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BLUTJAGD


Nach dem Drehbuch "Blutjagd" von Dietmar Dahmen,
Writers Guild of America West, Reg. No. 80 21 31


"blut" ist registriert in Washington, DC, U.S.A und Wien.


Für Sylvia


Und Gott erschuf den Himmel und die Erde, die Tiere und den Menschen. Aus Lehm formte Er den Menschen und den Mann nannte Er Adam und die Frau nannte Er Lilith. Und sie waren einander gleich.

Doch als die Nacht kam, gebot Lilith Adam im Beischlaf unter ihr zu liegen. Adam ward entsetzt von diesem Begier und verstieß seine Frau. Dann erbat er von Gott eine zweite Frau, die ihm Untertan sein solle.

Lilith aber war so voll Wut, daß Sie das große Verbot brach und im Zorn den Namen Gottes sprach. Da verbannte sie Gott aus der lichten Welt und verdammte Lilith dazu Dämon zu werden. So kam Lilith in die Schattenwelt. Fortan schweifte sie durch das Dunkel und tötete Israels Neugeborene und schwangere Frauen, von deren Blut sie und ihre Kinder sich seither ernähren.


Gott aber formte aus Adams Rippe die Frau Eva. Dann hauchte ihr den Atem des Lebens ein.


Keine Geschichte kann mehr am Anfang beginnen. Zu viel ist geschehen. Sechshundert Ereignisse sind bereits eingetreten. Sechshundert Taten sind schon vollbracht. Sechshundert Kapitel wurden geschrieben. In einem anderen Buch. Vor dieser Zeit.
601

36 Liter Blut in 4 Minuten. Das sind 6 Liter pro Minute. Oder ein Klient alle 40 Sekunden, inklusive Jagdzeit.

Anfänger schießen in den Kopf. Ein Schuss in die Halsschlagader ist wesentlich effizienter. Wenn die Wunde groß genug ist, und das ist sie bei jeder 9mm Handfeuerwaffe aus kurzer Entfernung, braucht man nicht einmal Gerinnungsblocker ins Loch zu tropfen.

"Das schmeckt man."

Dichter Nebel versenkt die Hofburg in graue Tiefen, wie immer zu dieser frühen Stunde in dieser Jahreszeit. Wer durch den Nebel hindurch sieht, erkennt gewaltige Herkules Figuren an den alten Mauern. Wer durch den Nebel hindurch sieht, erkennt wie Herkules der Hydra die Köpfe abschlägt und wie ihm Kerberos, der dreiköpfigen Hund am Tor des Hades, steinerne Reiszähne ins kalte Fleisch rammt. Herkules kämpft um unsterblich zu werden. Das hätte er auch einfacher haben können.


Die vier Männer im Fiaker sagen kein Wort. Stumm überprüfen sie ein letztes mal die Waffen, schrauben an den Kanistern. Selbst als der kleine Bus schon einen Touristen nach dem anderem auf den großen Platz tropft, bleiben sie still. Nur der Atem rinnt aus ihren Mündern. Schwer und feucht, wie der Nebel.

"Hofburg wa kirei desu ne?"
"Miemasen."

Eine schmale Hand in schwarzen Handschuhen schiebt vorsichtig den samtroten Vorhang im Fiaker einen Spalt zur Seite. Man sieht fast nichts in dieser Suppe aus fahlen grau. Auch die Scheiben scheinen beschlagen. Zwischen den Brokatfransen ahnt man, dass sich die Touristen, wie immer, sicher schon brav im Rund versammelt haben. Vorne schnaubte das Pferd grauen Atem ins Nichts.

Fledermäuse sehen durch den Nebel hindurch. Und Vampire.


Die letzten Kugeln klicken in die Reservemagazine. Die vier Männer schauen nicht einmal auf. Die Stimmung im Fiaker bleibt entspannt. Alles läuft ruhig, gelassen und routiniert ab. Von unter der Bank werden die Sichtgeräte hervorgezogen. Infrarot. Zuletzt bohren sich kleine Ohrhörer sich so nah wie möglich ans Trommelfell.

Wie vermutet, haben sich die Touristen draußen längst um den Schirm versammelt, und lauschen den japanischen Worten, die ihnen aus dem Verstärker am Gürtel des Reiseführers entgegen blubbern. Wie all diese Pracht, tatsächlich als Burg begonnen hatte, wie es früher tatsächlich noch Raubtiere im Burggraben gab, wie angeblich einmal sogar, während eines Festes, eine Dienerin in denselben gefallen war und von den hungrig gehaltenen Tieren, vor den Augen der Gäste, auf schrecklichste Weise zerfleischt wurde.

