Der Wagen schlingerte in den Kurven. Er fuhr viel zu schnell. Schroff und steil fiel die Küste am Straßenrand ab. Wie ein Grab. Unten stürmten die Wellen gegen die Felsen. Brachen in weißen Schaumkronen gegen sie. Mit ungeheurer Kraft. Gegen sie gab es kein Entrinnen.
Der Fahrer sah nervös in den Rückspiegel. Der Truck hinter ihm war nicht gerade langsam. Er verstärkte ein wenig den Druck aufs Gaspedal, doch viel schneller konnte er nicht mehr fahren. Seine rechte Hand krampfte sich um das Lenkrad. Ein Ring aus schwerem Silber blitzte im Strahl der Sonne auf. Er sah aus wie ein Erbstück.
Ein Stoß erschütterte den Wagen. Der Mann federte hart nach vorne. Der Truck hatte ihn gerammt. Nur mühsam gelang es ihm, den Wagen wieder unter Kontrolle zu kriegen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Niemand sonst war auf der Straße. Nur er und der Truck hinter ihm.
Er fluchte leise vor sich hin. Niemals hätte er sich darauf einlassen sollen.
Er drückte das Gaspedal noch tiefer. Er hatte keine andere Wahl. Doch es war schon zu spät. Er konnte noch den Aufprall hören und den Stoß spüren, als der Truck ihn zum zweiten Mal rammte. Der rote Sportwagen durchbrach die Leitplanken und stand für kurze Zeit in der Luft. Dann senkte er sich, folgte den Klippen in die Tiefe. Wenige Augenblicke später prallte er unten auf und explodierte. Oberhalb der Wellen. Er brannte völlig aus. Langsam stieg der Rauch in den Himmel. Ein stummer Zeuge des Mordes.
Ungerührt fuhr der Truck weiter. An seiner Stoßstange war nichts zu entdecken. Sein Auftrag war erledigt.
Ein schöner Tag neigte sich dem Ende zu. Der langsamer dunkler werdende Himmel zeigte die Kondensstreifen eines Flugzeugs und bildete einen Kontrast zu dem tiefroten Horizont. Die wenigen Wolken, die am Himmel waren, färbten sich in verblüffenden Farben. Die weit entfernteren waren rosa, während die anderen, die näher am Sonnenuntergang waren, tiefrot getränkt waren.
John Hardy genoss die Stille, die der See ihm bot. Er stand am Ufer und betrachtete den Himmel. Er war knapp 1,80 groß und schlank. Sein braunes Haar verteilte sich auf seinem etwas rundlichen Kopf, allerdings nicht dicht genug, wie einige Lücken andeuteten.
Er seufzte. Heute war sein letzter Arbeitstag hier in dieser Stadt. Warum musste er bloß weggehen? Manchmal hatte er das Gefühl, es gäbe in Kanada nichts schöneres, als dieser südliche Teil British Columbias. Berge über Berge und dazwischen fantastische Seen. Im Sommer konnte man schwimmen gehen und im Winter Ski oder Schlittschuh laufen. Und so viele Tiere. Im August hatte er hier sogar Kolibris beobachten können. Kolibris!
Resigniert stopfte er seine Hände in die Tasche, nickte dem See zum Abschied noch einmal zu und machte sich auf den Weg zurück zur Straße, wo sein Pick-Up stand. Sechs Jahre lang war er hier gewesen, eine lange Zeit. Geboren und aufgewachsen war er in Vancouver, dort in der Nähe hatte er auch seine Ausbildung zum Pfarrer gemacht. Ein Stadtkind. Und desto mehr genoss er die Stille und den Frieden, die Schönheit und die Herrlichkeit dieser Natur hier. Er würde gerne noch länger bleiben, denn sechs Jahren waren zwar viel, auf der anderen Seite aber auch viel zu wenig. Sechs Jahre!
Und er hatte es nicht geschafft, die Gemeinde in den Griff zu bekommen. Jetzt gab er auf, das wusste er. Es hatten sich zwei Fraktionen gebildet und er war mitten zwischen die Fronten geraten, obwohl er als Pfarrer das eigentlich zu einer friedlichen Einigung hätte bringen müssen. Traurig und müde schüttelte er den Kopf, versuchte die Gedanken wegzuwischen.
