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Prolog

Es kam schleichend, wie der Nebel in der Nacht. Niemand hatte es kommen sehen, niemand hatte es gerochen oder gehört. Während so manch einer in seinem Bett lag und sich in tiefen Träumen labte, so saß jemand anders mit wachen Augen am Tisch, über unbezahlte Rechnungen oder einen Brief gebeugt. Es war gleich, was sie taten, was sie dachten und was sie fühlten. Es war gleich, wer sie alle waren.

Die Krankheit, das Gift der fortgeschrittenen Welt, schlich sich unsichtbar, beinahe wie ein Geist, in ihre Häuser, schob sich unter ihre Türen hindurch und befiel ihre ahnungslosen Körper mit seinem tödlichen Gift.

Sein Pieper wollte schon gar nicht mehr aufhören zu piepen und vibrierte an seinem Hosenbund wie von der Tarantel gestochen. Dabei war das vollkommen unnötig. Die ersten vier Wellen von Infizierten waren bereits über das Krankenhaus zusammengebrochen und jede Chirurgen, Assistenzärzte und Krankenpfleger war im Einsatz, um den unzähligen Patienten helfen zu können.

Doch man konnte ihnen nicht helfen. Sie wussten einfach nicht wie.

Das kollektive Stöhnen und Wehklagen der leidenden Menschen wuchs zu einer Wolke zusammen, die dicht über ihren Köpfen hinweg zog und sie auf jeden Schritt begleitete.

Die Notaufnahme war hoffnungslos überfüllt, ebenso wie die Operationssäle und Krankenzimmer – sie waren einfach voll. Doch es kamen immer mehr. Im Akkord brachten die Krankenwagen neue Menschen, denen sich die Hautlappen vom Körper pellten und deren Muskeln unkontrolliert zuckten. Über das Blut, das aus Nasenlöchern und Augenhöhlen tropfte, wollte er gar nicht erst nachdenken.

Sie hatten fünf Operationssäle und in jedem wurde gerade einer der Patienten aufgeschnitten. Doch wonach sollten sie suchen? Löcher in der Nasenschleimhaut, Gehirntumore oder eine neuartige Autoimmunkrankheit? Sie waren alle mit ihrem Latein am Ende. Jeder von ihnen.

Er warf einen Blick auf seinen Pieper. Der nächste Schub mit vollgeladenen Krankenwagen traf gerade ein und es wurden alle Hände gebraucht.

„Doktor Ashton, übernehmen Sie“, rief er und ließ von der wimmernden Frau ab, deren Glieder gerade am Krankenbett festgebunden wurden, damit sie sich nicht selbst verletzten konnte.

Der junge Assistenzarzt nickte und wies eine Krankenpflegerin an, ihm eine Spritze mit Beruhigungsmittel zu reichen. Die Frau musste aufhören um sich zu schlagen – auch wenn sie wirklich nichts dafür konnte, niemand konnte das.

Er löste sich aus der Traube, die sich um die Patientin gebildet hatte und eilte mit vier weiteren Ärzten, sowie fünf Assistenzärzten zum Eingang der Notaufnahme.

„Wir sind bald vollkommen überfüllt“, klagte Doktor Marino. „Unsere Ressourcen sind bald aufgebraucht und niemand wird uns helfen können – im ganzen Bundesstaat sind ähnliche Umstände.“ Sie rückte ihre blaue Kleidung zurecht.

Gemeinsam kamen sie vor dem Eingang zum Stehen und warteten, bis die ersten drei Krankenwagen einfuhren. Sofort hechteten die Rettungssanitäter heraus und stießen die Wagentüren auf.

Eine Trage mit einem kleinen Mädchen wurde aus dem ersten Wagen geschoben und er nahm sich ihr an.

„Sie ist stabil. Ähnliche Symptome wie bei den vorherigen Patienten: Muskelspastiken, Blut aus Augenhöhlen und Nasenlöchern, sowie das lösen der Hautschichten.“

Er nahm die Trage an und gemeinsam mit zwei Assistenzärzten schob er das Mädchen in die Klinik. „Hallo, meine Kleine. Ich bin Doktor Henebery. Ich passe auf dich auf, ja?“

Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an und nickte, bevor ihre schmächtigen Arme auf ihrer Brust zuckten und sich gegen einen der Assistenzärzte schlugen. Ihr Gesicht war voll mit trockenem und frischem Blut und feucht von den Tränen, die ihr zwischenzeitlich über das Rot rannen.

Sie schoben das Mädchen neben ein Bett in der Notaufnahme und hoben sie mit vereinten Kräften von der Trage. Sofort begannen sie zu sedieren und ihre abpellende Haut zu untersuchen. Einige Stellen färbten sich schon Schwarz, bevor sie sich vom Fleisch lösten. Bloß eine Berührung mit der Fingerspitze und das verwesende Fleisch kam zum Vorschein.

In seinem Kopf summte es. So etwas war ihm am heutigen Tag noch nicht unter die Augen gekommen. Er versuchte keine Miene zu verziehen, während er ihre Hände und Beine an dem Krankenbett fest band. Ihr Körper war so schon geschunden genug, sie durfte sich nicht noch selbst verletzten.

Sie gab ein leises Wimmern von sich, als der Assistenzarzt eine Spritze zog.

„Keine Sorge, meine Kleine, Doktor Collins will nur, dass sich deine Muskeln entspannen, damit sie aufhören zu zucken, ja?“ Er strich ihr über den Kopf, bevor er sich eine der Krankenpfleger zuwandte. „Wo sind ihre Eltern?“

„Sie waren in Krankenwagen fünf und sieben“, antwortete dieser. „Die gleichen Symptome.“

„Gut, setzten Sie ihre Eltern in Kenntnis, dass ihre Tochter hier ist“, wies er den Pfleger an, der sofort verschwand.

„Doktor!“, rief einer der Assistenzärzte.

Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. Ihr gesamter Körper zuckte wie wild und sie warf sich in ihrem Bett hin und her. Ihre Augen verdrehten sich und die Zunge viel ihr aus dem weit aufgerissenen Mund. Ein epileptischer Anfall?

„Sofort sedieren!“

Gemeinsam versuchten sie das Mädchen ruhig zu halten, damit der Assistenzarzt dem Mädchen erneut ein Beruhigungsmittel spritzen konnte.

Mit Faszination beobachtete er, wie der Körper sich zunächst gegen das Mittel sträubte und sich aufbäumte, sowie nur noch das Weiß der Augen zu sehen war. Bis es wirkte und das Mädchen wie bei ihrer Einlieferung zuckte. Ihr Blick wirkte benebelt, fast fiebrig und ging zur Decke.

„Ich möchte dass Sie Gewebeproben nach unten schicken“, wies er den Assistenzarzt an. „Schnell. So langsam müssen wir herausfinden, womit wir es hier zu tun haben.“ Letzteres sagte er viel eher zu sich selbst, als zu dem jungen Mann vor sich, dem man den Stress deutlich ansah.

Er warf noch einen Blick auf das Mädchen, bevor er den jungen Ärzten die Verantwortung übergab und bei seinen vorherigen Patienten vorbei sah.

Einen jungen Asiaten hatten sie am frühen Morgen eingeliefert. Er war in der Straßenbahn zusammengebrochen und hatte wild gezuckt. Erst als sie ihn eingeliefert und man ihm das Hemd ausgezogen hatte, hatte man die absterbenden Nervenzellen und sich lösende Haut gesehen. Mittlerweile war er tot. Sein Herz hatte rebelliert, bis es urplötzlich aufgehört hatte zu schlagen – von einer Sekunde auf die andere. Sie hatten alles versucht und doch war nichts daran zu rütteln gewesen, der junge Student war tot.

Seither war er noch mehr darum bemüht gewesen, seinen Patienten zu helfen und dem Mysterium der Krankheit auf den Grund zu gehen.

Er blieb vor dem Krankenbett eines gut beleibten Herren stehen, dessen Augen immer wieder abdrifteten und dessen Mund auf und wieder zu klappte.

„Wie geht es ihm?“, fragte er eine ältere Ärztin.

Diese strich sich den blonden Pony auf Seite und musterte einen Zettel auf ihrem Klemmbrett. „Er ist stabil, fürs erste. Die Muskelspastiken haben nachgelassen und sich nun auf die Augen und Kiefer beschränkt. Doch mehr können wir ihm nicht geben, um seinen Herzschlag nicht zu gefährden.“

Er nickte. Sie standen seit Stunden vor einem Rätsel, was sich einfach nicht lösen lassen wollte.

„Hat Doktor Stewens bereits etwas herausgefunden?“ Sie hatten den jungen Chirurgen, der über ein Eidetisches Gedächtnis verfügte, mit der Aufgabe beauftragt, sich mit Ärzten aus anderen Bundesstaaten und anderen Ländern in Verbindung zu setzten, um eine Diagnose stellen zu können.

„Mir ist nichts bekannt“, erwiderte die Ärztin.

Neben ihnen begann der EKG wie wild zu Piepen und eine Frau mittleren Alters begann sich im Bett hin und her zu werfen.

„Der Puls steigt!“, rief ein Assistenzarzt. „Sofort sedieren.“

„Das geht nicht, sie hat schon viel zu viel intus“, erwiderte eine junge Ärztin.

„Wir müssen sofort –“, rief ein anderer Arzt, doch dann wurde aus dem wilden Puls ein Nichts, das von dem konstanten Laut des EKG untermalt wurde.

„Nein! Nein! Nein!“, hörte er sich selbst brüllen. Er stieß den Assistenzarzt auf Seite – zugegeben, etwas zu hart – und begann mit einer Herz-Lungen-Massage. „Nein, verdammte Scheiße! Nein!“

„Doktor Henebery, treten Sie auf Seite. Ich fange mit hundert an.“ Die ältere Ärztin hielt den Defibrillator in der Hand.

Die Widerbelebungsmaßnahmen dauerten ganze zwanzig Minuten. Immer wieder versuchten sie die Frau zurück ins Leben zu holen. Die Haut klebte an den von der Elektrizität zirpenden Geräten und die Zuckungen ihrer Muskeln ließen langsam nach.

Ihre Brust färbte sich durch die Massagen blau und grün und aus Wut ließ er seine Faust auf ihren Solarplexus fallen.

„Doktor Henebery“, rief jemand hinter ihm.

Was?“, stieß er viel zu laut hervor und wandte sich um. Hinter ihm stand eine Krankenpflegerin, die bei seinem Ausbruch zusammen zuckte.

„Chefarzt Monroe wies man an, diesen Herrn zu Ihnen zu bringen“, sie deutete auf einen Mann in einem schneidigen Anzug, der wenige Meter von ihnen entfernt stand und mit müdem Blick das Treiben begutachtete.

„Todeszeitpunkt, elf Uhr siebenunddreißig morgens“, murmelte der Assistenzarzt, den er vor wenigen Minuten auf Seite geschubst hatte. Kurz genehmigten sie sich einen bekümmerten Gesichtsausdruck, bevor die Umgebung sie wieder erfasst hatte. Der Leichnam wurde weg geschoben, um Platz für neue Patienten zu machen. Sie arbeiteten wie an einem Fließband. Ein Patient, er starb, ein neuer Patient.

„Spreche ich mit Doktor Henebery?“, fragte der Anzugträger und rückte dabei seine rote Krawatte zurecht.

Er nickte. Eigentlich hatte er für solch eine Unterhaltung keine Zeit. In der Notaufnahme wurde jede helfende Hand dringend gebraucht. „Ja, was kann ich für Sie tun?“

Der Mann setzte an, doch wurde jäh unterbrochen: „Und bitte beeilen Sie sich, wie sie sehen, habe ich zu tun.“

„Mein Name ist Jackson Noto und ich komme von NATRON, um Ihnen dieses Formular geben zu können.“

Er reichte ihm ein Blatt Papier, auf dem in einem kurzen Text zusammengefasst wurde, wie die weltweiten Umstände bezüglich eines kollektiven Krankheitsausbruchs waren. In Uganda, Spanien, Dänemark, Ägypten, Südafrika, Frankreich, Indien, Südkorea, Deutschland, Brasilien, Kanada, China, Chile, Österreich, England, USA – ja, im Grunde auf der gesamten Welt – war diese seltsame und unbekannte Krankheit ausgebrochen. Allein in Europa waren bereits mehrere Millionen Menschen dahin gerafft.

„NATRON?“, fragte er skeptisch. Auch von dieser Organisation hatte er nie etwas gehört oder gelesen und dabei wagte er von sich zu behaupten, vieles über Politik und der heutigen Gesellschaft zu wissen, als leidenschaftlicher Zeitungleser.

Mister Noto reichte ihm eine Visitenkarte und als er die schwarzen Buchstaben las, musste er schlucken.

 

 

NATRON

Nachepidemische Allianz Tätigkeitsbereich Rehabilitation Organischer Neuinfizierter

 

„Wie wollen Sie die Infizierten rehabilitieren, wenn wir nicht einmal die Symptome lindern können oder sie gar am Sterben hindern können?“, fragte er, nachdem er seine Sprache wiedergefunden hatte.

Notos Mundwinkel hoben sich. „Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Ihre Aufgabe wird darin bestehen, dass sie nun jegliche Patienten für NATRON frei geben, damit wir sie behandeln können, wie es sämtliche Länder für angebracht halten.“

„Was?“, rief eine der Assistenzätzte. „Was wollen Sie von uns?“

Mister Noto hielt eine Marke in die Luft und rief: „Hiermit werden die Patienten des sogenannten Virus Vèv13, die Sie seit über acht Stunden betreuen, vom Staat Washington und der Europäischen und Afrikanischen Union, sowie Asien-Ozeanien, beschlagnahmt und der Organisation NATRON zur Verfügung gestellt. Ich bitte Sie, sich nun von den Patienten zu entfernen, damit meine Leute sich ihrer Annehmen können!“

„Das ist ein Witz!“, hörte er Doktor Marino fluchen. „Das soll doch ein verdammter Witz sein!“

Die Ärzte und Pfleger tauschten irritierte und verwunderte Blicke, bevor die Türen zu allen Seiten aufgestoßen wurden und Menschen in weißer Schutzkleidung die Notaufnahme stürmten. Auf ihren Rücken waren in dicken, schwarzen Lettern die Abkürzung der Organisation gedruckt, die nun das Krankenhaus zu besetzten schien.

„Das können Sie nicht machen!“, rief eine Pflegerin, als man sie von einem betagteren Herrn weg zerrte, um diesen von den Geräten abzuschließen. „Er muss unter Beobachtung stehen!“

Die Ärzte begannen um ihre Patienten zu kämpfen, schubsten die fremden Menschen auf Seite und versuchten die zuckenden Leiber wieder an den Geräten anzuschließen. Ein Gewirr aus Stimmen bildete sich, die aus Panik und Wut bestanden. Patienten begannen zu kreischen oder sich mehr und mehr zu wehren.

Bis Mister Noto etwas aus seinem Hosenbund zog und es in die Luft hielt.

Ein Knall. Ein lauter, ohrenbetäubender Knall und Putz rieselte von der Decke auf den Boden.

Er hatte doch tatsächlich mit der Pistole in die Decke geschossen.

„NATRON übernimmt offiziell die Patienten dieses Krankenhauses, wer etwas dagegen hat, soll sich bitte an den Präsidenten wenden, der dieses Formular“, er hielt den Zettel, den er vorher Henebery gegeben hatte, in die Höhe, „höchst persönlich unterzeichnet hat. Ebenso wie weitere Abgeordnete von der ganzen Welt. Also wenn sie sich bitte beruhigen würden und meine Leute ihre Arbeit machen lassen würden! Danke!“

Vollkommen geschockt und schon fast den Tränen nahe, konnten sie nur zusehen, wie Patient für Patient durch den eigentlichen Eingang hinaus geschoben wurde. Wenige riefen noch nach ihren bekannten Ärzten oder Familienangehören, doch die meisten ließen es einfach mit sich geschehen.

Erst als auch der letzte hinaus gebracht wurde, kam Noto wieder auf ihn zu. Die Hände in den Hosentaschen und mit geistlosem Ausdruck, blieb er vor dem Internisten stehen. „Wir sind dann fürs erste fertig. Sollten Sie noch weitere Patienten mit Vèv13 aufnehmen, kontaktieren Sie mich bitte. Meine Visitenkarte haben Sie ja noch.“

Am liebsten hätte er diesem Mann die Visitenkarte in die Fresse gestopft, damit er daran ersticken konnte. Doch er zügelte sich und gab bloß ein nicken von sich. Nervös tippte er mit den Fingerspitzen an seinem Hosenbein, wie schon seit fast dreißig Minuten.

Gerade wandte sich Noto zum Gehen um, als er stutzte. „Nun, ich sag es ja nur ungern, Doktor Henebery, aber ich glaube, Sie sollten mich begleiten.“

Irritiert blickte er den Mann an. Wie meinte er das? Er sah auf seine Hände hinunter, die leicht zuckenden Finger und die angespannten Muskeln. Etwas tropfte auf seine Handballen. Es war rot.

Tropfte da etwa etwas von der Decke?

Er sah nach oben. Nein, von der Decke tropfte nichts.

Eine Flamme aus Angst brannte in ihm auf und leckte über die Innenseite seines Leibes. Mit zitternden Händen fasste er sich an die Oberlippe. An die feuchte und klebrige Oberlippe. Er blutete aus der Nase.

Verdammt noch mal, wie hatte er das nicht bemerken können?

„Was zum –?“, setzte er an. Doch sofort wurde er von zwei Männern in der weißen Schutzkleidung gepackt. Er sträubte sich. Er wollte nicht mit diesen Menschen, diesen Menschen von NATRON, mitgehen.

Sie schoben in an seinen Arbeitskollegen vorbei, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Durch die Notaufnahme und schließlich hinaus auf die Einfahrt. Wo er eine gesunde Anzahl an Krankenwagen erwartete hatte, waren gelbe Kleintransporter, mit dem Kürzel der Organisation in den gleichen schwarzen Lettern wie auf den Schutzanzügen.

„Bringt ihn zu den anderen!“, rief eine Frau in Militäruniform, die an einem der Wagen lehnte und an einer Zigarette zog.

Man schob ihn an einigen der gelben Wagen vorbei, bis sie vor einem stehen blieben, der genauso aussah, wie alle anderen um ihn herum. Die Tür wurde aufgestoßen und ihn stieß man hinein. Er geriet ins Straucheln.

Sie schlossen die Tür hinter ihn und es dauerte einige Sekunden, bis sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten.

Auf zwei Sitzbänken saßen mehrere Menschen in Arztkitteln und teilweise voll mit Blut. Die zwei zu seiner Linken waren klein und schmächtig. Der erste war Asiate, hatte schütteres Haar und Hasenzähne, während der andere vermutlich aus Südamerika stammte und wie eine Ratte in der Falle aussah.

Rechts von ihm waren eine Frau mit rundem Bauch und einer schiefen Hornbrille, sowie ein dicker Mann mit vereinzelten Barthaaren auf dem Kinn. Hinter ihm versteckte sich eine schlaksige Frau mit aschblondem Haar und langen Beinen.

„Guckt mal einer an, noch einer, den sie beim Einsammeln erwischt haben“, lachte der Dicke.

„Armer Hund“, murmelte der Südamerikaner.

„Was?“, setzte er an. „Was soll das?“

„Willkommen bei NATRON“, lächelte die schwangere Frau. „Willkommen in unserem Albtraum.“

Erstes Kapitel

 

Es war der Orange Luftballon, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Zwischen den maroden Hauswänden, an denen der Schmutz klebte wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle, wirkte er deplatziert grell. Eine Brise wirbelte ihn durch die Luft, ließ ihn in die Höhe steigen und das schwarze Dach eines Hochhauses streifen, bevor er sich ihrem Blickfeld entzog.

Canan lief die Straße ein Stück herunter, um noch einmal einen Blick auf die knallige Erinnerung ihrer Kindheit zu erhaschen, doch sie war zu langsam. Der Ballon war bereits verschwunden – weiß Gott wohin der Wind ihn getragen hatte.

Bloß mit Mühe und strikte Selbstkontrolle konnte sie sich von dem Anblick des ausgestorbenen Himmels losreißen und ihren Weg weiter fortsetzten. Kies knackte unter ihrer Schuhsohle und der Wind raschelte in ihren braunen Haaren. Ansonsten herrschte Stille.

Canan festigte den Griff um den Riemen ihrer Tasche und spitzte ihre Ohren. Stille war nie gut. Denn die vermeintliche Sicherheit lässt einen nach und nach unaufmerksam werden und das durfte nicht passieren. Nichts desto weniger durfte sie nur so wenige Geräusche wie möglich verursachen, sie musste unsichtbar sein.

Von weitem konnte sie ein Auto hören, wie es über den zertrümmerten Highway kroch und die Reifen auf Wiederstände wie Knochen, aufgeschobene Erdplatten und Trümmerteile anderer Autos stießen. Das Geräusch wurde von den Wänden hin und her geworfen, sodass Canan nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob sie die Richtung richtig eingeschätzt hatte. Dennoch und vielleicht auch genau deswegen, machte sie einen Satz auf Seite und drängte sich in den Schatten einer bröckelnden Hauswand. Ihr Körper war ein einziger angespannter Muskel, der bei jeder Berührung zu explodieren gedachte.

Während ihre Hand nach dem Innenleben ihrer Tasche tastete, hörte sie das, worauf sie gewartet hatte: das näherkommende Auto. Aus ihrer Tasche zog sie die kleine Maschinenpistole hervor, sie die erst vor wenigen Tagen einem Kasap aus dem Holster gestohlen hatte. Dass er sie nicht brauchte war nicht anzuzweifeln, war sein Körper doch zwischen zwei Autos eingequetscht gewesen und ein Rinnsal von seinem Blut ergoss sich über die Motorhaube des schwarzen Toyotas.

Canan zog den Riegel zurück und entsicherte ihre Waffe. Ihre Finger stoben sich über den Abzug. Es benötigte nur einer kleinen Bewegung und sie würde dem potenziellen Feind das Gehirn aus seiner Schädeldecke schießen, das die triste Landschaft an Farbe gewann.

Doch gegen ihre Erwartungen fuhr das Auto an ihr vorbei, ohne auch nur die Geschwindigkeit zu verlangsamen. Sie konnte die zwei Männer sehen, die darin saßen und sich aufgeregt unterhielten – ja, möglicherweise gar stritten? – und sie somit gar nicht registriert hatten.

Canan atmete auf, als das Auto hinter der nächsten Abbiegung verschwunden war und das Geräusch des Motors abebbte. Für gewöhnlich kam sie nicht so einfach davon, wenn sie sich in deren Gebiet aufhielt.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch das hinderte sie nicht daran, ihre MP wegzustecken und weiter zu gehen. Im Schatten der Gebäude schlich sie sich die Straße entlang. Ihr Blick tastete ihre Umgebung ab, bevor sie die Straßenseite wechselte und durch das Loch kletterte, das einst mal ein Fenster gewesen sein musste.

Sie duckte sich unter dem Fenster und wartete einen Moment, ob Geräusche einen Verfolger vermuten lassen könnten. Doch abermals herrschte Stille. Canan schluckte und ging durch den Raum, auf dessen Boden Zeitungen und ein versiffter Teppich ausgebreitet waren. Die Tür hatte irgendjemand aus der Angel gehoben und mitten in den Flur geworfen. Canan schritt darüber hinweg, folgte dem langen und schmalen Flur, bevor sie in den nächsten Raum rechts abbog und durch dessen Fenster hindurch kletterte.

Sie fand sich in einer engen Gasse wieder, die jegliches Licht verschluckte. Die Luft war modrig und klebte an ihrer Haut wie ein dünner Schweißfilm. Abermals wartete sie einen kurzen Moment und suchte nach irgendwelchen Geräuschen, bevor sie sich durch die Enge quetschte und an einer breiten Straße auskam.

Von weitem hörte sie die Stimmen mehrerer Menschen, Frauen und Männer, wie sie sich in einer Sprache unterhielten, die Canan nicht verstand. Kasap.

Sich in ihrem Gebiet aufzuhalten grenzte ohnehin schon an Wahnsinn, doch nicht sofort die Beine in die Hand zu nehmen, sobald man auch nur einen von ihnen in seiner Nähe erahnen konnte, war als Selbstmord abzuschreiben.

Canan presste ihren Körper gegen die Hauswand und warf einen schnellen Blick um die Ecke. Die Straße selbst war leer. Doch sie wusste, dass nach etwa hundert Metern ein alter Basketballplatz kommen würde, auf dem sie sich immer wieder trafen, um ihre Kräfte zu messen, Dampf abzulassen oder einfach nur um sich selbstgebrauten Alkohol zu genehmigen.

Sie bückte sich und hob einen kleinen Steinbrocken auf. Langsam wog sie ihn in der Hand und warf erneut einen Blick um die Ecke. Sie musste den Basketballplatz passieren, um an ihr Ziel zu gelangen, doch mit den Kasap Vorort, würde sie das nicht überleben. Sie holte aus und warf den Brocken auf die andere Straßenseite, gegen eine alte Straßenlaterne. Der Brocken prallte ab, krachte gegen die Hauswand und rollte unter einen mitgenommenen Kleintransporter ohne Türen und mit dicken Beulen auf der Motorhaube.

Canan duckte sich in den Schatten der Gasse zurück und schlich zum anderen Ende. Sie konnte hören, wie die Stimmen der Kasap stockten und wie sie auf den Transporter zugingen. Auf ihrer eigenen Sprache riefen sie sich etwas zu. Befehle, so wie Canan vermutete. Doch auf die Worte der Männer konnte sie sich nicht konzentrieren, dafür mangelte es ihr an Zeit.

Dreißig Sekunden, mehr würde der Brocken ihr nicht beschafft haben. Doch das war genug.

Sie huschte auf der anderen Seite aus der Gasse heraus und eilte an der Hinterseite des Basketballplatzes vorbei. Ihre Schuhe machten dumpfe Geräusche und sie konnte nur hoffen, dass es niemand hörte. Nachdem sie das nächste Gebäude erreicht hatte, kletterte sie durch ein Loch in einer Holztür und verharrte in einer dunklen Ecke.

Wieder lauschte sie. Die Stimmen der Kasap klangen verärgert und kamen beständig näher. Sie mussten festgestellt haben, dass sie auf einen der ältesten Tricks hinein gefallen waren und würden sich nun wieder ihrem Spiel widmen.

Canan atmete durch und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, um sich zu sammeln. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Um sie herum war es dunkel. Nur das Loch in der Tür warf einen schmalen Lichtstrahl in den Flur, sodass sie ihre Umgebung erahnen konnte.

Mit der Hand an der von Staub bedeckten Wand, ging sie langsam voran. Sie zählte die Türen, an denen sie vorbei kam. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Die fünfte öffnete sie und schob sich durch einen kleinen Spalt, um sie gleich wieder leise hinter sich zu schließen.

Sie befand sich in einem kleinen Raum, mit nackten Wänden und Drähten, die wie Stacheln aus den Wänden ragten. Auf dem Boden war ein alter Perserteppich. Die Farben waren ausgeblichen und die Fasern platt getreten und verdreckt. Canan schob den schweren Teppich auf Seite, sodass eine Holztür frei wurde. An einem Griff aus Messing zog sie die Tür auf – bloß einen Spalt, sodass sie hindurch flutschen konnte.

Nachdem sie sich auf den Bauch gelegt und durch den Spalt gequetscht hatte, befand sie sich in einem Gang aus einer hohen Decke und feuchten Wänden. Mit der einen Hand hielt sie sich an der metallenen Leiter fest, mit der anderen versuchte sie die Holztür so leise wie möglich zu schließen. Ob die Kasap tatsächlich von diesem Tunnel wussten, war ihr nicht bekannt, doch bislang hatte sie noch nie auch nur einen dieser Brut hier angetroffen und solang fühlte sie sich sicher. Es mochte leichtsinnig sein, aber diesen Luxus gönnte sie sich für die wenigen Minuten.