"Auf dem Balkon der Hofburg hat Hitler das Land annektiert."

„So desu ka?“


In den wärmeempfindlichen Infrarotgeräten sehen die Menschen aus wie psychodelische Tintenkleckse auf Pergamentpapier. Auch dann, wenn sie in eine Hecke springen, oder sonstwie versuchen zu entkommen. Obwohl die meisten immer nur rennen. Nur Kinder versuchen sich zu verstecken. Und nur dann, wenn ihre Eltern schon gemolken sind.


"Das Vieh ist zusammengetrieben", sagt jemand im Wagen.

"Dobro", sagt ein anderer.

"Vamos."


Die Musik im Ohr macht die Jagd fast heilig. Zumindest heldenhaft. Wie im Film. Großes Kino. Breitwand.

Man sieht nichts als diese Kleckse im Nebel, sieht das Rot der Körperwärme immer roter werden, sieht nicht die Augen, hört nicht die Schreie, fühlt nur den leichten Druck am Zeigefinger, den feinen Rückschlag im Handgelenk, spürt nicht einmal das übliche Brennen der Härchen am Handrücken, wenn das Pulver der Patronen verbrennt, weil man ja Handschuhe trägt. Nur der Geruch bleibt. Das frische Blut, in der Luft, im Kanister, obwohl die Kanister perfekt abschließen.


Die Kern vom Touristenknäul bewundert noch die von Nebel verdeckte Architektur - wenn es nicht so neblig wäre, könnten Sie dort hinten das Rathaus sehen- als ersten Opfern am Rand schon längst das Blei aus der an der Kopf gehaltenen Waffe den bewährten Fluss der Blutbahn auf gröbste Weise verändert und das rote Gold von nun an, statt zu den ach so weit gereisten Hirn, in einen farblosen, auffaltbaren Kanister leitet. Die Handgriffe der Blutjäger sind effektiv. Keine Bewegung zu viel. Keine Muskelanstrengung unnötig. Nach dem Schuss, als oben die Hand zum Kopf geht, tritt man unten die Beine vom Boden. Der Körper knickt nach vorne, fast graziös, leicht wie eine Blume, deren Kopf zu schwer wird, hin zum Kanister. Dort nutzt man die Gravitation und füllt ab.

Die Mäntel der Blutjäger sind lang, weit und spucken immer wieder neue Faltkanister hervor, die auf Befüllung warten. Schließlich Panik. Massenflucht. Wie bei einem Vogelschwarm. Als ob Flucht jemals geholfen hätte.


Der Nebel spielt Kammermusik und gebiert immer neue Klienten vom fransigen Rot der wärmeempfindlichen Sichtgeräte in das zarte Grau der Realität. Klassik beruhigt. Besonders Vivaldi und Bach.

Die gemolkenen Körper werden auch bei größerem Ertrag oberflächlich nicht wesentlich heller. Das Blut kommt meist aus dem Inneren des Körpers. Dagegen färbt sich die Haut der Vampire bei Blutzufuhr schnell. Selbst die feinen Adern in den Augen scheinen sofort mit Leben erfüllt. Gierig auf mehr.

Manchmal bleibt Zeit und der Novize kann die Klienten zusätzlich ausschütteln. "Abtropfen" nennt man das und macht Witze, dass der letzte Tropfen immer daneben geht. Genau wie beim Pinkeln.

Knapp eineinhalb Minuten vor Ende der Aktion geht der Novize mit dem Elektromagneten über die Weide. Das Metall der leeren Magazine und Patronenhülsen springt an den Minuspol, bis ein fettes Wespennest aus unerwartetem Tot am Magneten hängt. Spuren beseitigen, nennt man das. Als ob eine Busladung voller Leichen keine Spure wäre.

Gibt es zu diesem Zeitpunkt noch Überlebende, steigen die Blutjäger von der handgehaltenen 9mm auf Schnellfeuerwaffen um. Der Fluss der Zeit ändert sich. Zeit hat keine Zukunft mehr. Zeit läuft ab. Sie läuft gegen Null, bis keine Zeit mehr da ist. Wie in einem schwarzen Loch.


Der Tourist da versucht einen Harken zu schlagen. Er versteht die Regeln des Spiels, weiß, daß er der Hase ist.

Das Blut beim Vampir wird nicht gepumpt. Es wird aufgesogen. Der ganze Körper zieht es ein. Wie ein Regen in der Wüste, der den toten Sand zum Blühen bringt.

