Ganz dunkel wird es hier nie. Dafür gibt es viel zu viele Straßenlaternen, beleuchtete Werksgelände und überhaupt die Lichter der Großstadt.
Ich stehe auf der Halde, über das Plateau fegt ein eisiger Wind. Beinahe fühlt es sich so an, als müsste ich nur die Arme ausstrecken und würde von ihm hinfortgetragen. Als ich am Fuße der Halde aus dem Auto gestiegen bin, war es windstill, angenehm frisch. Auch habe ich dort die Sterne noch nicht vermisst, denn es ist völlig normal, nur ein paar Sterne sehen zu können, hier im Ruhrgebiet. Die größten, hellsten, offensichtlichen, die sieht man. Die kleinen, weit entfernten, die bleiben in der Dunstglocke und der Lichterflut unsichtbar.
Ich gehe das Plateau den Rand entlang einmal komplett ab. Sehe die Müllverbrennungsanlage, das Windrad auf der Halde Hoppenbruch, Zeche Ewald, in der Ferne die roten Lichter der Windräder auf Oberscholven, die Raffinerie, den Förderturm von Recklinghausen II mit den grün leuchtenden Seilscheiben, das Horizont-Observatorium, die Schornsteine des Kohlekraftwerks und wieder die Müllverbrennungsanlage. Ich liebe und hasse diesen Anblick.
Wie gerne würde ich mehr Sterne sehen. So wie in Südeuropa oder in Afrika. In Afrika muss der Sternenhimmel der Hammer sein! Und doch habe ich das Gefühl, ich werde den Himmel dort niemals sehen.
Ich breite die Arme aus, doch der Wind trägt mich nicht hinfort. Er tut mir nur weh an den Ohren und Fingerkuppen. Er beißt.
Die Aussichtsplattform macht mir Angst, weil sie so hoch gelegen ist. Eigentlich kann gar nichts passieren, wenn ich mich auf die Gabionen stelle, die sie begrenzen. Würde ich stürzen, würde ich vermutlich nur den Berg herunterrollen. Mir vielleicht etwas brechen. Mehr nicht. Und doch habe ich Angst, ohne zu wissen, wovor.
Der Blick nach Westen ist wie ein Blick in die Vergangenheit: Der Horizont wird dominiert von den großen Werken, den Halden und den Schornsteinen. Der Blick nach Osten dagegen … nein, es ist nicht der Blick in die Zukunft. Meine Zukunft liegt nicht in der aufgeräumten Landschaft, in den Siedlungen, den Städten. Nicht unter den Menschen, am Boden. Schon als kleiner Junge träumte ich davon, fliegen zu können, doch jetzt will ich es mehr als je zuvor.
Der Wind schmerzt immer mehr. Er erinnert mich daran, dass ich auf Erden weile. Ich fliege nicht mit ihm, ich bin ihm ausgesetzt. Tränen laufen über meine Wangen, die genauso gut vom Wind stammen könnten.
Der Wind verhöhnt mich für meine Bodenhaftung. Für etwas, wozu ich nichts kann. Hohn und Spott schmerzen immer, egal, ob sie sich gegen Eigenheiten richten oder gegen Fehler, die man gemacht hat.
Der Wind vertreibt die Erinnerungen, doch sein Lachen über meine Schwerfälligkeit verklingt nicht. Es singt in den Rohren des Observatoriums. Es rappelt an den Zäunen, die es abriegeln. Es zerrt am Kragen meiner Jacke und treibt einen Pizzakarton vor sich her. Es verteilt meine Tränen überall im Gesicht, einzelne finden sich im Gehörgang wieder.
Wenn ich nicht mit dem Wind fliegen kann, muss ich unter ihm hinwegtauchen. Tauchen ist wie Stürzen, nur frei von Schmerz und viel, viel langsamer. Ich gehe zurück in die Mitte des Plateaus, dorthin, wo das Gras wächst. Lege mich auf den Rücken. Das ist fast wie Tauchen. Der Wind fegt nun über mich hinweg. Ich habe meine Bodenhaftung noch vergrößert, aber nun bin ich nicht mehr seine Zielscheibe. Ich habe nun einen Vorteil ihm gegenüber, indem ich mich kleingemacht habe. Noch kleiner gemacht habe.
Die Kälte kriecht in meine Kleidung, in meinen Körper, ich spüre, wie ich mich verkrampfe. Die Kälte erobert mich.
Mit einem Mal jedoch ist etwas anders. Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, was es ist.
Der Wind hat aufgehört. Und nicht nur das: Es ist frühlingshaft warm. Ich öffne die Augen und sehe über mir die Milchstraße, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen habe. So viele Sterne, dass sie zu einem milchigen Brei verschwimmen, unzählige Sterne … Gott allein hat sie gezählet … erstrecken sich am tiefschwarzen Himmel.
Was ist das? Ist das ein Traum? Der Tod?
Und dann sehe jemanden da stehen, in einer weiten, grauen Hose, einer Art Arbeitshose, mit groben Schuhen. Er hält eine altmodische Öllampe in der Hand, in deren Licht die Knöpfe seiner dunklen Jacke schimmern. Nun sehe ich sein Gesicht. Er ist jung, vielleicht so alt wie ich, sein Mund lächelt und seine Augen leuchten aus seinem Gesicht heraus. Seine Haut wirkt blass, doch sie weist feine Schatten auf und seine Augen sind schwarz umrandet.
»Wieso ist es hier auf einmal ganz anders?« Ich habe Mühe zu sprechen. Meine Stimme klingt dumpf.
Der andere schaut mich freundlich an. »Du bist in einer anderen Welt. In meiner Welt.«
»Wer bist du?«
»Siehst du das nicht?« Der andere schmunzelt. »Schau mich doch mal genau an.« Er hält seine Lampe ein wenig höher. Nun erkenne ich das gestreifte Hemd und das Halstuch. Sein Gesicht und seine Augen sind von Staub so dunkel. »Na?« Nun wirkt er ein wenig ungeduldig.
»B-Bist du ein … Bergmann?«, stammele ich.
»Ich bin der Bergmann. Ich bin Ewald, der Geist der Zeche.«
Das hier ist ein Traum! Das muss ein Traum sein.
Ewald schüttelt den Kopf. »Das hier ist kein Traum, sondern nur eine andere Welt.«
Nur!
»Stehst du auf?« Er streckt mir eine Hand hin und seine Frage klingt auf liebenswürdige Art wie ein Befehl.
»Ja, warte. Ich … oh Mann … ich bin ganz verspannt.« Ich richte mich auf, lasse mich von ihm auf die Beine bringen.
Er inspiziert mich. »Du kannst doch fliegen, oder?«
»Ich? Nein, leider nicht.« Ich kann doch nichts dafür! Ich wünschte, ich könnte es. Aber ich kann es nun mal nicht.
»Unsinn! Wieso solltest du nicht fliegen können?«
»Ich kann es nun mal nicht. Kein Mensch kann fliegen.«
»Schon mal probiert?«
»Nein! Ich würde nur fallen.« Der nimmt mich doch auf die Schippe! »Ich wüsste auch gar nicht, wie.«
»So, wie du es dir immer vorgestellt hast. Du musst es nur probieren.«
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2021
Alle Rechte vorbehalten