an unserem gewohnten Tisch in der gewohnten Ecke. Alisha und Alec auf der einen Seite und Emily auf der anderen Seite des Tisches. Alle waren mit ihrem Essen beschäftigt.

Ich ging nicht sofort zu ihnen. Erst ging ich zum Tresen der Cafeteria und füllte mir den Teller mit Spaghetti und Tomatensoße. Dann ging ich zu ihnen und setzte mich neben Emily. Sie alle aßen. Ich sagte:

„Hey Leute.“ Ich sagte es nicht, ich seufzte es.

„Hey Beth“, begrüßte mich Alisha und sah von ihrem Teller auf. Als ihr Blick auf mich fiel, hoben sich ihre schönen Augenbrauen. „Hübsche Frisur.“

„Ähm. Danke.“

Alisha war eine dunkelhaarige Schönheit. Ihr langes Haar war pechschwarz und glatt. Ihre Augenbrauen waren tiefschwarz und bildeten einen Kontrast zu ihrem weißen Gesicht. Ihre Augen waren hellblau und schön, in der Mitte ihres Gesichtes hatte sie ein Stupsnäschen und dann folgte ein beeindruckender Schmollmund. Sie war so schön und eine wirklich gute Freundin.

Sie war sehr gutmütig. Wirklich sehr. Sie nahm an vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen teil und gab jedem Obdachlosen, den sie sah, Geld. Jedes Mal, wenn ich bei ihr zu Besuch war, wollte sie mir ihre Sachen schenken! Ich fand es nicht sehr angebracht. Dazu hatte sie ja einen ganz anderen Stil als ich und ich... Ich war bescheiden und wollte nie was annehmen. Alisha war schlau. Sie hatte einen Einser durchschnitt und kam eigentlich ganz gut mit schlimmen Situationen klar. Nicht nur das, denn sie war auch selbstbewusst und hatte eine tolle Ausstrahlung. Sie war einfach das, was ein Junge sich wünschte. Sie war einer meiner besten Freundinnen.

Emily, meine andere beste Freundin, war auch eigentlich ganz hübsch, nicht so hübsch wie Alisha, aber hübsch. Sie hatte helles rotes Haar, das ihr sehr schön über den Rücken floss. Ihre mandelförmigen Augen waren haselnussbraun und die vollen Lippen hatte sie heute dunkelrot geschminkt. Ihre Wangen hatten immer ein schönes rosa aufzuweisen.

Sie saß über ihren Teller gebeugt und schob sich die volle Gabel mit Spaghetti in den Mund.

Emily war eigentlich sehr schüchtern und klein. Sie war nett und ruhig und still. Sie sagte nie etwas, wenn sie es nicht wollte. Sie dachte immer nach, bevor sie es dann sagte. Ich fragte mich immer, ob vielleicht eine andere in ihr steckte, nicht nur dieses kleine brave Mädchen.

Jetzt schaute auch sie auf und ich tat so, als würde ich mich auf mein Essen konzentrieren.

Jedem, dem ich begegnet war und der mich kannte, kommentierte meine neue Frisur. Vielleicht hätte ich ja eine Kapuze aufsetzen sollen oder so.

„Wow. Das sieht wirklich hübsch aus“, sagte Emily. Ich blickte auf und sie lächelte. Ich sah kurz zu Alec, der mich überhaupt nicht angeschaut hatte. Doch gerade dann, als mein Blick zu ihm huschte, kreuzten sich unsere Blicke.

Ich hielt die Luft an. Er war Alishas Freund. Sein dunkelblondes gelocktes Haar war ziemlich unordentlich und stand in allen Seiten ab und gerade jetzt, wo ich ihn anblickte bohrte sein Blick sich durch meinen hindurch, so als wäre ich entblößt.

Sein Körper war muskulös und er hatte breite Schultern. Er war groß. Er war so ziemlich der Traum jedes Mädchen, wenn er nicht schon vergeben wäre. Er und Alisha waren jetzt schon fast zwei Monate zusammen. Alishas längste Beziehung bis jetzt. Sie musste ihn wohl wirklich mögen. Und er sie.

Ich kannte ihn eigentlich nicht. Er hatte nie etwas von sich preisgegeben und das machte ihn geheimnisvoll und anziehend. Irgendwie.

Er schaute mich nur an, er sagte nichts. Gut. Ich hatte auch nichts anderes erwartet. Ich schaute schnell weg, sonst wäre mir die Röte ins Gesicht gestiegen. Er war vergeben.

„Alisha“, sagte ich, um von mir abzulenken, „wie war der Kinofilm? Wie hieß der nochmal... In Time?“

„Ach ja. In Time. Der war wirklich gut. Aber um ehrlich zu sein... Ich hab nur den Anfang mitbekommen“, erwiderte sie und schaute Alec mit einem Lächeln an. Ich schaute zu ihm und bemerkte, dass er mich immer noch anstarrte. Ich hob eine Augenbraue und schaute ihn erwartungsvoll an. Ich dachte er würde etwas zu dem sagen, was Alisha mir grad erzählt hatte. Was für eine schöne Bemerkung das doch war. Ich widerstand dem Impuls meine Augen zu verdrehen.

Alec hatte wohl nichts mitbekommen und antwortete nicht. Alisha merkte das nicht. Sie war immer noch damit beschäftigt sein schönes Profil anzublicken.

„Wie war der Unterricht?“, fragte Alisha dann.

„Ganz gut. Jane Eyer.“

„Ach ja. Das Buch ist ganz okay, aber Twilight mag ich viel mehr.“

Schön. Schon wieder diese Bücher.

Jane Eyer war ja wohl ein bekannteres Buch und hatte immerhin schon fast zweihundert Jahre überlebt. Die Twilight-Bücher jedoch nicht. Das wusste ich. Ich sagte ihr das jedoch nicht ins Gesicht. Ihr Lächeln war einfach so überzeugend, dass ich die Klappe hielt.

Ich schob mir die Gabel mit den eingedrehten Spaghetti und Tomatensoße rein. Sie schmeckten wirklich gut, auch wenn ich Tomaten nicht mag und noch weniger Tomatensoße. Doch die hier schmeckte wirklich gut.

Die folgende halbe Stunde saßen wir schweigend da und verschlangen unsere Portionen.

Manchmal sah ich, wie Emily heimlich zu Alec sah, doch der würdigte sie keines Blickes. Sie fand ihn wahrscheinlich auch süß. Wer fand das nicht? In Gedanken fing ich an zu lachen. Alisha hatte echt Glück mit allem. Ihr Vater, Mr Mitchel, war ein erfolgreicher Anwalt und ihre Mutter, Mrs Mitchel, Psychotherapeutin. Sie und ihre Eltern schienen wirklich glücklich zu sein, eine wirklich perfekte Familie. Sie liebten einander und gaben auf sich acht. Außerdem bekam Alisha nie Hausarrest. Wahrscheinlich, weil sie so brav war.

Wir beendeten unser Mahl und legten die leeren Teller weg. Wir hatten noch eine Viertelstunde Pause, aber ich hatte keine Lust sie schweigend zu verbringen. Alisha, Alec, Emily und ich gingen raus auf den Hof.

Plötzlich kam Chloe zu uns und begrüßte uns: Alisha, mich und Emily mit einer stürmischen Umarmung. Ich war ziemlich überrascht. Was wollte die Oberzicke hier? Sie hatte strohblondes Haar bis zur Schulter und eine große Nase. Ihre Augen leuchteten grün, als wäre sie ein Freak. Vielleicht war sie das ja auch.

Als sie fertig damit war uns zu umarmen, trat ich einen Schritt zurück und rümpfte die Nase, als würde sie stinken. Sie merkte es nicht. Schade.

„Hi“, sagte Cloe und lächelte breit, „wie geht’s so?“

„Na ich weiß nicht. Eben ging es mir ja noch gut, aber dann kam so’ ne stinkende Tusse und hat mich umarmt“, sagte ich leise. Ich weiß, dass das auch ziemlich zickig war, aber ihr geschah es recht. Ehrlich.

„Beth!“, warnte mich Emily flüsternd, „sei etwas netter.“

Nein, danke, dachte ich. Aber die Beleidigung kam nicht so an, wie ich es gewollt hatte, denn Chloe fing schallend an zu lachen. Als hätte ich einen Witz gemacht oder so.

„Die hat ja wohl einen Dachschaden“, murmelte ich leise. Alisha sah mich an und lächelte schwach. Sie hatte mich wohl gehört, was die anderen nicht taten.

„Wie geht es dir denn so?“, fragte Chloe an Alisha gewandt. Alisha lächelte überzeugend echt, aber ich wusste genau, dass ihr eine ähnliche Antwort wie meine auf den Lippen lag. Stattdessen sagte sie:

„Mir geht es bestens, Chloe. Danke der Nachfrage.“

Währenddessen warf Chloe mehrere Seitenblicke zu Alec hinüber. Ach deswegen war sie hier. Langsam fing Alec an mir auf die Nerven zu gehen.

„Was machst du überhaupt hier?“, fragte ich, im Versuch ruhig zu bleiben und die Frage nicht wie ein Zischen rauskommen zu lassen.

„Ach. Ich wollt nur sagen, dass es einen neuen Schüler gibt. Jim“, antwortete sie und lächelte Alec schüchtern zu. Der schaute die ganze Zeit auf seine Füße. Irgendwie... schuldbewusst.

„Danke. Ich meine für die Information.“ Alisha sah Chloe ein wenig gereizt an, als wüsste sie wie toll ihr Freund war. Sie blieb trotzdem ruhig. Ich wusste, sie könnte nie jemandem weh tun.

