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Plump, plump, ich kenne jeden einzelnen Schritt, das ungleichmäßige keuchende Atmen.
Er schleicht an ihrem Zimmer vorbei. Ich bete, dass er stehen bleibt, doch er geht weiter.
Warum geht er nicht in ihr Zimmer ?
Die Angst drückt mir die Kehle zu und ich verstecke mich unter der Bettdecke.
Jetzt höre ich nur noch den Schlag meines Herzens.
So als würde mich die Decke retten, als würde er mich so nicht sehen.
Er ist jetzt ganz nahe und ich spüre wie mein Herz rast, ich weiß, was jetzt kommen wird.
Die Tür wird leise aufgemacht und es folgt ein quietschen als sie sich wieder schließt.
"Komm raus da ! Du weißt, ich will dich !"
Seine Stimme überschlägt sich. Der Alkohol lässt ihn so reden.
Ich bewege mich nicht mehr unter der Decke, höre auf zu Atmen, versteife mich wie ein Brett.
"Komm her du Schlampe", sagt er und kommt mit schleppenden Schritten auf mich zu.
Eine Handbewegung und die Decke ist weg. Ich liege da wie ein zusammen gerolltes Hündchen, mit dem Blick zur Wand.
Die Augen weit aufgerissen.
Er setzt sich zu mir auf das Bett.
Die Matratze senkt sich und sein Becken berührt meine Schulter.
Ich will, dass er weg geht, bitte lieber Gott mach, dass er weg geht.
Seine Hand streicht über mein Gesicht, und dreht es ruckartig um, so dass ich ihn ansehen muss.
Es ist das hässlichste Gesicht das es gibt, die kleinen Augen, die dunkeln Ringe darunter, der stoppelige Bart, das Doppelkinn, der Atem nach Alkohol. Ich will ihn nicht ansehen. Ich will schreien, ihn schlagen, davon rennen.
Doch das würde nichts bringen, er würde mir den Hals zudrücken, bis ich keine Luft mehr bekommen würde.
Niemand würde mich hören. Meine Tante nimmt Schlaftabletten.
Sie will es nicht wissen.
Sie will mich nicht beschützen.
Warum tut sie nichts, sie liegt einfach da im anderen Zimmer und schläft.
Wie Dornröschen, sie sagt wenn sie schläft geht es ihr gut.
Doch wann geht es mir gut ?

Jetzt zieht er mir die Pyjamahose aus. Ich starre zur Decke. Ich fühle mich tot.
Das alles geschieht nicht wirklich. Ich fühle nichts.
Tote Menschen fühlen nichts, sie liegen einfach nur da.
Er zieht sich die Hose aus, ich presse die Beine zusammen und rutsche weg von ihm.
Sein Knie drückt sich hart da zwischen und ich verzieh das Gesicht vor Schmerz.
Ich sage : "Bitte lass es !". Meine Augen Füllen sich mit Tränen.
Es hat keinen Sinn ihn anzuflehen. Ich bin ihm schutzlos ausgeliefert.

Er lächelt und sagt : "du meinst wohl, bitte mach es ! Ich mache dir den gefallen, Prinzessin."
Ich bekomme Panik und will vom Bett springen, da kriegt er meine Haare zufassen.
Reißt mich zurück auf mein Bett.
Ich schreie auf und er schlägt mir ins Gesicht.
Ich wimmere nur noch.
Ich bin tot.
Das alles passiert nicht wirklich.
Es ist nicht wahr.
Ein böser Traum.
Ich will mit dem Gedanken weg, ich will aus diesem Körper entfliehen.
So dass meine Seele frei ist und nur noch mein toter Körper da liegt.
Ich versuche mir vorzustellen, dass ich jetzt davon schwebe, Richtung Himmel.
Ja, so wie ein Engel.
Doch es geht nicht.
Er ist jetzt in mir drin.
Es tut weh, doch tote fühlen nichts.
Schnell wische ich die Tränen weg, er soll sie nicht sehen.
Dieser Schmerz, er zieht sich durch meinen ganzen Körper. Ich ekle mich so.
Ich will das nicht !