Gestern war seine Verabschiedung gewesen und gestern war auch sein Bruder mit dem Truck gekommen und hatte seine ganzen Sachen eingeladen. Nach Seattle, zu seiner neuen Wirkungsstätte. Und dann hatte sein Bruder ihm ein Ticket in die Hand gedrückt, nach Kalifornien. „Schöne Grüße von den Eltern!“ hatte er noch hinzugefügt und ihm dann gedroht, falls er es wagen würde vor drei Wochen in seiner neuen Wohnung aufzutauchen. Was blieb ihm da anderes übrig, als einen Koffer zu packen, seinem Bruder zu danken und loszufahren Richtung Flughafen, Richtung Vancouver.
Doch als er die Stadt gerade hinter sich gelassen hatte, konnte er nicht mehr weiterfahren, irgendwas hielt ihn zurück. Einen Tag noch hier bleiben, hatte er gedacht, einen Tag noch. So hatte er den ganzen Tag am See verbracht, den Ort, den er über alles liebte.
Hardy stieg in seinen weißen Chevrolet ein, betrachtete kurz das Ticket, welches er aus der Jacke holte, seufzte noch einmal tief und ließ dann den Motor an. Doch seine Blicke schweiften wieder ab, versanken in den unendlichen Farben des Himmels und versuchten zum letzten Mal die Schönheit und den Frieden aufzusaugen. Den Frieden, den er so sehr vermisst hatte und der ihm so viel Kraft gekostet hatte. Er wusste, dass die nächsten Wochen hart werden würden, härter noch, als die vergangen. Denn dann würde zu seinen Problemen wieder die Einsamkeit kommen und zwar die Einsamkeit, die er fürchtete, nicht die, die er genoss und auch brauchte. Die Freunde, die er trotz allem hier gefunden hatte, würden er dann nicht mehr einfach so besuchen können, sie würden viel zu weit weg seien.
Und die nächsten Wochen würden ihn wieder mit ihm selber konfrontieren. Die letzten Tage und Woche waren so angefüllt gewesen, dass er jegliches Gefühl unterdrücken konnte. Doch nun würden diese Gefühle kommen. Gefühle der Einsamkeit und des Versagens, Gefühle des Scheiterns und einer unendlich tiefen Traurigkeit. Ja, sie würden kommen, das wusste er. Sie hatten sich heute schon angemeldet, doch der vertraute Ort, der so ruhig und still auf ihn wirkte, konnte sie wieder vertreiben, wenigstens für den heutigen Tag.
„Pass auf mich auf, Herr!“ murmelte er leise. Er war dankbar für diesen Tag, den er noch genießen konnte. Doch er kannte diesen Käfig, der sich um ein Herz legen konnte, gegen den man fast machtlos war. Und vor dem hatte er Angst. Es war sowieso schon ein Wunder, dass es bis jetzt noch nicht so weit gekommen war. Im Moment kam er sich vor wie in einem Film, bei dem er zusah, wie er selber handelte und reagierte. Als wäre es jemand anders, der die letzten Wochen gelebt hätte. Doch dieser Zustand würde zerbrechen, das wusste er. Er konnte nur hoffen, dass es nicht zu viele Scherben geben würde und dass Gott sich um seinen Scherbenhaufen kümmern würde.
Unschlüssig starrte er durch die Windschutzscheibe. „Komm, sag noch einmal deinem alten Haus Auf Wiedersehen, bevor du nach Vancouver fährst.“ Er dachte noch kurz darüber nach, aber dann nickte er und machte sich auf den Weg zurück.
Die Scheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit und beleuchteten die Straße, die sich in lang gezogenen Kurven zwischen dem See und den Bergen entlang schlängelte. Am fernen Horizont war nur noch ein feiner Streifen helles Licht, während auf der anderen Seite des Himmels Mond und Sterne der Landschaft ein gespenstisches Aussehen gaben. Edelsteine funkelten auf dem Wasser und glitzerten wie eine silberne Straße. In weiter Ferne konnte er noch die Rücklichter eines anderen Wagens ausfindig machen, mit ihm wohl der einzige Wagen auf dieser Straße. Nichts war da, was störte, nichts, was den Frieden durchbrach.
Nur Menschen schaffen das, dachte er grimmig, schob es aber schnell wieder weg. Solche Gedanken waren nicht gut, das wusste er, mit ihnen würde er nur schneller und tiefer in ein großes Loch fallen. Doch auch diese Gedanken würden automatisch kommen, er musste mit ihnen umgehen. Aber er brauchte sie nicht gerade fördern.