„Hmm“, machte Chloe, schaute immer noch zu Alec und lächelt ihn klebrig süß an. Ich verdrehte die Augen. Wie konnte ein Junge so viel Macht besitzen, nur wegen seines Aussehens? Das war doch völlig absurd.

„Ich gehe jetzt“, sagte ich zu Alisha. Wir hatten den nächsten Kurs zusammen.

„Klar, ich komm gleich nach.“

Ich wandte mich von den vieren ab und ging Richtung Schulgebäude.

Das nächste Fach, das ich hatte, war Mathe. Mit dem Oberlangweiler Mr Edgar.

Ich ging in die Klasse und setzte mich auf meinem Platz. Ich holte meinen Schreibblock heraus und fing an irgendwelche Karikaturen von Chloe zu kritzeln, wo ich ihr eine überdimensionale Nase verpasste. Sie war so riesig, wenn sie nicht aufpasste würde sie ihr Gleichgewicht verlieren und drauf fallen.

Bald darauf folgte auch Alisha. Sie setzte sich neben mich und starrte finster auf den Tisch. Sie seufzte tief und schaute mich an. Sie dachte wohl daran, wie Chloe Alec angeschaut hatte.

„Ich versteh dich“, sagte ich und lächelte sie an, „ich weiß, ich hatte noch gar keinen Freund, aber bei der Chloe-Tusse kann ich dich verstehen.“

„Ja“, sagte sie gedehnt, „ja, sie ist eine Tusse. Ich hasse es ständig sehen zu müssen, wie alle Mädchen Alec anhimmeln. Es geht mir auf den Wecker.“

Ich sah sie ein wenig überrascht an. Sie hasste es?

„Ich wusste gar nicht, dass du hassen kannst. Hey, aber er will ja nur dich. Ist das nicht das wichtigste?“

Sie lächelte schwach über meinen armseligen Witz.

„Ja, du hast recht. Danke, Beth. Du bist wirklich die einzig neutrale, wenn es um meinem Freund geht.“

„Ja klar, ich hab‘ s jetzt ja auf jemand anderes abgesehen“, sagte ich und zwinkerte ihr zu. Alisha grinste. Ich sagte ihr nicht, dass auch ich Alec schon ein bisschen toll fand. Aber so toll nun auch nicht.

Dann plötzlich wurde die Klasse still.

2

 

Dann plötzlich wurde die Klasse still. Während Alisha und ich geredet hatten, war Mr Edgar eingetreten. An seiner Seite ein ziemlich großer blonder Junge mit grünen Augen. Das war wohl der neue Schüler, von dem Chloe berichtet hatte. Er sah gut aus.

Alisha stupste mich mit ihrem Ellenbogen an.

„Jou, ist das dein Neuer?“, fragte sie, zeigte auf den neuen Schüler und kicherte leise. Ich lächelte ein wenig. Ich kicherte nicht. Ich hasste das.

Der Neue... Er hieß...?

„Das ist Jim Count“, sagte Mr Edgar. Ach ja, er hieß Jim.

Mr Edgar schwitzte sehr im Gesicht und auch unter seinen Achseln trat Schweiß aus, der sich in sein blaues Hemd einsaugte. Er war ein pummeliger Mann, der ungefähr Ende dreißig war. In seinen braunen Haaren mischte sich der Grauton, der bald zu einem schneeweiß enden würde.

„Ich hoffe sehr ihr heißt ihn willkommen.“

„Natürlich heißen wir ihn willkommen“, sagte Catherine leise, die einen Tisch neben mir saß. Sie leckte sich über die Lippen.

Oh my Godness. Diese Schlampe. Das war ein gerechter Ausdruck, denn sie schmiss sich jedem Jungen um den Hals. Sie war sicherlich schon mit über ein duzend Jungs im Bett und nicht nur einmal.

„Bitch“, sagte ich zu Alisha und verdrehte die Augen.

„Aber sowas von.“

„Miss Connor“, sagte Mr Edgars Stimme. Ich zuckte zusammen.

„Öhm, ja?“, fragte ich. Hoffentlich hatte er nur gesehen, dass ich geredet hatte und nicht gehört. Ich spürte wie Hitze über meinen Hals strömte und sich dann in meinem Gesicht ausbreiten wollte. Nein, ich durfte jetzt nicht rot werde. Ich atmete ruhig und die Hitze schwand langsam.

„Könnten sie Mr Count die Schule nach dem Unterricht zeigen? Sie wissen schon, ihn herumführen.“

„Aber natürlich“, erwiderte ich und lächelte leicht gezwungen der Aufgabe wegen, jedoch erleichtert, weil er doch nichts gehört hatte.

Zu Lehrern konnte man nie nein sagen.

In dem Moment schwang Jim seine Surfer-Frisur zu Recht und lächelte mich strahlend an.

„Danke“, formte er mit seinen Lippen. Okay, ich konnte es nicht verhindern und wurde purpurrot. Na toll. Ich schaute schnell weg.

Den Rest der Stunde konnte ich mich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Zum Teil wegen der monotonen Stimme Mr Edgars und teilweise, wie ich mir eingestehen muss, lag es auch daran, dass der Neue mir die ganze Zeit zuzwinkerte. Das brachte mich aus der Fassung. Alles brachte mich aus der Fassung. Wie er dann seine Surfer-Frisur schwang, damit seine Haare richtig standen.

Er war nicht mein Typ. Ich wollte nicht, dass er etwas Falsches dachte, weil ich die ganze Zeit zu ihm herüber schaute. Ich tat es nur, weil er es tat und ich wollte keinen Augenblick verpassen. Ich hasse es wenn jemand mich beobachtet.

Und dann, plötzlich, musste ich an Alec denken. Ich weiß nicht wieso. Tja vielleicht... Vielleicht kriegte ich ja meine Tage? Joa, könnte sein. Nein, es war einfach, weil Alec der schönste Junge war, denn ich je gesehen hatte. Jim konnte Alec nicht toppen.

Irgendwie, am Ende der Stunde, schweifte ich von diesen Gedanken ab und dachte an Fische. Ich weiß auch nicht wie ich auf diesen Gedanken kam, aber sind Fische nicht schöne Lebewesen? Es gibt sie in verschiedenen Farben und es sieht so aus, als schweben sie im Wasser. Einfach traumhaft...

Die Klingel ertönte zum Schluss des Unterrichts. Ich packte meine Sachen und wollte schon mit Alisha raus zur Tür schlendern als mich Mr Edgar zurück rief und mich daran erinnerte, dass ich doch Mr Count herumführen wollte. Wollen hörte sich übertrieben an. Sollen würde viel mehr passen, oder doch eher Gezwungen. Aber ich nickte nur und lächelte Jim an, der freudig mein Lächeln erwiderte. Uff, der freute sich wirklich, dass ich ihn herumführen durfte.

„Ich muss los, okay?“, sagte Alisha und zwinkerte mir zu. Ich sah ihr immer noch nach, als sie schon um die Ecke gebogen war. Ich musste ihr unbedingt sagen, dass ich gar kein Interesse an Jim hatte.

„Ähm, okay“, sagte ich dann zu Jim gewandt, „ Ich glaube wir sollten los.“ Ich ging einfach los ohne mich zu versichern, dass er mir folgte.

„Hey du!“, rief er hinter mir und holte mich dann ein, „wie heißt du eigentlich?“ Er lächelte. Schon wieder. Irgendwie musste ich zurück lächeln. Ich sagte:

„Beth.“

„Ah, schön zu wissen“, er grinste, „ und wie geht’s dir?“ Er ging neben mir her. Was heißt neben mir. Er hatte so lange Beine, dass er mich fast überholt hätte, wenn ich nicht versucht hätte Schritt zu halten.

„Jut jut und dir?“

Ich weiß, jut klingt komisch, aber genau deswegen sage ich das immer.

„Joa, auch ganz jut.“

Wir waren jetzt am Schulhof angekommen.

„Hihihi!“, kicherte ich, als wäre ich ein kleines Mädchen. Himmelherrgott! Ich hatte sie doch nicht mehr alle!

Genau in diesem Moment überquerte auch Alec den Schulhof und schaute zu uns herüber. Seine Schritte waren schnell, als hätte er es eilig. Ach du meine Güte der musste mich ja für völlig bescheuert halten. Währenddessen grinste mich Jim immer noch an. Ihm musste es ja gefallen, denn er schaute mich nicht so an wie Alec. Pff.

„Wo sind die Toiletten?“, fragte Jim. Ich erwiderte nichts, sondern führte ihn zum Klo.

„Hier ist unser Heiligtum“, sagte ich und breitete die Arme aus. Ich deutete auf die schäbige Toilettentür. Er grinste und zeigte die Zähne.

„Euer Heiligtum?“, fragte er, „wie schön. Willst du denn nicht verhindern, dass ich mich draufsetze?“

„Ach das ist okay, solange nichts danebengeht“, ich zwinkerte ihm zu. Er fing an zu lachen und ich lächelte ihm zu. Dann ging er aufs Klo.

Nach einer Minute war er wieder da. (Nicht, dass ich mitgezählt hätte.) Ich zeigte ihm noch zügig die Schule, die eigentlich aussah wie ein Schloss, weil alle Gebäude alt waren und riesig. Außerdem gab es sogar einen Astronomie-Turm. Das war das Beste auf dieser Schule. Das Zimmer war dunkel und überall hangen wunderschöne Sternkarten. Die Sterne glitzerten so schön, ich mochte es. Ich freute mich schon auf die Oberstufe, da wir mit der Astronomie anfangen würden.