Nach einer Weile fängt dieses Stöhnen an, und dann weiß ich, dass es vorbei ist.
Er zieht sich an und geht einfach.
Und ich, ich liege noch immer da, nackt beschmutzt, und dreckig.
Gebraucht und nicht mehr ganz.
Plump die Türe ist zu.
Ich starre an die Decke, minutenlang, denke aber nichts, fühle auch nichts.
Früher habe ich immer geweint, ich habe so schrecklich viel geweint.
Es interessiert ihn nicht, er liebt es mich zu quälen. Ich sehe diese Kälte in seinen Augen.
Heute lasse ich ihm diesen Triumph nicht mehr, er soll nicht sehen, wie ich weine.
Ich habe gelernt still zu sein, und es hinzunehmen. Ich habe keine andere Wahl.
Irgendwann existiert man nur noch, wie eine leere Hülle, die durchs Leben geht, ohne richtig zu sehen oder zu fühlen. Dicht gefolgt von dem dunklem Schatten, der wie eine schwere Last auf meinen Schultern liegt.
Es gibt Menschen die täuschen ihren Tot vor, und ich täusche mein Leben vor.
Langsam stehe ich auf, fühle mich verletzt. Mein Unterleib schmerzt.
Ich gehe ins Bad, kippe zwei Hände voll Duschgel auf mich und wasche mich überall, eine Stunde lang.
Aber der Schmutz bleibt.
Sie sagten , das wäre meine neue Familie, dass ich die Liebe bekommen würde, die ich verdiene.
Doch in diesem Haus gibt es keinerlei Liebe.
Oder nicht mehr, seit meine Tante diesen Mann kennen lernte hat sich alles verändert.
Sie ist nicht mehr der Mensch, der sie einmal war.
Es scheint so, als wäre ein Teil seiner Kälte auf sie übergegangen und jetzt kann sie nicht mehr klar denken, als würde er sie beherrschen.

Meine Eltern sind gestorben, da war ich 4 Jahre alt. Ich war damals bei meiner Oma, da meine Eltern mit dem Auto auf ein Konzert gefahren sind. Sie haben alles richtig gemacht, doch auf dem Nachhauseweg war ein betrunkener am Steuer eines anderen Autos. Mein Vater wollte ihm ausweichen, doch er ist von der Straße abgekommen und sie sind gegen ein Baum gefahren. Sie waren sofort tot.

Ich habe nicht mehr viele Erinnerungen an sie, mit der Zeit vergisst man die Gesichter der Menschen, wenn man sie nicht mehr sieht. Doch dieses schreckliche Gefühl des Verlustes vergisst man nie. Ich weiß meine Mama war. Sie war eine wunderschöne Frau und sie hatte blonde Haare und blaue Augen, so wie ich. Aber auch wenn ich fest die Augen schließe und versuche ihr Gesicht zu sehen, schaffe ich es nicht. Es ist alles so verschwommen.

Eine Erinnerung wird mir aber immer bleiben, ich glaube es war in Italien und ich bin mit meinem Vater auf einem Esel geritten und meine Mutter lief neben uns her.
Ich habe vor Freude gegluckst und das raue Fell des Esels gestreichelt.
Mein Vater hat dabei dieses Lied gesungen, ich weiß nur noch die ersten Strophen :

Hoppe hoppe Reiter,
wenn er fällt, dann schreit er.

"Fällt er in den Graben,
fréssen ihn die Raben.

Fällt er in die Hecken,
fréssen ihn die Schnecken.

Fällt er in das grüne Gras,
macht er sich die Hosen nass."

Die Nachricht über den Tod meiner Eltern kam in der Nacht, so gegen 2 Uhr.
Ich habe schon geschlafen.
Wie sagt man einem 4 Jährigen Mädchen, dass ihre Eltern tot sind ?
Meine Oma hat es vorgezogen zu Schweigen, ich sah ihre rot geweinten Augen und der Schock in ihrem Gesicht am nächsten Morgen.
Ich fragte sie : "Wo sind Mama und Papa ?"
Sie schaute mich nur an, legte ihre runzeligen Finger an die Stirn, ihre Hände zitterten.
"Sie sind weg", sagte sie dann leise.
Ich habe nicht verstanden, was "weg" bedeutet, für mich hieß "weg" höchstens einen Tag von jemandem getrennt zu sein.
Aber sie waren ganz weg, wie vom Erdboden verschluckt.

Meine Oma konnte mich nicht behalten, ich musste in ein Heim.
Von einem Tag auf den anderen verlor ich alles.
Aber die Leiter des Heimes waren wirklich sehr nett zu mir, sie versuchten alles, dass es mir besser gehen würde. Die ersten paar Jahre waren schrecklich, ich fühlte mich allein auf der Welt, von allen verlassen. Meine Oma kam zwar jedes Wochenende zu mir, aber ich vermisste meine Eltern schrecklich. Ich war ja noch so klein.

