Erkenntnis der Endlichkeit
Freiheit, denkt Lucy und starrt auf ihren Rucksack. Ihr Handy befindet sich genau dort, in dem schmalen Seitenfach. Der vertragsfreie COLD-Ladebon vom Feroh-Discount-Supermarkt ums Eck verliert in zwei Tagen seine Gültigkeit, danach kann sie das Telefon auch genauso gut wegwerfen. Dann ist es eh nur noch ein Stück Plastik ohne Nutzen. Sie könnte es ihm dann höchstens gegen die Schläfe donnern, ja das würde damit dann vielleicht noch gehen. Wie naiv sie eigentlich gewesen war. Sie dachte doch damals tatsächlich, sie hätte sich die Freiheit mit diesem Angebot erkauft: Unabhängig von Tarifen, Mobilfunkanbietern und Knebelverträgen. Tja.
Die Räder rumpeln im Gleichtakt der Schienen.
Ihr Handy würde ihr sowieso nichts bringen, solange es in ihrer Tasche steckt. Irgendwie musste sie an das Teil rankommen, es benutzen. In Zeitlupe, ganz unauffällig und völlig beiläufig, sieht sie zu dem Mann neben ihr. Er soll nicht mitbekommen, dass sie ihn beobachtet.
Ganz ruhig und gelassen sitzt er da, so als wäre nichts passiert. Er rührt sich kaum und sieht einfach nur aus dem Fenster, so als wäre rein Garnichts geschehen. Nichts vorgefallen. Alles normal. Bei dem Gedanken, dass er sie am Bahnhof einfach in den Zug gestoßen hatte, wurde ich schlecht. Sie ist ihm ausgeliefert.
Der Weg zur Freiheit ist eigentlich so nah und doch so weit weg: in ihrem Rucksack.
Aber den Plan, bald zu telefonieren, kann sie eh völlig abhaken. Dieser Arsch würde sie mit Sicherheit keinen einzigen Moment aus den Augen lassen. Erst jetzt fällt ihr auf, dass sie mit ihren Füßen wippt. Stopp! Sie muss sich wieder beruhigen. Oder hat er ihre Unsicherheit schon bemerkt? Es war von essenzieller Bedeutung jetzt bloß nicht die Nerven zu verlieren. Lucy denkt einfach an etwas Anderes. Sie träumt sich weg aus dieser ausweglosen Situation. Raus aus dem Zugabteil.
Ein Bild von saftigen grünen Wiesen. Und Tom, wie er ihr entgegen sprintet. Ach Tom. Wann würde sie ihn wiedersehen? Oder, würde sie ihn überhaupt jemals wiedersehen?
Der feste Griff des Mannes, und wie er sie in den Zug stößt, reißt sie wieder aus ihrer Fantasie. Lucy beißt sich auf die Unterlippe. Ein bisserl Blut läuft in ihren Mund und hinterlässt einen metallischen Geschmack. Eigentlich bräuchte sie doch nur von ihrem Platz aufzustehen und lauthals loszubrüllen. Oder?
Sie rutscht auf ihrem Sitz hin und her. Die Gleise unter ihr poltern monoton dahin. Ihr Hintern ist mit dem billigen Plastiküberzug der Sitze verschmolzen. Heiß genug ist ihr ja. In Wahrheit schwitzt sie wie verrückt.
Sie müsste doch nur um Hilfe rufen und die anderen Fahrgäste in dem Abteil würden auf sie aufmerksam werden. Ja, sie würden alles stehen und liegen lassen und sofort auf ihr Geschrei reagieren. Oder?
Wahrscheinlicher ist, dass die Frau mit den drei kleinen Kindern, die da drüben im Eck sitzt, ihr nur einen schrägen Blick zuwirft. Und das junge Paar, da hinten in der letzten Reihe, das würde sie nicht mal wahrnehmen. Alle würden denken, sie wäre verrückt.
Wieder starrt sie auf ihren Rucksack. Sie könnte ja so tun, als würde sie nach ihrem Notizblock suchen, dagegen würde er wohl kaum etwas einzuwenden haben. Aber andererseits. Dieser Mann hatte sie einfach so in den Zug gestoßen und sie dazu gezwungen mit ihm zu kommen. Egal. Es gab keinen anderen Weg. Sie macht es jetzt einfach.
Sie bückt sich nach unten und greift nach ihrem Rucksack. Na klar, genau jetzt dreht er sich zu ihr herüber. Er grinst sie an. Warum bitte, grinst dieser Typ sie so dämlich an? Und was will er um Himmels Willen eigentlich von ihr?