Ich zeigte ihm die alten Gebäude, die von einem wunderlichen Grün überzogen waren.

Der Schulhof bestand halb aus Zement, wo es Stühle und Tische gab und halb aus Rasen und Bäume, die jetzt, da es Herbst war, ein wenig kahl waren und der Rasen war von bunten Blättern bedeckt.

Wir standen vor dem Tor der Schule, als wir uns verabschiedeten. Er zog mich in seine Arme. Angesichts der Tatsache, dass wir uns erst wenige Stunden kannten, war ich ziemlich verwirrt über diese innige Berührung. Ich wollte nicht, dass er was Falsches dachte, also löste ich mich aus seiner Umarmung.

„Ähm... Könntest du das bitte lassen? Ich mag keine Umarmungen.“

„Ciao, Beth.“

Er lächelte mich an und ging.

Ich wandte mich um und wollte nach Hause gehen, aber ich hatte keine Lust mich meiner Mutter zu stellen und ihr zu erklären, warum ich gestern einfach abgehauen war. Obwohl sie es ja schon wusste. Man konnte meine neue Frisur ja kaum übersehen, außer natürlich man selber war neu.

Wie Jim, dachte ich. Er hatte mich umarmt, obwohl ich es nicht gewollt hatte. Er hatte es ganz plötzlich gemacht. Ich hatte nicht damit gerechnet. Ich mochte wirklich keine Umarmungen, außer sie kamen von jemandem, den ich liebte.

Ich hatte noch nie einen Freund. Natürlich gab es Jungs, die Interesse für mich gezeigt hatten. Nur hatte ich eben kein Interesse für diese Jungs. Die meisten trafen nicht einmal meinen Geschmack. Ich hatte mich noch nie verliebt. Ich wusste wirklich nicht, wie sich das anfühlte. Aber die Bücher beschrieben es und das reichte mir.

Jim war auch nicht mein Typ. Ich kannte ihn nicht einmal. Nein, ich interessierte mich auch nicht für ihn. Er war süß, ja. Aber nicht mein Typ. Oh Mann, ich wollte nicht an Jungs denken. Ja, klar. Ich war in diesem Alter und so, aber ich wollte nicht abhängig werden.

Ich watete durch das bunte Laub und beschloss in die Stadt zu gehen. Ich liebte es einfach herum zu schlendern.

In der Stadt wimmelte es nur von Leuten und es war so windig, dass es schwer war voran zu kommen. Ich hielt mir meine Lederjacke zu, weil der Wind echt kalt war. Einem Typen wehte der Wind sogar seine Cap weg. Ich musste grinsen als ich das sah.

Es war zwar windig, doch es gefiel mir. Ich mochte es irgendwie mich gegen den Wind aufzulehnen, während dieser versuchte Widerstand zu leistete und ich mich so zu sagen auf ihn drauf legte.

Ich ging kurz zu Starbucks und kaufte mir einen heißen Cappuccino mit Karamell. Als ich ihn mir hinein schütten wollte, verbrannte ich mir Zunge und Rachen und beschloss dann mich hinzusetzen. Ich wartete, bis der Cappuccino etwas abgekühlt war. Er schmeckte fantastisch, aber ich fand, dass Starbucks übermäßig teuer war. Ich trank den Cappuccino aus und blieb noch ein wenig sitzen und beobachtete die Leute. Manche saßen auf Sofas und arbeiteten an ihrem Laptop, andere quatschten und fingen an zu lachen und andere verschütteten einfach nur ihren Kaffee.

Als ich keine Lust mehr hatte die Leute zu beobachten, ging durch das Center und schaute auch in ein paar Läden nach, nur hatte ich nicht genug Taschengeld, um irgendwelche von den Kleidungen zu kaufen, also ging ich wieder raus. Ich wanderte vor mich hin, ohne zu beachten wohin genau. Ich bog einfach immer in verschiedene Richtungen ab und sah immer weniger Leute spazieren gehen oder ihre Hunde ausführen. Manche entfernten nicht einmal den Kot. Wirklich toll. Jetzt musste ich noch aufpassen, wohin genau ich trat.

Aufgeregt von den Hündchen und deren Herrchen, bog ich ab, doch dann bemerkte ich, dass es eine Gasse war. Ich wollte schon weiter gehen, als ich Stimmen hörte. Ich konnte sie nicht genau sehen. Es war schon dunkel geworden und die Straßenlaternen waren noch nicht angegangen. Doch ich erkannte ihre Stimmen, welche der Wind zu mir hertrug.

Ich sah ihre schwarzen Gestalten. Die ein größer als die andere. Es waren zwei. Ein Mädchen und ein Junge. Er presste das Mädchen gegen die steinerne Wand und legte seine Stirn auf ihren Kopf. Dann trat er einen Schritt zurück und berührte sie kaum.

Ich tappte leise hinter dem Container der dort stand und versteckte mich. Ich wollte nicht, dass sie mich bemerkten.

Es fing an zu nieseln. Der feuchte Wind versperrte mir die Sicht, aber ich war mir sicher, dass ich die Personen, die in der Gasse standen, kannte. Ich wusste nur nicht, wohin ich die Stimmen zu ordnen konnte und ich musste aus irgendeinem Grund wissen, wer es war. Die Stimmen kamen mir so vertraut vor...

Plötzlich gingen die Straßenlaternen an und ich dachte: Endlich. Ich blinzelte ein wenig und kniff meine Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können.

Was ich sah schockt mich heute noch. Emily stand an der Wand gelehnt und schaute hinauf zu... Alec. Himmel nochmal! Auf was für eine Welt war ich denn gelandet? Ich weiß nicht, aber als ich die beiden sah, stieg Zorn in mir auf. Kalter Zorn. Außerdem wollte ich zwischen ihnen gehen und sie auseinanderreißen. Ich konnte nicht glauben was ich da sah.

Emily sah für mich auf einmal viel schöner aus, als ich es gernhaben wollte. Sie hatte die Arme um Alec geschlungen und ihre Wangen waren wie immer rot. Sie hatte ein leichtes, unbefangenes Lächeln in ihrem Gesicht. Sie sah sehr weiß aus und ihre roten Haare schimmerten wie Feuer. Ich sah ihren dampfenden Atem, der Alecs Gesicht streifte, als wäre es ihre eigene Hand.

Alec hatte seine Augen geschlossen. Er regte sich nicht. Sein Gesicht war ausdrucklos. Er stützte sich mit seinen Händen gegen die Wand. Ich sah, wie seine Arme langsam nachgaben und er seinen Körper wieder an Emilys drückt. Sein Atem war leicht und er schien die ganze Zeit die Luft anzuhalten. Emily krallte ihre Hand in sein verstrubbeltes Haar und zog seinen Kopf nach unten. Alec hatte seine Augen immer noch geschlossen.

„Ich liebe dich“, sagte Emily.

Ihre Stimme klang gedämpft. Alec erwiderte nichts. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht bei diesen Worten. Im Gegensatz zu meinem. Mir klappte der Mund auf und mein Atem ging schneller. Ich zwang mich aufzuhören und mein Atem beruhigte sich ein wenig. Ich wollte nicht, dass sie mich hörten und wollte gerade einen Schritt zurück machen, als Emilys Lippen Alecs Mund berührten. Emily presste seinen Kopf so sehr gegen ihren. Ich hätte nie gedacht, dass sie so stark wäre. Oh mein Gott, was machte ich hier. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich meinen Atem angehalten hatte und wusste nicht, warum mir auf einmal schwindelig wurde, bis ich hörbar nach Luft schnappte. Ich erschrak über mich selbst und erstarrte, als ich mir bewusst wurde, dass sie mich gehört haben mussten, denn ich hörte keine Schmatz-Geräusche mehr. Ich sah zu ihnen rüber. Sie schauten mich beide an.

Ja, was starrt ihr mich denn so an, dachte ich. Verdammt nochmal! Ich bin doch nicht die, die meine Freundin betrügt!

„‘Tschuldigung“, stammelte ich. Warum bin ich so feige? Ich taumelte einem Schritt nach hinten und lief los.

„Warte!“, hörte ich Emily schreien. Ich strauchelte und stolperte und konnte nicht richtig rennen. Ich war gar nicht weit gekommen. Sie holte mich ein und hielt mich an dem Arm fest. Ich versuchte mich los zu machen, aber sie war wirklich stark.

„Lass mich los!“, schrie ich sie an. Währenddessen war Alec zu uns gekommen und lehnte sich an die Wand. Er hatte die Arme vor seiner Brust verschränkt. Ich wusste nicht, ob er einfach nur cool sein wollte oder ob es eine Abwehr-Haltung war.

Emily ließ mich los und ich sah sie durch meine Augen an, die sich zu Schlitzen formten.

„Es ist nicht so, wie du denkst“, sagte sie flehentlich und ihre Augen waren Angst geweitet.

„Ach ja?“, sagte ich und musterte sie misstrauisch, „warum klingst du dann so panisch?“

Emily sagte nichts.

„Sprich. Was ist das? Machst du ein Experiment oder so?“ Oder betrügst du vielleicht deine Freundin?, dachte ich in Gedanken hinzu.

Ich wollte ihr wirklich die Chance geben, mir alles zu erklären. Vielleicht, hatte ich mich nur verhört, als sie sagte, dass sie Alec liebte. Und der Kuss...? Bestimmte konnte sie mir das alles erklären. In Filmen war es auch immer so, dass man alles falsch verstand, aber dann doch alles gut ausging. Ich wartete.