Canan kletterte die Leiter herunter und landete in einer Pfütze aus verdrecktem Wasser und Tierexkrementen. Augenblicklich wandte sie sich um und rannte den Tunnel entlang. Sie konnte nichts sehen, doch den Weg kannte sie in- und auswendig, sodass sie schon lange kein Licht mehr benötigte. Sie zählte die flackernden Notausgansschilder, die bloß einen Bruchteil der Decke erhellten.

Fünfundsechzig. Hier blieb sie stehen und tastete die Wand nach der Metallleiter ab. Den Dreck wischte sie sich an ihrem Shirt ab, bevor sie die Leiter empor kletterte. Dieses Mal war es eine Tür aus Eisen, die sich nur beschwerlich öffnen ließ. Zunächst öffnete Canan sie nur einen minimalen Spalt, um hören zu können, ob sich jemand an ihrem Zielort befand.

Sie wartete eine ganze Minute, bis sie sich sicher sein konnte, dass sie allein war. Ohne einen Mucks öffnete sie die Tür etwas mehr, sodass sie in den Raum klettern konnte. Es war dunkel und roch nach Zigarettenqualm. Nachdem Canan die Tür geschlossen hatte, hockte sie auf allen vieren und wartete einen Augenblick, bis sie sich auf die Wand zu ihrer rechten bewegte. Ein Loch war in der Wand eingelassen und gerade einmal so groß genug, dass sie mit ihrer schmalen Statur hindurch passen konnte. Sie befand sich in einem Hohlraum zwischen den Wänden. Sie hatte gerade einmal genug Platz, um sich aufzurichten und seitwärts zu gehen. Aus ihrer Tasche zog sie eine kleine Taschenlampe, die sie anknipste. Der sanfte Lichtstrahl erhellte den Hohlraum ausreichend, damit sich Canan zurecht finden und nirgendwo gegen laufen konnte.

Aus der Ferne konnte sie zwei Männerstimmen hören, wie sie sich aufgeregt am unterhalten waren. Solang Canan keinen Mucks von sich gab, würde niemand sie bemerken. Je weiter sie sich vorarbeitete, desto lauter wurden die Stimmen.

Gerade bückte sie sich, um einem Stützbalken auszuweichen, als ein lauter Knall ertönte, sodass sie fast hochgeschrocken und mit dem Kopf gegen den Balken gestoßen wäre. Irgendjemand musste einen Stapel Papiere oder ähnliches auf einen Tisch geknallt haben.

Canan presste die Lippen fest aufeinander und arbeitete sich weiter voran. Es galt keine Zeit zu verlieren.

Erst als sie einen dicken Balken erreicht hatte, in dem sie vor Jahren ein großes X reingeritzt hatte, blieb sie stehen und schob sich die Taschenlappe in den Mund. Mit beiden Händen zog sie sich an dem Balken hoch und kletterte mit geübter Präzision eine Etage nach oben.

Nachdem sie vier Balken hinter sich gelassen hatte und sicher auf dem fünften saß, genehmigte sie sich eine Atempause. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und ein paar ihrer Haarsträhnen klebten am salzigen Nass.

Sie holte tief Luft, um ihre Kräfte zu sammeln und widmete sich schließlich der Wand zu ihrer linken. Mit flinken Fingern entfernte sie den gelben Schaumstoff und legte ihn vorsichtig auf den Balken über sich, bevor sie sich einer dünnen Holzplatte widmete. Diese war ein Teil der Wandverkleidung, die seit geraumer Zeit lose war und Canan erlaubte, in diesen Raum unbemerkt einzudringen. Sie schob sie Holzplatte weit genug auf Seite, dass sie einen Blick in den Raum werfen konnte. Leere, gähnende Leere.

Nun schob sie die Holzverkleidung ganz auf Seite und schlüpfte in den Raum. Die dunklen Wände waren voll mit Regalen, die man mit Kartons gefüllt hatte. Die Luft war süßlich und schmeckte nach Fruchtzucker. Canans Magen begann augenblicklich zu knurren, doch er würde sich noch ein Weilchen gedulden müssen.

Zunächst legte sie die Taschenlampe auf Seite und wischte sich den Mund ab, wo sich der Speichel schon in den Mundwinkeln gesammelt hatte und drohte über zu laufen. Sie nahm ihre Tasche hervor und holte die Pistole hervor, um sie sich in den Gürtel zu stecken. Ihre nun leere Tasche füllte sie mit den Inhalten der vielen Kartons.

Trockenfleisch, Knäckebrot, Dosen mit Bohnen und Mais und eine Tüte mit Käsekräckern. Sie schnupperte in der Luft und folgte dem süßlichen Duft zu einem Karton, der ganz hinten in der Ecke lag. Langsam stülpte sie ihn auf und hatte das Gefühl einen Schatz entdeckt zu haben. Äpfel.

Gierig stopfte sie sich fünf davon in die Tasche, die nun bis oben hin gefüllt war. Vorsichtig legte sie auch wieder die Pistole hinein, schloss die Tasche und anschließend den Karton und verschwand wieder durch das Loch in der Wand in den Hohlraum. Zuerst schob sie die Wandverkleidung zurück und anschließend den gelben Schaumstoff.

Ihre Tasche war nun wesentlich schwerer, sodass sie Mühe hatte, geräuschlos die Balken hinab zu klettern, während das Gewicht an ihrer Schulter zerrte.

Als sie auf dem Boden ankam wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und ging wieder seitwärts den Weg zurück, den sie gekommen war.

Erst als sie sich im Tunnel befand, legte sie ihre Tasche ab und rieb sich die schmerzende Schulter. Es würde noch den halben Tag dauern, bis sie wieder Zuhause war. Sie ging in die Hocke und musterte die Tasche, mit dem abgewetzten Riemen und fleckigen Leder.

„Und weiter“, flüsterte sie zu sich selbst, schulterte die Tasche und ging den Tunnel entlang. Die Notausgangsschilder musste sie nun nicht mehr zählen, denn ihr Weg nach draußen war die letzte Leiter, bevor eine schwarze Wand ihr den Weg versperrte.

Canan hatte sich schon öfters überlegt, weswegen man diesen Tunnel einst gebaut hatte. Ob er als Abwasserkanal diente oder vielleicht ein Fluchttunnel in Kriegszeiten gewesen war? Sie hatte keinen blassen Schimmer, war aber froh, dass ihn jemand in seiner Geistesgegenwart gebaut hatte.

Sie erreichte die letzte Leiter, kletterte sie mit schnellen Bewegungen empor und wieder hinein in den kargen Raum. Mit geübten Handgriffen zog sie den Perserteppich zurück über die Tür und schlich in den Flur hinein. In gebückter Haltung kroch sie auf das Loch zu und verharrte wenige Zentimeter davor.

Noch immer waren die Kasap auf dem Basketballplatz. Canan hörte, wie der Ball gegen den Korb prallte und wieder zu Boden ging. Ein Mann fluchte, bevor das Spiel weiter ging.

Canan sog die Luft scharf ein und fixierte mit ihren Augen die Hauswand gegenüber. Sie musste nur durch die offen stehende Garage gehen und sie konnte unbeirrt nach Hause.

Sie rückte ihre Tasche zurecht und noch bevor Angst oder Zweifel in ihr aufkeimen konnten, rannte sie los. Sie blendete die Geräusche, die Gerüche, ihr gesamtes Umfeld einfach aus und rannte.

Acht Sekunden, mehr benötigte sie nicht, um sich im Schatten der leer stehenden Garage wieder zu finden und in den Schatten zu zwängen, der ihr einen kurzen Moment der Sicherheit gewährleistete. Sie amtete auf und lauschte wieder. Niemand schien sie bemerkt zu haben. Noch immer hörte sie den Ball, wie er auf den Boden aufkam.

Canan schloss die Augen. Hatte sie es tatsächlich geschafft? War sie wieder einmal davon gekommen? Noch wagte sie sich nicht in Sicherheit zu wiegen. Sie raffte den Riemen ihrer Tasche und ging auf eine schwere Tür aus Metall zu. Man musste sie ein kleines Stück anheben, damit sie sich bewegte. Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das kalte Metall. Es benötigte mehrere Anläufe, bis sich die Tür bewegte.

Nachdem sie hindurch geschlüpft und durch ein versifftes Wohnzimmer geschlichen war, fand sie sich in einem alten Kinderzimmer wieder. Die Wände waren mit einer rosafarbenen Tapete tapeziert und jemand hatte ein großes, weißes Einhorn auf eine leere Stelle gezeichnet. Mit den Fingerkuppen berührte sie das Weiß und fuhr die Konturen des Horns nach.

Als Kind hatte sie selbst ebenfalls so ein Einhorn an der Wand gehabt. Ihre Mutter hatte es ihr aufgezeichnet, nachdem sie Tage lang gebettelt hatte.

Das Schaben von Holz auf Holz ließ sie zusammenzucken und von der Wand zurück weichen. Jemand war in diesem Haus.

Canan wich augenblicklich in die hinterste Ecke des Raumes, dränge sich in die Nische und zog die Waffe aus ihrer Tasche. Das Klicken ertönte, während sie die MP entsicherte und sofort fühlte sie sich der aufkeimenden Gefahr gewappnet. Sie würde nicht sterben, nicht heute.

Wieder schabte Holz über Holz. Irgendjemand schien die Möbel zu verrücken. Sanfte Schritte über ihrem Kopf ließen sie zusammenzucken. Mit den Augen versuchte sie Weg der Person zu verfolgen, während sie sich immer weiter in die Ecke drückte.

Sie musste es nur schaffen, lautlos durch das kleine Fenster im Wandschrank zu klettern, das mit einem Barbie-Poster zugeklebt war. Eine Minute, mehr würde sie nicht brauchen. Während sie den ersten Schritt machte, ließ sie ihren Blick an der Decke geheftet. Solang sich die Person über sich bewegte, konnte auch sie sich bewegen.

Einen Schritt nach dem anderen. Leise, ohne einen lautes Geräusch. Es waren nur noch zwei Meter, bis um Wandschrank. Ein Meter. Sie streckte die Hand bereits nach der Türklinke aus.

Knacks.

Canan hielt inne. Sie war auf eine lose Bodendiele getreten. Auf die einzige lose Bodendiele in diesem ganzen verdammten Raum. Die Schritte über ihr verstummten und Sekunden quälender Stille rollten nur dahin.

Dann setzten die Schritte wieder ein, wesentlich schneller – ja, schon fast eilig. Auch Canan setzte sich in Bewegung. Ungeachtet dem Radau, den sie veranstaltete, riss sie die Tür zum Wandschrank auf, stieß das kleine Fenster über sich auf und zog sich am Rahmen hoch. Mit aller Kraft stemmte sie sich durch das schmale Loch und ließ sich auf der anderen Seite herunter fallen.

Sie landete bäuchlings in einem von Moos und Flechten bedeckten Innenhof. Die Luft blieb ihr weg und sie brauchte ein paar Sekunden, um sich aufrappeln zu können. Von weitem hörte sie, wie jemand eine Treppe herunter stolperte.

Bljad“, stieß sie hervor und rannte auf die andere Seite des Innenhofs, zu einem alten Messingtor. Das Schloss war zertrümmert und hatte sich in der Wand verkeilt, sodass Canan darüber klettern musste. Geschickt erklomm sie das Tor und sprang auf der anderen Seite runter.

Hinter ihr stieß jemand einen Schrei der Wut aus. Man hatte ihren Fluchtweg entdeckt.

Augenblicklich nahm sie die Beine in die Hand und rannte. Sie rannte die Gasse entlang, bog auf eine schmale Straße ab und durchquerte ein leerstehendes Parkhaus, um auf der anderen Seite an einer Reihe an ausgebrannten Hausreihen vorbei zu rennen.

Ihre Kehle brannte wie Feuer und ihre Glieder fühlten sich nach jedem Atemzug schwerer an, doch sie rannte. Ihr Körper war mit seinen Kräften am Ende, aber anzuhalten kam nicht in Frage. Noch war sie im Gebiet das Kasap und solang musste sie rennen. Sie musste um ihr Leben rennen.

Erst als sie über eine niedrige Mauer gesprungen und eine verdorrte Wiese überquert hatte, gestattete sie sich Luft zu holen. Gierig sog sie die Luft ein, die in ihrer Kehle ekelhaft brannte. Ihre Brust fühlte sich schwer an und das Herz schien ihre Rippen barsten zu wollen. Vollkommen außer Atem lehnte sie sich gegen eine kühle Hauswand und schloss die Augen. Sie war entkommen.

Das Gebiet der Kasap würde in den kommenden hundert Metern enden und sie würde sich in Sicherheit befinden. Natürlich, selbst außerhalb ihres Gebiets führten die Kasap ihre Geschäfte und Raubzüge durch und jeder zweite Bewohner dieses Distrikts war im Besitz von deren selbstgebrauten und selbstgekochten Suchtmitteln. Doch anders als Canan. Sie bevorzugte die Abgeschiedenheit und das Leben, fernab der anderen Träger und Infizierten.

Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und zupfte am Kragen ihres Shirts, um frische Luft zwischen ihre Haut und dem Stoff zu lassen. Nachdem sie Zuhause war, würde sie sich als aller erstes waschen müssen.

Wo Essen eine Mangelwahre war, war hingegen Wasser in Hülle und Fülle da – nur trinken würde Canan es nicht unbedingt. Das Wasser in den Kanälen und dem Fluss, der den Distrikt durchzog, war von bräunlicher Farbe und dessen Ursprung war auch nur ein Mysterium. Auch wenn Canan den Virus in sich trug und ihr baldiger Tod von den Behörden als beschlossene Sache abgetan war, so hatte sie nicht das Bedürfnis, vorzeitig abzutreten.

Sie raffte den Riemen ihrer Tasche auf ihrer Schulter und ging nun ruhigen, jedoch bestimmten Schrittes weiter.

Auf den letzten Metern schlug ihr das Herz bis zum Hals und Canan hatte das Gefühl kotzen zu müssen. Aber sie riss sich zusammen, hielt die Luft an und zählte die letzten Meter, die sie im feindlichen Gebiet hinter sich bringen musste.

Acht. Sieben. Sechs. Fünf. Vier. Drei. Zwei. Eins.

Geschafft!

Doch auch wenn sie sich nun in der neutralen Zone befand, so war die angebliche Sicherheit auch nur ein Trugbild. Die Kasap waren überall und Canan musste überall wachsam sein.

Nichts desto weniger waren ihre Schritte nun leichter und unbeschwerter, während ihr Herzschlag sich beruhigte. Sie hatte es doch tatsächlich wieder geschafft! Sie hatte von den Kasap Essen stehlen können! Robin Hood wäre Grün vor Neid geworden, ging es ihr durch den Kopf.

Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, bog sie an der folgenden Kreuzung rechts ab und kam an ausgebrannten und verbeulten Autos vorbei, die leise vor sich hin moderten. Ranken, die sich durch die Kruste der Straße gekämpft hatten, zogen sich am verbeulten Blech der Autos hoch und klammerten sich am blätternden Lack fest.

Trotz des Lebens, das zwischen all dem Gestein aufkeimte und stur gegen die staubige Luft ankämpfte, wirkte alles tot und trostlos.

Kies und kleine Gesteinsbrocken knackten unter ihren Schuhsohlen, während sie durch ein verbeultes Tor schritt und an Meterhohen Bergen aus Müll vorbei ging. Die Luft war geschwängert mit den unterschiedlichsten Gerüchen, die sich zu einem unerträglichen Mief vereinten. Canan begann durch den Mund zu atmen, während sie über zertrümmerte Vasen, Puppenköpfe und Plastiktüten hinweg trat.

Wind kam auf und pfiff durch die Berge aus vergessenen Leben und Trümmern, sang sein eigentümliches Lied. Canan schloss die Augen, als der Wind ihre Wangen streichelte und genoss das Gefühl, als ihre Haut leicht kribbelte.

Lebendig. Sie war lebendig und anders als andere würde sie es auch noch eine Zeit lang bleiben. Sie würde nicht an dem Virus sterben, noch nicht.

Als Vèv13 ausbrach, war sie gerade einmal elf Jahre alt gewesen. Gerade einmal alt genug, um ansatzweise zu verstehen, weswegen immer weniger Kinder in ihre Schule kamen und warum sie nicht mehr mit dem Nachbarsjungen spielen durfte. Sie alle waren krank. Sie alle mussten sterben. Canan erinnerte sich an die gelben Transporter, wo in dicken Großbuchstaben NATRON drauf geschrieben war, und wie sie Menschen in Massen mitgenommen hatten.

Canan hatte nie gefragt, warum der nette Junge von nebenan gehen musste. Sie hatte nicht gefragt, weswegen Miss Pyke, ihre Mathelehrerin, nicht mehr zur Schule kommen durfte. Sie hatte sich selbst diese Fragen immer und immer wieder gestellt, doch den Erwachsenen gegenüber hatte sie diese nie ausgesprochen. Selbst wenn sie es nicht wusste, doch ihr Gefühl hatte ihr immer gesagt, dass ihr die Antwort niemals gefallen würde und dass es ihr Angst machen würde.

Die Antwort auf all ihren Fragen fand sie erst Jahre später heraus, als der Bluttest positiv ausfiel.

Sie erreichte das Ende der Mülldeponie und schritt durch eine Lücke in einem Holzzaun auf den Bordstein. Direkt vor ihr befand sich eine Bushaltestelle. Aus der Überdachung hatten sie die Glasscheiben entfernt, die Werbeplakate waren zerrissen und jemand hatte auf dem Gesicht einer indischen Schauspielerin das Wort Freiheit geschrieben.

Freiheit war etwas, was für den ein oder anderen eine Selbstverständlichkeit war und selbst für Canan war es das gewesen, bevor Vèv13 in ihr Leben trat.

Sie setzte sich auf die Bank aus Metall, an der die braune Farbe abblätterte und legte ihre Tasche vorsichtig auf ihren Schoß. Die Versuchung war groß, sich einen der Äpfel zu nahmen und genüsslich hinein zu beißen. Aber sie riss sich zusammen und wartete, ohne sich dabei zu bewegen.

 

Sie Sonne war bereits hinter den Dächern verschwunden und hatte einen pfirsichfarbenen Schleier hinter sich gelassen, bis Canan endlich die Motorengeräusche hörte. Sie wartete geduldig, bis das Motorrad in der Ferne aufblitzte und mit beständiger Geschwindigkeit näher kam. Erst wenige Meter von ihr entfernt wurde das Tempo gedrosselt, bevor die Maschine genau vor ihr zum Stehen kam.

Yi zog sich seinen Helm vom Kopf und wischte sich mit der Hand durch sein schweißnasses, schwarzes Haar, bevor er sie schief angrinste. „Taxi gefälligst?“

Canan legte den Kopf schräg und musterte den Himmel. „Du bist spät.“

Er zuckte mit seinen Schultern und wies mit seinem Kopf auf den Platz hinter sich. „Dann gilt es ja keine Zeit zu verlieren, bevor die bösen Jungs auftauchen.“

Canan schnalzte mit ihrer Zunge, erhob sich jedoch von der Sitzbank und eilte auf das Motorrad zu. Die Tasche zwischen sich und Yi eingeklemmt, ließ sie sich hinter ihm auf das Motorrad nieder. Einen Helm hatte sie nicht, weswegen sie ihre Arme fest um seine Taille schlang und ein kurzes Gebet an die Götter sandte, dass sie auch dieses Mal heil nach Hause kommen würde.

Yi startete den Motor und gemeinsam fuhren sie die leeren Straßen entlang.

Zwischendurch holperte es, wenn Yi über dicke Gesteinsbrocken, Wrackteile von Autos oder Knochen fuhr, doch ansonsten war ihre Fahrt ungewöhnlich ruhig. Sie begegneten nicht einer Menschenseele, die ihnen hätte gefährlich werden können und Canan war sich nicht sicher, ob sie sich darüber freuen oder Sorgen machen sollte.

Menschen starben hier im Distrikt wie die Fliegen und doch waren sie überall. In den dunkelsten Winkeln und raffiniertesten Verstecken hatten sie sich zurückgezogen und sich ihrem Schicksal ergeben. Nicht so Canan und Yi.

Yi fuhr an einer Reihe von Boutiquen vorbei und bog schließlich auf eine schmale Straße ab, die weder Gehwege hatte, noch irgendwelche Straßenschilder. Keine Autos versperrten ihnen den Weg und die Hauswände waren vollkommen glatt. Keinerlei Türen oder Fenster störten das Bild der Einsamkeit.

Canan hasste diese Straße, weswegen sie ihren Griff um Yis Taille verstärkte und ihr Gesicht an seinen Rücken drückte. Sie spürte, wie er gleichmäßig atmete und die Muskeln anspannte, um das Motorrad im Gleichgewicht zu halten.

Erst als sie die nackten Hausrücken hinter sich gelassen hatten und die Luft nach Algen roch, atmete Canan erleichtert auf. Weniger Autos standen am Straßenrand und die Überreste verwesender Leichen – die vielen Knochenfragmente eines einstigen ganzen Leibes – wurden von Meter zu Meter weniger.

Der Fahrtwind zerrte an ihren Haaren und ihrer Kleidung, bis Yi das Motorrad vor einem langen Backsteingebäude anhielt, das sich mehrere hundert Meter lang erstreckte.

Canan kletterte von dem Motorrad herunter und schulterte ihre Tasche. Nachdem auch Yi abgestiegen war und den Helm von seinem schweißnassen Kopf gezogen hatte, grinste er sie schief an. „Du scheinst ja erfolgreich gewesen zu sein.“

Canan legte ihre Hand auf ihre Tasche. „War ich“, erwiderte sie und musterte ihn. „Was ist mit dir?“

Yi deutete mit seinem Kopf zum Backsteingebäude. „Die Kanister habe ich schon alle rein gebracht. Es waren echt viele und scheiße noch eins, die sind schwer. Vorher hätte ich dich auch nicht abholen können, das hätte nicht auf dieses Baby hier gepasst.“ Mit der Hand fuhr er über das Lenkrad.

„Aha“, erwiderte Canan und wandte sich zum Gehen ab.

Gemeinsam schoben sie das Motorrad den Bordstein hoch und über eine kleine Treppe in das Gebäude hinein. Es kostete sie unglaublich viel Kraft, bis das Monster von einer Maschine sich über die unterschiedlich großen Stufen bewegte.

Als sie es endlich geschafft hatten, schloss Canan die Tür hinter sich und verriegelte sie mit einem Stück Rohr, das auf dem Boden lag. Denn Schlüssel hatten sie für diese Türen nicht und selbst wenn, aufgehalten hätte das kaum einen. Selbst das Rohr war nur eine Notlösung und würde einem Eindringling nicht lange standhalten können.

Yi stellte seine Maschine im Flur ab und kettete sie an der Wand an, damit auch niemand sie stehlen würde.

Sie gingen den Flur entlang, bis sie in einer großen Lagehaller auskamen. Die Wände waren nackt und teilweise mit Graffiti besprüht. Zeitungen klebten auf dem feuchten Boden und es roch nach Algen und feuchter Luft, doch ansonsten war es sauber.

Canan entdeckte die blauen Kanister, in denen das flüssige Gold schwappte, das ihr Überleben sicherte: Trinkwasser. Yi nahm sich zwei von den fünf Kanistern, während Canan mit Mühe einen hochstemmen konnte.

Mit angehaltenem Atem schlurfte sie zu einer Eisentür, wohinter sich ein Treppenhaus befand. Sie mussten zwei Stockwerke höher, bis sie Zuhause ankommen würden – wo sie in Sicherheit waren und ihre Ruhe hatten.

Yi lief voran und war binnen Sekunden aus Canans Blickfeld verschwunden. Er war einfach wesentlich schneller als sie, mit seinen langen Beinen und den muskulösen Armen. Gerade als sie das zweite Stockwerk erreicht hatte, der Schweiß ihr über den Körper rann und der Rücken ihr schmerzte, drängte sich Yi an ihr vorbei, um die letzten zwei Kanister zu holen.

„Du bist echt langsam“, lachte er und hopste dabei die Treppen herunter.

Canan grunzte als Antwort und verfrachtete den Kanister in den zweiten Stock. Nachdem sie ihn auf den Boden abgestellt hatte, streckte sie sich und ließ ihre Rückenmuskulatur knacken. Augenblicklich erschlafften ihre Glieder und ihr Körper fühlte sie schwer und träge an. Doch sie biss die Zähne zusammen und schob den Kanister durch ihre Loftwohnung und in die Abstellkammer, die einst mal ein kleiner Kühlraum gewesen war und durch die Isolation ausreichte, um ihr Wasser für ein paar Wochen genießbar zu halten. Canan fischte aus ihrer Tasche die Äpfel heraus und legte sie vorsichtig auf einen der Kanister. Am heutigen Abend würden sie Essen wie die Könige.

Yi kam mit den letzten zwei Kanistern zurück und stellte sie sorgfältig neben die anderen.

„Oh“, machte er, als er die Äpfel erblickte. „Wo hast du denn diese Köstlichkeiten aufgetrieben?“

Canan entledigte sich ihrer Tasche und begann sich den Dreck von der Kleidung zu klopfen. „Eine Kiste davon stand in der Vorratskammer. Ich dachte mir, dass wir uns auch mal etwas gönnen sollten, bevor sie uns doch mal irgendwann erwischen. Wenn ich sterbe, dann bitte nach einer anständigen Mahlzeit.“

Yi lachte auf. „Also wärst du bereit morgen zu sterben, wenn wir sie heute essen?“

„Natürlich“, erwiderte Canan nun weniger ernst und begann sich aus ihrem Shirt zu schälen. Ihre Haut klebte vom Schweiß und Dreck. „Aber nur, wenn du mich heldenhaft begleiten würdest.“

„In den Tod?“, stieß Yi aus und ließ sich auf eine alte Bananenkiste nieder, die sie als Sitzmöglichkeit nutzten. „Ich würde so einiges für dich tun, Tamarkin, aber in den Tod folge ich dir nicht. Damit habe ich es nämlich noch nicht so eilig.“

Das hatte auch sie nicht. „Schade“, stachelte sie weiter und ging hinter einen Raumteiler aus Papier, um sich in einer kleinen Messingwanne zu waschen. Das Wasser war kalt und etwas bräunlich – und Canan wollte gar nicht daran denken, was für Bakterien sich möglicherweise darin befanden. Mit einem Schwamm und ihren Fingernägeln kratzte sie sich den Schmutz von der Haut, bis sie rote Striemen hatte und sich wieder ansatzweise sauber fühlte.

Von einem Stapel nahm sie sich willkürlich was zum Anziehen. Ein rotkariertes Kleid und eine gelbe Jacke. Nicht ihre erste Wahl, aber in diesem Loch von einem Distrikt musste man sich mit dem Abfinden, was man kriegen konnte.

Yi hatte sich die Schuhe ausgezogen und sich auf einer Reihe von Bananenkisten und Kissen ausgestreckt.

Drei Jahren waren sie nun schon in hier eingesperrt und drei Jahre lang, halfen sich Yi und Canan gegenseitig am Leben zu bleiben. Yi hatte Canan gefunden, wie sie vollkommen verängstigt und verwahrlost in der Nische eines Hauseingangs gehockt hatte und angefangen hatte ihre Fingernägel abzukauen und zu essen. Er hatte sie in sein Versteck in der Speicherstadt gebracht – eine Nachbildung der Hamburger Speicherstadt, wie Yi erzählte – und sie erst einmal mit gestohlenem Essen und Trinken aufgepäppelt.

Canan ging in den Kühlraum und nahm zwei Äpfel heraus. Einen warf sie Yi auf den Bauch, der zusammenzuckte und den anderen hielt mit festem Griff fest, als hätte sie Angst, dass irgendjemand ihr den Apfel wieder wegnehmen würde. Sie ging zu den großen Fenstern, öffnete eines davon und setzte sich auf den breiten Fenstersims, das eine Bein frei in der Luft baumelnd.

Genüsslich biss sie in den Apfel, durchstieß mit ihren Zähnen die Haut und das knackige Fruchtfleisch. Der Saft lief ihr über das Kinn und tropfte auf ihr Kleid, doch es kümmerte sie nicht. So lange hatte sie schon kein Obst mehr gegessen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, als sich der saftige Geschmack in ihrem Mund ausbreitete und ihre Sinne benetzte. Sie fühlte sich lebendig, wie schon seit langem nicht mehr.