Der Tourist rennt um jede Sekunde Leben. Dabei war schon tot, als der Fiaker auf den Platz bog. Eigentlich war er schon tot, als den Blutjägern der Brief mit der Order überreicht wurde. Persönlich. Per Kurier. Damit nichts abgehört werden kann.

"Code knacken ist eine Frage der Rechenkapazität."

Wahrscheinlich war er schon tot, als die ersten Vampire in die Stadt kamen. Jetzt rennt er und hofft.

Erst knickt sein Kopf nach hinten, von der Wucht des Projektils. Dann gibt das Kniegelenk nach. Sein Körper sackt in sich zusammen. Jetzt kommt der Tritt gegen seine Füße. Seine Hand greift nach etwas, aber es ist nichts da, was sie greifen könnte. Die Finger ringen gegen Nichts. Kein Widerstand. Nicht einmal eine andere Hand, die jetzt gut zu halten wäre. Jetzt, wo man stirbt.


602.

Von der Stange am Fenster aus sieht Tricia auf den Naschmarkt, wo die Besitzer der Stände beidhändig mit Eimern voller Seifenlauge bewaffnet, ihre Ware vor dem Überfall von Ratten und Kakerlaken bewahren wollen und putzen was das Zeug hält. In Wirklichkeit geben sie nur Ihren Kunden das Gefühl, sauber zu sein. Die Ratten und Kakerlaken kommen sowieso. Und die Raben, die im Winter über ganz Wien herfallen.

Draußen tragen die Menschen weiße Plastiktaschen und schauen hoch zu den Mädchen, die sich oben warm machen. Lange Beine schieben sich an der hölzernen Stange immer noch ein Stückchen länger. Das gefällt den Leuten. Besonders heute, wo es die Scheiben beschlagen sind und die Tänzerinnen noch geheimnisvoller aussehen.

Tricia fühlt die Dehnung ihrer Muskeln. Die schlanken Hände an den Bändern ihrer Ballettschuhe, obwohl sie persönlich in letzter Zeit viel öfter in gewöhnlichen Turnschuhen tanzt. Jetzt trägt sie aber Ballettschuhe, weiß, gebunden, hoch geschnürt. Es muss wohl an der Gewohnheit liegen. An dem Ritual sich die Schuhe zu binden, wenn sie im Umkleideraum die Welt draußen ablegt und es nur noch Tanz gibt.

Es riecht süßlich nach Schweiß. Draußen fällt der erste Schnee. Dünn und mickerig, als ob er krank wäre. In den Bergen sind die Schneeflocken von Anfang an dick und bauschig. Auch in München, wo Tricia anfing mit dem Tanzen. Wien liegt eben tiefer, nur ein 30, 40 Meter über dem Meeresspiegel. Das sollte man gar nicht denken von einer Stadt in Österreich.

Paul klatscht in die Hände und es geht los. Neonlicht, selbst am Tag, so grau ist es draußen.

"Machen wir weiter", ruft Paul in den kleinen Saal. Tricia stellt sich zu Beau, genauso, wie sie gestern aufgehört haben. Pauls Kopf geht in die Runde. Paul zählt vor, die Bewegungen laufen ab, wie automatisch.

"Ellenbogen" sagt Paul und jeder weis, was gemeint ist.

Die erste Bewegung ohne Musik. Tricias Arme gehen neben Beaus Hals, die Hände knicken von der Wurzel her auf, dann die Finger gelenkweise, bis in die Kuppen. Die Hüfte dreht ein, der Rücken gibt nach, Beaus Kopf, Ellenbogen, Tricias Bein, Tricia allein.

Paul geht zur Anlage, obwohl er die Fernbedienung bei sich trägt.

Noch einmal.

Paul drückt play.

Tricia fühlt den Beat, gibt sich der Musik hin, vertreibt alles andere aus ihrem Kopf.

" 3...2... Atmen."

Alle saugen gleichzeitig Luft an.

"Kraft", brüllt Paul.

Der Beat explodiert.

Tricia wirft ihren Körper zurück. Sie schiebt die Fußballen gegen das Parkett. Waden spannen. Zehen drücken. Finger ziehen Hände, Arme, schließlich den gesamten Körper nach. Tricia wird Angel und Fisch, katapultiert sich los von der Erde und fliegt. Fliegt, fliegt, bis sie oben an die Decke schlägt, an diese imaginäre Decke, die viel zu weit unten hängt, den Sprung beendet ..... viel zu früh.