„Ich...ich...“, stotterte sie, „ich und Alec sind nicht nur Freunde. Wir lieben uns!“

Okay, vielleicht sollte ich nicht mehr so viel Fernsehen sehen.

Lieben? Weißt du überhaupt, was das ist?“

Selbstverständlich wusste sie, was Liebe ist. Sie hatte doch im Frühjahr so schrecklich geweint wegen ihrem Ex-Freund Josh. Nicht ich.

Ich sah wie Wut in ihren braunen Augen aufloderte und auch, dass ich sie verletzt hatte.

„Ja natürlich weiß ich was Liebe ist!“, zischte sie, „und ich weiß auch, dass Alec mich liebt! Stimmt’s Alec?“

Alec schaute auf den Boden und sein Gesicht war grimmig. Ich lachte auf. Wo hatte ich jetzt dieses selbstbewusste freie Reden her? Ich hatte Angst. Ich fand überhaupt nichts lustig.

„Als ob der dich lieben könnte! Merkst du nicht, dass er mit dir spielt? Wenn er dich lieben würde, würde er sich von Alisha trennen, du dummes Schaf. Du bist zu gut, um so etwas zu merken.“

Ich wusste eigentlich nicht, ob Alec Emily liebte oder nicht. Ich hatte es einfach so gesagt, ohne das es mir bewusst war. Ich hielt den Atem an.

Als ich Alishas Namen nannte, versteinerte sich das Gesicht von Emily und Alec blickte auf.

„Bitte sag es ihr nicht“, flüsterte Emily.

Ich fand es einfach nur armselig. Ich drehte mich um und ging davon. Diesmal hielt mich keiner auf. Was für ein Glück. Vielleicht, weil sie Angst hatten, ich würde ihnen widersprechen. Es Alisha sagen. Vielleicht. Als ich um die Ecke bog rannte ich los. Weg. Ich musste einfach nur weg.

3

Liebes Tagebuch, schrieb ich, was soll ich machen?

Nein. Die Frag lautet doch eigentlich: Was soll ich nicht machen?

Alisha. Alisha.

Ihr Name geht mir die ganze Zeit durch den Kopf. Sie ist meine beste Freundin. Sie ist so gut. Sie hat es nicht verdient. Niemand hat es verdient betrogen zu werden. Das ist so ungerecht.

Ich wünschte ich könnte es ihr sagen, aber das kann ich nicht. Ich könnte ihr das niemals sagen. Ich könnte sie nie verletzen. Sie schien so glücklich mit ihm und scheint es immer noch.

Wie konnte Alec ihr das nur antun? Sieht er nicht, wie schön sie ist? Alles an ihr. Wie kann er das nur übersehen? Wie kann er das nur vergeuden? Wie kann er sie nur mit Emily betrügen.

Emily.

Sie ist so klein. Von innen und von außen, scheint mir. Sie ist noch ein Kind. Wie kann man als Kind so welche Gedanken haben?

Aber vielleicht habe ich mich getäuscht. Vielleicht ist Emily gar kein Kind mehr. Sie liebt ihn, Alec.

Ich kann es Alisha nicht sagen. Sie müssen es tun.

Es tut so weh es zu wissen und es Alisha nicht sagen zu können. Sie verdient die Wahrheit. Nicht das, betrogen zu werden.

Ich muss mit Emily und mit Alec reden. Es wird sich nur leider als schwierig erweisen, da ich drei Wochen Hausarrest am Hals habe. Nur weil ich nicht Bescheid gesagt habe. Nur weil ich mir meine Haare hab kurz schneiden lassen. Ich muss dabei lächeln, wenn ich mich daran erinnere. Ich hatte Angst. Angst vor der Veränderung.

Am Ende war die Veränderung doch nicht so schlecht gewesen. Oder etwa doch?

 

 

Beth.

 

Ich legte mein ledernes Tagebuch unters Kopfkissen. Ich weiß es ist ein klischeehaftes Versteck und es stört beim Schlafen, aber nach einiger Zeit gewöhnt man sich dran. Ich habe ein Tagebuch, weil ich es mir Sachen aus der Seele schreiben muss, wenn ich es niemandem anvertrauen kann. So wie jetzt.

Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Es gefiel mir nackt zu schlafen, wie ich merkte. Ich legte mich hin und fing an mein neues Buch zu lesen. Es war ein Theaterstück und hieß: “Trauer muss Elektra tragen“. In dem Buch gab es sehr viel Mord, aber es gefiel mir. Es hatte etwas Schönes, der Tod. Nicht, dass er selber schön war, sondern, dass er das einzige Heilmittel gegen die Liebe war. Und überhaupt einem grausamen Leben zu entkommen.

Langsam wurde ich müde. Ich stand auf, legte das Buch weg, machte das Licht aus und lief schnell ins Bett. Ich wollte die Wärme auf meinem Körper, die mir die Decke gegeben hatte, behalten. Ich sank ins Bett und schlief ein.

 

Ich wachte auf, bevor der Wecker geklingelt hatte. Ich hatte einen fürchterlichen Albtraum:

 

Ich stand in der Gasse. Die von gestern. Ich war Emily. Und Alec küsste mich. Er hatte mich fest in seinen Armen und mir gefiel es. Ich wollte, dass er mich noch fester packte, weil ich mich in seiner Nähe so schön fühlte. Er schaute mich an und auf einmal quollen Kakerlaken aus seinen Augen und sein Körper wurde weich und matschig. Maden krochen aus seiner Haut hervor. Ich wich schnell zurück und fing an zu rennen, bis plötzlich nur noch Dunkelheit vor mir lag.

Abrupt blieb ich stehen. Ich hatte Angst. Meine Knie wurden weich und dann gaben meine Beine nach. Ich sank auf den schwarzen Boden. Ich spürte unter mir was. Etwas Kaltes. Ich sah, wie weiße Hände nach mir griffen. Ich schrie auf und landete im Bett.

 

Es war ziemlich schreckhaft. Als ich aufgewacht war, stellte ich den Wecker aus und sprang aus dem Bett. Mir ging es schlecht und ich war müde.

Ich ging in das Badezimmer um zu duschen und sah mich im Spiegel an. Unter meinen Augen hatten sich dicke Säcke gebildet, die ein wenig wie Blutergüsse aussahen. Schrecklich. Warum hab ich immer so ein Pech?

Ich ging unter die Dusche und dann fühlte ich mich schon etwas besser. Die Augenringe waren ein bisschen verblasst, aber man sah sie trotzdem.

Ich machte mich fertig und zog meine Soldaten-Stiefel an. Es waren meine Lieblingsschuhe. Ich glaube, weil sie ein Vermögen wert waren und ich sehr lange dafür gespart hatte.

Ich ging in die Küche und frühstückte ein Sandwich mit Schinken und Käse. Mmh. Lecker. Dann ging ich zur Schule. Zu Fuß. Nach einer Viertelstunde war ich da.

Im Unterricht konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren, weil ich die ganze Zeit überlegen musste, wie ich mich vor Emily, Alec und vor allen Dingen gegenüber Alisha verhalten sollte. Ich hatte Angst, sie würde etwas merken.

Und dann war es soweit. Heute gab es zum Mittagessen Pizza. Eigentlich mein Leibgericht, aber ich hatte keinen Hunger. Ich füllte meinen Teller mit Pizzastücken auf, in der Hoffnung, dass ich vielleicht doch Hunger bekam. Ich setzte mich auf meinem gewohnten Platz neben Emily. Ich schaute erwartungsvoll auf meinen Teller und wartete auf den Hunger. Fehlanzeige.

Sie hatten alle bemerkt, dass ich anwesend. Sie schwiegen alle, außer Alisha. Ich wünschte mir, ich hätte heute besser ausgesehen, denn Alisha merkte sofort, dass etwas nicht im Lot war.

„Was ist los? Du siehst ja...-“, fing Alisha an, aber da kam Jim und setzte sich neben uns.

„Hi, Beth“, sagte er, „ich hoffe es ist nicht schlimm, dass ich mich zu euch setze?“

„Natürlich nicht“, erwiderte ich und lächelte ihn erleichtert an. Er hatte mich gerettet. Alisha würde das einigermaßen private Gespräch nicht anfangen.

Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Alec sich anspannte.

Dann fing Jim an zu reden, über sein neues Haus, das nicht so groß war, wie das, was er vorher gehabt hatte, aber es war schön und weiß und hatte einen kleinen Garten. Er redete über seine Hündin Blace, die ein Dalmatiner war und ihn ständig mit ihrer feuchten Schnauze an stupste und wie vertraulich sie waren. Er redete viel, aber dann hörte er auf.

Ich wollte nicht, dass er die Stimmung an diesem Tisch bemerkte und fragte ihn, warum er denn umgezogen sei und er antwortete, sein Vater wäre nach Alabama versetzt worden und dass er deswegen hier sei. Dann erzählte er von Ohio, der Ort, von dem er herkam, aber ich hörte nicht richtig zu, bis er fragte, was ich gestern denn gemacht hätte. Ich antwortete, ich sei durch die Stadt gegangen und so. Und dann war die Pause auch schon vorbei.

Ich hatte gemerkt, dass Emily und Alec die ganze Zeit nur auf ihr Essen gestarrt hatten. Alisha hatte mit mir und Jim geredet, aber ich glaubte, dass sie etwas gemerkt hatte, ich war mir sicher, sie wusste nicht, was das etwas war.

Ich hatte lange gebraucht um meine verzerren und ich dachte jeden Moment, ich könnte mich übergeben. Ich tat es nicht.