Ihr Blick wanderte aus dem Fenster hinaus, und zu dem Fluss unter ihren Füßen, bestehend aus einer milchigen Flüssigkeit, die einst sauberes Wasser gewesen war. Darüber hinaus folgten Hausreihen, Hochhäuser, Antennen und Rauchschwaden, bis hin zu der dicken Mauer.

Die Mauer, aus dickem Beton, die so tief im Boden verankert war und so hoch über ihre Köpfe hinweg ragte, dass es gänzlich unmöglich war sie zu überwinden. Vor drei Jahren waren noch einzelne Wachposten zu sehen gewesen, doch auch die waren nach und nach verschwunden – wurden krank und selbst hier her eingesperrt.

Canan merkte, wie Yi hinter sie trat und ihrer beiden Blicke fielen auf die in der Mauer eingelassenen Buchstaben, die sie daran erinnern sollten, wer sie waren, was sie waren und wo sie waren.

 

NATRON   DISTRIKT ZERO

Zweites Kapitel

Sie nannten ihn Umhlobo, bloß Umhlobo. Aus isiZulu übersetzt, bedeutete es so viel wie Freund oder Verwandter. Wahrscheinlich war er auch genau das, ein Freund für jeden im Distrikt. Er war wohl der einzige, der gepflegten Kontakt zu Infizierten, Trägern und den gefährlichen Kasap hegte. Vielleicht war es seine bauchige und warme Erscheinung, die selbst den Anführer der Kasap hatte vor ihm kapitulieren und ein Friedensabkommen schließen lassen. Vielleicht war es auch seine besonnene Art gewesen, vielleicht aber auch etwas viel tiefgründigeres, was man auf dem ersten Blick gar nicht erfasse konnte. Seinen richtigen Namen kannte niemand und auch nur ausgewählte Personen wussten, dass er einst für NATRON gearbeitet hatte. Auch für sie war er eine Art Freund.

Doch Umhlobo war mehr als das, er war ein Informant. Egal was im Distrikt vor sich ging, er wusste Bescheid. Wenn man etwas von ihm brauchte, bezahlte man mit neuen Informationen. Hattest du keine, war er auch bereit Essen oder Waffen anzunehmen. Nichts davon verkaufte er weiter. Die Waffen schloss er in seinem Versteck weg und das Essen vertilgte er selbst. Nur die Informationen war er bereit für einen angemessenen Preis weiter zu geben.

Wer zahlen konnte, zahlte gewissenhaft. Umhlobo verlangte nie zu viel und passte sich der Schwere seiner Ware an. Es geschah auch nicht selten, dass er einem wahren Freund – Insassen, die er besonders zu schätzen gelernt hatte – kleine Informationen schenkte. Als kleine Aufmerksamkeit, um seine gute Seele zu offenbaren.

Er war schon immer ein Liebhaber von Wissen gewesen. Denn Wissen ist Macht und auch wenn er nie bestrebt war der Mächtigste zu werden, so hatte ein Fitzelchen nie geschadet.

So kam es, dass jeder im Distrikt Umhlobos Namen kannte und doch niemand nach seinem Leben trachtete. Denn wer würde ihre hungrigen Mäuler denn sonst mit Informationen füttern?

 

Yi lenkte das Motorrad durch das Parkhaus, während sich Canan konzentriert an ihm fest hielt. Es gleich einem Hindernisparcour, bei dem sie Wrackteilen und ausgebrannten Autos ausweichen mussten. Bei ein paar der Autos, die noch einigermaßen gut in Schuss waren, funktionierte möglicherweise die Alarmanlage noch und würde, sollte sie bei einer Berührung loskreischen, mit Sicherheit den ein oder anderen Infizierten anlocken.

Teilweise musste Yi absteigen und das Motorrad zwischen den Autos schieben. Canan hingegen blieb seelenruhig sitzen und genoss sogar ein wenig den Moment des Nichtstuns.

Als sie in der vierten Etage ankamen, kletterte Canan aber doch von dem Motorrad herunter und half Yi, es hinter Autofragmenten zu verstecken. Die herausgerissene Ladefläche eines angekokelten Pick Ups sollte dafür Genüge tun.

Während Yi sich noch seinen Baseballschläger schnappte, war Canan schon dabei sich zwischen Autos hindurch zu schlängeln. Geschickt wich sie den Autos aus, deren Alarmanlage vielleicht noch intakt war und stieg großzügig über Reifen und herausgerissenen Autotüren hinweg. Glas von zerschmetterten Fensterscheiben knirschte unter ihren Schuhen, als würde sie über Sand laufen. Die Verwüstung ging bis zum Treppenhaus an der Rückwand des Parkhauses und vielleicht sogar noch ein bisschen darüber hinaus.

Sie beide gingen am Treppenhaus vorbei und kämpften sich durch Haufen von Autofragmenten vorbei, welche die Wand des Nachbarhauses verhüllten. In diesem befand sich ein mannshohes Loch, als hätte es jemand dort hinein gesprengt. Stahl ragte wie Unkraut aus der Wand und man musste aufpassen, nicht daran hängen zu bleiben oder sich gar zu verletzten.

Vorsichtig stieg zunächst Canan, dicht gefolgt von Yi, über die Brüstung und kletterte durch das Loch in das Nebengebäude. Ein wohliger Geruch, nach frischem Essen, drang ihr in die Nase und sogleich begann ihr Magen zu knurren. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie so den Geruch vertreiben und stemmte eine schwere, eiserne Tür auf; sie waren nicht zum Essen her gekommen.

Hinter der eisernen Tür befand sich ein kleiner, rechteckiger Raum mit nackten Wänden und einer flackernden Deckenbeleuchtung. An jeder der Wand befand sich die gleiche Tür, die fremde Eindringlinge in die Irre führen sollten. Nur wer schon öfter hier gewesen war, konnte die richtige Wahl treffen. Alle anderen trafen prozentual immer die falsche. Aber das lag auch nur daran, dass die richtige Tür verschlossen war.

Über dieser hing eine kleine, weiße Kamera, die mit der Wand förmlich verschmolz. Das Objektiv surrte leise und Yi hob zum Gruß den Schläger an.

In der Regel würde nun der Riegel gelöst werden, es würde klicken und sie konnten problemlos das Revier Umhlobos betreten. Doch es tat sich nichts.

Canan zog die Stirn kraus und machte einen Schritt zurück, um wieder im Blickfeld der Kamera zu sein. Sie wusste, dass kein Ton übertragen wurde, also war es überflüssig zu rufen. Stattdessen wedelte sie mit ihren Armen herum und zuckte demonstrativ mit ihren Schultern. Umhlobo musste sie doch schließlich sehen.

„Vielleicht gibt es technische Probleme“, sagte Yi und seufzte. „Die Technik hier ist doch so veraltet, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie den Geist aufgibt.“

Canan war sich da nicht so sicher. Ihr Inneres begann zu kribbeln und eine ungute Vorahnung tat sich in ihr auf. Der dickliche Bantu hatte sie immer mit offenen Armen, ja schon fast überschwänglich empfangen. Teilweise ging er sogar dazu über, ihnen persönlich die Türe zu öffnen, sobald sie auch nur unmittelbar in der Nähe seines Verstecks waren. Sie waren Freunde, keine Frage.

„Mir gefällt das nicht Yi“, sagte Canan schließlich. „Das stimmt etwas nicht.“

„Sehe ich auch so.“ Er drückte Canan seinen Schläger in die Hand und begann vorerst die Kamera zu überprüfen. Da er über ein Meter und neunzig groß war, war es für ihn eine Leichtigkeit, das weiße Gehäuse genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch entgegen Canans Hoffnung, schüttelte er bloß den Kopf.

„Die funktioniert einwandfrei.“ Nun machte er sich daran die Tür zu untersuchen.

Canans Blick hetzte zu den anderen Türen um sie herum. Sie wusste nicht, was sich dahinter befand, doch wenn man sie öffnete, segnete man ziemlich schnell das zeitliche – so hatte es ihnen Umhlobo bei einem ihrer Treffen unter seinem brummigen Lachen erzählt.

„Tamarkin, komm her“, befahl Yi und wich ein bisschen auf Seite, damit auch Canan etwas sehen konnte.

Sie trat einen Schritt näher und musterte die Tür. Sie war offen. Die verdammte Tür war offen. Das war alles andere als gut, das war schlecht. Sehr schlecht. Ein kleiner Teil in Canan schrie förmlich, dass sie sofort verschwinden mussten. Der andere Teil, der wesentlich größer war und somit dominierte, war neugierig.

In einer fließenden Bewegung zog sie die Maschinenpistole aus ihrer Tasche, drückte Yi den Baseballschläger in die Hand und entsicherte die geladene Waffe.

Sie kannte Umhlobo sehr gut und seinen gesunden Menschenverstand. Selbst wenn ihm oberflächlich betrachtet nie jemand schaden wollte, waren die Informationen, die sich im Kopf des Zulus befanden, mehr wert als jedes Essens und jede Summe an Geld. Sie konnten über Leben und Tod im Distrikt entscheiden und das System, dass die Kasap mühselig aufgebaut hatte, binnen Stunden zerschmettern. Umhlobo wusste das und hatte Vorkehrungen getroffen, die seine Sicherheit gewährleisteten. Dazu zählte die verschlossene Tür am Eingang zu seinem Versteck. Sie konnte nicht von außen geöffnet werden und nicht jedem wurde der Eintritt gewährt. Deswegen, und da war Canan sich sicher, war es kein Zufall, dass die Tür offen stand und jedem Wrack von einem Infizierten somit das Betreten ermöglichte. Umhlobo hätte das niemals erlaubt, dafür war er zu vorsichtig gewesen.

Sie richtete sich auf und legte ihren Zeigefinger auf den Abzug. „Wir gehen da rein“, flüsterte sie. „Wenn ihm etwas passiert ist, müssen wir ihn retten.“

Yi leistete keinen Widerstand. Auch er erhob sich und hielt den Baseballschläger in Angriffshaltung, wie ein geschliffenes Schwert.

Umhlobo war der Grund, dass sie beide überhaupt noch am Leben waren. Er hatte ihnen von den Tunneln unter dem Gebiet der Kasap erzählt und genau geschildert, wie sie aus der Zweigstellte Essen stehlen konnten. Ihm verdankten sie, dass sie nicht nach den ersten Monaten bereits verhungert waren und sich trotz der maßlose Einschränkungen und des eisernen Verzichts bester Gesundheit erfreuen konnten.

Canan wurde speiübel bei dem Gedanken, dass einer ihrer engsten Freunde im Distrikt in Lebensgefahr schweben konnte, wenn er nicht sogar bereits tot war.

„Ich zähle runter“, wisperte Yi. „Fünf. Vier. Drei. Zwei.“ Er nickte und sie beide schlichen in das Versteck.

Sie gingen durch einen schmalen Flur, Canan voran. Die Wände waren nackt und strahlten eine Kälte aus, wie es in der Hitze kaum möglich schien. Der Boden war aus alten Fliesen, die bereits auseinander brachen und unter ihren Füßen klackerten.

Der Flur mündete in einen kleinen Raum, der auf den ersten Blick wie ein gewöhnliches Wohnzimmer wirkte. Doch rechts neben dem Türbogen befand sich das riesige Kontrollpult, mit vier Monitoren und Knöpfen, deren Aufgabe Canan nicht kannte. Sie erkannte auf den alten schwarz-weißen Bildschirmen den Raum aus dem sie gekommen waren, sowie das verwüstete Parkhaus und die Straße vor dem Versteck. Auf dem vierten Bildschirm war der Tunnel abgebildet, der sich auch unter diesem Gebäude schlängelte, bevor er weiter Richtung Kasapgebiet ging. Umhlobo war sehr vorsichtig gewesen.

Wieder knurrte ihr Magen, als der Geruch von gebratenem Fleisch in ihre Nase stieg. Mit Gewalt versuchte sie ihren Geruchssinn davon abzuhalten, ihrem Verstand die Möglichkeit auf etwas unerreichbares zu offenbaren und presst dabei mit aller Kraft die Zahnreihen aufeinander.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Canan, wie Yi in die Knie ging und eilte sogleich zu ihm.

Vor ihm lag ein Mensch, von bulliger Statur und einer Haut, die so schwarz war wie Ebenholz. Ramón Robertson, war sein Name gewesen und er war der Leinwächter von Umhlobo. Nun befand sich ein kleines Locht, getränkt mit Blut, in seiner Stirn. Ein Rinnsal von Rot lief über sein Gesicht und tropfte auf den Boden, wo sich bereits eine Lache gebildet hatte.

„Das ist nicht gut“, flüsterte Yi und richtete sich wieder auf. Jeder Muskel in seinem Gesicht war angespannt, sodass sein markantes Kinn verkniffen und seine mandelförmigen Augen noch schmaler wirkten.

„Armer Ramón“, murmelte Canan. Auch wenn dieser Mann unheimlich groß und mit seinen breiten Schultern unheimlich einschüchternd war, so war er doch eine gute Seele gewesen, die den Distrikt etwas erträglicher gemacht hatte. Canan konnte den Anblick seiner blutigen Leiche nicht ertragen und konzentrierte sich auf den Raum. Er war nicht verwüstet, lediglich die Möbel standen etwas anders als sonst und auch sonst wirkte alles sehr ordentlich. Der Teppich war entfernt worden und der kleine Beistelltisch, der sonst mitten im Raum stand, war an das Kontrollpult gerückt worden. Doch die Sofagarnitur und das Regal mit den Büchern waren wie gehabt auf ihren Plätzen.

Das Herz in ihrer Brust fühlte sich bleiern an, als sie über Ramón hinweg stieg, um an das glaslose Fenster zu gelangen. Sie warf bloß einen schnellen Blick hinaus, erkannte aber sofort den alten Perserteppich, der zusammengerollte auf der Straße lag.

„Wir müssen ganz schnell Umhlobo finden“, sagte Yi und ließ endlich von der Leiche ab. An seinen Händen klebte etwas Blut, das er sich einfach am Shirt abwischte.

Canan hatte auf einmal den bitteren Geschmack von Galle im Mund.

Umhlobos Büro befand sich hinter einem weiteren Türbogen. Ketten mit bunten Perlen, die sanft klimperten, wenn man sie berührte, ersetzten eine massive Tür.

Canan ging voran, die Waffe zum Schießen bereit und betrat das Büro. An Decke und Wänden befanden sich Wasserflecken und die Fenster waren mit Stoffen abgedunkelt. Die Luft im Raum war dick und schwer. Auf dem Boden waren Teppiche ausgelegt, sodass ihre Schritte sich dumpf anhörten.

Eigentlich erwartete sie Umhlobo in seinem Sitzkissen, im Schneidersitz und seinen stinkenden Tabak am Rauchen. Er würde sie mit seinem breiten Mund schief angrinsen und verkünden, dass er sie mit all dem nur aufs Kreuz legen wollte. Doch dem war nicht so.

Auf dem Sitzkissen lag tatsächlich jemand, doch es war nicht Umhlobo. Es war dessen zweiter Leibwächter und zugleich engster Freund Casper. Der schlaksige Riese von einem Menschen lag bäuchlings auf dem bunten Sitzkissen, die Gliedmaßen unnatürlich verdreht.

Vorsichtig schritt Canan näher an ihn heran. Ihr kam wieder der Geruch nach Essen in den Sinn, der sie schier verrückt machte, als sie den verbrannten Leib Caspers erkannte. Er hatte nicht mehr das schwarze Shirt an, wie sonst auch, sondern das Fleisch an seinem Rücken und seinem Kopf war verbrannt, die Haut war versenkt und nicht einmal mehr Blut floss aus der riesigen Wunde.

Blitzschnell wandte Canan sich von ihm an und stolperte in die Ecke des Raumes, bevor sie ihren gesamten Mageninhalt, sowie eine große Menge Galle, erbrach. Jeder Muskel in ihrem Inneren verkrampfte sich und noch bevor sich wieder richtig aufrichten konnte, würgte sie noch einen Schwall Gallenflüssigkeit hoch.

Sie spürte, wie Yi seine Hand auf ihre Schulter legte. Sofort begann ihre Haut zu prickeln und sofort drehte sich ihr Magen wieder um.

„Lass uns von hier verschwinden, Umhlobo wird nicht mehr hier sein. Er ist wahrschein bereits geflohen und versteckt sich irgendwo.“ Da Canan nicht im Stande war darauf zu reagieren, redete Yi einfach weiter. „Er hat mit Sicherheit für Fälle wie diese eine Notunterkunft, mit weiteren Verbündeten, die ihn aufgenommen haben. Es gibt ja genug Träger hier, die Umhlobo als seine Freunde bezeichnete. Offensichtlich auch die falschen.“

Canan wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Wir sollten ihn suchen gehen. Vielleicht ist er verletzt.“

Yi ließ seine Hand sinken und zuckte mit den Schultern. „Wenn er sich versteckt, werden wir ihn nicht finden können. Ihn zu suchen ist daher sinnlos.“

Dass er Recht hatte, war ihr vollkommen bewusst. Umhlobo war nicht so dumm und würde sich irgendwo aufhalten, wo ihn zwei Laien finden konnten. All das war ganz offensichtlich das Werk der Kasap und wenn sie ihn nicht finden durften, durften Canan und Yi das auch nicht. Sie würden nur eine Lawine von schrecklichen Ereignissen auslösen, die sie alle überrollen und unter sich begraben würde.

Yi räusperte sich. „Er wird sich schon bei uns melden.“

Wenn er sich überhaupt noch melden kann. Canan presste die Lippen aufeinander. Die Brutalität der Kasap war berüchtigt – dieser Ort war zusätzlich ein perfektes Beispiel für ihre Fähigkeiten. Sie würden Umhlobo nicht einfach so fliehen lassen, das war nicht ihre Art. Sie würden ihn jagen, wie ein Löwe die Gazelle und sie würden warten. Sollte Umhlobo sich bei ihnen wirklich melden wollen, so war das mit großer Vorsicht zu genießen. Die Kasap waren nicht zu unterschätzen. Einen größeren Fehler konnte man sich im Distrikt nicht erlauben.

„Was glaubst du, warum sie getötet wurden?“, fragte Canan. Sie wandte sich ab und lief, den Blick starr auf den Boden gerichtet, aus dem Raum heraus. So krank es auch war, den Anblick des erschossenen Ramón wand sie wesentlich erträglicher.

Yi folgte ihr. „Umhlobo war ähnlich wie ein Hüter der Geheimnisse des Distrikts. Dass das einem irgendwann aufstoßen würde, war abzusehen und nur eine Frage der Zeit. Ich schätze, dass er einfach etwas zu viel wusste. Selbst wenn er immer genau wusste, welche Information er besser für sich behielt und welche er getrost weiter geben konnte, so ist Wissen doch immer gleichzusätzlich mit Gefahr. Wenn du nichts weist, dann kann dir nichts passieren. Ich schätze, die Kasap wollten nicht, dass er über etwas Bescheid wusste, dass sie vielleicht im Kern zerstören konnte oder einfach nur beeinträchtigen würde. Wenn wir diesen Schwachpunkt kennen würden, würde sich das gesamte System im Distrikt ändern. Wir wären nicht mehr die verdammten Außenseiter, die tagtäglich einen Drahtseilakt zwischen Leben und Tod absolvieren. Ich gehe davon aus, dass Umhlobo die Mörder von Ramón und Casper kannte, vielleicht sogar sehr gut. Denn ansonsten wären sie nicht hier in den Laden reingekommen.“

Er kratzte sich am Kinn und ließ den Blick durch den Raum schweifen. „Es hat keinen Kampf gegeben, also waren sie schnell. Als erstes erschießen sie Ramón. Wahrscheinlich ist Umhlobo da schon gewarnt und flieht, während Casper die Verfolger unschädlich zu machen versucht. Der Typ hat beim Militär gearbeitet, den kann man nicht einfach so ausschalten. Sein Körper ist verbrannt, also haben sie sich wohl was ganz besonderes einfallen lassen.“

„Erschießen und verbrennen. Es war persönlich“, murmelte Canan.

„Darauf kannst du Gift nehmen. Sie sind wahrscheinlich schon mit dem Ziel hier rein gegangen, Umhlobo zu töten. Aber ich glaube nicht, dass sie erfolgreich waren. Dafür ist dieser Zulu einfach viel zu schlau.“

Canan erwiderte nichts und wandte sich einfach zum Gehen um. Sie wollte nicht mehr die toten Männer sehen. Sie wollte sich einfach nur noch in einer Ecke zusammen rollen und darauf warten, dass alles wieder beim Alten war.

Gemeinsam mit Yi verließ sie das Versteck des Zulu. Sie befreiten das Motorrad von der Ladefläche der zerrupften Pick Ups und fuhren schweigend aus dem Parkhaus.

 

Doch anstatt auf direktem Wege nach Hause in die nachgebildete Speicherstadt zu fahren, drückte Yi abrupt auf die Bremse. Das Motorrad kam schwankend zum Stehen und Canan wurde gegen Yis Rücken geschleudert. Ihr Kopf prallte gegen seine Wirbelsäule und beinahe wäre sie vom Sitz gerutscht. „Was zum –“, setzte sie an, beendete den Satz jedoch nicht.

Yi stieg von dem Motorrad ab und zog den Helm von seinem Kopf. „Der Teppich“, stieß er aus. Mit großen Schritten ging er auf den angekokelten Perserteppich zu, der zusammengerollt auf dem Bordstein lag. „Was glaubst du, warum sie den raus geschmissen haben? Guck dir doch mal den Saum an, der ist komplett verbrannt, so wie Caspers Rücken.“

Canan verlagerte ihr Gewicht nach hinten und zog dabei die Stirn kraus. „Du tätest gut daran, mich nicht daran zu erinnern.“

„Denk doch mal nach, Tamarkin.“ Er ging in die Hocke und rollte den Teppich etwas auseinander. „Sie werden ihn in diesem Teppich verbrannt haben. Nachdem sie Ramón erschossen haben, haben sie Casper damit im Büro überrumpelt und eingewickelt. Sie haben ihn verbrannt, vielleicht auch auf ihn eingeschlagen, sodass er auch wirklich tot ist. Damit bei dieser staubigen Hitze nicht die ganze Bude abfackelt, haben sie den Teppich aus dem Fenster geworfen.“

„Klingt für mich nicht gerade nach einem organisierten Verbrechen.“

Yi richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Ja, das sehe ich auch so.“

Canan ließ ihren Blick umher schweifen und tastete ihre Umgebung akribisch ab. „Okay Sherlock, lass uns darüber Zuhause weiter reden.“

Die Haut an Schultern und Nacken begannen sanft zu kribbeln und ihr Herzschlag wurde schneller. Ihr Körper teilte ihr mit, was ihrem Verstand zunächst verwehrt blieb: jemand beobachtete sie. Das war nie gut und konnte sie in große Schwierigkeiten bringen. Der Drahtseilakt würde beendet und sie würden fallen.

Entweder schien Yi es auch gespürt zu haben, oder konnte aus ihrer Körperhaltung lesen, dass sie etwas beunruhigte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, kam er zurück zum Motorrad und stülpte sich wieder den Helm über den Kopf.

 

Sie fuhren über den rissigen Highway, der sich über alte Zelte und kleine Baracken erstreckte, die zur Anfangszeit des Distrikts Heimat von Verzweifelten und Todgeweihten waren. Nun waren sie von der Sonne ausgeblichen und verlassen.

Mit einem waghalsigen Schlenker wich Yi einer aufgeschobenen Platte des Highways aus und wäre dabei beinahe mit einem Autowrackteil kollidiert. Er fluchte auf Chinesisch, sodass Canan kein einziges Wort verstand und fuhr schließlich unbeirrt weiter.

Als sie das Ende des Highways erreichten, hatte irgendjemand die Ausfahrt mit verbeulten und ausgebrannten Autos versperrt. Zusammengeknotete Ranken hielten die einzelnen Fahrzeuge zusammen und zeugten deutlich, dass der Zutritt jedem Außenstehenden verweigert wurde.

„War das letztes Mal auch schon da?“, rief Yi durch seinen Helm hindurch zu Canan.

Diese schüttelte den Kopf. Nein, als sie das letzte Mal den Highway passiert hatten, war die Abfahrt noch frei gewesen. Irgendwelche Frischlinge mussten sich ein neues Territorium aufgebaut haben, oder die Kasap wollten wieder Katz und Maus spielen.

„Lass uns außen rum fahren“, erwiderte Canan. Sie hatte ein mulmiges Gefühl bei dem Anblick der Autos.

Sie schwiegen einen Moment und verweilten regungslos vor der Barrikade. „Der Sprit reicht nicht für einen Umweg nicht aus und hier in der Umgebung werden wir nichts mehr zum Anzapfen finden. Uns wird keine andere Wahl bleiben, als uns dadurch zu kämpfen. Wir können versuchten eines der Autos auf Seite zu schieben, damit wir mit dem Motorrad durch passen. Das sollte nicht allzu schwer sein, wenn wir uns das leichteste von denen raussuchen.“

Sie musterte die einzelnen Autos. „Der Blaue sieht leicht aus.“

„Nein, die Reifen sind komplett zerstört, den kriegen wir nicht so leicht bewegt“, erwiderte er. „Schau doch mal genauer hin, Tamarkin.“

Sie begann jedes der Autos zu analysieren. Die meisten waren vollkommen ausgebrannt und würden unter ihren Händen wahrscheinlich zusammenfallen. Der blaue Nissan hatte platte Reifen und steckte fest, zwischen einem alten Range Rover und einem silbernen Porsche. Auf dessen demolierte Motorhaube ruhe ein schwarzer Kleinwagen, mit zerknautschtem Dach und zersprungener Frontscheibe. Der Kleinwagen war ansonsten gut in Schuss, doch den würden sie niemals leise herunter bekommen.

„Der Range Rover“, sagte sie.

Yi nickte und wies Canan an, vom Motorrad herunter zu steigen. Sie gehorchte, kletterte herunter und wartete, bis auch Yi neben ihr stand.

Canan nahm sich Yis Baseballschläger unter kletterte über die Motorhaube. Mit einer schnellen Bewegung schlug sie das Fenster auf der Fahrerseite ein und kletterte in den Wagen. Als sie bequem saß, streckte sie den Daumen nach oben und umfasste schließlich mit festem Griff das Lenkrad.

Yi nickte, packte das Auto und begann zu ziehen. Der vierundzwanzig Jahre alte Chinese war schon ziemlich stark, doch in Canan kamen Zweifel auf, dass er den Range Rover alleine aus der Barrikade ziehen könnte.

Kurzerhand kletterte sie auf den Rücksitz und in den Kofferraum, von wo aus sie das hintere Fenster mit dem Baseballschläger einschlug. Sie kletterte aus dem Wagen heraus und begann zu schieben.

„Was machst du denn da?“, fauchte Yi. „Wir brauchen jemanden, der das Scheißding lenkt.“

„Du bist nicht Hulk, verdammt noch mal“, giftete Canan zurück.

Gemeinsam schoben und zerrten sie an dem Wagen, bis er sich endlich bewegte und gemächlich aus der Barrikade heraus rollte. Kam er einmal ins Rollen, ging es immer und immer leichtert, bis der Range Rover vollkommen frei stand und eine ausreichend große Lücke hinterließ.

Canan nahm aus dem Kofferraum den Baseballschläger heraus und befestigte ihn wieder an Yis Motorrad, bevor sie gemeinsam durch das Loch hindurch und die Ausfahrt herunter gingen.

Niemand von ihnen traute sich ein Wort zu sagen oder auch nur den Gedanken zu fassen, jetzt einfach weiter zu fahren. Stattdessen gingen sie schweigend nebeneinander her und lauschten auf ihre Umgebung.

Das Knacken der Kieselsteine unter ihren Sohlen und ihr angestrengter Atem war alles, was Canan hören konnte. Doch das seltsame Gefühl, dass sie bereits an Umhlobos Versteck gehabt hatte, beschlich sie abermals und jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

Zu ihrer Linken hörte sie ein eigentümliches Geräusch, das sich aus einem Rascheln und Schaben zusammenschloss. Abrupt blieb sie stehen und spitzte ihre Ohren. Sie konnte es nirgendwo zuordnen, weswegen sie von Sekunde zu Sekunde nervöser wurde. Das war fatal.