Fast zärtlich berührt er ihre Hand. Sie will zurückschrecken, doch belehrt sich eines Besseren. Er darf nichts von ihrer Unsicherheit spüren. Eigentlich hat sie zwar null Ahnung, was dieser widerliche Kerl von ihr will, doch sie würde ihm keinen Widerstand leisten. Zumindest würde sie ihn nicht bewusst davon in Kenntnis setzen. Es wäre schon schlimm genug, wenn er ihren innerlich tobenden Freiheitskampf auch nur im Geringsten erahnen würde.
Wieder greift sie nach ihrem knallroten Rucksack. Er erinnert sie ein bisschen an einen Ballon, den sie als Kind von ihrer Mutter im Prater bekommen hat. An ihre Mutter möchte sie jetzt gar nicht denken. Wenn die wüsste, was gerade abgeht.
Jeden Moment würde sie ihr Handy in er Hand halten und ihrer Mama eine Nachricht schreiben. Sie sei in Gefahr, sie befindet sich im Zug, gemeinsam mit diesem Irren, der sie festhält.
Oder sollte sie besser versuchen, Tom anzuschreiben? Er würde vielleicht eher die Alarmbereitschaft in ihrer Nachricht verstehen und dementsprechend reagieren. Als dritte Möglichkeit fällt ihr die Polizei ein. Aber wenn sie ganz ehrlich ist, verlässt sie sich dann doch lieber auf ihre Mutter, als an den besten Freund und Helfer. Die Kiwara waren eh immer nur dann da, wenn man sie nicht brauchte. Wenn wirklich mal was passierte, dann war auf die sowieso kein Verlass. Da fallen ihr gleich ein paar Beispiele von entführten Kindern und Jugendlichen ein, die von der Polizei im Stich gelassen wurden. Die waren alle ihren Entführern zum Opfer gefallen. Was heißt das eigentlich: zum Opfer fallen? Egal.
So will Lucy jedenfalls nicht enden. Und als Opfer will sie schon gar nicht bezeichnet werden. Vor ihr blitzt die Titelseite der Tageszeitung DIADEM auf: Frau von Kerl entführt, Leiche zerstückelt und im Bahnhofsklo entsorgt. Runtergespült. Ende. Aus.
Na gratuliere. Immerhin hätte sie es einmal in ihrem Leben in die Zeitung geschafft. Wobei ein Mytube Video natürlich viel krasser wäre als so ein popeliger Zeitungsbericht. Aber wahrscheinlich darf sie sich von ihrem Abgang eh nicht zu viel erwarten. Vielleicht wird ihre Entführung von den Behörden ja auch Tod geschwiegen. Das war durchaus ein Ding der Möglichkeit.
Mittlerweile ist sie der Freiheit wieder ein Stück nähergekommen. Ihre Zehen berühren schon die Tragegurte ihres Rucksacks. Immerhin. Wenn sie sich jetzt zusätzlich noch bewegen könnte, würde sie sich selbst auf die Schulter klopfen. Gut gemacht, Lucy. Ich bin stolz auf dich. Dann würde sie das zumindest auch mal hören, bevor sie zerstückelt und im Klo runtergespült wird. Ihre Eltern waren sich ja immer zu gut dafür gewesen, sie auch mal für etwas zu loben. Egal.
Der Typ sieht gerade wieder aus dem Fenster. Jetzt oder nie.
Lucy schnappt sich das Handy aus dem Seitenfach und rennt wie eine Katze auf heißen Kohlen, los. Klarerweise ist der grobe Kerl schon hinter ihr her. Ihre feuchten Finger rutschen über die glatte Smartphonebenutzeroberfläche. Entsperren. Scheiße, wie ist der Pin? Eine Männerhand prankt nach ihrer Schulter.
Auf wählen tippen. Er zieht sie zurück! Dieser affengesichtige Arsch reißt ihr das Telefon aus der Hand und steckt es einfach in seine Hosentasche. Wortlos zerrt er sie durch den Gang. Die Leute im Abteil schauen nur blöd. Am liebsten würde sie laut aufschreien, doch ihre Stimme sitzt in ihrer Kehle fest. Er durchquert mit ihr das ganze Abteil. Im Vorbeigehen greift er völlig beiläufig nach ihrem roten Anker und wirft ihn sich über die Schulter. Natürlich nimmt er ihn mit. Ist doch logisch. Wenn er ihren Rucksack zurücklassen würde, dann hätte die Kripo ja nur eine Spur, der sie folgen könnte. Alles klar.
Er schiebt sie weiter, bis zu den Schlafabteilen.