Ich ging zügig zum Mathematikunterricht, ohne mich von den anderen zu verabschieden und auf Alisha und Jim zu warten.

Mir war die ganze Zeit nicht bewusst, dass Alisha meinen Namen rief. Ich setzte mich hin.

„Ich hab mir die ganze Zeit meine Seele aus dem Leib geschrien“, sagte Alisha außer Atem. Ich hob die Augenbrauen.

„Wirklich“, fragte ich verwirrt, „sorry, ich hab dich nicht gehört.“

Sie schaute mich misstrauisch an. Sie machte schon wieder ihren Mund auf, um mich mit Fragen auszuquetschen, aber da kam Mr Edgar in den Klassenraum. Der Unterricht war mal wieder langweilig und ich spürte die ganze Zeit Alishas Seitenblicke auf mir. Ich fühlte mich nackt und durchschaut. Ich traute mich kein einziges Mal zu ihr rüber zu blicken. Wie konnte ich ihr das nur antun? Ich weiß, ich hatte nichts gemacht, aber ich fühlte mich so schuldig. Allein deswegen, weil ich Emily und Alec zusammen gesehen hatte und jetzt erzählte ich es ihr nicht einmal. Ich hatte eigentlich nie Geheimnisse vor Alisha. Sie war wie eine Schwester, die ich nie gehabt hatte. Sie war mir so wichtig und ihr etwas vorzuenthalten, kam mir vor, als ob ich selber sie betrügen würde.

Nein, ich durfte nicht darüber nachdenken! Ich musste mich darauf konzentrieren normal zu wirken. Wie ich selbst und nicht wie ein deprimierter Emo.

Ich seufzte und rutschte auf meinem Stuhl nach hinten. Mr Edgar hatte gerade den Unterricht beendet, noch bevor die Klingel geläutet hatte. Ich packte langsam meine Sachen zusammen stopfte sie in meinem Rucksack. Ich stand auf, sah Alisha und lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück.

„Was ist los?“, fragte ich sie.

Was los ist? Das müsste ich dich eigentlich fragen! Du hast heute fast gar nicht mit mir geredet. Nur mit Jim!“ Sie funkelte mich an und ich zuckte zusammen. Sie hatte recht. So viel dazu, dass ich mich normal benahm.

„Entschuldige bitte. Ich hab heute echt schlecht geschlafen und meine Mutter hat mir über eine Woche Hausarrest gegeben. Entschuldige bitte, dass ich mich so schlecht benehme.“

Du hast Hausarrest?!“, schrie sie leise auf. Sie sah etwas erleichtert aus. Wahrscheinlich, weil sie jetzt den Grund für mein komisches Verhalten kannte. „Warum hast du das nicht vorher gesagt?“

„Sorry, mir geht’s heute echt schlecht, wie schon gesagt und mein Kopf dröhnt“, nur das Letzte war gelogen.

„Hmm, na ja. Tut leid für dich. Ich dachte nur du verheimlichst mir etwas oder so.“

„Hmm“, machte auch ich. Ich musste vorsichtiger sein.

Ich ging nach Hause. Mein Kopf schmerzte auf einmal wirklich und auch wenn es erst Nachmittag war, wollte ich mich ins Bett verkriechen und in einen langen Schlaf versinken. Meine Kopfschmerzen wurden größer.

Ich hatte Alisha belogen und das nicht einmal mit Erfolg. Ich musste an die Dinge glauben, die ich sagte, sonst glaubte auch sie mir nicht. Ich muss mit Emily reden, dachte ich. Es war dringend nötig.

 

Die Tage vergingen, als wären es Jahre. Ich fühlte, dass mein Leben langweilig war. Die Auswirkung des Hausarrestes. Und dann immer wieder die gemeinsame quälende Stunde in der Cafeteria, in denen wir lachten und aßen, versuchten damit unser Herz zu beglücken. Aber wie konnten wir das, wenn doch alles nur gelogen war. Ich konnte es sehen, die Lüge in seinen Augen und in ihren Augen und in meinen. Nur Alisha war ehrlich.

Die Nachmittage waren schlimm. Meine Hausaufgaben waren immer schnell erledigt. Ich hatte nie was zu tun. Ich saß jedes Mal auf der kalte Fensterbank. Es regnete. Ich beobachtete die Regentropfen, wie sie am Fenster entlang runter flossen und einen dünnen Film hinterließen.

Es regnete jeden Tag und der Himmel war dunkel und grau. Die Blätter auf dem Boden häuften sich und wirbelten im wilden Wind durch die kalten Straßen.

Ich wünschte mir dann immer, ich könnte draußen sein und im Regen tanzen, wie die Blätter. Mich umher drehen, schweben im Wind, ein Blatt im Mondlicht, und versuchen dem Gedanken zu entkommen gefangen zu sein. Ich wollte in meine eigene Welt. Sie war schön, meine Welt. Sie war frei. Frei von Lügen, frei von allem.

Die Stunde in der Cafeteria war besser. Sie wurde jeden Tag besser.

 

Ich übe, schrieb ich in meinem Tagebuch. Ich übe vor dem Spiegel. Ich trainiere mein Gesicht. Ich muss glücklich wirken. Mein Gesicht darf nicht asymmetrisch sein. Das hab ich mal gelesen: Das man beim Lügen ein asymmetrisches Gesicht hat. Ich trainiere meine Mundwinkel. Ich trainiere sie hoch zu ziehen. Gleichzeitig. Synchron. Und nicht asymmetrisch. Es funktioniert ganz gut. In der Cafeteria passiert es dann automatisch. Doch ich muss darauf achten, dass meine Freude nicht zu lange anhält. Das habe ich auch gelesen. Beim Lügen spielt man eine Emotion länger als nötig, um den anderen weis zu machen, wie wahr die Emotion ist. Bei jemandem, der die wahren Gefühle zeigt, hält der Gesichtsausdruck nur eine kleine Zeit lang.

Aber jetzt bin ich geübt. Es geht automatisch. Ich schaue nicht mehr in den Spiegel. Ich zwinge Mich Alisha in die Augen zu sehen. Es geht.

Doch es heißt nicht, dass ich zufrieden bin, dass ich es kann. Ich mache das nur für sie. Sie ist glücklich.

Jetzt übe ich die anderen Gefühle. Angst. Verzweiflung. Trauer. Sie scheinen leichter, als die anderen Gefühle. Das glaube ich zumindest. Muss ich sie können? Nein. Sie sind schlecht. Ich bin schlecht. Oh, ich wünschte ich könnte mit Emily und Alec reden, aber es ergibt sich nie die Gelegenheit dazu.

Bald. Nur noch ein bisschen. Ich muss nur noch dieses Wochenende überstehen und dann kann ich es hinter mich bringen.

 

 

Beth.

 

 

4

Puh. Wochenende. Ich hatte nichts zu tun. Es war morgens und heute regneten ausnahmsweise Mal nicht. Trotzdem hatte ich noch Hausarrest. Ich ging ins Badezimmer und ging mein Gesicht waschen. Ich hatte noch keine Lust zum Duschen, also ging ich wieder aus dem Badezimmer, direkt zu Küche. Meine Mutter saß am Küchentisch und trank ihren starken Kaffee. Sie sah müdes aus und ihre Lockenwickler lösten sich aus ihren dunklen Haaren. Sie sah schlecht gelaunt aus. Heute würde ich sie nicht versuchen zu überreden mich raus zu lassen. Sie würde mich nur genervt anschreien, ich solle sie in Ruhe lassen. Und dann dürfte sie nie wieder raus.

Ich öffnete einen blauen Schrank und holte ein Schälchen mit einem Pinguin raus und füllte es mit meinen Lieblings Cornflakes “Nugat’s“ auf. Es waren kleine Kekse mit Nugat gefüllt. Dann ließ ich die Milch darüber spritzen, bis die Cornflakes ganz von der Milch umhüllt waren.

Ich setzte mich zu meiner Mutter, gegenüber von ihr und schob mir den Löffel mit den gefüllten Cornflakes in den Mund. Sie schmeckten so gut wie immer. Ich aß heute weder schnell, noch langsam, wie eigentlich sonst. Ich fühlte mich irgendwie... gut.

Ich fischte die letzten Cornflakes aus der Milch und trank die noch übrig gebliebene Milch aus. Dann stellte ich die Schale neben den Wasserhahn. Ich verweilte dort eine Weile und starrte aus dem Fenster. Ich sah die Nachbarshäuser. Sie waren alle gelblich gestrichen und sie sahen aus, wie die Häuser aus Filmen. Sie sahen gemütlich und einladend aus.

Ich sah die kleinen Kinder auf den Gärten spielen. Sie spielten Sie spielten Fußball oder Fangen oder Verstecken im kalten Wind. Es sah harmonisch aus. Es sah friedlich aus.

Ich ging in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und las meine Buch “Trauer muss Elektra tragen“ weiter. Ich hätte es eigentlich schon durch haben müssen, da es ein sehr dünnes Buch war, aber irgendwie wollte ich es nicht zu Ende lesen. Noch nicht.

Mein Handy klingelte auf meinem Schreibtisch. Ich stand auf und nahm ab. Es war Alisha.

„Hallo?“, fragte ich, auch wenn ich wusste, wer es war. Ich frage es immer aus Reflex.

„Hey. Hier ist Alisha.“

„Hi“, ich lächelte in mich hinein. Es war schön, dass sie mich anrief und ihre Stimme zu hören.

„Du, hast du heute Zeit?“

Mein Lächeln verschwand. Ich wünschte ich hätte es, dachte ich.