"Scheiße" brüllt Tricia.

"Wo sind deine Gedanken?", schreit Paul, "Fühle den Raum. Forme den Raum. Wie oft soll ich Dir das noch sagen?"

"Ich..."

"Was ich?", fragt Paul, "Tanzt Du ernsthaft, oder ist das hier eine Hobbyveranstaltung?"

"Ich..."

"Tanzt Du aus Hobby?"

"Nein, Paul."

"Na, also. Nochmal."


603.

Als der Stadtpark um die Ecke biegt, hält der Fiaker stumm an. Der Kopf des Kutschers bleibt starr nach vorne gerichtet. Auf der schmalen Krempe des schwarzen Hutes wartet ein Hauch von Schnee vergeblich auf mehr.

Hinten schwingt die kleine Türe auf und gebiert vier Herren in langen, weiten Mäntel auf den nassdunklen Gehsteig, weil das bisschen Schnee sich am Boden nicht hält. Jeder der Vier nimmt zwei Koffer aus der Kutsche, die von außen viel zu klein wirkt, für die Menschen und die Koffer.

Die Kälte brennt, obwohl es wohl eher der Wind ist. Ostwind. In Bukarest verstecken sich die Straßenkinder in der Kanalisation vor diesem Wind. Kuscheln sich an die Hunde. So viele Hunde wir Einwohner. Heimatlos. Streuner, die man meist nachts sieht. In kleinen Rudeln zeihen sie durch die Stadt. Heulen an jeder Ecke den Mond an. Harmlos sehen sie aus, klein, niedlich. Unter der Erde, in der Kanalisation, in den Armen der Straßenkinder, die sie zu sich holen um sich zu wärmen blitzen plötzlich die Zähne auf. Kurz, wild. Niemand wird sie vermissen. Niemand wird morgen früh suchen, nach den kleinen Bettlern an den Ampeln. Bukarest ist nicht weit von Wien. 70 Minuten Flugzeit. Über die Kapaten. Landeanflug direkt neben Transsylvanien. Die letzten freien Vampire. Straßenköter, die sich nicht unterwerfen. Der Rest der Welt ist domestiziert.

Die vier Männer huschen durch den Nebel herab zum Fluss, der jetzt nicht mehr ist, als ein totes Band Asphalt mit ein paar Pfützen aus blassem Schnee und etwas Müll. Kanisterbeladen wehen sie das Band entlang, bis hinein in die große Öffnung, da wo die Stadt seit weit über hundert Jahren den Wienfluss verschluckt. Unter der Erde, fließt das dünne Gewässer. Dunkel und ohne Himmel.

Am Anfang ist das Gewölbe des Kanals ist so groß wie eine Kathedrale ohne Fenster. Jeder Schritt hallt vom Boden empor, viel zu laut, weil alles reflektiert. Niemand spricht. Nur das Platschen im Fluß, wie Glocken aus Dreck.

Dann wird es Schlag auf Schlag enger.

Nach der Kurve biegen sie in einen kindshohen Gang. Es ist stockfinster. Vorgebeugt laufen. Ohne die Last wäre es schon anstrengend genug. Jetzt wird jeder Schritt zur Qual, nicht in den Armen, die das Gewicht tragen, sondern im Rücken, der nicht dafür gebaut ist, in diesem Winkel schwere Lasten zu bewegen. Aus heben, wird zerren. Jeder keucht seinen Atem still heraus. Es ist zu dunkel für Gedanken, zu eng. Keiner flucht. Das Blut in den Kanistern erfährt seinen letzten Respekt.

Die Sonne kommt nie hier hin. Die zornige Antwort Gottes auf die Feuer der Hölle.

Nach einer guten Viertelstunde kommt die letzte Abzweigung. Die Körper glühen vor Anstrengung. Die Luft ist so alt.

"Scheiß auf Unsterblichkeit", sagt einer.

Niemand antwortet.

Dann endlich, wird der Gang wieder höher. Eine kleine Halle tut sich auf, nur das man noch immer nichts sieht. Vampire nennen den Raum "die Garderobe". Wer sich bis hierher als Wolf, Fledermaus oder Ratte durch die niedrigen Gänge bewegte, legt hier diese Gestalt ab und schiebt in Menschenform den Stein zur Seite, hinter dem sich der Automat für die Zugangsprüfung befindet.

Die meisten Blutjäger nennen ihn Pergator. Vielleicht weil er ein Tor hat und weil er sich jeder hier fühlt wie im Pergatorium, der Vorhölle. Einige sprechen vom "Omegaraum". Weil alles zu Ende ist.