Er schüttelte den Kopf. Mittlerweile hatte er die Brücke erreicht, die über den See führte und ihn zurück in seinen alten Wirkungskreis brachte. Schwarz und mächtig spannte sie sich über den Wasser, als ob sie unzerstörbar wäre. Widerwillig machte das Wasser den Pfeilern Platz, umströmte sie, als ob sie wüssten, wie viel Kraft in ihr ist. Auch der Felsen schien zu protestieren, dass dies keine Natur wäre. Stolz und erhaben rückte er von der Brücke ab, gab ihr keinen Zentimeter freiwillig.
Das Stakkato der Bohlen brachte ihn langsam wieder in die Wirklichkeit. Nun machte die Natur den Häusern Platz, Häuser aus Holz und aus Stein, die er so sehr liebte. Er freute sich schon darauf, seines zu sehen, in dem er die letzten sechs Jahre gewohnt hatte. In Gedanken ging er die einfache Form nach, die geraden Wände aus weiß gestrichenem Holz, ohne Schnörkel und Verzierungen, die zwei Etagen und das leicht angehobene Dach. Es sah wie fast alle Holzhäuser hier aus, doch für ihn war es von Anfang an das Haus gewesen. Dort hatte er sich zu Hause gefühlt, hatte geweint und gelacht, geklagt und gedankt, getrunken und gegessen. Dort hatte er sich wohl gefühlt und es hatte ihm über viele Stunden, Tage und Wochen hinweggeholfen. Es war einfach sein Haus.
Melancholisch drehte er den Zündschlüssel um und betrachtet tief versunken sein Heim. Zum letzten Mal, schoss es ihm traurig durch den Kopf. Zum letzten Mal. Er zog den Türgriff und stieg aus, um eine letzte Runde um das Haus zu gehen. Sachte machte er die Tür zu, ging den Weg mit den Steinfliesen entlang, bog einmal links um die Ecke, noch einmal links und blieb dann verblüfft stehen.
Irgendjemand saß vor seiner Hintertür! Er blinzelte. Kein Zweifel, eine Frau saß da mit angewinkelten Beinen vor seiner Tür, die Ellbogen, auf denen ihr Kopf lag, stützten sich auf ihre Knie. Ihr langes blondes Haar reichte fast bis zum Boden und umrahmte ihre Beine und ihren Rücken.
Verwundert ging er einige Schritte auf sie zu. Wer um alles in der Welt war sie? Und warum saß sie um diese Uhrzeit vor seiner Hintertür, wo er doch eh nicht mehr in dem Haus wohnte?
Sie musste ihn gehört haben, denn plötzlich hob sie den Kopf und starrte ihn mit geröteten Augen an.
„Sarah!“ Hardy eilte zu ihr ihn und kniete vor ihr nieder. „Was machst du denn hier?“
„John! Schön dich zu sehen.“ Ihre Augen strahlten, als sie ihn umarmte. „Ich wusste doch, dass du noch kommen würdest.“
„Du wusstest, dass ich ...“ Verblüfft sah er sie an. Sie meinte es ernst. Als ob sie sicher gewusst hätte, dass er noch einmal zurückkommen würde.
Ein wenig amüsiert sah sie ihn an. Schließlich nickte sie.
„Da muss ich mich erst mal setzen.“ Immer noch verwirrt blickte er sie an. „Du weißt, dass ich hier nicht mehr wohne?“
Sie nickte wieder.
„Und wieso wusstest du dann, dass ...“
„Weil du der einzige bist, der mir helfen kann.“ unterbrach sie ihn.
„Weil ich der einzige bin, der ...“ Er kam wieder nicht weiter. Irgendwie war das heute nicht sein Tag. Er sah hinauf in den Himmel. Doch auch der konnte ihm keine Antwort geben. Fragend sah er sie an.
Sie winkte ab. „Das erkläre ich dir später. Jetzt würde ich ganz gerne aufstehen und mich irgendwo aufwärmen, weil der Boden hier auf die Dauer doch etwas zu kalt ist.“ Sie erhob sich.