„Nein.“

„Warum nicht?“, sagte sie bestürzt, „ ich wollte, dass wir Schlittschuh laufen gehen. Ach bitte! Ich gebe es auch für dich aus! Und dann gehen wir essen! Wohin auch immer du willst! Ich dachte auch, dass ich mal wieder bei dir übernachten könnte. Wir haben das so lange nicht mehr gemacht!“

Dafür gibt es auch einen bestimmten Grund, dachte ich. Und dann sprach ich es laut als Erklärung aus:

„Hausarrest.“

„Ach ja... Versuch doch bitte sie zu überreden!“

„Nein. Ich habe es schon zig‘ Mal versucht, aber sie lässt nicht locker.“

„Oh. Okay. Könntest du mir mal bitte deine Mutter geben?“

„Alisha! Du möchtest sie wohl nicht überreden, mich doch raus zu lassen?“; fragte ich empört. Sie würde es sowieso nicht schaffen. Ich selber hatte es doch auch achtzigtausendmal versucht! Erfolg blieb aus. Außerdem war sie heute wirklich schlecht gelaunt und wir hatten kein Wort mit einander geredet. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens in diesem verdammten Haus bleiben.

„Warum nicht? Versuchen kann man es ja.“

„Ach, bitte nicht! Ich habe es auch schon versucht. Glaub mir! Ich möchte nicht mein ganzes Leben in diesem Haus bleiben!“

„Sei doch nicht gleich pessimistisch, Beth. Ich schaff das schon.“

Sie lachte. Ich fasste es nicht. Ich fühlte mich blöd, weil ich jemand anderen für mich betteln ließ. Wie erbärmlich von mir. Doch ich hatte keine andere Wahl. Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion und ich wusste sowieso, dass ich gegen Alisha verlieren würde. Sie war schon immer gut im Debattieren. Ich ging in die Küche, wo meine Mutter immer noch am Tisch saß. Ihr Kaffee, der eben noch sehr heiß war, dampfte jetzt nur noch ein bisschen. Ihre Nase steckte in einem Buch.

„Mom...?“

Ich hielt ihr mein Handy hin, sie nahm es und legte es an ihr Ohr.

„Hallo?“

Ich hörte nur ein Rauschen, ein Flüstern, die Stimme von Alisha. Mehr nicht, ich verstand keine Worte. Aber ich verstand die Tonlage. Sie war vertraulich und eindringlich. Ich hielt den Atem an, doch trotzdem konnte ich Alishas Stimme nicht verstehen. Sie war leise.

Es ist nicht schlimm, wenn ich nicht darf, dachte ich mir. Es ist nur noch dieses Wochenende und dann bin ich wieder frei. Das nächste Mal sag ich auch Mom Bescheid, wenn ich nicht nach Hause komme. Sie muss mir ja schließlich vertrauen können. So wie Alisha. Ja, meine Mom vertraut ihr. Ich sehe dies jetzt gerade in ihrem Blick und wie sie da die ganze Zeit vor sich her nickt.

Meine Mom nickte und lächelte. Sie gab mir das Handy und sagte:

„Nur das eine Mal.“

Sie sah mich streng an und wendete sich dann wieder ihrem Buch zu. Ich ging in schnellen Schritten in mein Zimmer, schloss die Tür und atmete erleichter aus. Alisha hatte es geschafft! Ich würde endlich aus diesem verdammten Haus rauskommen! Ich weiß ich übertrieb. Mein Haus war nicht annähernd so schlimm, wie das Haus aus dem Buch Trauer muss Elektra tragen, aber, hey!, es muss doch spannend werden.

„Du hast es geschafft!“, sagte ich immer noch ungläubig.

„Hab ich doch gesagt.“ Sie klang bescheiden, aber ich hörte ihr Lächeln raus. Ich musste auch lächeln. Sie war einfach unverbesserlich. Ich wollte wissen, wie dass geschafft hatte.

„Wie...-“. Sie wusste was ich fragen wollte und unterbrach mich.

„Man muss gut schmeicheln können, wie zum Beispiel: Sie machen so tolle Sandwich und es würde mich wirklich freuen bei ihnen vorbei schauen zu können...“

Ich lächelte: „Nur?“

„Nein, aber das andere ist nicht so wichtig.“

„Hmm... Okay.“ Ich dachte nicht daran länger nachzubohren, weil ich mich unglaublich freute, dass mein Hausarrest endlich aufgehoben war, wenn auch nur zwei Tage früher. Immerhin.

„Ich hole dich dann in zwanzig Minuten ab, okay?“

„In einer halben Stunde. Ich muss noch duschen... Kommt Emily nicht mit?“

Ich stockte ein wenig, als mir bewusst wurde, was ich da sagte. Nein, Emily sollte nicht kommen. Sie war in letzter Zeit nicht... gewöhnlich. Ich konzentrierte mich normal zu klingen. Na toll. Meine Stimme hatte ich nicht trainiert, nur mein Gesicht. Was sollte das helfen?

„Nein“, sagte Alisha, „sie hat irgendwas anderes vor. Sie sagt, sie könnte nicht. Findest du es schlimm, Beth?“

„Nein, nein“, sagte ich schnell. Sie hatte mein Stocken anders interpretiert. Ich war erleichtert.

„Okay, bis dann.“

„Bis dann“, sagte ich und legte auf.

Ich ging zu meinem Kleiderschrank, riss ihn auf und blickte hinein. Nach einigem Zögern entschied ich mich für eine elastische Jeans und der Bluse, dir mir Mom zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Es war weiß und hatte ein Peace-Zeichen. Dann ging ich schnell ins Badezimmer und streifte meinen dunkelgrünen Morgenmantel ab. Und schmiss meine Unterwäsche in die Wäsche.

Ich duschte kalt und es erfrischte mich sehr. Ich hatte gehört, das solle die Abwehrkräfte stärken. Meine Haare schäumten sich mit dem Rosen-Kirsch-Shampoo. Es roch himmlisch.

Dann hielt ich es nicht mehr im kühlen Wasser aus und sprang aus der Dusche. Ich schlitterte über den Boden im Badezimmer und wäre fast hingefallen, wenn ich mich nicht am Vorhang der Dusche festgehalten hätte. Leider riss dieser ab. Aber ich hatte noch ein wenig Zeit. Ich schloss den Vorhang wieder an, trocknete mich ab, rieb mich mit dem Vanille-Öl ein und zog meine Sachen an.

Ich ging in die Küche und schaute auf die Uhr. Ich war früher fertig als ich gedacht hatte. Es war nur eine Viertelstunde vergangen.

Ich ging in mein Zimmer und packte meine Tasche. Mein Handy, die Schlüssel, eine Wasserflasche, mein Buch, mein Lippenbalsam und so weiter. Meine Tasche war später auf jeden Fall voll.

Nach fünf Minuten läutete unsere Klingel und ich lief zu Haustür und riss sie auf. Ich fiel in ihre Arme. Sie roch nach Lavendel, so schön. Ihre Haare hatte sie heute zu einem Dutt hoch geflochten. Ein paar Strähnen fielen raus und kitzelten ihr Gesicht. Ihr Outfit war mal wieder perfekt. Eine Lewis-Jeans und ein T-Shirt von Hilfiger. Ihre Schuhe von Timberlands. Alles sehr teuer. Von Ihrer Tasche müssen wir gar nicht anfangen.

Ihre Augen strahlten. Sie hatte sie mit Eyeliner umzogen.

„Du bist meine Heldin“, lachte ich. Ich rief in das Haus ein knappes “Ciao“ und ging mit ihr nach draußen.

Sie war mit ihrem grünen Porsche da, der trotz des grauen trüben Himmels glänzte. Wir stiegen ein. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und schnallte mich an, auch wenn ich das nicht oft tat. Sie grinste mich an.

„Glaubst du ich fahre uns in einen Unfall?“

Ich zuckte die Schultern: „Wer weiß?“

Ich grinste, obwohl ich es ernst meinte.

Wir fuhren über die kleinen Straßen und kamen nach zwanzig Minuten an der Eishalle an. Sie war groß, wenn nicht riesig und überfüllt. Wir gingen rein und schauten uns um.

„Ich muss mal auf die Toilette“, sagte ich. Alisha nickte.

Ich schlängelte mich durch die Menschenmenge und sah auch manchmal vertraute Gesichter, die mich anlächelten und ich lächelte zurück, ohne mir sicher zu sein, ob ich die Menschen wirklich kannte. Dann erreichte ich die Toilette. Sie war sauber und es roch nach Zitronen. Es roch extrem danach. Doch darüber scherte ich mich nicht, weil ich unbedingt dringend musste. Meine Blase drückte heftig. Es gab eine kleine Schlange, aber ich konnte es aushalten. Sie war nicht sehr lang.

Dann, endlich, war ich dran und ging in die Toilettenkabine. Ich erleichterte mich um achtzig Kilogramm. So erschien es mir auf jeden Fall. Ich spülte. Ich wollte raus gehen, aber durch den Spalt sah ich Hannah und Catherine. Die beiden Schulschlampen. Wie schön. Ich hatte keine Lust mit den beiden zu reden, also blieb ich in meiner Kabine. Die Toilette leerte sich und zurück blieben nur wir drei. Sie schauten sich im Spiegel an. Typisch.

Catherine schulterlanges braunes Haar hatte sehr schöne Locken. Manchmal beneidete ich sie deswegen, doch offen zugeben würde ich es nie.