Ihre Finger fühlten sich taub an, als sie ihre Maschinenpistole aus ihrer Tasche zog und entsicherte. Mit einer unbeholfenen Bewegung löste sie den Hahn und zielte auf einen leerstehenden Van. Yi schnappte hörbar nach Luft, sagte ansonsten jedoch nichts.

Canan hatte sich nicht getäuscht. Erneut erklang dieses seltsame Geräusch. Ihr Herzschlag ging ihr bis zum Hals und schnürte ihr die Luft ab.

Etwas wurde über den Boden geschliffen und prallte mit dem Blech des Vans zusammen. Canans Herz machte einen Aussetzer und ihre Hände verkrampften sich um den Abzug der Waffe.

Sie warteten, bis ein kleiner Schopf zum Vorschein kam, mit hellbraunem, wüstem Haar. Es war ein kleiner Junge, der die beiden Träger mit großen Augen anstarrte. Seine Haut war von der Sonne braun gebrannt und spannte sich wie dünnes Papier über seine Knochen.

Sofort riss Canan die Maschinenpistole hoch, damit sich bloß kein Schuss lösen und den Jungen treffen konnte.

Sekunden zogen sich so lang wie Kaugummi, während sich die drei bloß missmutig anstarrten.

„Hey, Kleiner“, brach schließlich Yi die Stille.

Der Junge zuckte zunächst zusammen, machte dann aber doch einen mutigen Schritt auf sie zu.

„Ich bin Yi und wie heißt du?“

Canan sicherte ihre Waffe und stopfte sie in ihre Tasche zurück. Der Junge war vielleicht gerade einmal vier Jahre alt und würde somit wohl kaum eine Gefahr darstellen.

Da er jedoch nicht auf Yis Frage antwortete, redete dieser einfach weiter: „Wir kommen von einem anderen Teil des Distrikts. Weißt du, wer die Autos dahinten aufeinander gestapelt hat?“

„Ich hab Hunger“, kam es prompt auf Russisch.

Überrascht zog Canan die Augenbrauen hoch. Dass der Junge auf Russisch antworten würde, hatte sie nicht erwartet. „Was hast du gesagt?“, wiederholte sie in der Sprache, die einst bei ihr Zuhause gesprochen wurde und sofort Gefühle von Wärme und Unbehagen in ihr auslösten.

„Ich habe Hunger“, widerholte er, dieses Mal etwas lauter.

„Was hat er gesagt?“, fragte Yi an Canans Ohr, als befürchtete er, dass dem Jungen diese Frage aufstoßen könnte.

Canan spürte seinen heißen Atem auf ihrer ohnehin schon warmen Haut. Sie wich einen Schritt auf Seite, um zwischen sich und Yi wieder Abstand zu gewinnen. „Dass er Hunger hat.“

„Dann ist er bei uns an der falschen Adresse. Wir haben ja selber kaum was.“

Canan warf ihm einen kurzen Blick zu. Natürlich, sie hatten nichts zum Teilen. Mit etwas Glück würden sie vielleicht gerade einmal selbst diesen Monat überleben, bevor die nächste Fuhre eintreffen wurde.

Sie legte ihren Kopf wie ein neugieriger Vogel schräg und ging vor dem Jungen in die Hocke. Dieser musterte sie zunächst argwöhnisch, sagte dann jedoch noch einmal, nur dieses Mal etwas leiser:

„Ich habe Hunger.“

Canan antwortete in ihrer Muttersprache: „Wie heißt du, Kleiner?“

Der Junge presste die Lippen fest aufeinander, bevor er den Kopf schüttelte. „Mein Name ist blöd, den sag ich dir nicht.“

„Ich wette mit dir, dass ich mit etwas blöderem aufwarten kann“, erwiderte Canan unter einem verschmitzten Lächeln. „Meine Mutter nannte mich immer Ryby – Fischlein. Weißt du, warum sie mich so genannt hat?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Weil mein Gesicht sie an die Fischköpfe erinnert hatte, die sie immer auf dem Markt gesehen hat. Sie dachte, wenn sie mich so nennt, macht es mir nichts mehr aus, wenn andere versuchen mich mit diesem Spitznamen zu ärgern.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Also, Kleiner, wie ist dein Name?“

Der Junge biss sich auf die Unterlippe, bevor er einen Schritt auf Canan zu machte. „Tlya.“

Canan erhob sich wieder und sah zu Yi. Dieser hob die Augenbrauen an: „Und?“

„Er heißt Blattlaus.“

 

Gegen Canans Erwartung verzog Yi keine Miene, sondern ging in die Hocke und streckte dem Jungen seine Hand entgegen. „Hey, kleiner Mann, sollen wir dich zu deiner Mutter zurück bringen?“

Canan übersetzte.

Tlya musterte den hochgewachsenen Chinesen zunächst skeptisch. Doch schließlich machte er einige, zögerliche Schritte auf sie zu. „Ich habe Hunger“, widerholte er.

Sie wandte sich ihrem Freund zu und übersetzte erneut.

„Wir können ihm nichts zu essen geben. Wir haben ja selber kaum etwas. Sag ihm das und frag ihn, ob hier in der Umgebung viele Infizierte herum laufen. Wenn wir schon hier lang Richtung Zuhause fahren, dann sollten wir auch wissen worauf wir uns einlassen. Ich habe ein bisschen Sorge, dass uns unterwegs ein paar Überraschungen erwarten. Es muss Schicksal sein, dass wir den Zwerg getroffen haben.“

Canan zog eine Augenbraue hoch und betrachtete ihn eingehend. „Echt jetzt?“

Yi zuckte mit den Schultern. „Natürlich.“

„Soll ich ihm den ganzen Schwachsinn übersetzten?“, sagte sie voller Sarkasmus.

Yi verzog sein Gesicht zu einer Fratze: „Natürlich nicht, Dummkopf.“

Ohne auf die Stichelei einzugehen wandte sie sich wieder dem Jungen zu. „Tut mir Leid, Tlya, wir können dir nichts zu essen abgeben. Wir haben nichts. Weißt du, ob hier viele Kranke leben?“

Tlya blickte sie enttäuscht an, zeigte dann aber mit dem Finger auf einen heruntergekommenen Betonklotz, der einst ein Wohnhaus gewesen war. „Da sind ganz viele. Mama sagt, ich darf da nicht hin. Da sind böse Leute.“

Canans Kiefermuskulatur verkrampfte sich. „Keine bösen Menschen, nur Kranke.“

Tlya biss sich auf die Lippe. „Die schreien immer so viel. Wie Babys.“

Sie schwieg einen Moment und rieb sich den Halsansatz. Von der Speicherstadt aus konnten sie nachts die Infizierten nicht schreien hören, dafür waren sie zu weit außerhalb. Doch sie konnte sich vorstellen, was der kleine Junge Nacht für Nacht erleben musste. „Das macht dir bestimmt große Angst“, murmelte sie. Mitleid keimte in ihr auf. Gefährliches Mitleid.

Tlya ließ seinen Arm sinken, doch sein Blick blieb auf dem Gebäude haften. „Wenn Mama schreit ist es schlimmer.“

Canan packte Yi am Kragen, sodass dieser sich etwas wiederstrebig aufrichtete.

„Was ist? Was hat der Knirps gesagt?“, fauchte er und richtete sich sein Shirt zurecht.

„Ich bin mir nicht sicher“, murmelte sie. „Wir sollten den Jungen nach Hause bringen und dann selbst verschwinden. Ich befürchte, dass dieser Ort zu gefährlich ist.“ Sie drehte sich einmal um sich selbst und nahm die Umgebung in Augenschein. „Wie eine rote Zone.“

Yi schnalzte mit der Zunge. „Wir sind für den Knilch nicht verantwortlich. Lass uns einfach verschwinden, wenn findest, dass es hier zu gefährlich ist. Der kommt schon klar.“

„Nein“, rief Canan, fast zu laut. „Wir bringen ihn zu seiner Mutter.“

„Warum?“ Yi raufte sich das Haar. „Hast du den Verstand verloren? Wenn hier wirklich so viele Infizierte sind, sollten wir die Füße in die Hand nehmen und weg rennen. Lass uns Road Runner spielen, lass uns verduften – verdammt noch mal. Tamarkin, das ist kein Spiel und das weißt du ganz genau. Das ist kein Film, wo man nur auf das Happy End warten muss. Das ist das echte Leben. Wir müssen kämpfen, sonst sterben wir. Willst du sterben, Tamarkin? Für einen Jungen, den du vor zwei Minuten kennen gelernt hast? Scheiße, das ist Irrsinn.“

Canan packte Yi am Kragen und zerrte ihn zu sich herunter, damit sie auf Augenhöhe waren. „Wir bringen ihn zu seiner Mutter. Keine Wiederrede.“

„Du hast den Verstand verloren“, erwiderte Yi. „Die Sonne hat dein russisches Hirn weichgekocht. Wer weiß, vielleicht ist der Virus ja doch bei dir ausgebrochen. Die erste Infizierte, bei der Vèv13 ausgebrochen ist. Oho, wir sollten dich zu NATRON bringen.“

Canan trat ihm gegen sein Schienenbein und ließ von ihm ab. „Pass auf was du sagst, Yi Guo.“

Er rieb sich leise fluchend das Schienenbein und bedachte sie mit einem finsteren Blick, erwiderte zunächst aber nichts.

„Wir bringen dich nach Hause“, sagte Canan zu Tlya.

Sie streckte ihre Hand dem kleinen Jungen entgegen und wartete geduldig, dass er sie ergriff. Zunächst zögerte Tlya, nahm dann aber doch ihre Hand und sie führte ihn mit einem sanften Lächeln zum Motorrad. Mit großen Augen betrachtete er das Gefährt und kletterte schließlich auf den Sitz.

Während Yi den Ständer zurück schob, knirschte er mit den Zähnen. „Ich halte das noch immer für eine Schnapsidee.“

Canan zuckte mit den Schultern. „Würden wir keine Risiken eingehen, wären wir längst tot.“

„Ja, aber man sollte den Bogen nicht überspannen.“

„Wenn er bricht, sind uns keine Grenzen mehr gesetzt.“

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg und schoben das Motorrad mit dem kleinen Tlya darauf sitzend die Ausfahrt herunter, vorbei an ausgebrannten Autos und meterhohem Unkraut. Während Yi in Schweigen verfallen war, begann sich Canan mit dem Jungen zu unterhalten. Tlya erzählte von einem persischen Jungen, mit dem er vor wenigen Tagen immer gespielt hatte und der plötzlich verschwunden war. Deswegen war er auch so weit von Zuhause entfernt, denn die Suche nach seinem Freund war bislang erfolglos gewesen. Dass er sich dabei fast verlaufen hatte und zu große Angst vor den schreienden Leuten hatte, um zurück zu kehren, hatte er zuvor nicht mit einkalkuliert. Er schenkte Canan ein schüchternes Lächeln und bedanke sich, dass sie und der komische, große Mann ihm halfen.

„Nichts zu danken“, antwortete Canan und erwiderte sein Lächeln.

Je näher sie dem Betonklotz von einem Gebäude kamen, desto weniger wagte Tyla zu sagen, bis er vollends verstummte und verkrampft auf das schwarze Leder des Motorradsitzes starrte. Canan beobachtete ihn für einen Moment dabei und schloss schließlich zu Yi auf.

„Warst du schon mal hier?“, murmelte sie.

Yi lenkte das Motorrad um ein hohes Grasbüschel herum. „Einmal, kurz nachdem man mich hier reingesteckt hatte. Viel verändert hat es sich nicht, ist nur ein bisschen mehr heruntergekommen. Schon damals war das ein beliebter Aufenthaltsort für Infizierte, wenn ich mich recht erinnere.“

Canan musterte ein kleines Haus mit verbogenen Dachziegeln, das man zwischen die Betonhäuser gedrückt hatte und absolut fehl am Platz aussah. „Warum gehen sie hier hin?“

Yi schnaubte. „Woher soll ich das wissen? Keinen Schimmer. Vielleicht weil es hier so kuschelig ist.“

Sie schwiegen eine Weile und beobachtete die Umgebung. Ranken fraßen sich an den Wänden der Gebäude empor, Fenster lagen zerschmettert auf den Straßen und Knochen waren zu ihren Füßen verteilt.

„Warum lebt jemand mit seinem Kind in diesem Teil des Distrikts? Es gibt sicherere Orte“, dachte Canan laut und stieg über die Überreste eines einstigen Mannes hinweg.

„Wenn wir vom schlimmsten ausgehen – und das sollten wir tatsächlich –, dann sind seine Eltern wahrscheinlich nicht immun gegen das Virus oder sie passen hier auf jemanden auf, der es nicht ist. Hat der Knirps was von einem Bruder oder so erwähnt?“

„Nein, nichts. Soll ich ihn fragen?“

Yi zuckte mit den Schultern. „Wäre nett zu wissen.“

Canan warf einen Blick über die Schulter und zu Tlya, der nun den Himmel begutachtete. „Ist das nicht ein wenig taktlos?“

„Ich glaube, dass unsere Situation uns erlaubt, auch mal taktlos zu sein. Na los, frag ihn.“ Yi gab ihr mit seiner Schulter einen Stups.

Canan ließ sich wieder zurück fallen und lief auf der Höhe des kleinen Jungen weiter. Dieser warf ihr einen kurzen Blick zu und sah schließlich wieder in den Himmel.

„Sag mal, Tlya, darf ich dich was fragen?“

Er nickte.

„Ist jemand aus deiner Familie besonders krank? Sodass ihr nicht in einen anderen Teil, der ohne die schreienden Leute ist, gehen könnt?“

Tlya musterte sie von Kopf bis Fuß und wandte sich schließlich wieder von ihr ab. Ganz offensichtlich würde sie keine Antwort von ihm erhalten.

„Ist deine Mama oder dein Papa vielleicht krank?“, hakte sie noch einmal nach. Erfolglos, wie sich direkt zeigte, denn der Junge sah nun starr in die andere Richtung und tat, als würde er sie nicht hören. Canan presste die Lippen aufeinander und übte sich im Schweigen.

Sie konnte verstehen, dass er nicht darüber reden wollte. Sie würde auch nicht mit einer fremden Person über den baldigen Tod ihrer Eltern oder eines anderen geliebten Menschen reden wollen, dafür war es einfach zu persönlich. Trotzdem war ihr klar, dass sie bei dem Kleinen einen Nerv getroffen hatte. Sie schloss wieder zu Yi aus du murmelte: „Er hat nichts gesagt, aber ich bin mir sicher, dass da was nicht stimmt.“

„Soll heißen?“

„Er hat sich abgewandt, pure Verdrängung. Ich bin mir sicher, wenn wir bei ihm Zuhause sind, dass wir mindestens einen zerfallenen Infizierten zu Gesicht bekommen.“

Yi verkrampfte sich neben ihr. „Dann lass uns den Zwerg vom Motorrad schmeißen und das Weite suchen.“

„Bist du irre? Wir haben ihm versprochen ihn nach Hause zu bringen.“

„Tamarkin, ich will nicht von einem Infizierten angefallen werden. Die Typen erinnern mich zunehmend an Zombies, mit ihren zuckenden Gliedern und der schwarzen Haut und –“, er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Lass uns einfach von hier verschwinden, solang wir uns in Sicherheit wiegen können.“

Canans Augenbrauen schnellten nach oben.

„Ich meine ja nur“, knurrte Yi.

Canan wollte gerade etwas erwidern, doch Tlya kam ihr zuvor: „Da ist es.“

Er zeigte auf ein zweistöckiges Haus mit flachem Dach. Ranken kletterten an der modrigen Hauswand hoch und Fenster waren zerbarst. Einst musste das Haus eine wunderschöne Fassade mit weißem Stuck gehabt haben, doch das meiste war bereits abgebrochen und lag nun vor dem Eingang verstreut.

„Hübsch“, seufzte Yi und ließ seinen Blick umher schweifen. Auch Canan tat dies, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Stille beruhigen oder beunruhigen sollte.

Tlya kletterte vom Motorrad herunter und ging völlig ungezwungen zum Haus hinüber. Entspannt stieg er über die Überrest von Leichen, wich Autoreifen aus und schob die hölzerne Tür auf Seite. Er warf einen auffordernden Blick zurück zu Canan und Yi, bevor er sich durch den Spalt zwängte und im Haus verschwand.

„Wir sollten ihm folgen“, sagte Canan.

„Aber ich soll irre sein, hm?“

Canan erwiderte darauf nichts, sondern ging nun ebenfalls einfach auf das Haus zu. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber stehen bleiben oder gar umkehren kam für überhaupt nicht in Frage. Sie hörte, wie Yi hinter ihr das Motorrad abstellte und schließlich selbst zu ihr rüber ging. Sofort fühlte sie sich sicherer.

Sie atmete tief durch und schob die Tür ein kleines Stück weiter auf, damit auch sie und Yi sich hindurch quetschen konnten. Doch das war gar nicht so leicht, denn irgendetwas blockierte das morsche Holz und somit musste sie sich doch durch einen noch etwas zu engen Spalt quetschen.

Abgestandene Luft und der Geruch nach Fäulnis schlugen Canan ins Gesicht. Sie schlug die Hand vor Mund und Nase und verzog angewidert das Gesicht. Der Geruch brannte sich sofort in ihr Gedächtnis.

Vor Canan breitete sich ein kleiner, rechteckiger Raum aus, mit abgewetzten Teppichen und in der Wand eingelassenen Sitzbänken. Zu ihrer Linken war eine Holztreppe, die in den ersten Stock führte. Von der Decke baumelte eine nackte Glückbirne.

Testweise drückte Canan auf den Lichtschalter, doch nichts passierte. Wie zu erwarten.

In einer Ecke entdeckte sie die Reste eines Kadavers. Es ließ sich nicht mehr sagen, was für ein Wesen es zu seinen Lebzeiten gewesen war, denn der Kopf fehlte und die Knochen und letzten Fleischreste waren nur noch ein formloser Haufen. Fliegen bedienten sich am Fleisch, aber Maden waren keine in Sicht.

„Ist das ekelig“, hörte sie Yi sagen.

Canan sagte nichts. Stattdessen kehrte sie den Überresten den Rücken und ging zum Treppenansatz. Zögernd lugte sie nach oben, konnte aber nur eine offen stehende Tür entdecken. Der Raum dahinter hatte verblichene Tapeten, die sich von den Wänden rollten.

„Was genau willst du jetzt hier drin?“, seufzte Yi, hörbar angespannt.

Canan stieg die erste Stufe empor. Das Holz knarzte unter ihrem Gewicht, hielt dem aber stand. „Ich weiß nicht so genau. Ich bin neugierig“, erwiderte sie. Mit jedem Satz stieg sie eine Stufe weiter hinauf. „Ich will wissen, ob er in Sicherheit ist. Wie er lebt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Mutter, einen so kleinen Jungen alleine raus lässt. Etwas stimmt nicht. Und ich will wissen, was.“ Sie hatte über die Hälfte der Treppe erklommen, blieb nun stehen und wandte sich Yi zu. „Hast du Angst?“

Er sah sie finster an. „Du nicht?“

Sie drehte sich um und stieg den Rest der Treppe hoch. Die Tür war weit genug auf, dass Canan einfach in den Raum hinein schlüpfen konnte.

Der faulige Geruch war massiv angestiegen und raubte Canan für einen kurzen Augenblick die Luft. Sie musste würgen.

Tlya hockte neben einer schmutzigen Matratze, die Hände auf seinem Schoß verborgen und betrachtete seine Knie. Als er Canan bemerkte, blickte er auf. Die Augen wurden eisig, als würde er auf einen langzeitigen Feind treffen.

Canan schluckte. „Hier lebst du also, ja?“

Er antwortete nicht, sondern sah wieder auf seine Knie.

Währenddessen bemerkte Canan ein eigentümliches Zucken auf der Matratze. Es brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie begriff, was im Schatten der Wand dort lag. Ein Infizierter. Die Glieder zuckten und schlugen gegen einen ausgemergelten Leib. Auch wenn Canan wegen dem schlechten Licht nicht allzu viel erkennen konnte, so glaubte sie, eine Frau dort liegen zu sehen.

„Ist das deine Mama, Tlya?“, fragte sie. Ihre Unsicherheit war deutlich zu hören. Langsam ging sie auf die Knie. Sie wollte mit dem Jungen auf Augenhöhe sein, ihm zeigen, dass er keine Angst vor ihr zu haben brauchte.

Doch Tlya reagierte nicht. Wie in Trance schaute er weiterhin auf seine kleinen Knie und wirkte dabei absolut demütig vor dem zuckenden Menschen.

Canan zögerte einen kurzen Augenblick, in der Hoffnung, dass sich der Junge doch noch rührte. Doch schließlich kroch sie neben ihn, setzte sich auf ihre Füße und betrachtete den Menschen vor sich. Es war tatsächlich eine Frau. Ihr einstiges Kleid hing nur noch in Fetzen an ihrem Körper, der dürrer nicht hätte sein können. Blaue Adern traten dick unter der Haut vor, verschwanden aber an manchen Stellen unter einem tiefen Schwarz. Die Fäulnis verbreitete sich immer weiter aus, besetzte ihre Arme und ihre Brust. Teile ihres Halses waren ebenfalls befallen, doch offensichtlich war sie noch in der Lage zu atmen. Langsam, aber doch beständig hob und senkte sich ihr Brustkorb. Auch wenn Canan keine Ärztin war, so wusste sie sofort, dass diese Frau bald sterben würde. Es war ein dumpfes Gefühl, dass sich in ihrem Inneren ausbreitete und sie erzittern ließ.

„Es tut mir leid“, wisperte sie.

Tlya warf ihr einen kurzen Blick zu. Eine schnelle Bewegung seiner Augen, die kaum bemerkbar war. Aber Canan hatte es gesehen.

„Wenn du möchtest, kannst du mit Yi und mit mitkommen. Unser Leben ist nicht leicht, aber wir schaffen es. Du kannst mitkommen, helfen und wir überleben.“ Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

Zunächst kam keine Reaktion von Tlya und Canan befürchtete, dass er sie wieder ignorierte. Doch nach quälenden Sekunden, die sich wie Kaugummi in die Länge gezogen hatten, wandte er den Kopf in ihre Richtung. „Du solltest gehen.“

Sie musterte ihn eingehend, hoffte eine Art Spott in seinem Blick zu erkennen. Doch da war kein Spott, sondern der blanke Ernst eines entschlossenen Kindes. „Warum?“

Tlya sah wieder zu der Frau. „Geh einfach weg.“

Canan schloss für einen kurzen Moment die Augen, um sich wieder zu sammeln. Dann gab sie einen langen Seufzer von sich. „Bei uns hättest du es gut –“, setzte sie an.

„Geh.“

„Bei uns gibt es keine Infizierten –“, fuhr sie unbeirrt fort.

„Geh weg.“

„Hier bist du nicht in Sicherheit.“

„Ist mir egal.“

Canan heftete ihren Blick auf die Frau vor sich. Mittlerweile hatte sie ihre Augen geöffnet, offensichtlich vom Krach geweckt. Träge Augäpfel sahen ins Nichts.

„Hier ist es zu gefährlich.“

Tlya hob abrupt seine rechte Hand und streckte sie Canan entgegen. Sie war viel zu überrascht, als das sie sogleich verstand, was vor sich ging. Erst nachdem sie mehrmals geblinzelt hatte und sich auf die ausgestreckte Hand fokussierte, bemerkte sie die kleine graue Pistole.

Auch wenn Canans Kenntnisse dürftig waren, so erkannte sie dennoch, dass die Waffe entsichert war.

Das Herz rutschte ihr in die Hose und ihr wurde plötzlich eiskalt.

„Bist zu verrückt? Das ist doch kein Spielzeug“, brachte sie mit gepresster Stimme heraus. „Leg das sofort weg.“

„Geh.“ Er legte den Zeigefinger auf den Abzug und in Canan keimte das Gefühl auf, der benutzte diese Pistole nicht zum ersten Mal.

Der Distrikt war ein schrecklicher Ort. Eine höllische Stadt, in der selbst der feinste Charakter irgendwann zu Grunde ging. Wenn es Erwachsenen schon nicht möglich war, hier über Jahre zu leben, ohne den Verstand irgendwann zu verlieren. Wie musste es dann Kindern ergehen? Sie würden niemals das Gefühl der Sicherheit im trauten Heim erleben. Die wohlige Wärme, wenn man mit der Familie zusammen am Tisch sitzt, vielleicht zu Weihnachten oder weil Papa Geburtstag hat. Sie würden niemals auf der Straße mit den Nachbarskindern spielen, ihre Schultaschen zu Toren aufstellen und sich gegenseitig einen alten Ball mit Comicfiguren darauf durch die gegen kicken. Sie würden niemals mit wenigen Cent in den Kiosk marschieren, sich wie der König schlechthin fühlen und für sich und ihre Freunde etwas Süßes kaufen. Solch ein Leben gab es nicht im Distrikt. Entweder man versteckte sich oder jagte. Sicherheit war ein Luxus, den sich niemand hier leisten konnte. Nicht einmal die, die tatsächlich einmal reich gewesen waren.

Canan empfand tiefes Mitleid für den Jungen. Ein tiefes Mitleid, sodass ihr Herz schmerzte. Sie streckte ihre Hand zu Tlya aus und berührte sanft seine Hand und wisperte: „Du hast etwas Besseres verdient.“

Sie hatte mit vielen verschiedenen Reaktionen gerechnet. Vielleicht dass er ihr beipflichtete, die Waffe weg legen würde und mit ihr und Yi gehen würde. Oder dass er wütend werden würde, weinen würde und sie sich geschlagen geben musste. Doch das Tlya schoss, damit hatte sie nicht gerechnet.

Die Kugel verfehlte nur Knapp ihren Kopf, pfiff an ihrem Ohr vorbei und schlug in die Wand ein. Ihre Ohren klingelten von dem lauten Knall und ihr Körper war plötzlich wie erstarrt. Beinahe hätte sie vergessen zu atmen.

Tlyas Blick festigte sich zu eiserner Entschlossenheit und er korrigierte die Richtung des Laufes auf Canans Gesicht. „Geh.“

Zunächst saß sie noch wie erstarrt da, bis plötzlich die Tür weiter aufflog und Yi in den Raum gestolpert kam, den Baseballschläger über den Kopf gehoben und zum Zuschlagen bereit.

Ein Schalter legte sich in Canans Kopf um und sie sprang auf. Dabei verhedderten sich ihre Füße ineinander und sie fiel wieder auf ihre Knie. Ein dumpfer Schmerz jagte durch ihre Beine, doch sie kraxelte sich unbeirrt auf. Sie packte Yi am Ellenbogen und zerrte ihn hinter sich her, während sie die Treppe herunter stürmte und aus dem Haus heraus. Dabei vergaß sie sogar vorher sicher zu gehen, dass sie unbeobachtet waren. Yi warf mit Fragen um sich und versuchte sich aus ihrem Griff zu finden, aber Canan schenkte dem keine Beachtung.

Der kleine Junge hatte sie doch tatsächlich erschießen wollen. Sie wollte ihm helfen und er hätte sie am liebsten getötet. Ein beklommenes Gefühl breitete sich in ihrem Inneren aus, als würde sich etwas in ihrer Brust verhärten.

Als sie das Motorrad erreichten, schubste sie Yi vor sich und lief ungeduldig auf und ab, rieb sich die Hände am Hosenbein, und wartete, dass er endlich seinen Motorradhelm aufgesetzt hatte und sie auf den Sitz gesetzt hatte. Canan kletterte hinter ihn auf das Motorrad, ließ sich von ihm den Schläger in die Hand drücken und binnen Sekunden waren sie auch schon los gefahren.

 

Mittlerweile hatte Yi aufgegeben ihr Fragen zu stellen, was denn nun in diesem schäbigen Raum vorgefallen war, denn auch wenn Canan noch immer zitterte, schwieg sie beharrlich.