„Ja klar!“ Hardy sprang auf, als ihm plötzlich was einfiel. „Ah, ich fürchte ich kann dir nicht viel anbieten.“ Er deutete auf sein Haus. „Mein Haus ist nämlich ziemlich leer, so von innen, weil alles schon unterwegs ist nach Seattle.“
„Ja, das hat mir dein Nachbar schon erzählt.“
„Und eigentlich“, fuhr er fort, „bin ich auf den Weg nach Vancouver, zum Flughafen.“
„Wolltest du wegfliegen?“ Sie sah ihn überrascht an.
„Ja, Richtung Kalifornien.“
„Richtung Kalifornien!“ wiederholte sie. „Das ist gut. Tja, “ sie lächelte ihn an und harkte sich bei ihm unter, „ich fürchte, da hast du mich nun auf den Hals.“
„Willst du mitkommen?“
Sie nickte.
„Ja klar! Gerne.“ Nun lächelte er. „Da gibt’s schlimmeres.“
Sie stieß ihn ihren Ellbogen in die Rippen. „Ich habe auch meine Gründe!“
„Och, fährst du nicht nur wegen mir mit?“
„Nicht nur.“ Sie wurde ernst. „Aber wegen dir bin ich hier und, wie gesagt, du bist der einzige, der mir helfen kann.“
„Was du mir später noch erklären wirst?“
„Ja!“
„Na gut. Dann lass uns jetzt aber die ernsten Gedanken wegschieben. Ich wäre dafür, wie gehen erst mal was essen. Schließlich haben wir uns schon jahrelang nicht mehr gesehen, das müssen wir feiern.“
„Was? Dass wir uns jahrelang nicht mehr gesehen haben?“
„Nein!“ Diesmal boxte er sie. „Dass du mich besucht hast und mich begleiten willst nach Kalifornien. Das feiern wir! Ach, “ Er seufzte. „drei Wochen lang Sonne, Sand, Meer, ...“
„Und schöne Männer!“ setzte sie ironisch hinzu.
„Hah, das gilt für dich. Aber ich fürchte, die musst du dir noch suchen. Ich brauche nicht mehr suchen, denn eine schöne Frau habe ich schon gefunden.“ Er grinste sie an und bevor sie noch etwas erwidern konnte, schob er sie in den Wagen. Nur ihr Lachen konnte er noch hören.
Als er schließlich selber einstieg, spürte er ihren Blick. Fragend sah er sie an.
„Es ist schön dich zu sehen!“ Er spürte, wie ernst sie es meinte und fühlte ihre Hand auf seinen Arm. Als er ihr in die Augen sah, bemerkte er die tiefe Traurigkeit, die hinter ihnen schimmerte. Doch bevor er sie ergründen konnte, durchzog ein Lächeln ihr Gesicht. „Und es ist schön, dass du dich nicht verändert hast!“
Er seufzte. „Ja, kein Mensch ist vollkommen.“ Aber dann musste er auch lächeln, drehte den Schlüssel um, warf ihr noch mal kurz einen Blick zu, den sie immer noch lächelnd erwiderte und fuhr los. Zurück in die Stadt, die auf einmal nicht mehr so wichtig war. Ein Haus zurücklassend, das ihm auf einmal nicht mehr so viel bedeutete. Eine Vergangenheit zurücklassend, die auf einmal ihre Schrecken verloren hatte. So schnell kann es gehen, dachte er, doch dann beschäftigte er sich schon mit der Frage, in welches Restaurant er sie führen könnte.
„Du hast mir in deinem letzten Brief nicht geschrieben, warum du hier weggehst. Darf ich dich danach fragen, oder möchtest du das nicht erzählen?“ Sarah blickte ihn vorsichtig an. Hardy saß ihr gegenüber und spielte mit dem Besteck.
„Klar kannst du fragen.“ Er überlegte. Langsam wanderte sein Blick im Restaurant umher. Es war schön hier. Relativ einfach, aber gemütlich. Durch die Scheibe konnte er die Lichter der kleinen Stadt sehen. Davor das unendlich tiefe und endlose Schwarz: Der See. Durch den Kontrast mit dem etwas helleren Himmel konnte er sogar die Brücke sehen. Wie oft war er über sie gefahren? Er wandte sich wieder Sarah zu.