Catherines Kinn war länglich und sie hatte Knopfaugen, welche auf irgendeine Weise süß aussahen. Catherine selbst war nicht süß, dass wusste ich. Letzte Woche hatte ich doch gesehen, wie sie sich an Jim rangemacht hatte. Sie hatte sich auf seinen Schoß gesetzt und seinen Nacken gestreichelt. Dann hatte sie seine Wange geküsst. Abgeleckt würde eher treffen.

Hannah war die hübschere von beiden. Sie hatte dunkelrotes gefärbtes Haar, das ihr üppig über den Rücken fiel. Ihr rundes Gesicht war von zwei schönen blauen Augen besetzt. Sie sah genauso harmlos aus wie Catherine. Ich wusste, dass sie mit einem Jungen, der drei Stufen unter uns war geschlafen hatte. Er hatte sie geschwängert und sie hatte das Kind abtreiben lassen.

Beide hatten Blusen mit tiefem Einschnitt und Miniröcke an. Wirklich sehr passend zum Schlittschuhlaufen. Die hatten nicht einmal Strumpfhosen an und es sah sehr danach aus, dass ihre Hintern vom knappen Rock rausfallen würden.

Ich wollte ein Geräusch raus würgen, der meinen Ekel wiederspiegeln sollte, aber ich wollte nicht, dass sie mich hörten. Absurd, dass auch sie beide Menschen waren und keine Monster, die man hassen konnte.

„Ich habe gehört, du sollst mit dem neuem Typen rumgemacht haben?“, fragte Hannah. Sie ließ es so widerlich klingen, dass ich das Gesicht verzog.

Catherine lachte obszön.

„Ja“, antwortete Catherine und schmunzelte, „er ist echt süß und hat etwas von einem Milchbubi. Ich steh eigentlich auf Bad-Boys, wie Alec, aber bei Jim würde ich schon gern wissen, was er unter der Hose versteckt hat.“

Jetzt erblasste ihr Schmunzeln.

„Leider will Jim etwas von dieser Beth-Zicke. Das glaub ich zumindest, denn er fragt mich andauernd, wie sie denn so ist. Boa, sie ist der Freak hoch zehn. Genau wie das ganze Trio.“

Ich sag dir gleich, wer der Freak ist, dachte ich und schaute sie hasserfüllt an.

„Hihihi!“, kicherte Hannah, „apropos: Wusstest du, dass Alec Alisha mit Emily betrügt? Hahaha! Das ist echt das komischste, das mir untergekommen ist, denn, wenn ich ehrlich bin, ist Alisha eine Hübschheit. Oder? Das er mit Emily eine Affäre hat, hätte ich nie gedacht!“

Okay. Hat sie grade wirklich Hübschheit gesagt? Das Wort ist total out.

„Nicht dein Ernst?!“, kreischte Catherine und hüpfte auf und ab vor dem Spiegel. Sie schaute sich an mit diesem obszönen Lächeln in den Mundwinkeln.

„Vielleicht habe ich ja auch eine Chance bei ihm.“ Und wieder leckte sie sich über die Lippen, genauso, als sie Jim das erste Mal gesehen hatte.

Mir gingen die beiden mächtig auf den Keks und ich hatte Angst, dass ich meine Selbstbeherrschung verlieren könnte und mich auf sie stürzte. Nicht nur, weil sie über mich und Alisha und Emily tratschten, sondern weil sie von dem einem Geheimnis erfahren hatten. Ich war also nicht die Einzige, die davon wusste und Wut brodelte in mir auf. Wie hatte Hannah es nur erfahren? Hatte sie es gesehen oder war es so offensichtlich? Konnte man sehen, was zwischen Emily und Alec lief, indem sie sich einfach nur anschauten? Waren ihre Blicke so elektrisierend? Rasende Eifersucht erstickte meinen Schrei, den ich hatte auslassen wollen. Warum war ich eifersüchtig? In dem Moment gingen Catherine und Hannah raus und hinterließen nur mein zitterndes Ich.

Wie lange war ich jetzt schon hier drin? Sechszehn oder achtzehn Minuten? Vielleicht mehr, vielleicht weniger, aber ich wusste, dass Alisha auf mich wartete. Schon lange. Ich musste hier raus. Ich stürmte aus der Toilette und atmete tief ein. Der Zitronengeruch hatte sich in meine Nase eingenistet, wurde aber von der frischen Luft ersetzt. Ich atmete aus und versuchte meine Wut im Zaum zu bekommen. Es gelang mir bedingt.

Ich drängelte mich durch die Masse und hielt Ausschau nach Alisha, aber ich fand sie nicht.

Ich ging hier hin, ich ging dort hin, aber ich fand sie nicht. Ich setzte mich auf eine kalte Bank und zog die Knie an. Jemand setzte sich neben mich. Ich zuckte zusammen.

Okay, eigentlich, um es spannender zu machen, müsste ich jetzt sagen, dass es eine Person war, die ich nicht kannte. Aber nein: Es war Alisha. Sie hatte mich gefunden.

Sie starrte aus leeren Augen auf den Boden. Was hat sie nur?

„Was hast du?“, fragte ich.

Ich war unsicher. Ihre Stimmung hatte sich so abrupt geändert. War sie wohl Catherine und Hannah begegnet? Nein. Ausgeschlossen. Ich hatte gesehen, wie sie aus dem Ausgang geschlendert sind. Doch was hatte sie dann?

„Ich... Weißt du Alec ist auf einmal so abweisend zu mir.“

Sie sah so traurig aus, dass ich es ihr fast gebeichtete hätte. Das mit Emily und Alec. Doch ich tat es nur fast.

„Was meinst du mit abweisend?“

Ihr Gesicht verfinsterte sich. Oh Gott, was hatte ich denn gesagt?

„Was soll ich denn damit meinen?“, schnaubte sie und schlug die Hände auf ihre Oberschenkel. „Er ruft mich nicht mehr an. Eigentlich hat er mich nie sooft angerufen, aber jetzt tut er es gar nicht mehr. Er küsst mich nicht mehr wie früher. Er schaut mich nicht mal mehr richtig an! Er ist anders...“

„Wie kommst du jetzt drauf?“

Ich fand es eigenartig, dass sie das mit mir besprach und nicht mit Emily. Ich weiß, Emily wäre eigentlich nicht so angebracht, weil sie ja eine Affäre mit Alec hatte, aber ich? Ich hatte noch nie einen Freund und somit keine Erfahrung mit Jungs! Ich bezog mein Wissen doch nur aus Büchern!

„Ich habe ihn grad eben angerufen und nicht umgekehrt. Er wollte nicht mal reden. Er sagte, er habe jetzt keine Zeit um zu quatschen, es gäbe wichtigeres zu tun. Was könnte es wichtigeres geben, als den, den man liebt?“

Okay, jetzt übertrieb sie ein wenig. War sie so eine, die ihren Freund stalkt? Nein, das war sie eigentlich nicht. Es musste einen wirklich triftigen Grund geben. Doch zu Sicherheit fragte ich trotzdem:

„Bist du dir sicher? Vielleicht verlangst du einfach zu viel Aufmerksamkeit? Jungs sind doch alle so. Vielleicht denkt er grade über das nächste Videospiel nach, das rauskommen wird oder so. Die nehmen Sachen zwar ernst, zeigen es aber nicht.“

Ich versuchte es ganz anders klingen zu lassen. Nicht so, als ob Alec mit einer anderen rummachte, nur weil er genug von Alisha hatte.

„Hmm, kann sein. Ich weiß nicht. Ich glaube er entfernt sich von mir. Ich hab Angst, Beth. Ich liebe ihn so sehr. Ich habe niemals so etwas für jemanden empfunden. Er ist anders als die andern. Einzigartig.“

Sag mal, wollte sich das Schicksal gegen mich wenden? Nicht das ich an sowas glaubte oder so, aber warum musste sie so sehr in Alec verliebt sein? So besonders konnte er nun auch nicht sein. Warum machte sie mir jetzt so ein schlechtes Gewissen? Ich war auch nur ein Mensch mit seinen Fehlern. Gut, sie konnte ja nichts von Alec und Emily wissen.

„Du auch!“, versicherte ich ihr. „Sie doch nur! Du hast ein so großes Herz Alisha. Du bist so gut! Glaub mir. Eine bessere als dich, gibt es nicht. Und du hast so schönes Haar.“

Ich meinte es ernst. Sie war ein wirklich guter Mensch und Alec hatte sie nicht verdient. Ich lächelte sie ermunternd an und sie schluckte den Köder. Sie lächelte zurück und auf einmal war Alec vergessen.

Alisha durfte auf keinen Fall erfahren, was mit Alec los war. Auf gar keinen Fall.

„Findest du ehrlich?“, fragte sie und lächelte schüchtern, was mir völlig seltsam vorkam, weil sie sonst nie so unsicher war.

„Selbstverständlich!“

Ich zögerte. Ich wusste nicht, ob ich es fragen sollte oder nicht.

„Was meinte Emily dazu?“ Ich schaute weg, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht sah. Jetzt zögerte Alisha, während eine Horde Jungs an uns vorbeigingen und uns zu pfiffen, oder wohl eher Alisha.

„Emily habe ich noch nichts gesagt.“ Sie hatte die Jungs entweder nicht bemerkt oder einfach nicht beachtet. „Ich wollte es nur dir sagen. Ich glaube Emily würde das nicht verstehen.“

Ich dachte darüber nach. Vielleicht hatte sie recht. Emily war ruhig und sagte nicht viel. Sie würde auch hier nichts sagen. Vielleicht, weil sie nichts sagen wollte oder vielleicht, weil sie überhaupt nichts dazu sagen konnte. Aber das auch nur, wenn sie nicht mit Alec eine Affäre hätte.

