So schön meine Arbeit hier im Wald auch ist – noch schöner ist die Mittagspause. Ich trage noch schnell die Daten von heute Morgen ein, die Reviere des Waldlaubsängers und die Vorkommen des Buschwindröschens. Dann schmiere ich mir ein Brot, schließe die Hütte ab und esse im Gehen. Wie die letzten Tage auch, mache ich über Mittag einen langen Spaziergang durch die Umgebung, die Hügel hoch und runter, vorbei an hübschen Bauernhäusern, über kleine Bäche und zwischen Weiden hindurch.
An einer Stelle bleibe ich immer stehen. Ein Bauernhof liegt malerisch inmitten von Weiden und Wald, dahinter bietet sich eine atemberaubende Aussicht auf die Hügellandschaft – die Stadt mit Lärm und Abgasen liegt in weiter Ferne.
Und doch stört mich etwas am Hof. Auf der vorderen Weide steht das Gras hoch, der Zaun ist kaputt, das Stromkabel gerissen – und die sechs Milchkühe befinden sich auf einer Betonfläche und einer Mini-Wiese nahe am Haus. Auf der anderen Seite des Hauses sind ein paar Kälber in Plastik-Iglus untergebracht. Es ist zum Heulen! Die Babys werden ihren Müttern weggenommen und kriegen Milchaustauscher, während ihre Mütter verzweifelt nach ihnen rufen.
Scheiß Milchwirtschaft, Tier-Ausbeuter! Was die mit den Tieren machen!
Auf der Weide links neben dem Haus grasen zwei Mutterkühe mit Kälbern, die eindeutig der Fleischgewinnung dienen. Ich gehe dorthin, pflücke ein paar Blüten von der Schafgarbe und halte sie ihnen über den Zaun. Eine Kuh nähert sich mir und greift mit ihrer riesigen, beweglichen Zunge nach meinem Geschenk.
»Na, Süße!« Ich streichele über ihre Nase, schaue in ihre großen braunen Augen und es tut mir so weh, zu wissen, was mit ihnen geschehen wird.
»Schöne Tiere, nicht wahr?«
Ich fahre herum. Da steht so’n Jäger-Fuzzi vor mir, mit Opa-Outdoorklamotten und einer Gewehrtasche über den Schultern. Er scheint nicht älter als ich zu sein. Manchmal wundere ich mich, wie unterschiedlich Menschen sein können. Und dann dieses verlogene »Schöne Tiere«!
Dann soll er sie doch nicht fressen – oder abknallen!
Jetzt lehnt er sich auch noch neben mich!
»Schöne, aber keine glücklichen Tiere.« Ich lege all meinen Missmut in die Antwort.
»Sie haben eine große Weide zur Verfügung. Wieso glauben Sie, dass sie nicht glücklich sind?«
Ich rolle mit den Augen. Dass man das einem erwachsenen Mann erklären muss! »Sie werden geschlachtet. Muss ich noch mehr sagen?«
»Hm«, macht er und schaut nachdenklich in die Ferne. »Dafür sind sie doch da. Was essen Sie denn?«
»Gras und Steine«, erwidere ich knapp.
Der Mann lacht, als hätte er diesen Spruch noch nie gehört. »Wie bitte?«
»Kennen Sie das nicht? Das ist ein blöder, alter Witz. Ich lebe vegan.«
»Oh!« Er grinst. »Einer von den ganz Extremen?«
»Ich sag da nichts zu«, muffele ich.
»Brauchen Sie auch nicht.« Er weist auf den Hof. »Und die Milchkühe? Sind Sie denn mit denen zufrieden?«
»Nein! Schauen Sie mal, wie wenig Platz die haben. Warum wird denn die vordere Weide nicht genutzt?«
»Vielleicht ist die Reparatur des Zauns zu teuer. So viel Platz brauchen die sowieso nicht. Fressen, wiederkäuen, dösen, mehr machen die nicht. Und sie werden zugefüttert, sie brauchen nicht ständig grasen.«
»Ja, und jetzt übertragen Sie das mal auf sich selbst! Ist das in Ihren Augen Lebensqualität?«
Der Typ zieht die Augenbrauen hoch und grinst schief.
Ich stoße mich vom Zaun ab. »Ich muss dann mal los.«
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. Wenn ich den Bauern sehe, kann ich ihm das ja mal ausrichten.«
Demonstrativ ratlos hebe ich die Hände und gehe meines Weges. Ob ich mir den Traum vom Leben auf dem Land wirklich erfüllen soll? Umgeben von so viel Leid und Ungerechtigkeit – das würde mir zu nahegehen. Und seit der Trennung von Jan fürchte ich zu vereinsamen. Es fällt mir so schon schwer genug, mich unter Leute zu begeben, obwohl ich direkt am Ausgehviertel der Stadt lebe.