„Es ist halt nur keine schöne Geschichte.“
„Das macht nichts. Ich würde sie trotzdem ganz gerne hören.“
„Na gut!“ Er kratzte sich am Kopf. „Wo fange ich an? Es hatten sich zwei Gruppen gebildet in der Gemeinde. Na, Gruppen ist das falsche Wort. Zwei Klassen sind besser. Denn es ging nicht um irgendwelche theologischen Probleme, oder um sonstige inhaltliche Sachen. Es ging ganz einfach ums Geld.“
Sarah runzelte die Stirn. „Ums Geld?“
„Ja. Nur darum.“ Er nahm die Gabel in die Hand, stach damit die auf die Serviette ein und legte sie dann wieder auf den Tisch. „Die ersten zwei, drei Jahre waren super. Für mich, für die Gemeinde, einfach für alle. Und es gab auch noch keinen Unterschied, ob du viel Geld hast oder wenig. Es war erst mal eine Gemeinde, mit ihren üblichen Schwierigkeiten, aber nichts Gravierendes. Tja und nach drei Jahren kamen wir dann auf die Idee, anzubauen. Wir machten Baupläne, Finanzierungspläne mit allem drum und dran. Als die Pläne fertig waren, begannen wir, Kollekten für den Bau einzuplanen, ein eigenes Spendenkonto einzurichten und die üblichen Behördengänge zu machen. Von da an lief es aus dem Ruder, weil ich so ein Idiot war und es nicht bemerkte.“ Er lehnte sich zurück, kniff die Augen zusammen und versuchte, seiner Verbitterung und Enttäuschung Herr zu werden. Es war alles noch so frisch. Schließlich sprach er weiter. „Irgendwie sprach es sich herum, wer viel spendete und wer wenig. Und fast jeden Abend hatte ich die Leute in meinem Wohnzimmer sitzen, die die hohen Beträge gespendet hatten und die mit mir darüber diskutierten, was man noch verändern könnte, dass sie mehr Mitspracherecht haben wollten, wo sie doch so viel Geld gaben, was sie von mir erwarteten und was sie vom Gottesdienst erwarteten. Im Grunde hatten sie mich gekauft. Und weißt du was das schlimme dabei war? Ich bemerkte es nicht einmal. Sie haben das alles so geschickt vorgetragen, dass ich ihnen immer zutiefst dankbar sein musste wegen den hohen Spenden, und dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, wenn ich sie doch mal ignorierte. Sie haben mich perfekt manipuliert. Ich weiß nicht, ich glaube, ich war zu jung und zu naiv, um das zu bemerken, oder mich dagegen zu wehren.
Am Anfang zumindest, das ganze Jahr über. Als dann nämlich die anderen Leute alle wegblieben, die nicht so viel Geld spenden konnten, dafür aber kräftig auf dem Bau mitgearbeitet hatten, wachte ich so langsam auf. Ein Schlüsselerlebnis kam für mich dann vor anderthalb Jahren. Ein Ehepaar, ganz einfache, feine Menschen, arbeitete trotz allem immer noch kräftig mit. Zu ihnen hatte ich auch ein sehr gutes Verhältnis. Sie haben mir zwar oft erzählt, dass sie sich nicht mehr so wohl fühlen in der Gemeinde, aber das habe ich nie so ernst genommen. Bis zu dem Tag, wo ich unfreiwillig ein Gespräch belauschte. Drei Ehepaare, die zusammen wahrscheinlich ein Drittel des Baus finanziert hatten, sprachen über dieses Ehepaar. Und zwar in einer so üblen Weise, dass ich echt schockiert war. Das war nicht nur lästern, sie waren kurz davor, zu überlegen, wie sie sie wohl raus ekeln konnten. Wirklich, so richtig übel. Ich wusste gar nicht, was ich machen sollte. Ich bin dann schließlich zu ihnen gegangen, hab mich kurz zu ihnen gestellt, ohne auch nur ein Wort zu sagen und bin dann zu mir nach Hause gefahren.
Zu Hause fiel es mir dann wie Schuppen von den Augen. Wie sie mich benutzt hatten, eingespannt in ihre Pläne und wie naiv und blöd ich gewesen bin. Auf einmal begriff ich alles. Und weißt du, es war ja nicht so, dass ich ein Gemeindemitglied war, ich war der Pfarrer. Das war meine Gemeinde und ich war für sie verantwortlich. Tja und ab dem Tag, begann ich zu kämpfen, versuchte rückgängig zu machen, was schon geschehen war und versuchte zu retten, was zu retten war.“ Er machte eine Pause.