„Wollen wir jetzt Schlittschuhlaufen gehen? Aber Moment. Ich muss mir noch Schlittschuhe ausleihen.“

Auf einmal holte sie etwas aus ihrem Rücken hervor. Es waren wunderschöne weiße Schlittschuhe und die Schnürsenkel waren Silber. Ich schnappte nach Luft.

„Alisha, was soll das?!“

Ich schaute sie wütend an. Klar, sie war reich und ich nicht, aber trotzdem konnte ich es mir leisten Schlittschuhe auszuleihen und sie brauchte mir keine zu kaufen. Wirklich.

„Ich habe dir nur neue Schlittschuhe gekauft.“

Sie verzog gekränkt das Gesicht. Ich runzelte die Stirn. Oh nein! Jetzt kam wieder dieser Hundeblick, dem ich nicht wiederstehen konnte, denn ihre Augen wurden größer und glänzten und sie schob die Unterlippe vor. Ich wollte zur Seite schauen aber ich konnte nicht. Ich nickte leicht und gab mich geschlagen:

„Na gut. Doch bitte mach es nicht wieder ohne mich zu fragen. So was kann ich nicht ausstehen.“

Sie lächelte wieder. Wir gingen also dann Schlittschuhlaufen. Ich bin okay darin. Nicht gut, aber auch nicht schlecht, einfach okay.

Ich stürzte mindestens viermal hin und hatte danach ganz Nasse Knie und einen nassen Hintern. Ich fror und stand an der Ecke, während Alisha elegant auf ihren schönen Schlittschuhen lief. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig. Ich beneidete sie so sehr, aber trotzdem liebte ich sie.

Mir wurde langweilig. Mir schien so, als würde ich eine Ewigkeit an dieser Ecke stehen und Alisha bei ihrem fließenden Lauf auf dem Eis beobachten. Ihre Haare wurden umher geweht und sie sah aus, wie eine Eisprinzessin. Genau, wie wir sie immer sein wollten, dachte ich und fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt. Nur ganz kurz.

Dann kam Alisha zu mir hergefahren und umarmte mich. Sie schaute mich an.

„Ist dir langweilig?“, fragte sie besorgt.

„Nein, nein. Mir geht es gut. Mach ruhig weiter.“

„Nein. Ich sehe doch, dass du keine Lust mehr hasst. Wir gehen jetzt Essen!“

Sie lächelte breit und sah so hübsch aus. Ich nickte und dann verließen wir gemeinsam die Eishalle. Ich musste zugeben, dass ich erleichtert war, nicht mehr von so vielen Menschen umzingelt zu sein, die mich hin und her schubsten.

Das Essen im Restaurant war vorzüglich, aber teuer. Trotzdem hatte ich genug Geld, um es zu bezahlen.

Wir waren in einem Fischrestaurant und ich mochte Fisch nicht so besonders, vor allem wegen der Gräten, also bestellte ich mir Kalamaris.

Wir riefen den Kellner und forderten die Rechnung.

„Getrennt oder...-“, wollte der Kellner grade ansetzen, aber ich fiel ihm ins Wort.

„Getrennt!“, sagte ich schnell, bevor Alisha auch nur ansatzweise den Mund öffnen konnte. Sie schaute mich an und verdrehte die Augen, als hätte ich hyperreagiert, aber das hatte ich nicht.

Wir bezahlten und gingen zum grünen Porsche. Er war schön und das Licht der Straßenlaterne in der Dunkelheit über uns, spiegelte sich in seinem Lack.

Wir stiegen ein und der Duft vom neuen Auto stieg mir in die Nase. Oh ja, er war neu, denn Alisha hatte vor zwei Monaten Geburtstag gehabt und ihn geschenkt bekommen. So was erwartete ich nicht. Meine Mutter konnte sich sowas nicht leisten. Sie war allein. Mein Vater hatte uns nach der Geburt von Tommy, meinem Bruder, verlassen. Einfach so. Es war nicht einmal ein Brief vorhanden. Ich erinnerte mich noch an ihm. Er war schön gewesen und als Kind, hatte ich mir vorgestellt ihn zu heiraten. Ich hatte seine dunklen Augen und die Grübchen in der Wange. Tommy seine schwarzen Haare.

Ich hasste ihn aber dafür, dass er uns verlassen hatte. Dass er uns im Stich gelassen hatte.

Ich verscheuchte diesen Gedanken. Er war mir unangenehm.

Ich legte meinen Kopf in den Nacken und seufzte, weil so satt war, dass ich glaubte zu platzen wie ein Luftballon, der auf einen spitzen Gegenstand trifft.

Ich schloss die Lider. Das war wirklich der perfekte Moment zum einschlafen.

„Müde?“, fragte Alisha, die meine Gedanken erraten hatte. Wie machte sie das nur?

Ich seufzte zur Antwort.

Wir kamen zu Hause an und sie parkte an der Straße. Es war ruhig.

Wir waren so lange draußen gewesen und trotzdem hatte ich nicht bemerkt, dass die Zeit so schnell vergangen war.

Ich ging in mein Zimmer und wollte heute ausnahmsweise meinen Pyjama anziehen, da Alisha ja bei mir übernachten wollte.

Sie kam in mein Zimmer rein und schaute sich überrascht um.

„Was ist denn hier passiert?“

„Ich hatte die Farbe Rosa einfach satt.“

Das war ja wohl zu merken, da meine Wände voll mit Graffiti waren. Ich fand es tight.

Alisha pfiff leise durch die Zähne. Ich grinste.

„Hast du was dagegen, wenn wir zusammen schlafen? Ich habe keine Lust das Klappbett hierher zu schleppen“, sagte ich und lächelte sie entschuldigend an.

„Nein, nein, kein Problem.“

„Okay.“

Wir zogen unsere Pyjamas an. Ich zog mir meine Jogginghose an und ein Unterhemd. Ich sah wie ein Lumpenkind neben Alishas Seidenpyjama an.

Meine Mom kam rein und fragte, ob wir vielleicht was essen wollten, aber ich beneinte schnell. Jetzt hatte sie doch keine Gelegenheit ihre ach so köstlichen Sandwiches zu machen. Ich musste grinsen. Außerdem störte sie nur.

Alisha legte sich in mein Bett und ich schaltete das Licht aus und legte mich zu ihr. Das Bett wärmte sich schnell durch unsere Körperwärme auf und es fühlte sich schön an. Ich meine es nicht im sexuellen Sinne.

„Was ziehst du zum Ball an?“, fragte Alisha plötzlich, als ich schon halb eingeschlafen war.

„Ball?“, fragte ich verwirrt und erschreckt.

„Oder hast du etwa noch nicht das Kleid? Beth, du hättest etwas sagen können und wir wären shoppen gegangen!“, sagte sie vorwurfsvoll.

„Den Homecoming-Ball hatte ich völlig vergessen“, gab ich zu. Natürlich. Bei all dem Stress mit Emily und Alec hatte ich nicht daran gedacht. Es hat mich nicht einmal jemand gefragt, dachte ich beleidigt. „Mit wem gehst du hin?“

„Mit Alec“, seufzte Alisha und dann: „Wie kann man den Ball vergessen? Wann willst du dir denn jetzt dein Ballkleid kaufen? Der Ball ist diesen Freitag!“

„Vielleicht habe ich einfach die Erinnerung an den letzten Emo-Ball verdrängt?“

„Ach so ups!“

Ja, jetzt kam auch ihr die Erinnerung hoch. Letztes Jahr waren Catherine, Hannah und Joanne die Vorbereitungen für den Homecoming-Ball getroffen und er war düster gewesen. Nicht nur das, ich sah auch fürchterlich aus. Bevor ich zum Ball gegangen war (, ohne Begleitung,), war ich eingeschlafen und mein Bruder hatte mein Gesicht völlig mit meiner neuen Schminke versaut und so doof, wie ich war, hatte ich es gar nicht bemerkt. Erst als ich Im Ballsaal (die Turnhalle) angekommen war, hatten Alisha und Emily mich darauf aufmerksam gemacht und mir war es peinlich gewesen so herumgelaufen zu sein, ohne es zu bemerken.

„Hey, aber es sah doch sexy aus!“

Sexy? Das ich nicht lache!

Ich schnaubte wütend, aber irgendwie schien sie es ernst zu meinen. Ich verdrehte die Augen. Dann schloss ich sie langsam und sah schon wieder Farben umher flimmern, als mich Alisha beim Einnicken schon wieder unterbrach.

„Beth?“

„Huh?“

„Danke.“

„Für was?“

„Das du mir mit meinen Problemen zuhörst. Das ist nett.“

Nett? Das hatte nie jemand zu mir gesagt.

„Das ist doch selbstverständlich.“ Ich lächelte, auch wenn ich wusste, dass sie mich nicht sah. Ich musste darüber lange nachdenken. Wenn sie mit mir über ihre Probleme sprach hieß das ja wohl, dass sie mir vertraute. Wow. Und ich verschwendete es. Ich musste mir nichts vormachen. Ich war schuldig.

Auf einem Mal musste ich auf die Toilette. Ich stand langsam und leise auf, um Alisha nicht wecken zu müssen. Ich fühlte mich Schlaftrunken, aber ich schaffet es trotzdem bist zum Badezimmer zu stolpern.

Ich ging wieder ins Bett und als ich mich hinlegte, fühlte sich mein Kopfkissen so weich und einladend an, dass ich sofort einschlief und nicht wusste ob es Wirklichkeit oder Traum war.

 

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Tag der Veröffentlichung: 08.08.2016

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