Doch irgendwann habe ich angefangen damit zu leben. Ich musste weiterleben.
Ich hatte dort sehr gute Freunde, die mein Leid teilten.
Bis ich 13 Jahre alt war, blieb ich dort.
Das Heim war mein zuhause, meine Freunde und meine Familie.
Und dann kam meine Tante ins Spiel.
Für mich war sie so eine Art Hoffnungsschimmer, endlich wieder irgendwo dazu zugehören.
Antworten auf meine Fragen zu bekommen.
Sie lebte in Amerika und ist wieder zurück nach Deutschland gekommen.
Unsere Heimleiterin nahm sofort Kontakt zu ihr auf.
Sie wollte mich besuchen kommen, schon nächste Woche.
Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie sie so ist, wie sie aussieht, wer sie ist.
Meine Tante, ich habe sie noch nie zuvor gesehen.
Sie ist nicht meinetwegen zurück gekommen, es war eher ein Zufall.
Sie hat sich von ihrem Mann getrennt und ist zurück in ihre Heimatstadt gereist.

Mich würde es interessieren, wie es so in Amerika ist. Sie hat bestimmt viel zu erzählen.
Und dann habe ich mir noch überlegt, was ich zu ihr sagen sollte, einfach "Hallo, ich heiße Sophie und ich würde mich freuen dich kennen zulernen." ?
Ich wollte, dass sie mir von Mama und Papa erzählt, vielleicht hatte sie noch ein Foto von ihnen.
Das hätte mir wahnsinnig viel bedeutet.
Ich freute mich wahnsinnig auf ihren Besuch, aber andererseits hatte ich auch Angst davor, all die tollen Leute hier zu verlieren. Sie waren wie Geschwister für mich.
Und Steffi, eine Leiterin, war wie meine Ersatzmutter.
Nun ging ich also zu Steffi, in ihr Arbeitszimmer.
Ich klopfte zwei mal an die Tür und streckte meinen Kopf hinein.
"Kann ich rein kommen ?"
Sie legte den Hörer zur Seite und nickte mir freundlich zu: "Komm nur rein".
Ich schloss leise die Tür hinter mir und setze mich auf den Stuhl gegenüber von ihr.
Steffi ist Mitte 30, schlank und hat hellbraune Locken. Ihre Augen sind wach, sie ist immer freundlich und für alle da. Als ich neu ins Heim kam, wich sie nicht von meiner Seite. Sie war wie ein Engel für mich.

"Wie geht es dir ?", fragte sie mich und legte ihre schmalen Finger auf meine.
"Ich weiß es nicht", sagte ich wahrheitsgemäß.
"Wird mich meine Tante mitnehmen ?", fragte ich unsicher und starre auf ihre Hände.
Sie schaute mich lange an und sagte dann : "Deine Tante würde dich gerne bei ihr haben, aber es ist deine Entscheidung, ob du mitgehst. Du bist alt genug, um das selbst zu bestimmen. Du musst es einfach wissen. Du kannst nicht für immer hier bleiben, dort hast du es viel besser als hier. Du wirst eine bessere Schule besuchen können und deine Tante wird mehr Zeit für dich haben als ich."
Die Antwort war irgendwie erschreckend für mich, denn die Entscheidung war sehr schwer.

"Kann ich es auch erst entscheiden wenn ich sie sehe ?", fragte ich nach einer Weile.
"Natürlich !", sagte Steffi. Ich stand auf und umarmte sie.
Sie drückte mich fest und sagte: "Du wirst die richtige Entscheidung treffen !"
Ich nickte und verließ das Zimmer.

Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und mir Gedanken darüber gemacht. Nicht einmal meinen besten Freundinnen Anna-Lena und Marie habe ich davon erzählt. Sie wussten nur, dass meine Tante kam.
Dann war Montag, ich alberte gerade mit meinen Freundinnen am Frühstückstisch herum als Steffi hereinkam und sagte : "Sophie , da ist Besuch für dich !".
Ich wurde sofort still und folgte ihr in die Eingangshalle.
Ich war richtig aufgeregt und mein Herz schlug schneller als sonst.
Und da saß sie, meine Tante, mit rotem Mantel und kurzen braunen Haaren, etwas pummelig und mindestens so aufgeregt wie ich.
Sie spielte mit ihren Fingern, als sie uns sah stand sie abrupt auf.
Steffi ging voran und reichte ihr die Hand.
Dann kam ich, und reichte ihr ebenfalls die Hand und sagte: "Hallo !".