„Aber es zeigte sich schnell, dass das sinnlos war. Die höheren Leute waren schon längst viel zu stark geworden und wollten sich nun nicht mehr die Butter vom Brot nehmen lassen.“ Seine Stimme klang verbittert. Er musste an all die Schläge denken, die sie ihm unter die Gürtellinie verpasst hatten, an all die Intrigen und bösen Worte, die gefallen waren. „Man sollte nicht glauben, was alles in einer Gemeinde los sein kann.“ Schließlich zuckte er die Achseln. „Vor einem halben Jahr kam das Ehepaar zu mir, von dem ich dir gerade erzählt habe und erklärten mir, dass sie eine andere Gemeinde gefunden hätten und nun wohl nicht mehr kommen würden. Ich wollte gerade anfangen, mich darüber aufzuregen, wie sie von den anderen behandelt worden waren, als der Mann seine Hand auf meine Schulter legte und sich bei mir bedankte für das, was ich für sie getan hatte. Ich war völlig perplex, denn im Grunde hatte ich hier ja versagt, meiner Meinung nach zumindest. Und weißt du, “ er sah sie ein wenig zerknittert an, „sie hatten wer weiß wie viel Stunden in diese Gemeinde und in den Neubau investiert. Sie hatten alles getan und mussten nun gehen, weil die anderen sie raus geekelt hatten. Und in ihrer Stimme klang überhaupt keine Verbitterung durch. Gut, sie waren enttäuscht und traurig, aber sie waren nicht verbittert, sie hatten sich ihr gutes und gütiges Herz bewahrt.“ Er seufzte. „Ich fürchte allerdings, dass man das nur schafft, wenn man schon jenseits der fünfzig ist.“
Sie lächelte ihn an. „Das schaffst du auch. Das schaffst du mit Gottes Hilfe.“
Er nickte. „Ja, mit seiner Hilfe.“
Nach einem kurzem Schweigen fragte sie schließlich: „Und dann hast du gekündigt?“
„Ja“, bestätigte er, „dann habe ich gekündigt. Das heißt, in meinem Beruf kann man ja nur bedingt vom Kündigen sprechen. Wir haben uns geeinigt, dass ich die Gemeinde verlasse. Allerdings, “, er nickte, „der erste Schritt zur Trennung kam von mir.“
Er sah auf sein Essen, das mittlerweile vor ihm stand. „Aber jetzt musst du mir erzählen, warum du hier bist und wie ich dir helfen kann.“ Er deutete auf ihren Teller. „Schließlich bist du schon fast fertig mit dem Essen.“
Sie lächelte und überlegte kurz, warum er wohl das Thema wechseln wollte. Vielleicht wäre es doch noch besser, ein wenig mehr über seine Geschichte zu reden. Aber dafür würden sie noch genügend Zeit haben, entschied sie schließlich.
„Es geht um meinen Bruder.“
Er schluckte. „Um Michael? Aber er ist doch...“ Er sprach nicht weiter, dafür führte sie seinen Satz fort.
„Ja er ist tot. Vor sechs Monaten hatte er diesen mysteriösen Unfall. Die Polizei weiß bis heute noch nicht, ob es nur ein Unfall war, oder ob jemand anders ihn von der Straße gedrängt hat. Aber da er die Küste runter gestürzt ist, konnte man nicht mehr viele Spuren feststellen, so zerstört, wie der Wagen war.“ Ihre Traurigkeit kam zurück, er konnte sie wieder hinter ihren Augen wahrnehmen.
„Das war in irgendwo vor L.A., nicht wahr?“ fragte er behutsam.
Sie nickte. „Ja, auf der Küstenstraße. Aber das ist, wie gesagt schon ein halbes Jahr her. Nur -“, sie griff in ihre Handtasche, „vor ein paar Tagen kam dieser Brief an. Mit zwei Fotos, auf denen zwei Männer abgebildet sind, wie sie sich gerade die Hand geben, einem Schlüssel zu einem Schließfach einer Bank in Los Angeles und einem Zettel, wo nur drei Wörter draufstehen: Von einem Freund Michaels. Nicht gerade viel.“
Hardy besah sich die Sachen. „Hast du eine Ahnung, von wem das sein könnte?“
„Nein, überhaupt keine. Aber ich kann mir vorstellen, dass ich diesen Freund kennenlernen werde.“
„Das heißt also, dass du dem hier nachgehen willst.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
„Ja, auf jeden Fall. Du weißt, dass die Polizei den Unfall zu den Akten gelegt hat. Aber dass da etwas nicht mit rechten Dingen zu gegangen ist, das war eigentlich offensichtlich.“
„Und du hoffst, durch diese Sachen hier herauszufinden, was dahintersteckt.“
Sie nickte.