Langsam drückt er sie auf eines der schmalen Betten. Wortlos hält er ihr einen schneeweißen, halbkreisförmigen Krümel entgegen. Eine Tablette. Anstatt ihr das Teil in den Mund zu zwängen, reicht er ihr eine Flasche Wasser. Scheiße. Warum hatte die Industrie nochmal beschlossen, dass es keine Glasflaschen mehr im Handel gibt? Diese Plastikflasche könnte sie ihm zwar auch über den Schädel ziehen, aber das hätte wohl denselben Effekt, wie ein Butterbrot, das auf der bebutterten Seite landet. Genau, es würde ihn kurz verärgern und das war´s dann auch schon.
Lucy schiebt sich die Pille zwischen die Zähne und zieht Luft in ihre Wangen. Er begreift, dass sie jede Sekunde nach ihm spucken wird und presst seine Hand auf ihren Mund. Gelassen hält er ihr erneut die Wasserflasche hin. Lucy spült die Tablette mit einem großen Schluck hinunter. Sie hat ja keine andere Wahl. Sie ist auf sich allein gestellt. Natürlich hat sie überlegt, das Ding nicht zu schlucken. Klar war ihr dieser Gedanke gekommen, sie ist ja nicht gänzlich verblödet. Aber mal ehrlich, was hätte es denn gebracht? Es wäre ein kurzer Akt der Rebellion, doch auch verschwendete Liebesmüh. Er steckt bestimmt gleich seinen Finger in ihren Mund und tastet, durchsucht Backentaschen, gleitet unter ihre Zunge. Gleich Dann muss sie sicher kotzen. Zumindest ist das eine legitime Art, die Pille wieder loszuwerden. Doch als sie denkt, jetzt ist es gleich so weit, zieht er seine Hand zurück. Er drängt sie, sich hinzulegen, und wirft ihr eine der Decken zu. Nach ein paar Minuten legt er sich hin. Er entscheidet sich für das Bett über ihr und Lucy wittert ihre Chance. Gleich schläft er ein.
Die Schlaftablette entfaltet ihre Wirkung, doch Lucy kämpft mit ihren letzten Energiereserven dagegen an. Schwach wie sie ist, knallt sie gegen die dünnen Wände des Zugs und schleppt sich den schmalen Gang entlang. Der Zug rüttelt auf den Gleisen und Lucy gerät ins Wanken. Doch anstatt zu fallen greift sie nach dem Riegel der Schiebetüre. Freiheit, denkt sie und macht einen Schritt nach vorn. Die Welt rast gemächlich an ihr vorbei.
Die grelle Erkenntnis, sie würde nie wieder frei sein, schießt wie ein Blitz durch ihre Hirnwindungen und verbindet sich direkt mit ihren Synapsen zu einer undurchdringlichen, steinharten Mauer. Es gibt kein Entkommen. Kaum hat sie ihren Fuß wieder zurück in den Gang gesetzt, erfasst sie diese unendliche Müdigkeit und reißt sie mit sich. Einzig die Arme des ekligen Mannes fühlt sie noch um ihre Hüften, als er sie auffängt, bevor sie zu Boden kracht.
Die Sonnenstrahlen küssen sie zärtlich wach. Die süße Verwirrung der morgendlichen Unwissenheit verlässt sie aber gleich wieder. Dieser unnötige Kerl lehnt sich über sie und lächelt sie an. Er hat ihren Rucksack bereits lässig über seine Schulter geschmissen und reicht ihr die Hand. Sie soll aufstehen. Der Zug kommt gerade zum Stillstand und Lucy prallt gegen den Typen, der sie immer noch am Arm festhält. Mit der anderen entriegelt er die Zugtür.
Dann sieht er sie direkt an und sagt: »Wir sind da mein Schatz, deine Mutter wartet schon in der Halle auf uns! Ich bin gespannt, was sie sagt, wenn sie erfährt, wie ekelhaft du wiedermal zu deinem alten Vater warst Manchmal benimmst du dich wie ein kleines Kind.«
Lucy streckt ihm kurzerhand die Zunge entgegen, ja sie benimmt sich gerade wie ein trotziges Kind, auch wenn sie schon viel zu alt dafür ist. Naja.
Sie küsst ihren Vater auf die Wange (eigentlich war der Streit ja halb so schlimm, worum ging es eigentlich nochmal? Egal.) und läuft in die Bahnhofshalle.
Ella Feder verfasst österreichische Gesellschaftsliteratur, die auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken anregen soll. Sozialkritische Sichtweisen kombinieren sich mit einmaligen Protagonisten, durch die Ella Feder ihre Geschichten zum Leben erweckt.
Texte: Ella Feder
Cover: Premade Cover & more
Tag der Veröffentlichung: 29.03.2018
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