Ihr Händedruck war flüchtig und ihre Hände schwitzten.
Sie schaute mich lange an, und dann sagte sie plötzlich : "Du siehst deiner Mutter so ähnlich".
Diese Worte machten mich stolz und traurig zugleich, und ich wusste nicht was ich dazu sagen sollte.
Also schwieg ich, wir alle schwiegen.
Bis Steffi die Stille durchbrach : "Und sind sie gut gereist ?"
"Ja danke, aber es war ein langer Flug."
Sagte meine Tante und wirkte plötzlich sehr müde.
"Setzen sie sich doch und wir unterhalten uns ein wenig", forderte Steffi sie auf.
Wir setzten uns.
"Sie haben also ein Haus in Lübeck gekauft ?", fragte Steffi.
"Ja es ist sehr schön dort, ich wohne nah an der Ostsee", sagte meine Tante.
"Könnte Sophie sie dort besuchen kommen ?"
Meine Tante schaute mich an. "Ja, sie kann jeder Zeit vorbei schauen, oder auch bei mir wohnen".
Sie lächelte und an den Wangen und unter den Augen bildeten sich Lachfältchen.
Mir gefiel ihr roter Lippenstift und ihre silbernen Ohrringe, die wie Fäden an ihren kleinen Ohren baumelten.
Steffi erzählte ihr etwas.
Sie sah eigentlich ganz nett aus, aber irgendetwas stimmte nicht. Sie schien nicht richtig da zu sein. Sie hörte zu, aber ihre Augen hasteten im Raum umher. Sie schaute mich fast nie an.

Ich schaute sie nochmals an und da sah ich es in ihren Augen, es waren Angst und Traurigkeit.
Später sah ich es anders, aber als ich sie das erste Mal sah, tat sie mir Leid.
Steffi fragte sie noch ein paar andere Sachen, aber ich hörte gar nicht zu, ich war mit dem Gedanken an der Ostsee, das sprudelnde Wasser und der Sand.
Ich musste sie unbedingt besuchen.

Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde ging sie auch schon wieder. Sie sagte, sie müsse noch etwas mit dem Vermieter besprechen.
Ich reichte ihr wieder die Hand und lächelte sie an.
Sie lächelte auch, und sagte : "Bis dann Sophie, melde dich wenn du mich besuchen kommen willst."
Ich nickte zustimmend : "Ja, das werde ich tun."

Abends im Bett hielt ich es aber nicht mehr aus zu Schweigen. Ich flüsterte zu Anna-Lena: "Schläfst du schon ?"
"Nein", kam es unter der Bettdecke hervor.
"Kann ich mit dir reden?", fragte ich sie.
Sie warf ihre Decke zur Seite und sagte: "Klar, leg los !"
Ich erzählte ihr von meiner Tante und, dass ich sie besuchen wollte.
Anna-Lena riss die Augen auf: "An die Ostsee ?! Wow ! Da wollte ich schon immer mal hin."
"Aber ich kenne sie ja gar nicht..", fuhr ich dazwischen.
"Dann lernst du sie eben kennen, du sagtest ja sie wäre eine nette Frau", sie stieß mich von der Seite an, "Hey, ich bin echt eifersüchtig", und lachte.

Also wagte ich es.
An einem regnerischen Mittwoch Nachmittag, bin ich also mit meinem großen schwarzen Koffer in den Zug gestiegen.
Von Hamburg nach Lübeck.
Ich hatte zuvor noch meinen besten Mantel angezogen und Marie hat mir etwas Wimperntusche aufgetragen.
Ich war bereit etwas Neues zu sehen und zu erleben.
Noch nie zuvor war ich alleine Zug gefahren, ich war ganz aufgeregt und die Fahrkarte hielt ich immer noch fest in der Hand.
Damals war ich 12 Jahre alt.
Ich war eine fleißige Schülerin und stellte mir immer vor, wie ich umher reiste.
Nach Italien, Frankreich, Amerika.
Ich war so neugierig.
Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde und dann hieß es : "Wir treffen in Kürze in Lübeck ein."
Ich hievte meinen schweren Koffer durch die Zug Tür und berührte Lübecker Boden.
Meine Tante wird mich abholen, sagte Steffi.
Ich blickte mich um, aber erkannte nur eine riesen Menge fremder Gesichter.
Ein Pfeifen erklang und der Zug fuhr wieder Weg.
Die meisten Leute waren jetzt weg, und ich hatte eine bessere Sicht, aber meine Tante sah ich nirgends. Auch nach 10 Minuten sah ich nichts.
Da legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter und ich drehte mich erschrocken um und sah direkt in das Gesicht einer alten Frau.
Sie entschuldigte sich und fragte : "Wartest du auf jemanden?"
Ich sagte: "Ja, auf meine Tante."
"Die wird bestimmt bald kommen, es gab Stau rund um den Bahnhof, weil da die Leitungen kaputt gegangen sind."

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Tag der Veröffentlichung: 07.10.2012

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