In den folgenden Tagen schüttet es wie aus Kübeln. Tapfer stecke ich Untersuchungsflächen ab und bestimme am Bach Köcherfliegenlarven. Sie sind ein Wunder der Natur, wie sie ihre aus winzigen Steinchen zusammengeklebten Häuser mit sich herumschleppen.
Mittags bleibe ich in der Hütte und erhole mich von der Arbeit im Dauerregen. Doch der Wald hat auch seinen ganz eigenen Zauber bei Regen und kurz danach. Eine warme, würzige Luft entströmt dem Laub und Moos, es rauscht von all den Tropfen, die von den Blättern der Bäume herabfallen. Und sobald die Sonne herauskommt, steigt Dampf auf. Ein Märchenwald, und ich mittendrin!
Das schlechte Wetter gibt mir Gelegenheit, ein paar Springschwänze zu bestimmen, aber diese Kerlchen, die aussehen wie winzige, zarte Käfer, halten einfach nicht still. Es ist eine mühselige Arbeit unterm Binokular, aber sie muss ja gemacht werden. Das Handy bleibt tagelang still, Jan meldet sich nicht mehr. Nur meine Mutter ruft ab und zu an und fragt: »Lebst du noch?« Ich genieße die Abgeschiedenheit.
Nach drei Tagen sieht es so aus, als würde das Wetter halbwegs stabil bleiben, also mache ich mich mal wieder auf den Weg zu ›meiner‹ Kuhweide. Erstaunt stelle ich fest, dass der Zaun repariert ist und die Milchkühe auf der vorderen Weide grasen. Anscheinend hat dieser Jäger wirklich mit dem Bauern gesprochen.
Ich gehe zu den Mutterkühen, denn ich habe eine Aufmerksamkeit für sie: ein paar Äpfel, die ich auf dem Markt gekauft habe. Verstohlen stecke ich sie den beiden Damen zu, die Kleinen trauen sich nicht heran.
»Ja, Äpfel mag jedes Rind!«
Ich zucke zusammen. Der Jägertyp steht wieder neben mir. Hängt der etwa ständig hier rum? »Haben Sie mich erschreckt!«
»Das ist das schlechte Gewissen!« Er lacht.
»Den Spruch hat meine Oma auch immer gemacht, wenn ich mich erschreckt habe.«
»Sind Sie so schreckhaft?« Der Typ grinst mich an.
»Nein, aber ich sehe sonst nie Leute, wenn ich durch diese Gegend spaziere. Ich habe Sie gar nicht kommen sehen.«
»Tja, so soll es ja auch sein.« Er weist auf sein Gewehr.
»Ansichtssache«, grummele ich.
»Ah, klar, gegen Jäger haben Sie auch was!«
»Ja.« Mehr brauche ich wohl nicht ausführen.
»Haben sie gesehen? Er hat den Zaun repariert. Ein paar Jungs von der Landjugend haben geholfen, da ging es ganz schnell.«
»Hab ich gesehen.« Ich nicke zu den Kälbern herüber. »Aber die Babys haben das Nachsehen. Selbst, wenn sie trinken dürften, wäre die Milch dieser überzüchteten Tiere zu fettig für sie.«
»Der Bauer betreibt nun mal Milchwirtschaft!«
»Es gibt mittlerweile schon einige Bauern, die nur noch das nehmen, was die Kälber übrig lassen. Er könnte wenigstens mit Ammenkühen arbeiten.«
»Hm.« Er hält mir die Hand hin. »Ich bin übrigens der Alex.«
»Lukas.« Ich versuche, mir ein Lächeln abzuringen. Noch nie habe ich einem Jäger die Hand geschüttelt. Dieser Alex sieht mir offen ins Gesicht. Er hat große braune Augen mit langen Wimpern, genau wie die Kuh.
»Sind Sie hier im Urlaub?«
»Nein, ich bin Biologe. Ich mache hier Erhebungen zur Biodiversität, im Auftrag der Bezirksregierung.«
»Oh, das ist ja toll! In der Hütte beim Windigen Hang?«
»Genau.«
»Ich kann dir … ist doch in Ordnung, wenn ich du sage, ja?« Ich nicke. »Ich kann dir mal eine Stelle zeigen, wo die letzten Jahre der Uhu gebrütet hat.«
»Gerne! Aber dann bitte ohne Gewehr dabei«, rutscht es mir raus. »Entschuldige. Ich kann so Dinger nicht gut sehen«, erkläre ich betreten. Ich will ihn ja nicht vor den Kopf stoßen, wenn er so ein nettes Angebot macht.
»Ich lasse es zu Hause, versprochen! Wann?«
»Ich bin flexibel.«
»Morgen um vier? Bei dir an der Hütte?«
»Einverstanden.«
Texte: Bettina Barkhoven
Bildmaterialien: Bettina Barkhoven
Cover: Bettina Barkhoven
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2021
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