„Und warum bin ich der einzige, der dir helfen kann?“
„Weil du mit Michael aufgewachsen bist und ihn bestimmt besser gekannt hast als irgendjemand anders. Und vor allem vertraue ich dir.“
Hardy runzelte die Stirn. „Warum willst du herausfinden, was vielleicht, wohlgemerkt vielleicht, wirklich mit Michael geschehen ist?“
Sie schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß es nicht. Es ist mir schon klar, dass er nicht wieder lebendig wird. Aber ich würde schon gerne die Wahrheit kennen. Und nun habe ich wenigstens die Chance, etwas zu unternehmen.“
„Was ist, wenn der Freund gar kein Freund ist und was ist, wenn es wirklich kein normaler Unfall gewesen ist?“
„Du meinst, dass es gefährlich werden könnte?“
Er nickte. „Das ist hier kein Film.“
„Das weiß ich.“ winkte sie ärgerlich ab. „Aber was ist denn schon dabei? Ich, oder wir, fahren nach L.A., öffnen das Schließfach, versuchen vielleicht noch herauszufinden, wer die beiden Männer hier auf dem Photo sind und dann können wir weitersehen.“ Sie machte eine Pause. „Was ist? Hilfst du mir?“
Er grinste. „Glaubst du denn, ich lasse dich da alleine runter fahren?“ Doch dann wurde er wieder ernst. „Nein, mich interessiert auch, was mit Michael passiert ist. Außerdem wollte ich schon immer mal Detektiv spielen.“
Sie lächelte. „Fein! Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich damit gerechnet.“
Er schnaubte. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass du mich fast zu gut kennst.“
„Ist das schlimm?“ fragte sie halb ernst, halb lächelnd.
„Nein. Schlimm ist es nicht.“ Er schüttelte den Kopf. Schlimm war das wirklich nicht. Es ist schön, wenn es jemanden gibt, der einen ganz gut kennt. Und dem man vertrauen konnte. Sarah war auf jeden Fall jemand, der er vertrauen würde. Zum einen, weil sie sich wirklich schon ewig kannten und sie wie Bruder und Schwester waren. Zum anderen aber auch, weil sie als Mensch einfach vertrauenswürdig war. Er wusste nicht, wann sie jemals mit ihm über andere gesprochen hat, über die Probleme anderer. Also über etwas, das anderen wichtig ist und bei dem es klar ist, dass sie es nicht wollten, dass man darüber spricht. Er hatte es bei ihr noch nie erlebt. Und von daher war er sich sicher, dass sie auch über ihn nicht reden würde. Das war gut zu wissen.
„Weißt du“, unterbrach sie seine Gedanken, „ich will schon herausfinden, was da wirklich passiert ist. Aber auf der anderen Seite wirbelt das alles wieder viel auf. Ich hoffe, dass dies kein Scherz ist.“ Sie sah ihn ernst an.
„Meinst du, es könnte einer sein?“
„Nein, eigentlich nicht. Aber es sind schon sechs Monate her, verstehst du? Warum kommt der Umschlag erst jetzt?“
„Keine Ahnung.“ Er runzelte die Stirn. „Was denkst du?“
„Ich weiß es nicht. Ich hoffe, wir werden es herausfinden.“
„Bestimmt.“
Sarah heftete traurig ihren Blick auf den Tisch. Erinnerungen kamen in ihr hoch. Von vergangen Zeiten. Kindheitserinnerungen, Jugenderinnerungen. Tage zusammen mit Michael, Wochen, Monate, Jahre. Er war mehr als ihr Bruder gewesen, er war ihr Freund gewesen. Er war immer da gewesen, wenn sie ihn brauchte, hatte immer Zeit gehabt. Selbst wenn er wegen einer Story irgendwo unterwegs war, hatten sie miteinander telefoniert. Ihre Eltern waren schon sehr lange tot. Auf sich allein gestellt, hatte Michael die Laufbahn eines Journalisten gewählt. Und er wurde ein sehr guter. Er hatte sehr früh ausgezeichnete Storys. Eine glänzende Karriere hatte vor ihm gelegen.