Sie waren die Brutalität und Mordlust der Kasap gewöhnt und hatten gelernt damit umzugehen, doch dass nun auch schon Kinder zu gefährlichen Mördern mutierten war für Canan schlicht nicht zu ertragen. Den ganzen Weg bis zu ihrem Zuhause fühlte sie sich fiebrig und hatte das Gefühl, jeden Moment ihr komplettes Inneres auskotzen zu müssen.

Erst als sie in ihrem Versteck angekommen waren und Yi das Motorrad festgekettet hatte, brach er das Schweigen und sah sie besorgt an: „Alles gut bei dir?“

Canan antwortete nicht, sondern räusperte sich nur und ging an ihm vorbei zum Treppenhaus.

„Du hast dich mit dem Jungen geirrt“, fuhr Yi fort, während er ihr folgte. „Das kommt vor. Die Menschen hier kann man nun mal nicht alle einschätzen, besonders die im Distrikt aufgewachsen sind. Niemand kann wissen, wie sie auf solch ein Umfeld reagieren. Manche verarbeiten es gut und manche drehen eben –“

„Yi, halt die Fresse.“ Sie stieg die Treppe empor und blieb erst stehen, als sie im dritten Stock angekommen waren. Mit einem langgezogenen Seufzer ließ sie den Blick durch den kargen Raum schweifen, der seit drei Jahren ihr trautes Heim war und stapfte schließlich auf ihr Sofa aus Bananenkisten zu, wo sie sich einfach drauf fallen ließ. Jegliche Energie schien ihren Körper verlassen zu haben.

Yi setzte sie zögernd neben sie und musterte sie eindringlich. „Wir sollten vorsichtiger sein. Das nächste Mal könnte ein Erwachsener versuchen dich zu erschießen, dann kommst du nicht so leicht davon.“

Canan legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

„Ich mein ja nur. Du dachtest, dass wir sicher wären. Klar, du hast dich geirrt, aber das kommt vor. Menschen irren sich nun mal, das ist vollkommen natürlich. Vorkommen sollte es bestenfalls trotzdem nicht mehr.“

„Yi?“

Er zögerte, bevor er antwortete: „Ja?“

„Wir sind niemals sicher, richtig?“

Einige Sekunden lang herrschte eine bedrückende Stille und Canan glaubte schon, dass er sie nicht gehört hatte. Doch dann antwortete er: „Richtig.“


 

Drittes Kapitel

 

Die Sonne warf die ersten Strahlen über den grauen Beton, als sie die Tore öffneten. Das Donnern von Beton auf Beton und Dröhnen der Scharniere rollte über die leeren Straßen hinweg und wirbelte Staub auf. Ein warmer Wind wehte durch das klaffende Loch und trieb diejenigen, die bestimmt waren, ihre letzten Lebejahre in diesem Distrikt zu verbringen, immer weiter hinein.

Yi und Canan hockten geduckt auf dem Dach eines nahe gelegenen Wohnhauses und beobachteten mit beinahe krankhafter Faszination das Schauspiel.

„Es ist das zweite Mal, dass sie außerhalb der üblichen Fuhren Leute hier rein lassen“, murmelte Yi. „Warum konnte das nicht noch anderthalb Wochen warten? Zehn Tage, mehr nicht.“

Canan regte den Hals, um besser sehen zu können. „Vielleicht sind die Leute schon so weit fortgeschritten, dass sie bald sterben. Eine Stadt als Hospiz.“

Yi grunzte als Antwort. Aus seinem Rucksack nahm er sich sein Fernglas und hielt es sich vor die Augen. Es brauchte einige Sekunden, bis er es richtig eingestellt hatte und als er es geschafft hatte, reichte er das Fernglas Canan.

Sie nahm es entgegen und hielt es sich vor die Augen. Zwar musste sie seine Einstellungen noch ein wenig korrigieren, doch binnen Sekunden konnte sie sehen, was sich unter ihnen am einzigen Tor zu Distrikt Zero abspielte.

Zerschundene Leiber, mit triefender Kleidung, die nur noch in Fetzen an den Körpern hingen. Die einen humpelten in ihre neue Heimat, während andere versuchten weg zu rennen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene, alle waren sie dabei.

Canan ließ das Fernglas sinken. „Grausam“, war das einzige Wort, das sie über die Lippen brachte.

Yi nickte. „Die meisten davon werden bald sterben.“ Denn bei den meisten war der Virus bereits ausgebrochen.

Canan sah noch einmal durch das Fernglas und tatsächlich, sie konnte bei den meiste Menschen die schwarzen Flecken und Hautfetzten sehen, die sich zu lösen begannen. Die Wurzeln fettiger Haare schienen neben ihren Köpfen zu hängen und bei jedem Schritt zu wackelten. Sie konnte sehen, wie manche von ihnen Blut weinten oder mit den Händen versuchten, das Blut aus ihrer Nase aufzufangen. Grausam, mehr fiel ihr dazu einfach nicht mehr ein. Grausam.

Es dauerte mehrere Minuten, bis auch der Letzte das Tor passiert hatte. Erneut ertönte das Donner und Dröhnen, während sich die Tore wieder schlossen. Mit einem dumpfen Knall harkten die Betonwände ineinander ein und die Maschinen kamen zum Stillstand.

Canan und Yi hatten einmal die Idee gehabt, dass man aus dem Distrikt fliehen könnte, solang die Neulinge hinein gelassen wurden. Sie waren gerade einmal zwanzig Meter weit gekommen, da eröffnete man einen Kugelhagel auf sie, der eigentlich ihr Ende bedeutet hätte, hätten sie nicht die Beine in die Hand genommen und waren schleunigst wieder zurück in den Distrikt gerannt. Seither haben sie solche Versuche unterlassen. Selbst wenn es ihr sehnlichster Wunsch war, endlich wieder hinaus und zurück zu ihren Familien zu kommen, so wollten sie doch nicht sterben.

Sie beobachteten, dass sich ein Teil der Menschen zusammenrotteten und zu einer Traube bildeten, während andere sich beeilten, um in den umliegenden Häusern und Gassen zu verschwinden. Egal was die taten, sie würden nicht sehr weit kommen.

Von weitem konnte man die Motoren hören. Von den Bussen und klapprigen Autos, welche die Kasap benutzten.

Augenblicklich duckten sich Canan und Yi.

Sie hörten, wie die Motoren immer näher kamen, dann auf ihrer Höhe waren und schließlich an ihnen vorbei fuhren.

Canan versuchte einen Blick auf den verbeulten, blauen Bus zu erhaschen, aus welchem die erste Kasap strömten. Doch Yi zog sie auf den Grund zurück.

„Willst du uns umbringen?“, fauchte er.

Die Schreie der Neuankömmlinge schwappten über die Hausreihen hinweg zu ihnen herüber und gingen durch Mark und Bein. Schmerz, Angst und Wut waren vermischt mit Verzweiflung.

Niemand wusste genau was die Kasap mit den Neuankömmlingen machten, doch es gab die ein oder anderen Gerüchte, die selbst Außenseiter wie Canan und Yi erreicht hatten. Man munkelte, dass die Kasap sich die Angst und Verletzlichkeit der Frischlinge soweit zu Nutzen machten, sodass sie ihre Anzahl an Mitgliedern innerhalb eines Jahres um satte drei Prozent steigern konnten, was angesichts ihres Lebens im Distrikt eine erstaunliche Leistung war. Sie suchten sich die zähen, vielversprechenden Träger heraus und machten sie ihnen zu Eigen.

Canan wagte sich gar nicht auszumalen, was diese Menschen während ihrer Anfangszeit bei den Kasap erleben mussten und doch konnte sie sich nicht vorstellen, dass es nicht schrecklicher sein konnte, als die Experimente, welche sie bei NATRON hatte durchleiden müssen.

Sie rutschte ein wenig zu Yi herüber und flüsterte ihm zu: „Wir müssen eingreifen.“

„Bist zu wahnsinnig?“, zischte er und schien Mühe zu haben, nicht aus Wut aufzuspringen.

„Wir können sie retten.“

„Wir würden sterben.“

„Das weißt du nicht.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, bevor sie fortfuhr: „Wir sind echt gut und bis jetzt haben wir auch immer überlebt.“

Yi gab ein Grunzen von sich und bedachte sie mit einem vernichtenden Blick. Natürlich hatten sie bis jetzt überlebt, aber das war eher ihrer Vorsichtig zuzuschreiben gewesen und nicht irgendeinem Talent. Sie hatten nur das nötigste gestohlen, nie zu viel oder zu wenig und sie hatten gelernt sich auf leisen Sohlen zu bewegen. Sie kannten ihr Revier und sie kannten die Menschen.

Anders war es am Tor. Niemand kannte das Tor und die Neulinge waren unberechenbar.

Canan wusste, dass ihr Drang, diese Menschen vor den Kasap retten zu wollen, purer Wahnsinn war. Sie wusste, dass sie damit ihr Todesurteil unterzeichnet hätte und es nicht mehr Vèv13 brauchte, damit sie dahin raffte.

„Also schön“, brummte sie und versuchte die Rufe und das Gekreische auszublenden.

 

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis der blaue Bus abfuhr und zwischen den Hochhäusern verschwand. In Richtung des Hauptquartiers der Kasap.

Canan wagte sich als erstes aus ihrem Versteck heraus und gemeinsam kletterten auf das Dach des Nebengebäudes und stiegen von dort aus das Treppenhaus herunter. Ihre Schuhe quietschten auf dem Grund und wirkten unangenehm laut. Doch davon ließ sich Canan nicht beirren. Die Kasap waren weg und wenn sie ihre Routine nicht unterbrachen, waren auch die letzten von ihnen mit dem Bus verschwunden, sodass sie und Yi keinerlei Gefahr drohte.

Mit den Neulingen würden sie schon fertig werden.

Canan zog ihre Waffe aus ihrer Tasche und entsicherte sie, während Yi aus einer Nische des Gebäudes einen metallenen Baseballschläger nahm.

Mit schnellen Schritten eilten sie die Hauswände entlang zum Tor. Die freie Fläche zwischen dem Tor und der Stadt war aus Kies und Unkraut, das seine Ranken in alle Richtungen ausstreckte.

Die, die von den Kasap nicht mitgenommen wurden, hatten sich mittlerweile alle versteckt und boten Yi und Canan eine freie Sicht auf Kies, Dreck und einem löchrigen Schuh.

Yi kickte den Schuh auf Seite. „Verdammt.“

Canan blieb vor dem großen Tor stehen und warf den Kopf in den Nacken, um das Ende der Mauer erkennen zu können. Doch dieses verschwamm mit der flackernden Luft und dem Blau des Himmels. Sie rieb sich die brennenden Augen und wandte sich Yi zu. „Dieses Mal haben sie wohl kein Essen da gelassen.“

„Als sie das letzte Mal eher Frischlinge hier rein geschickt hatten, hatten sie Wasser mit reingeschickt. Warum nicht auch dieses Mal?“, fluchte er und trat wieder gegen der Schuh, als wäre dieser Schuld an all dem.

„Vielleicht glauben sie, dass wir noch genug haben.“ Canan fuhr mit der Hand über den kalten Beton.

„Tamarkin, bleib doch mal realistisch“, warf Yi ein. „Wir haben noch zehn Tage. Das reicht niemals.“

Canan bedachte ihn mit einem ruhigen Blick. „Dann sparen wir eben. Niemand darf mehr als einen halben Liter trinken, bis wir wieder frisches Wasser bekommen.“

„Das reicht nicht“, erwiderte Yi und warf aus Wut seinen Baseballschläger gegen die Mauer. Dieser prallte mit einem lauten Klirren ab und rollte einige Meter auf dem Boden.

„Wir kriegen das schon hin“, murmelte Canan. „Vielleicht regnet es ja noch mal.“

Canan wusste nicht, wo sich Distrikt Zero genau befand und doch wusste sie, dass es bestimmte Perioden gab, in denen es übermäßig viel regnete und wo es kaum bis gar nicht regnete. Ansonsten war es schwül und warm. Schnee und Frost gab es nicht.

„Wir müssten Frühling haben“, überlegte sie. „Wenn wir Glück haben, dann wird es noch ein zweimal regnen, bevor die nächste Fuhre kommt.“

Sie hob den Baseballschläger auf und reichte ihn Yi, der diesen mit mürrischer Miene annahm.

„Wann haben wir denn schon mal Glück?“, entgegnete er und machte sich auf den Weg, die Mauer entlang zu laufen.

Canan trottete ihm schweigend hinterher, die Finger strichen über den Beton. Dabei achtete sie darauf, genug Abstand von dem noch immer innerlich am kochenden Yi zu halten. Sie kannte ihn. In solchen Situationen legte er es auf eine Auseinandersetzung an, um seiner Wut Luft zu machen. Aber dies würde sie ihm jetzt nicht gönnen. Leise summte sie das Lied, das die Infizierte von vor wenigen Tagen gesummt hatte: „Schön ist der Vogel, doch singt nimmermehr. Denn wo ist kein Vogel, kein Gesang kommt mehr her.

„Wenn du nicht bald still bist, stopfe ich dir Steine in den Mund“, giftete Yi und wirbelte mit vor Wut verzerrtem Gesicht herum. Die mandelförmigen Augen wurden noch schmaler und fixierten Canan.

Diese machte einen Bogen um ihn, nur um wieder mit der Hand über die Mauer streichen zu können. „Würde ich nicht tun“, erwiderte sie und kickte dabei demonstrativ ein paar Kieselsteine durch die Luft. „kleine Steine kann man einem immer sehr gut ins Gesicht spucken.“ Sie warf ihm einen kurzen Blick über die Schulter zu, bevor sie sich wieder dem Weg vor sich zuwandte.

„Du sollest sie lieber essen“, knurrte Yi. „Dann überlebt wenigstens einer von und diesen Scheiß.“

Canan blieb stehen. „Wir überleben das beide.“

Es war ein Schwur, den sie sich geleistet hatten, nachdem sie die ersten Wochen miteinander verbracht hatten und festgestellt hatten, dass sie doch recht gut miteinander auskamen. Sie würden beide überleben und sie würden beide zu ihren Familien, außerhalb des Distrikts, zurückkehren. Innerhalb des Distrikts waren sie eine Familie, waren sie wie Geschwister, die aufeinander Acht gaben.

Yi stampfte mit dem Baseballschläger auf den trockenen Boden. „Seien wir doch mal ehrlich, unsere Chancen schwinden. Von Woche zu Woche.“

„Wir sind mittlerweile weit über hundert Wochen hier – hundertvierzig, hundertfünfzig? Da schaffen wir die nächsten anderthalb auch noch, bis die nächste Fuhre kommt.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und notfalls klauen wir uns einfach wieder was.“

Er schloss zu ihr auf und legt seine große Hand auf ihren braunen Schopf. „Nein, das ist zu gefährlich. Einmal im Monat, nicht öfter.“

Aus einem der angrenzenden Häuser knackte es. Es war leise und unter Umständen hätten sie es gar nicht gehört, wenn Canan nicht so langsam auf seine Anweisung reagiert hätte.

Yis Hand wanderte von ihrem Kopf zu ihrer Schulter und er schob sie hinter sich. Zeitgleich zog sie mit einer schnellen Handbewegung ihre MP aus der Tasche und entsicherte sie mit einem Klick.

Beide standen sie regungslos da und warteten. Warteten, dass noch weitere Geräusche einen möglichen Angreifer ankündigte oder ob sie sich vielleicht doch getäuscht hatten. Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi, bis es hinter einer modrigen Holztür raschelte. Es war zu laut für Ratten und andere Tiere gab es nicht mehr im Distrikt – sie waren alle von den Insassen verspeist worden.

„Yi, lass uns verschwinden“, wisperte Canan und wich den ersten Schritt zurück.

Bis zu seinem Motorrad war es noch zwei gute Kilometer, grob geschätzt und zwischen der Mauer und dem Stadtrand hatten sie keine Möglichkeit sich zu verstecken. Entweder rannten sie in einem mordstempo zum Motorrad und konnten mit Glück ohne Probleme fahren oder sie suchten sich das erstbeste Versteck am Stadtrand, wo sich die meisten Frischlinge aufhielten. Canan erkannte ihr Dilemma sofort und wusste, dass Yi sich für keines der Möglichkeiten entscheiden würde. Er würde bleiben und kämpfen. Seine gesamte Energie und seinen Ärger in einen Kampf lehnen, den er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gewinnen konnte. Nicht unter den gewöhnlichen Voraussetzungen, die einen ausgewachsenen Neuling beschreiben, im mittleren Alter und kräftigem Körper.

Canan und Yi waren seit drei Jahren im Distrikt und mittlerweile vollkommen untersetzt und am Ende ihrer Kräfte angelangt. Gegen einen Frischling hatten sie keine Chance.

„Bitte, lass uns gehen“, flehte sie noch immer so leise, dass nur Yi es hören konnte. „Bitte.“

Yi nickte, wandte den Blick jedoch nicht von den Hauswänden vor sich ab. Vorsichtig schob er sie vorwärts.

Canan sandte ein Stoßgebet an jegliche Götter, dass ihr Freund doch einsichtig war und machte sich bereit, katzengleich zu verschwinden – geschwind und lautlos.

Sie schoben den einen Fuß vor den anderen und versuchten zeitgleich auf keine großen Steine oder in Stolperlöcher zu treten und auf die umliegenden Häuser zu achten, aus denen ein Angreifer heraus stürmen konnte.

Canan stieg gerade über eine Kuhle hinweg, als in einem hohen Haus aus Backsteinen und verriegelten Fenstern ein lauter Knall ertönte. Wie eine Katze auf der heißen Herdplatte, machte sie vor Schreck mehrere Sätze auf Seite und hätte fast ihre MP fallen gelassen.

Eine modrige Treppe musste unter unbestimmtem Gewicht zusammengebrochen sein oder der Boden hatte nachgegeben. Egal was es letzten Endes war, irgendjemand war zu schwer und dieser Jemand konnte gefährlich sein.

Yi schubste Canan unsanft. „Lauf“, zischte er und hob den Baseballschläger an.

Vielleicht war er doch so dämlich und würde kämpfen wollen. Canan packte ihn an seiner freien Hand und zog ihn hinter sich her. Den Blick hielt sie starr auf den Weg vor sich gerichtet und doch wusste sie, wie er sie verwundert ansah, konnte es fast spüren.

Der Schweiß, der ihr über das Gesicht lief, fühlte sich so an, als benötigte es nur noch zwei Grad, bis er zu Dampf erhitzte. Sie zog Yi an einer im Staub liegenden Autotür vorbei und als es erneut in einem der Häuser krachte.

Es war ein schmales Haus, mit gerade einmal vier Fenstern und einem Loch, wo einst die Tür gewesen war. Ranken zogen sich an das Gestein hoch und schoben sich am Dach entlang, bis sie sich ineinander verworren. Aus dem Loch wölbte sich Staub und stieg gen Himmel, während ein bizarres Schnarren zu hören war.

Canan blieb abrupt stehen und obwohl eine innere Stimme schrie, dass sie doch gefälligst weiter rennen sollte, bewegten sich ihre Füße keinen Zentimeter mehr. Wie gebannt starrte sie auf das überwucherte Haus. Jeder Muskel in ihrem Körper war bereit und doch wie aus Stein gemeißelt.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals und schnürte ihr die Luft ab, als ein Schrei aus wilder Wut durch die Luft schwappte und wie eine Welle über sie zusammen brach.

Es war Yi, der vor Schreck zusammen zuckte. Seine Hand suchte Canans Schulter, berührte sie jedoch zunächst an der Seite. „Ko-komm schon“, stammelte und machte mit weit aufgerissenen Augen einen Schritt auf Seite. „Los!“

Canan rührte sich nicht. Als wären ihre Füße mit dem Boden verwachsen, schaffte sie es nicht einen Schritt zu machen.

Erst als sich der Schatten aus dem aufwirbelnden Staub löste, machte etwas in ihrem Kopf Klick und der Zement zwischen ihren Sohlen und der Erde bröckelte. Sie griff nach Yis Shirt und zerrte ihn hinter sich her. Der Stoff begann unter ihrem Griff zu reißen, doch sie zog weiter.

Bloß aus dem Augenwinkel konnte sie die Frau sehen, mit dem wilden Haar und der zerlumpten und verdreckten Kleidung. Wie sie auf sie zu rannte, mit einem Tempo, das Canan in Angst und Schrecken versetzte. Sie würden es niemals bis zu Yis Motorrad schaffen.

Auch Yi schien das erkannt zu haben, denn er packte Canan am Kragen und lenkte sie nach rechts, in Richtung der Hausreihen. Sie waren nicht weniger gefährlich und doch ihre einzige Chance, diesen Wahnsinn zu überleben.

Da Tiere im Distrikt kaum noch vorhanden waren und die Nahrung Tage vor der nächsten Fuhre ausging, gingen viele Infizierte darin über, ihre Mitinsassen zu verspeisen – vorausgesetzt, sie konnten so einen unachtsamen, armen Teufel erwischen.

Canan hatte nicht vor einer dieser Opfer zu werden, also legte sie noch einen Zahn zu. Das Herz pumpte in ihrer Brust und trieb sie immer weiter an, während ihre Beine schwerer und schwerer wurden. Die Luftröhre brannte ihr und die Lungenflügel schienen im Feuer dahin zu schmelzen.

Als sie die ersten Häuser erreichten, stürmte sie durch eine modrige Tür, durch einen Flur und am anderen Ende, durch ein verwüstetes Schlafzimmer wieder heraus. Yi sprang einfach durch das Fenster hindurch, während Canan über den Sims klettern musste – ihre Beine waren einfach so viel kürzer.

Sie kamen an einer breiten Straße aus. Canan sah gerade von rechts einen bulligen Mann auf sie zu rennen, mit blutunterlaufenen Augen und einem wirren Blick, da zog Yi sie schon weiter hinter sich her. Entlang der Straße und schließlich rechts, durch eine schmale Seitenstraße. Erst dann ließ Yi ihre Jacke los und ließ sich das erste Mal Zeit, seine Umgebung zu registrieren.

Canan wusste, dass ihnen nur Sekunden blieben, bis die Verfolger sie ausfindig gemacht hatten. Dies war deren Revier, ein Gebiet, dass Yi und Canan nicht sonderlich gut kannten und somit waren sie im klaren Nachteil. Sie musste so schnell wie möglich von hier verschwinden, oder der Überlebenskampf würde sein jähes Ende finden.

Mit einem Fingerzeig bedeutete Yi ihr, dass sie am Ende der Seitenstraße nach links abbiegen würden. Sie nickte und hoffte inständig, dass ihr bester Freund wusste, was er da tat. Auch wenn die Chancen geringen waren, dass sie sich verirren konnten, so konnten sie den Infizierten direkt in die Arme laufen, sollten sie nur einmal falsch abbiegen.

Sie rannten los, die Seitenstraße entlang und bogen schließlich, wie Yi es vorgeschlagen hatte, nach links ab. Sie befanden sich nun auf einer breiteren Straße, gesäumt von modrigen Häusern. Canan hatte keine Ahnung wo sie waren und war gezwungen, sich voll und ganz auf Yi zu verlassen, der auf eine kleine Mauer zustürmte. Diese war um die zwei Meter hoch und somit noch recht leicht zu überwinden. Zunächst half Yi Canan hinüber, bevor er selbst hoch kletterte und auf der anderen Seite herunter sprang.

Canan hatte sich gegen das heiße Gestein gedrückt, um sich im Schatten zu verstecken.

„Weiter“, wisperte Yi und ging voran. Er führte sie einen schmalen Weg entlang, der mehrere Gärten miteinander verband. Zwischen dem Gestein zog sich das Unkraut nach oben und formte sich zu tückischen Büscheln, über die man leicht stolpern konnte. Canan musste aufpassen, nicht längs auf die Nase zu fliegen und bemerkte deswegen gar nicht, dass Yi stehen geblieben war, bis sie in seinen Rücken hinein lief.

Blitzschnell schloss er seine Hand um ihren Mund. Canan war mehr als erstaunt und wehte sich, bis er an ihrem Ohr zischte. Sie sollte leise sein.

Ihr Körper versteifte sich, während Yi sie in den Schatten zog.

Es war die Frau, die am Ausgang des Weges vorbei eilte, hinter einem Messingtor und sich mehrmals um sich selbst drehte, während sie mit ihrem Blick die Umgebung abtastete. Sie sucht nach uns, ging es Canan durch den Kopf und automatisch drängte sie sich immer weiter in den Schatten hinein. Sie wird uns finden.

Die Frau blieb stehen und rief etwas über ihre Schulter hinweg in einer Sprache, die Canan nicht kannte. Aus ihrem Mund tropfte Geifer und schwarze Flecken lugten unter ihrer Kleidung hervor. Sie war todkrank. Sie würde bald sterben. Sie hat nichts zu verlieren.

Canans Magen drehte sich um und ihr wurde ganz schlecht. Ihre Karten wurden von Minute zu Minute schlechter. Sie festigte ihren Griff um die MP und hob langsam ihre Hand an. Mit einem glatten Schuss, konnte sie die Frau erschießen und sie würden vielleicht doch nicht fliehen können, vorausgesetzt, dass der Knall niemand anderes anlocken würde. Den bulligen Mann, der ihnen ebenfalls auf den Fersen war, durfte sie auch nicht vergessen – ihn musste sie auch erschießen.

Canan richtete den Lauf der Waffe auf die Frau, die sich nun die Hände in die Hüften gestemmt hatte du jemanden finster ansah, der Canan verborgen war. Sie stülpte den Finger über den Abzug und sog scharf die Luft ein. Yis Griff um ihren Mund hatte sich gelockert, obwohl er sich immer mehr verkrampfte.

Doch Canan kam gar nicht mehr dazu, den Abzug zu betätigen. Die Frau begann auf einmal aus Leibeskräften zu schreien – viel eher aus Wut, als aus Schmerz – und es folgte ein Schuss. Kein Schuss aus Canans Waffe, wie sie entrüstet feststellte. Woher er stattdessen kam, wusste sie nicht. Der Schall wurde von den Häuserwänden durch die gegen geworfen und fegte über ihre Köpfe hinweg.

Der Schrei der Frau erstarb und ging in ein Gurgeln und Schnaufen über. Sie fasste sie an die Kehle und Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor und lief an ihr herab. Ihre Augen verdrehten sich, bevor ihre Knie einknickten und ihr noch zuckender Körper auf den staubigen Grund fiel.

Canan schnappte nach Luft, während Yi sie packte und an sich zog, die Hand wieder auf ihrem Mund.

Sie kniff die Augen zusammen und wartete. Aus Sekunden wurden Minuten und doch regte sich nichts mehr. Niemand der anderen Infizierten kam angerannt, um sich das frische Fleisch der toten Frau zu nehmen. Niemand rührte sich, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Es war Yi, der sich als erstes rührte und Canan resigniert los lies. Sie wich einen Schritt auf Seite und warf ihm einen kurzen Blick zu. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn und man konnte sehen, wie sein Gehirn arbeitete, wie es die Situation analysierte.

Canan ging auf das Messingtor zu und warf einen schnellen Blick auf die Straße. Die tote Frau hatte aufgehört zu zucken und eine Lache aus rotem Blut weichte ihre Kleidung auf. Ein paar Meter von ihr entfernt war noch ein lebloser Körper. Er lag bäuchlings auf dem Asphalt, den Kopf in einer Pfütze aus Blut und Schmutz. Auch wenn Canan ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen hatte, erkannte sie den bulligen Mann sofort.

„Yi?“, murmelt sie und stolperte fast über ihre zittrige Stimme.

„Ja?“

„Sie sind beide tot.“

Yi kam nun auch zum Messingtor und warf einen Blick auf die beiden Leichnamen. Seine Lippen waren eine einzige, gerade Linie, während er das Blut betrachtete. Erst glaubte sie Erleichterung in seinen Augen aufflackern zu sehen, doch diese wich augenblicklich einer tiefen Sorge.

„Wir müssen hier weg“, sagte er mit kratziger Stimme.

Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er das Schloss des Tores geknackt hatte und sie auf die Straße rennen konnten. Sie war ansonsten verlassen. Nichts desto weniger galt es keine Zeit zu verlieren. Nur weil jemand ihnen durch das Töten der beiden Infizierten das Leben gerettet hatte, bedeutete es nicht, dass er auch ihnen freundlich gesinnt war.

Sie eilten die Straße entlang und bogen rechts ab, um wieder an den Ring zwischen Mauer und dem Häuserrand zu gelangen. Yis Motorrad stand hinter einem ausgebrannten Kleintransporter, wo man ihn von der Stadt aus nicht hatte sehen können.

Als sie den blauen Kleintransporter, auf dem ein weißes Huhn aufgeklebt war, erreicht hatten, atmete Canan erleichtert durch.

Der Schatten des Transporters hatte das Motorrad schön kühl gehalten, obwohl die Hitze um sie herum zu knistern schien. Yi riss die Schutzplane von Sitz du Lenkrad und löste die Blockade am Hinterreifen. Plane du Plastikblockade stopfte er unter den Sitz und setzte sich schleunigst auf das Motorrad. Die Steine unter den Reifen knirschten unter dem neuen Gewicht.

Canan wartete, bis er fertig war und setzte sich hinter ihn. Sie klappte ihre Tasche auf, um die MP hinein zu stopfen, entschied sich dann aber doch dagegen. Auch auf ihrem Weg zu ihrem Versteck in der Speicherstadt konnten sie überfallen werden. Yis Baseballschläger klemmte sie sich unter die Achsel, bevor sie ihre Arme um ihn schlang.

Es benötigte zwei Anläufe, bis der Motor leise auf schnurrte. Canan wusste nicht wie, aber Yi hatte es irgendwie geschafft, dass das Motorrad trotz seines kräftigen Motors unglaublich leise war.

Sie fuhren noch eine Zeit lang die Mauer entlang, bevor eine Reihe von demolierten Autos und umgestoßenen Karren ihnen den Weg versperrten.

Yi war der Überzeugung, dass diese Barrikade ein Überbleibsel der anfänglichen Unruhen in Distrikt Zero war, als sich die Infizierten und Träger noch gegen NATRON aufgelehnt hatten und beinahe einen Bürgerkrieg angezettelt hatten. Der jedoch im Keim erstickt wurde, bevor er wirklich aufblühen konnte. Viele Menschen starben, sowohl Insassen als auch NATRON-Soldaten. Das war bevor Canan und Yi in den Distrikt gesperrt wurden und bevor auch sie die Hölle auf Erden durchleben durften.

Yi lenkte das Motorrad nach rechts und sie fuhren durch ein kleines Parkhaus, wo vielleicht gerade einmal zehn Autos Platz gehabt hätten, bevor sie auf eine breite Straße abbogen. Es war nun Canans Aufgabe, die Augen offen zu halten, und mögliche Angreifer zu erspähen, bevor sie ihre Pläne in die Tat umsetzten konnten.

Der Wind zerrte an ihren Haaren und wirbelte sie zu kleinen, feinen Knoten, die sich nur schwer wieder lösen würden und ihre Gedanken kreisten um die zwei Menschen, die tot auf der Straße gelegen hatten. Wer waren sie, bevor sie in den Distrikt gesperrt wurden? Wie waren sie, bevor die Krankheit ihnen den Verstand geraubt hatte? Und wie wäre ihre erste Begegnung wohl gewesen, wenn Vèv13 nicht zwischen ihnen gestanden hätte?

 

Strom und fließendes Wasser waren ein Teil der wenigen Dinge, die sie ihnen in Distrikt Zero gelassen hatten. Sobald die Sonne hinter der hohen Mauer verschwunden war, sprangen die Straßenlaternen an und erhellten den Staub und Dreck in einem matten gelb. Dass dabei nur jede dritte Laterne funktionierte und dabei dennoch fröhlich vor sich hin flackerte, musste man ignorieren.

Als Canan das erste Mal von diesem Distrikt, von dieser abgeriegelten Stadt, gehört hatte, hatte sie an ein Loch aus Bauschutt und Leichen gedacht, wo sie binnen Tagen an Krankheiten und Nahrungsmangel sterben würde. Gegen ihre Erwartungen hatte sich NATRON an einem gesunden Maß von Ethik bedient und sie mit lebensnotwendigen Utensilien versorgt, obwohl die Welt einen jeden von ihnen wahrscheinlich schon vergessen hatte.

Drei Jahre war Canan im Distrikt und zuvor zweieinhalb Jahre in der Forschungseinrichtung von NATRON in Sterling, Colorado. Yi erzählte, dass man ihn in die Zweigstelle in Fostoria, Ohio, gesteckt hatte.

Es geschah an einem gewöhnlichen Mittwochnachmittag, als man sie holen kam. Man hatte gerade das neue genetics-checking-security-system an jeder öffentlichen Einrichtung installiert, um die Bürger besser überwachen und schützen und an NATRON übergeben zu können. Binnen Wochen waren so achtunddreißig Prozent der über gebliebenen Weltbevölkerung in Zweigstellen von NATRONs Forschungseinrichtungen gebracht worden. So auch Canan.

Sie hatte die öffentliche Bibliothek besuchen wollen, um dort in Ruhe und mit mäßigem Zeitaufwand ihre Hausaufgaben machen zu können. Der silberne Kasten stand direkt neben der Eingangstür, die sich erst öffnete, sollte der Test negativ ausfallen.

Canan drückte ihren Finger auf den Sensor und wartete. Es war reine Routine für sie geworden, da sie das System selbst an Supermärkten und Schulen installiert hatten. Den Einstich der feinen Nadel in ihre Fingerkuppe merke sie kaum, ebenso wie eine Perle ihres Blutes von den Sensoren aufgenommen und überprüft wurde.

Für gewöhnlich erklang ein greller Piepton, der bestätigte, dass die Testperson nicht an Vèv13 erkrankt war und das öffentliche Gebäude betreten durfte. Doch dieses Mal war es anders.

Etwas kaltes, hartes, schnellte aus dem silbernen Kasten hervor und schloss sich um Canans Hand. Die anfängliche Verwirrung wich schnell der aufkeimenden Panik. Sie zerrte wie wild an ihrer Hand, trat gegen den Kasten und brüllte, dass ihr doch bitte jemand helfen würde. Doch natürlich kam niemand zur Hilfe, denn sie alle wussten, was mit dem Mädchen auf der Treppe passierte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und in ihren Ohren summte es, während sie versuchte den Kasten zu demolieren und irgendwie ihre Hand zu befreien.

Sie hatte eine Panikattacke.

Binnen weniger Minuten trafen die gelben Transporter ein. Canan hatte sie immer mal wieder an ihrem Haus oder Schulgebäude vorbei fahren sehen. Jedes Mal war es ihr zu eng in ihrem Körper geworden, wenn die Transporter in ihrer unmittelbaren Nähe anhielten.

Doch dieses Mal war es die Panik, die von ihr Besitz ergriff. Canan versuchte sich hinter dem silbernen Kasten vor den Menschen in Schutzkleidung zu verstecken, während die Gelenke ihrer Hand knackten.

Dass einer der auf sie zukommenden Menschen ein Gewehr bei sich trug, sah sie erst, als der lange Lauf der Waffe auf ihren zitternden Körper gerichtet wurde.

„Geht weg!“, kreischte sie. „Ich bin nicht krank!“

Als der Abzug von dem Gewehr betätigt wurde, erfüllte ein dumpfer Laut die Luft, den Canan nicht wirklich zuzuordnen wusste. Erst viel später fand sie heraus, dass NATRON spezielle Schallverzerrer an ihren Waffen anbrachte, um Passanten nicht zu verschrecken und doch wissen zu lassen, was gerade vorging.

Es war keine Kugel, keine Patrone, die Canans Haut durchstieß und in ihr Fleisch eindrang. Es war die lange, dünne Nadel einer Spritze. Sie hatte so etwas schon mal im Fernsehen gesehen, wenn Forscher einen Löwen betäuben wollten. Nun war sie der Löwe. Eine gefährliche Bestie, die jeden in ihrer Umgebung töten konnte.

Innerhalb von Sekunden erschlafften ihre Muskeln und sie fiel auf den Grund. Selbst sprechen konnte sie nicht mehr. Ihre Zunge fühlte sich angeschwollen und pelzig an, wie ein Fremdkörper in ihrem Mund. Mit letzter Kraft zog sie an ihrer eingeklemmten Hand, erfolglos. Erst als einer der Menschen in Schutzkleidung – Canan konnte wirklich nicht sagen, welcher von ihnen männlich oder weiblich war – mit einem elektronischen Gerät den Kasten auf Stand-by setzte, wurde ihre Hand frei gegeben und sackte zu ihrem leblosen Körper auf den Boden.

Man hievte sie auf eine Trage, wo man sie an Händen und Füßen fest schnallte. Selbst wenn sie nicht betäubt gewesen wäre, so hätte sie sich spätestens jetzt nicht mehr bewegen können.

Um ihr Gesicht band man eine Maske. Von innen sah sie wie die Atemmasken aus, die man aus den Krankenhäuser kannte und doch war sie mit schwarzem Stoff und Plastik überzogen, sodass ihr gesamter Kiefer und ihre Wangen bedeckt waren. Sie Luft, die sie gezwungen war einzuatmen, roch nach Chemie und schmeckte in ihrem Mund bitter.

Die Trage wurde in einen der gelben Transporter geschoben, bevor man die Tür mit einem lauten Knall zu schlug.

Das Herz raste ihr bis zum Hals und um sie herum schwankte alles. Sie kannte die Symptome von Vèv13, man hatte sie in der Schule darüber aufgeklärt und jeden Abend im Fernsehen. Sie hatte unzählige Bilder von Erkrankten gesehen und verdammt noch mal, sie sah nicht so aus. Ihre Haut war an ihrem Körper, ihre Muskeln zuckten nicht und das Blut lief ihr nicht aus Nasenlöchern und Augenhöhlen. Sie war kerngesund.

Canan war der Überzeugung gewesen, dass dies alles nur ein Missverständnis sein würde. Wahrscheinlich hatte der Sicherheitskasten vor der öffentlichen Bibliothek bloß einen technischer Fehler gehabt und deswegen Alarm geschlagen, auch wenn er das Blut einer vollkommen gesunden Person getestet hatte. Den Behörden würde das auffallen und dann würde man Canan wieder nach Hause schicken, mit einer Entschuldigung und einem Gutschein für ein Essen zur Entschädigung.

Sie klammerte sich an diesen Gedanken, während die Trage bei der Fahrt zu einer Forschungsstation von NATRON hin und her wackelte, als wäre sie auf Seefahrt. In ihren Ohren klang das mögliche Missverständnis vollkommen logisch, logischer als die Realität.

Wie lange sie wirklich in diesem Transporter gelegen hatte, wusste sie nicht, doch es hatte sich nach Tagen angefühlt.

Als man sie hinaus schob und hinein in ein weißes Kastengebäude mit kleinen, getönten Fenstern, hatte sich ihr Magen umgedreht und sie hatte Mühe, die Galle wieder herunter zu schlucken, damit sie wegen der Maske auf ihrem Gesicht nicht daran erstickte.

Die Trage wurde durch mehrere enge Flure mit niedrigen Decken geschoben und schließlich in einen fensterlosen, kahlen Raum. Die Menschen in der Schutzkleidung nahmen ihr die Maske vom Gesicht und verschwanden, ohne ein Wort zu sagen.

Gierig atmete Canan die saubere und reine Luft ein. Sofort wurde ihr Verstand wieder klarer und ihr Körper fühlte sich lebendiger an.

Bald werden sie ihren Fehler bemerken. Bald werden sie mich raus lassen. Bald bin ich wieder Zuhause. Bald werden sie ihren Fehler bemerken. Bald bin ich wieder Zuhause. Immer wieder wanderten sie Sätze durch ihren Kopf, im Takt ihrer Atemzüge, während sich ihr Puls langsam beruhigte. Bald bin ich wieder Zuhause.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis die Tür wieder aufgeschoben wurde und eine wulstige Frau mit dicken Liedstrich und blutroten Lippen herein kam. Ihr blondes, vogelnestartiges Haar, wippte bei jedem Schritt auf und ab. Hinter sich zog sie einen Stuhl her, den sie neben Canans Trage hinstellte, um sich schließlich darauf zu setzten.

„Name?“, fragte sie mit rauchiger Stimme.

Canan schluckte, antwortete jedoch nicht.

„Name?“, widerholte die Frau geduldig.

„Canan Tamarkin“, folgte nach kurzem Zögern die Antwort.

„Geburtsdatum und –ort?“

„Zwölfter November. Sankt Peterburg, Russland.“

„Wohnort?“

„Aspen, Colorado.“

Die Frau schrieb jedes von Canans Worten auf einen kleinen Zettel. „Wann bist du immigriert?“

„Vor zwölf Jahren, als ich drei Jahre alt war.“

Sie nickte und schob den Zettel schließlich in die Tasche ihres weißen Kittels. „Ich bin Doktor Cochran und werde dich über deine Anfangszeit bei NATRON betreuen. Das hier ist eine Forschungseinrichtung in Sterling, Colorado, wo sich Ärzte und Wissenschaftler darum bemühen, dass Menschen wie du geheilt werden.“

Menschen wie du. Was war sie denn für ein Mensch? Ein fälschlich festgehaltener Mensch? Ein zum Tode verurteilter Mensch? Wut brannte in ihrer Kehle und hinterließ den bitteren Geschmack von Galle.

„Ich weiß, dass du dich für vollkommen gesund hältst, weil die typischen Symptome bei dir ausgeblieben sind. Aber du musst wissen, dass man trotzdem betroffen sein kann, auch wenn es einem augenscheinlich gut geht. Es ist nicht immer alles Gold, was glänzt.“ Sie spitzte ihre Lippen und musterte Canan. „Menschen können auch einfache Träger des Virus‘ sein. Ohne dass es ihnen schlecht geht, stecken sie Menschen in ihrer Umgebung an. Sind in deiner Umgebung Menschen krank geworden, Canan?“

Canan schloss die Augen, um den anbahnenden Kopfschmerzen Einhalt zu gebieten. „In jedermanns Umgebung sind Menschen gestorben.“

Die Frau machte Notizen, erwiderte auf Canans Bemerkung jedoch nichts. „Wir werden ein paar Tests durchführen müssen, um auf den Grund von Vèv13 gehen zu können und dir helfen zu können. Wenn du mitmachst und dich nicht sträubst, kannst du – wer weiß – in ein paar Monaten vielleicht schon wieder kerngesund nach Hause zurückkehren.“

Canans Blick wanderte zur Decke. Auf dem nackten Beton hatten sich schwarze Flecken gesammelt, die sie an unheilvolle Gewitterwolken erinnerten. In ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz, dicht hinter den Augen und benebelte ihre Sinne. Sie war nicht fälschlicherweise festgenommen worden. Man würde sie nicht mehr gehen lassen. Sie hatte den Virus in sich, sie war krank. Sie würde sterben.

Tränen sammelten sich an ihren Augenrändern und rannen über ihre Wange, bevor sie auf das Plastik der Trage herunter tropften. Sie würde sterben. Vèv13 würde sie umbringen.

Viertes Kapitel

 

Den Blick starr auf die Mauer gerichtet, drehte sie den Stummel des Apfels in ihrer Hand. Sie hatte den Letzten gegessen, während Yi sich mit trockenen Kräckern zufrieden gegeben hatte. Ihr Essen ging zur Neige und auch das Wasser war so gut wie aufgebraucht.

Canans Magen schmerzte vor Hunger, doch sie mussten ihre Rationen einteilen, bis die nächste Fuhre kam. Sechs Tage, länger würde es nicht mehr dauern.

Das übrige Fruchtfleisch des Apfels war mittlerweile braun gefärbt. Canan pulte die Kerne heraus und stopfte sie sich in den Mund. Während sie auf den Kernen herum lutschte, lehnte sie sich an den Fensterrahmen. Die Farbe des Rahmens blätterte ab und klebte an ihrer Jacke.

Die Kerne schmeckten zunächst süßlich, bis der letzte Rest des Fruchtfleisches weg war und ein bitterer Geschmack sich ausbreitete. Doch Canan verzog eine Miene. Mit eiserner Sturheit kaute sie auf den Kernen herum, zermalmte ihn mit ihren schmerzenden Zähnen.

„Wir könnten in den Tower gehen und dort nach Essen suchen“, schlug sie nach einer schier endlos wirkenden Weile des Schweigens. Nicht, dass Canan und Yi sich viel zu sagen hätten, doch ab und an kratzte die Stille zwischen ihnen an ihren Nerven. „Vielleicht wurden dort nicht alle Apartments geplündert.“

„Träum weiter, Tamarkin. In fünf Jahren haben sie alles geplündert, was es zu plündern gibt.“ Yi rückte sich auf den Bananenkisten zurecht. „Du kennst doch die Geschichten, wie verschwenderisch die ersten Menschen im Distrikt waren. Dass sie alles gegessen und getrunken haben, bis einfach nichts mehr da war. Warum sollten sie den Tower übersehen haben?“

Canan zuckte mit den Schultern und schluckte den ersten Apfelkern herunter. „Wer weiß. Unachtsamkeit? Wir sollten es versuchen.“

„Und uns im Tower von Infizierten auffressen lassen? Ich passe.“

Wieder verfielen sie ins Schweigen. Einzig das Knurren von Canans Magen rollte durch den Raum. Sie schlang ihre Arme um ihre Körpermitte und sah über den Distrikt hinweg. „Wenn du mich ein wenig mehr essen lässt und ich wieder zu Kräften komme, kann ich uns was klauen.“

Yi stöhnte.

„Ich meine das ernst. Wie sollen wir etwas von der Fuhre abstauben können, wenn wir uns kaum noch auf den Beinen halten können? Die werden uns kalt machen. Wenn nicht die Kasap, dann die Infizierten oder anderen Träger. Die töten uns, bevor wir auch nur ein Stück Brot in den Händen halten können.“ Sie glitt vom Fenstersims herunter und ging mit Beinen aus Pudding auf Yi zu. „Ich will noch nicht sterben. Nicht heute, nicht morgen und bestimmt nicht in sechs Tagen, wo sich die Infizierten über mein Fleisch her machen.“

„Wir haben einen Deal. Bloß einmal zwischen den Fuhren gehen wir bei den Kasap stehlen, damit es unauffällig bleibt. Damit sie ihre Wachen nicht verschärfen und damit wir gerade genug haben, um zu überleben. Willst du heute schon wegen den Kasap sterben oder erst in sechs Tagen?“

Canan trat gegen die Bananenkisten und verlor dabei fast ihr Gleichgewicht. „Weder noch. Ich will am Leben bleiben, genauso wie du. Also müssen wir uns was du essen und zu trinken besorgen.“

Yi seufzte. „Wir werden nirgendwo etwas finden. Auch den Kasap geht irgendwann ihr Essen aus. Trinken so oder so.“

„Yi, bitte“, flehte sie nun. „Wir können nicht einfach rumsitzen und auf den Tod warten. Das habe ich in Sterling schon getan und verdammt Scheiße noch mal, ich habe es satt.“

„Als ob es in Fostoria anders war, aber ich habe überlebt, weil ich Geduld hatte. Davon solltest du dir mal eine Scheibe von abschneiden.“ Er erhob sich nun auch und musterte Canan argwöhnisch. „Leg dich am besten hin, der Hunger macht dich ganz wirr.“

Canan rührte sich nicht von der Stelle. „Nein.“

„Tamarkin“, setzte Yi an, wurde von ihr jedoch jäh unterbrochen.

„Nein, ich will zum Tower.“ Sie schnappte sich ihre Tasche, die neben dem Kühlraum gelehnt hatte und schulterte den Riemen. Allein vom Gewicht wusste Canan, dass sie ihre MP nicht ausgepackt hatte. Sie drehte sich um und marschierte zum Treppenhaus.

Yi hatte sie mit wenigen Schritten eingeholt und am Kragen gepackt. Er zog sie zurück und drückte sie mit einer Hand gegen die Wand, während er mit der anderen die Tür zum Kühlraum aufzog.

„Was soll das?“, fauchte Canan.

„Wenn du dich schon umbringen lassen willst, dann iss vorher was, damit du nicht nach zehn Metern zusammen brichst.“ Er nahm die letzte Packung mit Trockenfleisch heraus und drückte sie Canan in die Hände.

Selbstgefällig sah sie ihn an, während sie die Packung aufriss. „Sehr umsichtig von dir, Ang.“

„Ich weiß.“

Sie funkelten sich noch wenige Sekunden lang finster an, bis Canan Yi eine Hand voll Trockenfleisch reichte und sich selbst zwei Stücke auf einmal in den Mund schob. Sie hatten in den letzten Tagen so wenig gegessen, dass ihr Magen nach kurzer Zeit rappelvoll sein würde. Fürs erste musste das ausreichen.

Es dauerte einige Minuten, bis sie spürte, dass die Energie zurück in ihren Körper kehrte. Als hätte jemand neues Leben ihren Gliedern eingehaucht, eilte sie die Treppe herunter. Im Erdgeschoss angekommen, wartete sie auf Yi, der Mühe hatte, die Schlüssel für das Schloss zu seinem Motorrad zu finden. Erst als Canan bereits die schwere Tür auf gewuchtet hatte, kam Yi die Treppe förmlich herunter geflogen.

Gemeinsam wuchteten die das Motorrad hinaus und die schiefe Treppe herunter. Während Yi aus dem Fach unter dem Sitz seinen Helm herausholte, band sich Canan ihre braune Mähne zu einem strengen Pferdeschwanz. Das Haargummi hatte sie einst einer toten Infizierten gestohlen, deren von Ratten angeknabberten Leichnam in einem ausgebrannten Auto gelegen hatte. Sie war hübsch gewesen, bevor die Nager ihr das Gesicht zerfressen hatten.

„Ich gebe uns einen Zeitrahmen von fünfzehn Minuten, danach müssen wir den Tower verlassen haben“, erklärte Yi. „Wir gehen rein, durchkämmen ein paar Wohnungen und gehen wieder raus. Ohne Aufsehen, ohne Ärger, ohne Verluste.“ Er setzte sich den Helm auf.

„Bist du fertig?“, erwiderte Canan und kletterte auf den Sitz des Motorrads.

Yi setzte sich vor sie. „Ja.“

„Dann halt den Schnabel und fahr.“

Yi murrte etwas auf Chinesisch, was Canan nicht verstand, fuhr jedoch tatsächlich los.

Sie fuhren an den leeren Fabrikgebäuden entlang, bis sie an einer schmalen Kreuzung ankamen, die man unter Umständen schnell übersehen konnte. Sie bogen rechts ab und fuhren durch ein Labyrinth aus schmalen Straßen und hohen Backsteinhäusern, mit zugemauerten Fenstern oder Löchern in den Wänden.

Von weitem konnten sie schon das höchste Hochhaus im Distrikt sehen, aus silbernem Stahl und einstig im Licht funkelnden Fensterwänden. Nun waren sie verstaubt und verschmutzt und von einem undurchschaubaren Braun bedeckt. Der Stahl wirkte brüchig.

Canan hatte die Aufstände im Fernsehen gesehen, als die ersten Menschen in den Distrikt eingesperrt wurden und noch den Willen und die Kraft hatten sich gegen NATRON aufzulehnen. Nicht, dass sie damit irgendetwas erreicht hätten. Doch damals war der Tower einer ihrer Stützpunkte, von wo aus sie auf Flugzeuge und Hubschrauber geschossen hatten. Mehrere Journalisten waren abgeschossen worden und starben in den brennenden Wracks.

Heute war der Tower ein verwittertes Überbleibsel einer Zeit, in der es noch Hoffnung gegeben hatte. Hoffnung, die Canan und Yi sich nicht leisten konnten, ohne daran zu Grunde zu gehen.

Yi parkte das Motorrad in einer Garage voller leerer Kartons und einem umgekippten Billiarttisch.

„Ich warte draußen“, sagte er schließlich, während er sich durch sein schwarzes Haar fuhr. „Wenn jemand kommt, mach ich ihn fertig, damit du drinnen Zeit hast.“

Canan rückte den Riemen ihrer Tasche zurecht. „Fünfzehn Minuten?“

„Ja, nicht länger.“

„Ich habe keine Uhr.“

Yi seufzte. „Mach es nach Gefühl, so wie immer.“

Sie nickte und warf einen Blick auf den Eingang. Die wenigen Stufen waren mit Glassplittern und Schutt übersäht. Die Knochenfragmente versuchte Canan dabei großzügig zu übersehen.

Yi legte zum Abschied für einen kurzen Augenblick seine Hand auf ihren Schopf, bevor er sich zurück zog und eine Position suchte, um das Gebäude gut im Auge behalten zu können.

Canan atmete tief durch und machte sich auf den Weg. Zunächst die Hauswand entlang, bis sie die Straße überquerte und vor dem Tower zum Stehen kam. Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Die Spitze des Hochhauses verlor sich in der flimmernden Luft.

Es galt keine Zeit zu verlieren, weswegen sie zügig die Treppe hocheilte und sich durch die Drehtür kämpfte, die sich in der rissigen Wand verkeilte.

Vor ihr breitete sich eine Lobby aus, die zu ihrer Zeit vermutlich prachtvoll und luxuriös ausgesehen hatte. Nun waren jedoch einige Säulen – glücklicherweise keine Stützpfeiler – umgestoßen und Müll über den ganzen Marmorboden verteilt.

Sie ließ ihren Blick durch die Halle schweifen, bevor sie die staubigen Stufen fand, die in den ersten Stock führten. Sie wusste, dass die ersten fünf Stockwerke ebenso verwüstet wie leer waren. Sie würde nicht einmal eine mumifizierte Ratte zum Essen finden. Dafür musste sie einige Stockwerke höher steigen. Da der Fahrstuhl seit Jahren nicht mehr funktionierte, musste sie die Treppe nehmen, um in das zwölfte Stockwerk zu gelangen. Fünfzehn Minuten, die Hälfte würde sie für die Stufen brauchen.

Sie straffte den Riemen ihrer Tasche und eilte die Stufen hinauf. Nach nur drei Stockwerken ging ihr bereits die Puste aus – sie hatte die letzten Tage einfach viel zu wenig dafür gegessen. Doch sie ging mit eisernem Willen weiter, ohne auf ihre Beine aus Wackelpudding acht zu geben oder auf ihr Herz, das mit breiten Engelsflügeln zu schlagen schien.

Nach Luft schnappend und mit weichen Knien, kam sie im zwölften Stock an. Die Dächer der Häuser waren weit unter ihr und sie war auf Augenhöhe mit der Mauer. Für den Bruchteil einer Sekunde genoss sie die Aussicht und gönnte ihrem Körper eine Verschnaufpause, bevor sie in die erste Wohnung zu ihrer linken hinein schlüpfte. Die Türen waren nicht verschlossen, aber anders als die in den ersten paar Stockwerken gut in Schuss. Auch die Wohnung waren weniger verwüstet, lediglich die Möbel waren verrückt und die Schränke geöffnet. Canan ging schnurstracks in die Küche und riss jede Schublade und jede Schranktür auf. Bis auf eine Dose mit abgelaufenen Pfirsichen fand sie nichts.

Sofort ging sie in die nächste Wohnung, die exakt genauso aussah.

Canan war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass der Tower einst ein Hotel gewesen war, wo sich Prominente und Politiker trafen. Doch das war nur eine Vermutung.

Sie wühlte in einem Schrank aus schwarzem Lack und fand in der hintersten Ecke eine kleine Schachtel. Es war unwahrscheinlich darin Essen zu finden und doch überwog ihre Neugierde. Vorsichtig hob sie den Deckel an und stieß einen grellen Schrei aus, als ihr eine junge Ratte entgegen kam. Vor Schreck ließ sie die Schachtel fallen und wich zwei Meter zurück.

Es war nicht das erste Mal, dass sie Ratten sah oder ihnen gefährlich nahe kam und doch erschrak sie jedes Mal. Sie konnte sich einfach nicht an diese Tiere gewöhnen.

Mit Mühe schluckte sie die Angst herunter und schob sich in die Küche, wobei sie einen großen Bogen um die Schachtel mit der in der Luft schnuppernden Ratte machte.