Sarah hatte anfangs als Krankenschwester gearbeitet. Doch dies hatte sie nicht lange ausgeübt. Auch sie war schließlich Journalistin geworden.
„Weißt du, wenn ich nicht schon Journalistin wäre, würde ich diesen Beruf jetzt einschlagen.“
„Du meinst, wegen Michael?“
Sie nickte. „Ja, wegen ihm. Ich mein, ich bin zwar nicht wegen ihm Journalistin geworden, das war schon mein eigener Entschluss. Aber jetzt würde ich es nur wegen ihm machen. Ich weiß nicht. Einfach, um irgendwie seine Begeisterung weiterleben zu lassen. Verstehst du, was ich meine?“
„Ja, ich denke schon.“
„Er war ein guter Journalist. Ein sehr guter.“
„Das wirst du jetzt dafür.“ erwiderte er sanft.
Sie lächelte müde. „Vielleicht. Ein paar gute Storys hatte ich auch schon. Aber das ist nicht mehr so wichtig.“
„Was heißt das?“
„Ich bin mittlerweile aus Fleisch und Blut Journalistin. Das muss ich schon zugeben. Aber Gott ist wichtiger. Das meinte ich damit.“
Hardy nickte. „Es ist beruhigend, dass Gott alles in seiner Hand hat, nicht?“
„Ja.“ Sie stockte. „Auch wenn es mir manchmal schwer fällt, ihn zu verstehen.“
Er senkte den Kopf. „Das ist wohl wahr. Manchmal glaube ich sogar, dass er überhaupt nicht zu verstehen ist.“
Sie verstummten. Vielmehr gab es nicht mehr zu sagen. Beide dachten über ihre Vergangenheit nach. Sie war bei beiden voll von Enttäuschungen, Leid und Unverständnis. Voll von Situationen, die über jede Grenze gingen, jedes Verstehen überstiegen, jede Reserven nutzlos machten. Voll von Tagen, über die nur ein „Ich kann nicht mehr“ gestanden hatte.
Schließlich hob Sarah den Kopf. „Komm, wir wollten doch unser Wiedersehen feiern.“ Sie hob ihr Glas hoch. „Auf die nächsten drei Wochen!“
„Auf die nächsten drei Wochen!“ wiederholte er. Doch ihre Stimmen klangen nicht gerade sehr feierlich. Das wussten beide. Aber sie wussten auch, dass sie voreinander nicht zu spielen brauchten. Dafür kannten sie sich zu lange. Sie mussten keine Stimmung vortäuschen. Es war okay, so wie es war.
„Lass uns langsam mal losfahren.“ Hardy sah auf die Uhr. „Wir müssen noch ein paar Stunden fahren, ehe wir in Vancouver sind.“
„Ja, ich weiß.“ Sie trank aus. Hardy winkte dem Kellner und ein paar Minuten später standen sie draußen.
„Das Essen war übrigens gut gewesen.“
Hardy lachte. „Was meinst du, was ich die ganzen Jahre hier gemacht habe? Etwa jeden Tag gekocht?“
Sie stimmte in sein Lachen mit ein. „Dann hättest du es wenigstens gelernt.“
„Oh-ho! So ist das nun auch nicht. Falls du mich in Seattle mal besuchen kommst, werde ich was ganz besonderes für dich kochen. Doch, etwas habe ich schon gelernt in der ganzen Zeit.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich kriege das immer noch nicht hin. Zumindest nichts Kompliziertes.“
„Nein, kompliziertes kriege ich auch nicht hin. Aber mit ‘nem vernünftigen Kochbuch geht fast alles. Zum Schluss habe ich sogar ein wenig selber herum probiert.“
„Nicht schlecht. Aber wie ich sehe, hat sich bezüglich deines Wagens nichts geändert.“
„Nee, da wird sich auch so schnell nichts ändern.“ Er klopfte auf die Motorhaube. Liebevoll betrachte er seinen weißen Chevy. Vereinzelt waren
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Stefan Geschwie
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2013
ISBN: 978-3-7309-4726-5
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