Die Schränke waren aufgerissen und durchwühlt. Canan musste nur einen kurzen Blick hinein werfen um zu sehen, dass ihr jemand zuvor gekommen war. Die Wahrscheinlichkeit in diesem Stockwerk etwas zu finden war grenzenlos gering. Sie musste noch ein paar Stockwerke nach oben.

Ob ihre schwindenden Kräfte das mit machten, wagte sie nicht zu glauben, aber sie musste es trotzdem versuchen. Für sie und Yi stand einiges auf dem Spiel, wenn sie nichts zu essen fand.

Sie quälte sich noch drei weitere Stockwerke nach oben und schlich sofort in die erste Wohnung. Wenn sie jetzt eine Pause machen würde, würde sie nicht mehr weiter machen können. Sie durchwühlte Regale und Schränke, drehte Matratzen in den Betten um und tastete die Böden nach losen Dielen ab. Die Menschen waren kreativ, wenn es um Verstecke ging und es war nur eine Frage der Zeit, bis Canan eines davon entdecken würde.

Ohne eine Pause zu machen, stürmte sie in die nächste Wohnung. Überall auf dem Boden war Rattenkot verteilt und knirschte unter ihren Schuhen. Sie unterdrückte den Würgereflex und ging in die Küche. Hoffnung flammte in ihr auf, als sie die geschlossenen Schränke und den ordentlichen Boden sah. Sofort stürmte sie auf den Kühlschrank zu und riss die Tür auf. Vor sich türmten sich verschimmelte Tomaten, Bananen und Brot. Nichts davon würden sie essen können, ohne danach ernsthaft krank zu werden.

Bljad!“, fluchte sie und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. Warum konnten die reichen Leute nicht mehr Dosenfuttern horten, anstatt solch verderblicher Waren? Mit den Zähnen knirschend ging sie die Schränke ab, fand aber nur Küchenrolle und ein stumpfes Brotmesser. Beides stopfte sie sich in die Tasche – denn man konnte ja nie wissen, ob man so etwas Mal brauchte.

Sie verließ die Wohnung und ging zu der nächsten, der letzten Wohnung auf diesem Stockwerk. Die Tür war verriegelt und Canan musste sich mehrmals dagegen werfen, bis sie aufschwang.

Die Wohnung war verstaubt und durch die Fensterscheiben zogen sich weiße Risse, die wie Spinnenweben aussahen. Doch ansonsten war es ordentlich. Erneut keimte Hoffnung in ihr auf. Wenn niemand anderes diese Wohnung durchwühlt hatte, konnte man vielleicht doch noch etwas finden. Zügig ging sie in die Küche und zog als erstes den Kühlschrank auf. Auch hier war verschimmeltes Gemüse und Käse, deren Gestank die Luft verpestete. Sofort schloss sie die Tür und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, um den Geruch zu vertreiben. Sie widmete sich den Küchenschränken. Tüten mit Suppen und Gewürzen fielen hinaus und auf ihren Kopf. Sie waren seit gerade einmal einem Jahr abgelaufen – vielleicht konnten sie davon ja noch etwas essen. Canan nahm drei Tütensuppen und stopfte sie in ihre Tasche.

Im nächsten Schrank fand sie eine ordentliche Anzahl von Dosenravioli und eingelegtem Gemüse. Mit einem Blick auf das Verfallsdatum stellte sie fest, dass so gut wie alles noch essbar war. Ihr Herz machte einen Freudensprung und eifrig packte sie die Dosen in ihre Tasche. Bis auf eine Dose mit eingelegten Gurken. Mit einer Schere, die sie in einer Schublade fand, schnitt sie das Blech durch.

Der säuerlich-süße Geruch der Gurken stieg ihr in die Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammen laufen. Einen Löffel brauchte sie nicht. Sie kippte sich vorsichtig ein bisschen aus der Dose in den Mund und kaute genüsslich.

Wenn sie die Treppe wieder herunter wollte, ohne dabei zu fallen, brauchte sie Energie. Yi würde das mit Sicherheit verstehen.

Canan rutschte den Kühlschrank herunter und auf den Boden, während sie sich immer mehr von den Gurken in den Mund kippte. Sie schmeckten auch einfach nur zu gut. Ihr Magen bedankte sich mit einem Grummeln, bevor er sich an die Arbeit machte und das leckere Essen verdaute.

Einige Minuten saß sie einfach nur da und leckte sich über die Lippen, die noch immer nach den Gurken schmeckten. Bis ihr Körper genug Energie hatte, dass sie aufspringen, sich die Tasche schnappen und aus der Wohnung stürmen konnte. Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich. Wenn sie Glück hatte, würde niemand anderes diese Schatzkammer entdecken und sie und Yi würden hier öfter etwas zu Essen holen können.

Sie hatte gerade das Treppenhaus erreicht und warf noch einen letzten Blick aus einem der verdreckten Fenster heraus, als ihr ein im Sonnenlicht schimmerndes Gebäude auffiel. Sie erkannte sofort das Hauptquartier der Kasap. Es war einst mal die französische Botschaft gewesen, doch nun, nachdem alle Flaggen und Relikte verbannt wurden, war es nur ein kastenförmiges Gebäude aus poliertem Stahl und Glas. Die Glasscheiben waren sauber und schimmerten im Licht, während die Straßen zu den Füßen des Gebäudes voll waren mit Plastiktüten, Müll, Schutt und Knochen. Ein Kontrast, der Canans Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ihre Lebensmittelvorräte hatten sie in abgelegenen Häusern gelagert, sodass es immer leicht war für Canan etwas zu stehlen. Doch die Kasap waren nicht dumm. Ihre Anführer würden niemals das sichere Gebäude verlassen, wenn es nicht zu vermeiden galt. Warum sollten sie nicht also auch in diesem Kasten aus Stahl Nahrung aufbewahren? Frische Nahrung, die wesentlich schmackhafter war, als das alte Dosenfutter in ihrer Tasche.

Adrenalin durchflutete ihren Körper und gab ihr mehr Energie, als sie eigentlich verkraften konnte. Sie rannte die Treppe herunter, über Schutt und vergilbte Zeitungen hinweg und stürmte aus dem Gebäude, ohne auf mögliche Gefahren zu achten. Erst als sie Yi erreichte, der sich bei ihrer Leichtsinnigkeit die Haare raufte, blieb sie stehen und atmete tief durch.

„Was ist passiert?“, rief er aus und zog sie in den Schatten der Garage. „Wurdest du erwischt?“

„Nein“, keuchte Canan und legte ihre Tasche auf den Sitz des Motorrads, um Yi ihren Fund zu enthüllen.

Dieser staunte nicht schlecht. „Ja, leck mich am Arsch. Dann ist da drin ja doch noch was zu finden.“ Er lachte auf. „Wer hätte es gedacht.“

„Das Zeug ist uralt“, gab Canan jedoch zu bedenken. „Wenn wir davon nicht krank werden, haben wir Glück gehabt. Man soll so etwas auf Raumtemperatur aufbewahren“, fügte sie auf Yis irritierten Blick hinzu. „Da drin sind es mindestens dreißig Grad, das ist mehr als Raumtemperatur.“

„Was schlägst du kleines Genie vor?“, fragte er und verschränkte die Arme. Er schien zu ahnen, worauf Canan hinaus wollte.

Mit dem Daumen deutete sie hinter sich. „Auf der anderen Seite des Towers ist der Silberkasten. Wenn sich die Kasap darin verschanzen können, dann werden sie doch –“, weiter kam sie nicht.

„Nein, nein, nein“, quengelte Yi. „Einmal im Monat, einmal! Das war unser Deal. Jetzt sind wir schon das zweite Mal los gezogen! Ein drittes Mal würden wir nicht überleben. Wir sollten unser Glück nicht herausfordern und uns mit dem zufrieden geben, was wir kriegen können.“

„Du willst dich damit zufrieden geben?“, sie warf ihm die Tasche in die Arme. „Sieh es dir an, das wollen nicht einmal die Ratten fressen! Die Ratten, Yi! Verdammte Scheiße noch mal, sind wir weniger Wert als die beschissenen Ratten?“

„Wir hatten einen Deal!“, zischte Yi. „Scheiß auf die Ratten. Wenn wir sterben, machen sie sich eh über uns her.“

„Wenn wir nichts Richtiges zu Essen holen, dann verhungern wir! Was ist dir lieber? Ein qualvoll langsamer Tod oder ein schneller durch die Kasap?“ Sie warf die Arme vor Wut in die Luft. „Noch können wir unser Schicksal wenden, noch sind wir nicht zu Tode verurteilt.“

Yi presste seine Lippen fest aufeinander, als wollte er sich seine Bemerkung verkneifen. Stattdessen ließ er seinen Blick zwischen Canan und dem Tower schweifen.

„Wir sind gut, Yi. Wir schaffen das.“ Und das meinte sie wirklich so. Sie hatten es schon so oft getan und waren jedes Mal davon gekommen, warum sollte es jetzt anders sein?

„Wie stellst du dir das vor? Du warst noch nie im Silberkasten. Wir wissen nicht, ob auch unter diesem Tunnel sind, die wir nutzen können“

Canan wandte sich in die Richtung, in der sie das Hauptgebäude er Kasap vermutete und verschränkte nachdenklich die Arme. „Wenn ich ins Nebengebäude komme, kann ich über das Dach auf den Silberkasten kommen. Tagsüber verteilen sie sich auf den Sportplätzen und Patrouillen in ihrem Gebiet, also werden im Hauptgebäude nicht viele Leute sein. Ich schätze, eine halbe Stunde und ich bin wieder draußen.“

„Das Dach, hm?“

„Ja, das Dach des Nebengebäudes ist etwas höher als das vom Silberkasten. Wenn die Luft rein ist, kann ich ohne groß aufzufallen, hinein gehen.“

„Schön und gut, aber was machst du, wenn du drinnen bist?“

„Einfach so tun als wäre ich einer von denen.“

„Das hat noch nie funktioniert. Du siehst nicht aus wie jemand von den Kasap. Du bist zu dreckig und abgemagert dafür. Davon abgesehen, die sind doch nicht blöd. Die wissen doch, wer zu ihnen gehört und wer nicht.“

„Hast du einen besseren Vorschlag?“

Er grunzte. „Ja, es bleiben zu lassen. Das ist reiner Selbstmord.“

Canan klopfte ihm auf die Schulter, bevor sie losmarschierte. „Nur gut, dass wir nichts zu verlieren haben.“

Sie konnte hören, wie Yi leise vor sich hin fluchte und dabei zwischen englisch und chinesischen wechselte, doch sie versuchte es zu ignorieren. Wenn sie die nächsten Tage überleben wollten, musste sie ihren Dickkopf durchsetzen und Yi dazu animieren, mit ihr zu ziehen.

Wie zu erwarten, kam er ihr doch hinterher. Das Motorrad schob er neben sich her, während er voller unterdrückter Wut mit den Fingern auf dem Lenkrad tippte. Canan konnte nur ahnen, was gerade in seinem Kopf vorging und doch hatte sie eine relativ gute Vorstellung. Es war die Sorge, die ihn so aufbrachte. Sollte es wirklich mal passieren, dass man einen von ihnen erwischte und tötete, dann wäre der andere vollkommen alleine in dieser ummauerten Hölle. Ein Zustand, den sie sich beide nicht gerne ausmalten.

„Solang ich drinnen bin, wirst du Schmiere stehen“, wies Canan ihn an und deutete auf ein altes Haus mit verriegelten Fenstern und eingetretener Tür. „Ich brauchte dich hier unten. Wenn es zu gefährlich aussieht, dann lenk sie ab, damit ich Zeit habe zu verschwinden.“

Er nickte. „So laut es geht, damit du es mitkriegst.“

„Genau.“

Canan warf einen Blick um die nächste Hausecke und auf das modrige Gebäude neben dem Silberkasten. Es war definitiv leer, denn das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes würde es nicht standhalten können. Doch Canan war viel zu leicht für ihre Größe, dank der fehlenden Nahrung, die sie sich nun beschaffen würde.

Entschlossen krempelte sie sich die Ärmel ihrer Strickjacke hoch und ging zu Yi zurück, um sich ihre Tasche zu nehmen. Die Dosen stopften sie gemeinsam in das Fach unter dem Motorradsitz, bevor Canan den Riemen über ihre Schulter legte.

„Bis gleich“, flüsterte sie zu Abschied, doch eine Antwort Yis wartete sie gar nicht erst ab. Mit flinken und ebenso leisen Schritten eilte sie über die Straße und durch den Eingang des alten Hauses. Die Luft war stickig und es war, als würde sie durch dicken Stoff atmen. Ihr blieben nur wenige Sekunden, sich zu orientieren, doch das genügte. Sie fand sofort eine modrige Treppe, die unter ihrem Gewicht knarrte, doch nicht nachgab.

Sie wagte es nicht die Wände oder das Geländer der Treppe anzufassen. Alles wirkte so instabil, als würde eine bloße Berührung reichen, um das ganze Gebäude einstürzen zu lassen. Nichts desto weniger glaubte Canan, dass ihre Entscheidung die richtige war und sie Yi und sich selbst retten konnte. Sie musste nur durch diese Bruchbude hindurch.

Als sie im ersten Stock ankam, verharrte sie wenige Sekunden am Treppenabsatz und lauschte. Sie konnte die Stimmen aus dem Nebengebäude hören und wie ihr eigenes Herz sich gegen ihren Brustkorb warf.

Eine Treppe, die direkt auf das Dach führte, gab es nicht. Das war zwar nicht ganz so, wie Canan sich das vorgestellt hatte, aber aufhalten würde es sie ja doch nicht. Sie schnürte sich die Tasche enger um den Oberkörper, bevor sie eines der hinteren Fenster auf stieß, das man nicht mit Bretter verriegelt hatte.

Mit katzengleicher Präzision kletterte sie auf en Sims des Fensters und zog sich am sich biegenden Rahmen hoch. Dreck klebte an ihren Fingern und ließ sie rutschig werden. Sie rieb sich die Fingerkuppen an der Hose ab und tastete über sich vorsichtig nach der Regenrinne. Diese quietschte ein wenig, als Canan sich schwer machte, um die Stabilität der Rinne auszutesten, doch sie hielt.

Die rechte Schuhspitze rammte sie in eine Unebenheit in er Außenwand, während sie sich an der Regenrinne hoch zog. Sobald sie die Dachziegel sah, griff sie danach und versuchte schnellst möglichst von der maroden Rinne weg zu kommen. Es war ein an ihr zerrender Kräfteakt und ihr wurde schnell bewusst, dass sie sich möglicherweise übernommen hatte. Doch zurück konnte sie nicht mehr. Jetzt nicht mehr.

Sie kletterte das Dach hoch, hielt sich aber dennoch geduckt. Wachen konnten überall sein und wer weiß, vielleicht hatte sie auch schon jemand entdeckt. Aber das Risiko musste sie eingehen. Schnell hinüber, rein und wieder raus – sie konnte es schaffen.

Vorsichtig arbeitete sie sich voran und versuchte dabei über die losen Dachziegel hinweg zu steigen.

Doch einer der Ziegel löste sich und drohte das Dach herunter zu rutschten. Mit der in der Luft hängenden Fußspitze schaffte sie es noch gerade eben, den Diegel aufzufangen, damit dieser nicht auf den Boden fallen und zerbarsten würde.

Bljad“, fluchte sie leise. Zögerlich ließ sie mit einer Hand das Dach los und nahm den Ziegel. Was sollte sie nur damit machen? Wenn sie ihn irgendwo hinlegte, würde er vielleicht ein anderes Mal herunter fallen und ungewollte Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Kurzerhand packte sie ihn in ihre Tasche.

Binnen Sekunden hatte sie das Ende des Daches erreicht. Sie stemmte sich von den bröckelnden Ziegeln ab und sprang auf das Dach des Silberkastens.

Das Dach war voller Kies, alten Plastiktüten und leeren Bierdosen. Doch Menschen sah sie nicht. Auf leisen Sohlen schlich sie zu der Feuertreppe, die sich an der Rückwand des Gebäudes entlang schlängelte. Das Metall war rostig und karrte bei jedem kleinen Windstoß.

Stabil würde es wohl sein, dachte sie Canan. Sonst hätten die Kasap es mit Sicherheit längst repariert.

Vorsichtig kletterte sie die ersten Stufen herunter. Auch wenn es wackelte und bedenkliche Geräusche von sich gab, so hielt sie dem Gewicht von Canan stand. Sie machte einen Schritt nach dem anderen nach unten, bis sie auf der Höhe eines Fensters war. In dem Raum war es dunkel, sodass sie nichts erkennen konnte, aber das musste auch bedeuten, dass sich kein Mensch darin befand.

Zunächst überprüfte sie, ob das Fenster verschlossen war – war es tatsächlich – und schließlich fischte sie auf ihrer Hosentasche eine feine Nadel, die einem Eispick ähnelte. Sie schob diese zwischen dem Fenster und dessen Rahmen und schob es langsam nach unten. Die Fenster im Distrikt waren allesamt alt und somit leicht zu knacken.

Sie wartete auf einen kurzen Widerstand und setzte ein bisschen mehr Kraft ein, bis das Fenster klickte und sie es leise aufdrücken konnte.

Die Nadel schob sie zurück in ihre Hosentasche und schlüpfte in den Silberkasten.

Die Luft in dem Raum war angenehm kühl und kitzelte auf ihrer schweißnassen Haut. Es roch nach Moschus und süßlichem Sirup – eine seltsame Mischung, wie Canan fand. Doch davon ließ sie sich nicht beirren. Wer auch immer diese Düfte ausstieß, er würde irgendwann wieder zurückkehren. Bis dahin musste sie über alle Berge sein.

Sie schlich durch den mit Teppich ausgelegten Raum und öffnete die Tür einen kleinen Spalt. Sie sah in einen Flur mit weißen Wänden, Teppich und einer gähnenden Leere. Ihr Herz machte vor Freude einen Hüpfer und eilig schob sie sich durch en Spalt hindurch und schloss die Tür hinter sich. Solange keine Menschenseele zu sehen war, musste sie das für sich ausnutzen.

Sie sah nach links und nach rechts, unschlüssig, in welche Richtung sie gehen sollte. Bis dato war sie noch nie in diesem Gebäude gewesen und hatte daher wirklich keine Ahnung, wo die Kasap das Essen aufbewahren könnten. In ihrem Zweiggebäude war es ein fensterloser Raum im ersten Stock gewesen, den sie auch nur anhand eines Tipps von einem Infizierten gefunden hatten.

Hier würde ihr keiner Helfen. Dieses Mal musste sie auf eigene Faust etwas finden.

Sie entschied sich nach rechts zu gehen. Der Teppich dämpfte ihre Schritte und machte aus ihnen sanfte, dumpfe Tritte, die niemand außer ihr hören konnte. Dennoch hatte sie das Gefühl zu laut zu sein.

Sie presste die Zahnreihen aufeinander und blieb vor einer Tür stehen. Ein rechteckiges Schild, worauf Privat stand, hing an einem Nagel am Holz und schrie förmlich nach Canans Aufmerksamkeit. Sie atmete tief durch und drehte den Türknauf. Die Tür sprang auf und sie warf einen schnellen Blick hinein. Es war ein Computerzimmer, mit zwei leuchtenden Bildschirmen und surrenden Monitoren. Es war das erste Mal seit drei Jahren, dass Canan einen funktionierenden Computer zu Gesicht bekam.

Verwundert riss sie die Augenbrauen hoch. „Oh“, entfloh es ihr.

Der Raum war zwar ansonsten leer und eigentlich uninteressant für sie, doch den Blick konnte sie trotzdem nicht los reißen. Da standen waschechte Computer! Hier im Distrikt!

Wenn sie Internet hätten, könnte sie Kontakt zu ihren Eltern aufnehmen – zu irgendjemandem in der Außenwelt.

Sie machte einen Schritt in den Raum, doch dann kamen ihr die Worte der Dame in den Sinn, die sie damals in Sterling empfangen hatte.

Es ist nicht alles Gold was glänzt.

Wollte sie Kontakt zu der Außenwelt aufnehmen? Wollte sie wissen, wie sehr die Krankheit der Menschheit zugesetzt hatte? Sie war sich da wirklich nicht sicher.

Bevor sie noch mehr Zeit vertrödeln konnte, riss sie sich vom Anblick der leuchtenden Monitore weg und ging den Flur weiter entlang.

Schnell fiel ihr auf, dass die Türen alle im gleichen Abstand zueinander waren und hinter jedem das Surren von Computern zu hören war. Neun Türen, sie alle waren ein Tor zur Außenwelt.

Dass sie niemandem begegnete, machte sie zwar stutzig, aber sie wollte das Schicksal nicht herausfordern, indem sie sich darüber sorgte.

Als sie das Ende des Flures erreicht hatte, blickte sie auf eine weiße Treppe, die ein Stockwerk tiefer führte. Canan lauschte, ob sich am unteren Rand der Treppe möglicherweise ein Kasap aufhalten würde. Doch es herrschte Stille.

Wie konnte das nur sein?, schoss es ihr durch den Kopf. Sie befand sich im Hauptquartier der Kasap, im berüchtigten Silberkasten, der von allen anderen Insassen gefürchtet wurde. Doch niemand war da. Sie konnte munter durch die Flure spazieren und niemand störte sie daran.

Canan traute diesem vermeintlichen Frieden nicht. Sie knirschte mit den Zähnen und drehte sich um, um auch den Rest der Etage zu inspizieren.

Schnell war sie an der Tür angekommen, von wo aus sie ihre Suche begonnen hatte. Beinahe wäre sie an ihr vorbei gelaufen, ohne es zu bemerken. Doch aus dem Augenwinkel viel ihr diese Unregelmäßigkeit schließlich doch auf.

Die Tür war offen.

Canan war sich zu hundert Prozent sicher, dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie war zu gewesen, als Canan ankam und sie war zu gewesen, als Canan ging. Sie hatte keinerlei Spuren hinterlassen, die auf ihren Aufenthalt hinwiesen. Sie war leise gewesen.

Doch die Tür war offen. Bloß einen Spalt, sodass es fast nicht aufgefallen wäre, aber offen.

Sofort zog sie ihre MP auf der Tasche und entsicherte sie. Jemand war hier gewesen und möglicherweise hatte er sie bemerkt.

Ihr Herz machte einen schmerzhaften Sprung in ihrer Brust, als sie realisierte, dass sie entweder so gut wie tot war oder in unnötige Panik verfiel. Vielleicht hatte sie die Tür einfach nicht richtig zu gemacht und sie war wieder auf geschwunden. Nein, unmöglich. Sie war richtig zu gewesen.

Bljad“, fluchte sie. Sie öffnete die Tür etwas weiter in sah hinein. Der Raum war nach wie vor leer. Vollkommen leer.

Im Grunde hatte Canan zwei Möglichkeiten. Entweder sie suchte weiter und ließ sich nicht von einer offenen Tür beirren oder sie akzeptierte es als Warnzeichen und verschwand augenblicklich aus der Höhle des Löwen.

Mit der Hand fuhr sie sich über das Haar, wo sich vereinzelte Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten. Sie konnte nicht aufgeben, sie musste sich und Yi etwas zu Essen besorgen. Ihr Überleben hing davon ab.

Sie wandte sich blitzschnell um, ließ die Tür wie gehabt und eilte den Flur herunter. Sie überprüfte jede einzelne Tür, spähte in jeden Raum hinein und fand überall Computer und Bildschirme vor, die sie schmerzhaft daran erinnerten, dass es auch eine Welt außerhalb dieser hohen Mauern gab.

Der Flur machte eine Abbiegung nach rechts und ein Notausgangsschild leuchtete in der Mitte der Decke. Der weiße Pfeil zeigte nach links, wo eine gläserne Tür in ein Treppenhaus mündete. Canan musterte das Treppenhaus argwöhnisch und entschied sich dann, weiter zu gehen.

Auch in den darauf folgenden Räumen war nichts anderes als Computer.

Langsam fragte sich Canan, was die Kasap wohl mit all den Computern machten würden. Vielleicht waren sie aber auch nur ein Überbleibsel aus der Zeit, in der der Distrikt noch eine gewöhnliche Stadt und der Silberkasten ein Bürogebäude war.

Sie kam zurück, blieb vor der der Glastür stehen und musterte die Treppe. In diesem Stockwerk würde sie nichts mehr finden, doch sie konnte ihr Glück weiter unten versuchen. Sie atmete tief durch und stieß die Tür auf. In diesem Treppenhaus war es schwül und es roch nach Schweiß.

Leise schlich sie die Stufen herunter, die MP in der rechten Hand und zum Schießen bereit. Obwohl ihr Herzschlag in ihrer Brust einen Aufstand anzuzetteln versuchte, war sie doch vollkommen ruhig. Sie erreichte das nächste Stockwerk und zögerte, bevor sie die Holztür langsam öffnete.

Im Grunde erwartete Canan, jetzt auf eine Versammlung von nach Blut durstenden Kasap zu treffen, die sie in Stücke reißen würde. Doch der Flur war leer.

„Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte sie zu sich selbst und ließ die Waffe sinken. Wo waren all die Leute?

Sie schlich zur ersten Tür zu ihrer Linken und öffnete sie einen Spalt. Darin befanden sich mehrere Stockbetten aneinander gereiht und mitten drin ein lumpiger Teppich. Dass hier auch Menschen wohnten, war Canan neu, aber ihr Wissen über das Leben der Kasap hatte sie auch nur von ein paar Infizierten oder anderen Trägern aufgeschnappt, die selbst nie im Silberkasten gewesen waren.

Sie ging zur nächsten Tür und hörte, noch bevor sie den Türknauf umdrehen konnte, ein tiefes Schnarchen. Da war jemand drin. Sofort machte sie einen Schritt zurück und ließ ihre Hand in der Luft schweben. Sie drehte sich um und ging schnurstracks zur nächsten Tür.

Dahinter verbarg sich ein länglicher Raum, der womöglich einst für Konferenzen gedacht war und jetzt viel eher wie ein kleiner Speiseraum aussah. Der längliche Tisch war zwar leer, aber voll mit Krümeln und klebrigen Flecken. An der Wand stand ein kleiner Schrank und Canan eilte auf ihn zu und zog leise die Türen auf. Teller und fleckige Gläser waren darin gestapelt, doch Essen fand sie nicht.

Schnell ließ sie diesen Speisesaal hinter sich, mit neuer Hoffnung. Wenn sie hier tatsächlich aßen, musste das Essen auch irgendwo aufbewahrt werden und diesen Ort würde Canan finden.

Sie schnupperte in der Luft, doch es roch nur nach Schweiß.

Die Hoffnung verschwamm zu einem Fluss aus Glaube und Zweifel, je mehr Räume sie inspizierte und desto weniger sie fand. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn und liebte ihr Shirt an ihrem Rücken. Es war unglaublich heiß in diesem Flur, anders als im Stockwerk über ihr. Für Canan unverständlich, da doch im oberen Stockwerk die ganzen Computer standen und Hitze ausstrahlten – doch vielleicht hielten sie es genau deswegen dort oben auch so kühl.

Sie schüttelte den Kopf, um diese sinnlosen Gedanken zu vertreiben und blieb vor einer verchromten Tür ohne Türknauf stehen. Die erste Tür dieser Art, die sie im Silberkasten gefunden hatte.

Vorsichtig schob sie die Tür auf und das Herz machte sofort einen freudigen Sprung. Vor sich fand sie eine ganz in Silber gehaltene Küche, mit einem waschechten Herd, einem Kühlschrank, einer Spüle und vielen anderen Utensilien, die Canan schlichtweg die Sprache verschlugen.

Als hätte sie einen Schatz gefunden, breitete Canan die Arme aus und führte breit grinsend einen stillen Tanz der Freude auf.

Erst Sekunden später konnte sie ihre Freude zügeln und sich wieder auf das wesentliche konzentrieren. Sie eilte auf die ersten Schränke zu ihrer linken zu und zog die Türen auf. Töpfe und Pfannen waren ordentlich aufeinander gestapelt. Daneben waren scharfe Messer und Besteck fein säuberlich in kleine Kästen gelegt und andere Küchengeräte hatte man in eine Schublade darunter untergebracht.

Doch kein Essen.

Canan ließ sich nicht beirren und ging jeden einzelnen Schrank durch, zog jede Schublade auf und durchwühlte Kisten. Nichts, kein Essen.

Das alles kam ihr viel zu seltsam vor, als das sie aufgegeben hätte.

Gerade hatte sie eine metallene Tür zwischen den Kochzeilen entdeckt, als sie aus dem Flur dumpfe Schritte hörte. Sofort war ihr Körper wie elektrisiert.

Die Schritte kamen näher und blieben vor der verchromten Tür stehen.

Canans Herzschlag überschlug sich fast. Sie riss die metallene Tür vor sich auf und schlüpfte in den Raum hinein. Die Tür ließ sie einen Spalt breit offen.

„Wenn der Chef mehr Essen haben will, dann soll er bei den Fuhren besser zuschlagen“, sagte ein Mann in einem Dialekt, der Canan zwar bekannt vorkam, ihn aber nicht zuordnen konnte. „Ich kann mir nichts aus den Rippen schneiden.“

„Sag das dem Chef, nicht mir“, grunzte der andere.

Canan zog leise die Tür zu und rutschte an der Wand daneben herunter und auf ihren Hintern. Fürs erste saß sie hier fest, bis die Männer wieder weg waren. Immerhin ist es in diesem Raum schön kühl, ging es ihr durch den Kopf.

„Wenn Babić und Kameraj nicht immer so viele Frischlinge aufsammeln würden, würden wir auch genug Essen für alle haben. Aber nein, wir müssen ja alle Insassen im Distrikt kontrollieren. Schwachsinnig, sag ich dir. Die scheren sich doch einen Scheiß um unsere Regeln und Gesetzte.“

„Ungeschriebene Gesetze“, erwiderte der andere. „Aber du hast recht.“

Canan presste die Lippen fest aufeinander, um keinen Mucks von sich zu geben. Wenn man sie entdecken würde, wäre sie so gut wie tot und Yi würde sich mit abgestandenem Dosenfutter ernähren müssen, dass ihn wahrscheinlich eher krank machte, als das es seinen Hunger stillen konnte.

„Vielleicht sollten wir es wieder wie zu Bürgerkriegszeiten machen“, sagte der andere. „Unnötigen Ballast einfach abknallen.“

Canan zuckte bei diesen Worten unwillkürlich zusammen. Sie kannte durch das Fernsehen die eine oder andere Methode, die die Insassen während des Aufstandes verwendet hatten, um stark und mächtig zu bleiben – nicht, dass es ihnen schlussendlich etwas genutzt hätte – und doch gingen ihr diese Worte durch Mark und Bein.

Langsam schob sich sie von der Tür weg und weiter in den Raum hinein. Auf allen Vieren kroch sie über den kalten Boden, bis zur Rückwand, um sich dort eine sichere Ecke zu suchen. Sie konnte zwar nichts sehen, spürte aber, wie etwas Hartes gegen ihre Schulter stieß. Sie verharrte ruckartig in ihrer Bewegung und wartete, bis sie sicher sein konnte, dass es kein Mensch war. Vorsichtig tastete sie sich an diesem Etwas entlang und musste feststellen, dass es ein simples Regal war, das ihr einen solchen Schrecken eingejagt hatte.

Erleichtert atmete sie auf und schloss für einen Moment die Augen. Sie durfte jetzt nicht durchdrehen.

Mit zitternden Fingern tastete sie sich am Regal entlang und versuchte zu erahnen, was darin gelagert wurde. In erster Linie berührte sie Plastik und Kartons – nichts, worauf sich etwas schließen ließ.

„Vielleicht bessert sich unsere Situation, sobald die Infizierten endlich alle überm Jordan sind“, sagte der Mann mit dem Dialekt. „Weniger Freaks, um die wir uns kümmern müssen.“

„Dann haben wir wieder mehr Zeit für uns selbst“, pflichtete der andere ihm bei.

Ihre Stimmen kamen näher, bis Canan die beiden Männer direkt vor der Tür vermutete, hinter der sie sich versteckt hielt. Sie drückte sich zwischen Regal und Wand in den Schatten hinein und hoffte inständig, dass man sie nicht entdecken würde.

Die Tür wurde aufgestoßen und ein hoch gewachsener Mann kam rein, den Blick über seine Schulter.

„Es geht ja nicht nur um die Zeit, sondern auch um den Aufwand. So viele werden bei den Auseinandersetzungen verletzt und die haben natürlich Extrawünsche was Essen angeht, oder brauchen einfach etwas Bestimmtes“, er knipste das Licht an.

Vor Canans Augen tanzten weiße Punkte. Sie drückte ihr Gesicht gegen die kalte Wand und begann still zu jeglichen Gottheiten zu beten.

„Wenn ich ihnen das gebe, nehmen wir einfach mal Obst und Gemüse wegen den Vitaminen oder Suppe, weil man ihnen die Kiefer verletzt hat, dann bin ich für den Rest des Monats vollkommen eingeschränkt. Was soll ich den anderen geben? Die nicht verletzt sind? Altes Knäckebrot und gefrorenen Käse? Die drehen mir die Bude auf Links um.“ Er nahm etwas aus dem Regal und ging auch schon wieder hinaus. Die Tür schlug er mit Kraft zu, sodass es laut rumste. Doch das Licht vergaß er.

„Jetzt wo du es sagst“, erwiderte der andere, nun wesentlich leiser.

„Shields hat letzten Monat meine Schränke ausgeräumt, weil er nur Trockenfleisch bekommen hat. Dieser Bastard hat alles auf dem Boden verteilt und mich beschuldigt, Essen zu unterschlagen.“ Ihre Stimmen entfernten sich immer mehr. „Der konnte froh sein, dass ich keine Waffe bei mir führe. Dem hätte ich mich Vergnügen ein ganzes Magazin in seinen scheiß Känguru-Schädel versenkt.“

Canan bemerkte erst jetzt, dass sie den Atem angehalten hatte und sog gierig die Luft ein.

Eine Tür wurde zugezogen und die Stimmen verklangen in der Ferne.

Erst jetzt wagte Canan es, sich wieder zu bewegen und schlüpfte aus ihrem Versteck heraus. Ihr war speiübel und Magensäure brannte in ihre Kehle. Was sie mit anhören durfte, war nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen und doch hatte sie das Gefühl handeln zu müssen. Zumindest musste sie es Yi erzählen, der würde dann schon wissen was zu tun ist.

Sie rückte den Riemen ihrer Tasche zurecht und widmete sich sogleich dem Regal. Die Plastikverpackungen und Kartons entpuppten sich als Frischhalteboxen für Käse, Salat und Brot. Seit Jahren schon hatte sie keinen Käse mehr gegessen, geschweige denn Brot oder Salat – verderbliche Ware konnten sie und Yi einfach nicht in ihrem alten Kühlraum lagern.

Gierig schnappte sich Canan eine Frischhaltebox mit Brot und öffnete sie einen Spalt. Der süßliche, wohlige Duft kitzelte in ihrer Nase. Warme Erinnerungen aus Kindertagen und an ihren Eltern stiegen in ihr empor. Sie war glücklich und traurig zugleich und atmete tief durch, um die brennenden Tränen in ihren Augen zurück zu halten.

Sie schob die Box zurück in das Regal und nahm sich stattdessen eine Packung mit Käse heraus, die sie sich in die Tasche stopfte. Allein schon dafür hatte sich der Ausflug in den Silberkasten gelohnt.

Trotzdem wollte sie noch nicht zurück zu Yi. Daher drehte sie sich vom Regal weg und ließ zum ersten Mal den Blick durch den Raum schweifen. Auch auf der andern Seite befand sich ein Regal mit Kartons und Plastikverpackungen, mit fast dem gleichen Inhalt. Aus reiner Neugier öffnete sie einen der Kartons und erspähte bunte Packungen mit Saucenpulver und Gewürzen.

Da Yi und sie davon nichts gebrauchen konnten, schloss sie den Karton wieder vorsichtig und erspähte an der Rückwand des Kühlraumes einen Türbogen.

Canan schlich auf Zehnspitzen in den angrenzenden Raum. Er war dunkel und sie musste einige Sekunden lang die Wand abtasten, um den Lichtschalter zu finden. Die Leuchtstoffröhren blinken nacheinander auf und vor Canans Augen tanzten weiße Punkte.

Erst als sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, konnte sie sich auf konzentrieren, was vor ihr lag und was sie sah, verschlug ihr die Sprache.

Fünftes Kapitel

 

Yi hatte sich auf sein Motorrad gesetzt und eine der Dosen genommen, die Canan gefunden hatte. Das Mädchen hatte natürlich recht, dass dieses alte Futter sie eher krank machen würde, als das es ihren Hunger stillen konnte und doch war die Versuchung groß, das Blech aufzureißen und von dem Inhalt zu kosten.

Es brauchte viel Selbstbeherrschung, als Yi die Dose hinter sich legte und den Blick wieder auf den Silberkasten richtete. Er hatte keine Uhr bei sich, aber es musste schon eine gute Viertelstunde vergangen sein, seit Canan über das Dach gehuscht war und aus seinem Blickfeld verschwand. Sie war gut, sogar sehr gut und das war auch immer der Grund gewesen, weswegen sie das Essen stehlen sollte und nicht er selbst. Yi hätte auch selbst irgendwo einbrechen, Wohnungen durchwühlen oder die Kasap bestehlen können. Doch er war noch lange nicht so erfolgreich wie es Canan war. Sie hatte ihnen jeden Monat etwas zu Essen bringen können, selbst wenn es nur dieses widerliche Trockenfleisch war.

Bislang war der Hunger zwar ihr stetiger Begleiter gewesen, hatte sie aber nie daran gehindert nach vorne zu schauen.

Jetzt begann Yi tatsächlich damit, sich sorgen zu machen. Jeder Mensch gelangte an einen Punkt, wo er seine Fähigkeiten überschätzte und in eine selbstgebaute Falle tappte. Vielleicht hatten nun auch Canan und er diesen Punkt erreicht.

Durch die vielen Erfolge waren sie viel zu selbstsicher geworden, das war ihm schon seit längerem aufgefallen, und doch hatte er immer gedacht, dass besonders Canan mit ihrer rationalen Art auf dem Boden geblieben war.

Von weitem hörte das tiefe brummen eines alten Motors, der beständig näher kam. Yi erkannte sofort den alten, blauen Bus, mit dem die Kasap ihre Leute durch den gesamten Distrikt kutschierten und bei den Fuhren die Neulinge einsammelten.

Er konnte nur ahnen, wie viele Kasap bald den Silberkasten füllen würden, während Canan noch immer da drin war – nichtsahnend.

„Scheiße“, fluchte er. Aus einer Halterung an seinem Motorrad schnappte er sich seinen Baseballschläger. Er hatte ihm in den letzten Jahren einen großen Dienst erwiesen, nicht zu vergleichen mit einer echten Schusswaffe. Doch die hatten ausschließlich die Kasap und diese teilten wirklich ungern. Yi war nur eine Person bekannt, die ansonsten noch eine Pistole besaß und das war Canan. Aber eine einzige Pistole würde sie nicht gegen eine ganze Horde von Kasap beschützen, die nur danach lechzten Blut zu vergießen.

Es gab eine Regel, die sich Canan und Yi zurecht gelegt hatten, wenn es um die Kasap ging:

Wenn du ihn nicht töten kannst, dann renn.

Bislang hatte sich das immer bewehrt und ihr Überleben gesichert. Nun wurde Yi schmerzlich bewusst, dass seiner kleinen Freundin keine Möglichkeit geboten wurde, um weg zu rennen. Sie saß in der Falle.

Tatsächlich näherte sich der blaue Bus der Kasap ratternd. Auf den Fenstern hatten sie mit Farbe skurrile Bilder gezeichnet, von Totenköpfen, seelenlosten Masken und dunklen Schatten, gespickt mit Blut. Es sollte die anderen Träger abschrecken, damit sie nicht auf die Idee kamen, den Bus zu überfallen. Yi bezweifelte, dass es die ein oder anderen Verzweifelten wirklich abhalten konnte. Es waren viel eher die berüchtigten Schusswaffen, die die Kasap so unnahbar werden ließ. Der Bus hingegen glich eher einem Markenzeichen.

Ratternd und knatternd kam der Bus vor dem Silberkasten zum Stehen. Die Türen schwangen auf und eine Welle aus etwa dreißig Kasap schwappte auf den Bordstein. Im Gegensatz zu Canan und Yi wirkten sie gut genährt und vollkommen gesund – auch wenn jeder von ihnen Träger von Vèv13 war.

Sie versammelten sich vor dem Bus, als bräuchten sie einen Schlachtplan, um ihr eigenes Hauptquartier zu betreten.

Yi nutzte die Gunst der Stunde. Auf leisen Sohlen verließen er sein Versteck, huschte die Hauswand entlang und kletterte über eine kleine Mauer. Er befand sich in einem ausgedorrten Garten, der zu seiner Zeit wahrscheinlich prächtig ausgesehen hatte. Inmitten dessen befand sich eine alte Straßenlaterne, die an das Mitteleuropa des achtzehnten Jahrhundert erinnerte.

Yi holte mit dem Baseballschläger aus und schlug mit aller Kraft gegen das Metall der Laterne.

Sechstes Kapitel

 

Vor ihr breitete sich ein riesiger Raum aus, von dessen Decke Ketten mit Stücken Fleisch hingen, die größer waren als Canan selbst. Sie erkannte die ausgeweideten Körper von Rindern und Schweinen, die an den Hufen aufgehängt waren. Ausgeblutet und bereit weiter verarbeitet zu werden. Das rote Fleisch schimmerte im Licht der Leuchtstoffröhren und wirkte zugleich schmackhaft und abschreckend. Insgesamt mussten hier um die fünfzehn Tiere hängen, vielleicht auch mehr.

Mit weit aufgerissen Augen ging Canan zwischen den leblosen Tieren hindurch. Ihre Hand streifte eines der Schweine und sie machte vor Schreck einen Satz auf Seite. Sie presste ihre Hände auf ihrem Mund, um keinen Laut von sich zu geben. Die Kasap konnten immer noch in Hörweite sein.

Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete lief durch. Sie durfte jetzt auf einen Fall durchdrehen. Viel eher musste sie das als Chance betrachten.

Frischfleisch war auch schon rar, bevor Canans Leben bei NATRON begann. Die Preise waren nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft immens angestiegen und nur die Reichsten, die schlau genug gewesen waren, während der schwankenden Wirtschaftslage sichere Rücklagen anzulegen, hatten sich noch ein ordentliches Stück Steak leisten können. Einige Bauern verkauften unter der Hand Fleisch von ihren kranken Tieren oder Reste, die die letzten Märkte nicht haben wollten. So hatte auch der einfache Mann sich am Thanksgiving etwas gönnen können. Im Distrikt hingegen hatte Canan von Anfang an kein richtiges Fleisch mehr zu Gesicht bekommen. Bloß das Trockenfleisch, das sie sich immer von den Kasap nahm. Es schmeckte nach nichts und hielt auch ebenso wenig satt.

Kasap. Fleischer.

Plötzlich fand Canan diesen Begriff mehr als zutreffend.

Sie ging noch einige Schritte weiter in den Raum hinein, bis sie zwischen den Leibern stehen blieb und sich einmal um sich selbst drehte. War dies nun das Paradies oder die Hölle? Sie wusste es nicht.

Leise streifte sich an den Kadavern vorbei, bis zur Rückwand des Raumes. Mit den Fingerkuppen streifte sie die weißen Fliesen und zuckte bei der Kälte kurz zurück. Im Distrikt war es immer so heiß, nicht einmal während der Nacht kühlte es richtig ab und trotz des wenigen Stroms, der ihnen von NATRON zur Verfügung gestellt wurde, konnten die Kasap solch eine Kälte hervor rufen.

Computer. Kühlraum. All diese Stromfresser.

Canan drückte ihre Stirn gegen die Fliesen. Sie verstand einfach nicht, wie sich die Kasap all das hatten ermöglichen können.

Ein leises Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. Canan verharrte in ihrer Bewegung und lauschte angestrengt.

Erst herrschte Stille, bis es erneut leise raschelte. Es war ein sanfter Laut, geschmeidig und harmonisch. Canan wandte den Blick nach links.

Die Wand war nicht aus den weißen Fliesen, so wie die anderen, sondern nur ein Plastikvorhang. Irgendwo musste Durchzug herrschen, denn er bewegte sich in einer leichten Briese.

Eine kribbelnde Neugierde packte Canan und vorsichtigen Schrittes ging sie auf den Vorhang zu. Ihre Hände zitterten ein wenig. Ob aufgrund aufkeimender Nervosität oder er ungewohnten Kälte, genau konnte sie es nicht bestimmen. Als sie den Vorhang erreichte, schob sie ihn auf Seite und hatte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken können. Sie wich einige Schritte zurück, wobei sich in der Hast ihre Füße ineinander verhedderten und sie mit einer ungalanten Drehung der Länge nach auf den Boden viel. Ihr Kopf landete nur weniger Zentimeter von dem Schrecken entfernt.

Dieser bestand aus mehreren Reihen aufgehäufter Köpfe, die einst zu Schweinen, Kühen und Schafen gehört hatten. Die Zungen hingen wie leblose Lappen aus ihren Mäulern und große Augen mit glasigem Blick starrten ihr entgegen. Die unteren Reihen waren voll gefrorenem Blut, das von den oberen Köpfen getropft sein musste.

Eine Woge der Übelkeit kämpfte sich durch Canans Körper empor und sie musste würgen. Eilig rappelte sie sich auf, röchelnd und nach Luft schnappend und drückte sich an die kalte Wand des Kühlraumes immer weiter weg von den Köpfen, bis sie an der anderen Seite des Raumes angelangt war. Trotz der Kälte stand ihr der Schweiß auf der Stirn.

Canan drückte den Kopf gegen die Wand, schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Keine Panik, sagte sie zu sich selbst. Nur keine Panik. Das ist gar nicht so schlimm wie es aussieht.

Mit den Handballen wischte sie sich über die Augen und wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie nach dem Riemen ihrer Tasche auf ihrer Schulter tastete. Er war nicht da. Sofort schlug sie die Augen auf und entdeckte die Tasche sogleich auf dem Boden, direkt neben einem der großen Fleischstücke, unmittelbar in der Nähe der Tierköpfe.

Eilig hob sie die Tasche auf, schob den Riemen über ihre Schulter und drückte die Tasche selbst an ihren Körper. Sofort wich sie von den toten Tieren weg, bis zum Ende des Raumes und zurück zu den Regalen, wo sie zuvor gewesen war und sich versteckt hatte.

Gerade wollte sie in einen Karton greifen und eine der bunten Packungen herausholen, als sie ein eigentümliches Klirren vernahm. Es war recht weit entfernt und doch laut genug, dass Canan es ganz deutlich hörte. Auch wenn sie nicht genau beschreiben konnte warum, wusste sie doch sogleich, dass das Yi sein musste. Irgendetwas musste er gesehen haben. Etwas musste passiert sein.

Canan griff in den Karton und nahm so viel in eine Hand, wie es ihr möglich war, bevor sie eilig aus dem Kühlraum stürmte. Sie eilte durch die noch immer leere Küche und zurück in den Flur.

Von weitem konnte sie die Stimmen von verschiedenen Menschen, überwiegend Männern, hören. Sie wechselte den Riemen ihrer Tasche auf die andere Schulter, sodass er diagonal über ihre Brust ging und festigte ihren Griff um die Plastiktüten.

Gerade als sie in die Richtung los rennen wollte, aus der sie Minuten zuvor gekommen war, hörte sie von dort eine Frauenstimme, die ausgiebig in einer Sprache monologisierte, die Canan nicht verstand.

Ihr Verstand riet ihr, sich irgendwo zu verstecken und zu warten, bis sich eine Gelegenheit zur Flucht ergab. Doch ihre Füße waren wie mit dem Boden verwachsen.

Binnen weniger Augenblicke war die Frau, gefolgt von zwei Männern, in Sichtweite und entdeckte auch sogleich Canan. Zunächst schienen jedoch Verwunderung zu walten, denn sie blieben lediglich stehen und musterten die junge Russin mit gerunzelter Stirn oder hochgezogenen Augenbrauen.

Vielleicht halten sie mich als einen von ihnen, ging es Canan durch den Kopf. Ein törichter Gedanke, wir ihr direkt klar wird. Für eine Kasap war sie viel zu dreckig und heruntergekommen. Ihr Körper war zu ausgemergelt und die Haut zu fahl.

„Wer bist du?“, fragte einer der Männer. Er war vielleicht um die vierzig, hatte teigige Haut und Augen, die von den Wulsten seines Gesichts fast verborgen waren. Haare und Augenbrauen waren so gut wie nicht vorhanden oder einfach so hell, dass sie sich von seiner Haut nicht abhoben.

Canan antwortete nicht, sondern erwiderte stur ihre Blicke.

„Ey, er hat dich was gefragt, Mädchen“, bellte der andere Mann. Sein Gesicht erinnerte an das einer Ratte, hingegen sein Körper gedrungen war.

Noch immer gab sie keine Antwort.

Das Rattengesicht kam als erster auf sie zu, die Arme klauenartig erhoben, als wollte er sie einfangen. Er hatte fast zu ihr aufgeschlossen, als Canan sich blitzartig bewegte. Ihre Faust traf ihn am Kehlkopf. Sofort taumelte er röchelnd zurück. Aber sie gab ihm keine Gelegenheit, um sich wieder zu fangen. Stattdessen packte sie ihm am Kragen, drückte ihm die Plastiktüten in den Mund und verpasste ihm einen Tritt zwischen die Beine.

Währenddessen kam der Andere angerannt, wenn auch schwerfälliger. Seine langsamen Bewegungen waren vorhersehbar genug, sodass Canan seinen Händen auswich, ihm das Bein weg zu und zum Nachdrück in seinen Rücken sprang. Gemeinsam gingen sie zu Boden. Sie trat ihm in den Rücken, sodass er aufkeuchte und bewegungslos liegen blieb.

Die Frau hatte wie angewurzelt dort gestanden. Canan ging auf sie zu, zog dabei ihre Pistole aus ihrer Tasche und richtete auf die Körpermitte der Frau. „Führ mich nach draußen“, raunte sie.

Die Frau sah abwechselnd zu Canan, der Waffe und den am Boden liegenden Männern. „G-gut“, antwortete sie mit zitternder Stimme. Mit Sicherheit hatte sie nicht damit gerechnet, hier im Silberkasten als Geisel zu Enden.

Canan drückte ihr den Lauf der Waffe in die Seite und wies sie mit einer wagen Kopfbewegung an, loszulaufen. „Ich möchte gerne möglichst ungesehen hier verschwinden. Los.“

Gemeinsam ließen sie die beiden vor Schmerzen stöhnenden Männer hinter sich und gingen den Flur entlang. Zu Canans Bedauern nicht in die Richtung, aus der sie gekommen war, aber damit musste sie sich jetzt arrangieren. Die Frau musste wissen, was sie tat, denn nun hing ihr Leben davon ab.

Beim näheren betrachten erinnerte ihr langes Gesicht und die Matschbraunen Haare, die glatt und schlaff über ihre Schultern fielen, Canan an ein Pferd. Jedoch an kein schönes Pferd.

Pferdegesicht führte Canan den Flur entlang und bog rechts ab. Die Wände waren wie zuvor in gleichmäßigen Abständen mit Türen gesäumt – allesamt zu.

„Du bist die, die sie suchen, nicht wahr?“, fragte die Frau mit starkem Akzent. Canan vermutete, dass sie aus Italien stammen könnte, war sich aber nicht sicher.

„Kann sein“, war die Antwort.

Während sie schweigend weiter gingen, waren aus den unteren Stockwerken laute Rufe zu hören. Canan spannte ihre Muskeln an, bereit jeden Augenblick in irgendeine Nische zu hechten und sich bis aufs Blut zu verteidigen.

Pferdegesicht führte sie schweigend weiter den Flur herunter und plötzlich kam es Canan unsagbar dumm vor, dieser fremden – ja, womöglich feindlich gesinnten – Frau ihr Leben in die Hände zu legen. Yi hätte sie wahrscheinlich geschüttelt, sie angeschrien oder gar mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Er hätte einfach versucht ihren Verstand wieder zum Laufen zu bringen.

Kaum hörbar knirschte sie nun mit den Zähnen. Sie begann ihren Plan umzustrukturieren, um wieder die Überhand in dieser Situation zu gewinnen, bis Pferdegesicht plötzlich stehen blieb und Canan ihn in den Rücken lief.

Es benötigte nur einen schnellen Blick an der Frau vorbei und Canan entdeckte eine kleine Gruppe von Männern, die den Flur versperrten. Sie waren vielleicht zu fünft oder sechst, hatten allesamt bullige und in dunklen Stoffen gehüllte Körper.

„Abascal“, rief einer der Männer mit bleierner Stimme. „Wieso bist du nicht auf deinem Posten im CZ?“

Offensichtlich war Pferdegesicht gemeint, denn ganz plötzlich verkrampfte sie sich und verlagerte ihr Gewicht unschlüssig erst auf das linke und anschließend auf das rechte Bein.

Canan drückte ihr die Waffe gegen die Wirbelsäule. Derweilen begann sie immer stärker unter den Achseln zu schwitzen, während sie sich vor dem inneren Auge ausmalte, dass man sie nun entdecken und gleich erschießen würde. Was würde dann aus Yi werden? Würde er auch ohne sie hier in diesem Höllenloch überleben können? Oder würden die Kasap ihn finden und genauso töten, wie sie es mit ihr taten?

Ihr Mund fühlte sich trocken an, die Zunge lag bleiern zwischen den Zähnen.

„Sag was“, flüsterte sie Pferdegesicht zu.

Diese zögerte noch einen Moment, sodass Canan den Lauf ihrer Waffe fester gegen die einzelnen Wirbelknochen drücken musste. „Ich war gerade auf dem Weg dorthin“, sagte sie mit gebrochener Stimme. „Stellan hat den Schlafraum vollgekotzt, deswegen bin ich aufgehalten worden.“

Erst herrschte Schweigen und Canan hätte nur zu gerne hinter Pferdegesicht hervor gelugt, um sich die Reaktion ihrer Gegenüber anzusehen. Aber sie blieb standhaft und rührte sich nicht.

Sekunden rollten quälend langsam vor ihr her, bis einer der Männer sagte: „Verstehe. Begib ich schleunigst auf deine Position, Abascal.“

„Jawohl“, antwortete sie.

„Wir haben einen Eindringling hier im Gebäude, also sei auf der Hut. Wer auch immer es ist, er ist vogelfrei.“

Pferdegesichts Haltung wurde plötzlich kerzengerade und sie drückte ihren Rücken durch, wie ein salutierender Soldat. „Verstanden. Ich gebe das umgehend an die andern im CZ weiter.“

Canans Hand verkrampfte sich indes um den Griff ihrer Waffe. Vogelfrei. Vogelfrei. V o g e l f r e i. Ihr wurde ganz schlecht, je öfter dieses Wort in ihrem Kopf wiederhallte. Vogelfrei. Sie würde hier in diesem Silberkasten sterben. Nach all den Jahren.

„Ich danke Ihnen für Ihre Information“, fügte Pferdegesicht mit nun etwas zittriger Stimme hinzu und begann ihre Hände zu Fäusten zu ballen und wieder zu öffnen.

Canan bereute es plötzlich, diese Frau als menschlicher Schutzschild mitgenommen zu haben. Was ihr ursprünglich nach einer glorreichen Idee vorkam, schien jetzt eine unglaubliche Dummheit gewesen zu sein. Denn offensichtlich erwarteten die Männer, dass Pferdegesicht nun an ihnen vorbei und auf ihren Posten gehen würde - zumindest rührte sich niemand und niemand sprach auch nur ein Wort. Canans Optionen schwanden nur dahin und je länger sie wartete, desto geringer wurde ihre Chance zu überleben.

Etwas in ihrem Inneren begann sich zu verhärten, bis es zu einem steinigen Klumpen wurde.

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.10.2015

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