Fingerabdruck, Passwort, Retinascan.

Dann summt die Wand auf.

Ein verspiegelter Gang tut sich auf, sicher an die zehn Meter lang. Oben surrt rotes Licht. Selbst nach all der Dunkelheit, brennt seine lange Wellenlänge nicht in den Augen. In dem Gang lungert das übliche Wachpersonal herum und schaut erfreut auf das Gepäck. In der Spiegelung sieht man nur die Blutjäger. Nichts teilt Menschen und Vampire schneller, präziser, kostengünstiger, als silbern hinterlegtes Glas.

Waffen werden abgenommen. Ausweise kontrolliert.

"Blutjäger. Können passieren."

Das hintere Tor der Schleuse öffnet sich behäbig und zeigt eine weitere Wand. Vor der Wand knickt der Gang aber hart nach links und führt nach weniger Schritten in einen hohen Raum, der, wäre er nicht so penetrant rötlich ausgeleuchtet, an den Paketschalter bei der Hauptpost erinnern würde. Nur sauberer. Es gibt eine gepflegte Reihe von Schaltern mit frisch gekämmten Beamten, geputzter Waage, ordentlichen Büchern mit ungeknickten Ecken, eine Kasse, oben sind Preise angeschlagen davor eine Schlange Kundschaft mit schweren Paketen. An jedem Schalter steht vorne rechts eine Zentrifuge und daneben der Molekularscanner.

"Sie sind spät", sagt der Beamte hinter dem Panzerglas und hebt den Blick nur kurz von den Unterlagen vor ihm.

"Schnee", sagt einer der Blutjäger.

"Da sieht das Blut noch roter aus", lächelt der Beamte und taucht die Pipette in den ersten Kanister.

"Früher war ich oft Ski fahren. Aber das ist sicher schon zweihundert Jahre her."

Das Röhrchen füllt sich.

"Es hat schon damals viele Unfälle gegeben, in den Bergen. Wenn Sie wissen, was ich meine..."

Der Beamte knarrt, wie eine alte Tür. Weil er dabei die Zähne zeigt, lächelt der Blutjäger zurück.

Dann kommt die Zentrifuge.

"Niemand gebissen? Keiner ein neuer Vampir?"

Das Blut verwischt zu einem hypnotischen Kreis. Wenn jetzt wieder die Bilder des Melkens erscheinen, ist man im falschen Beruf.

"Niemand dauerhaft geschädigt?"

Der Beamte stoppt das Gerät und lässt es in Ruhe ausrotieren.

"Kein öffentliches Aufsehen erregt?"

Die Pipette begattet den Molekularscanner. Ein Lichtfaden zieht sich hoch.

"Infektionsniveau unter 1,5 % . Bravo."

Jetzt zieht er die Pipette wieder hervor, schüttelt sie auf und trinkt.

"Asiatisch?"

Der Blutjäger nickt.

Der Beamte leckt sich die Lippen nach. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Dann geht er noch mal mit der Unterlippe nach oben und schlürft.

Die Waage zeigt 24,3 Kilo. Das entspricht, minus dem Gewicht des Kanisters, 18,53 Liter.

"Fünftausendsechshunderteinundfünfzigeurofünfundsechzig", sagt der Beamte.

Ein Stempel donnert auf ein Papier.

„Cash oder Überweisung?“

604.

Der Nebel macht die Stadt immer noch zart. Wie Pergamentpapier. Von dem Schnee nichts nun mehr zu sehen. Nur an den Bäumen und dem Metallgeländer am Naschmarkt hält sich ein Fetzen Weiß .

Paul, Beau und Tricia schlendern zwischen den Buden entlang, rechts hinauf in Richtung Sesession und Innenstadt. Links und rechts schmiegen sich schweinsdicke Kebabspieße an glühend rote Feuergitter. Eine Schulklasse schreibt auf, was es auf dem Naschmarkt alles gibt. Einer der Jungen schlägt vor zusammenzulegen und einen lebenden Fisch zu kaufen.

Tricia geht wie allein. Mit jeden Schritt sieht sie eine neue Scheibe Buden. Öle in Fässern zum selbst abzapfen. Pistazien und frischgepresste Säfte. Das wäre auch so, wenn die Luft klar wäre. Der Naschmarkt ist wie eine bekannte Aufführung. Man weiß was noch kommen wird, aber man sieht es noch nicht.

In Tricias Kopf drückt die Decke nach unten. Vom Muskelapparat her kommt sie viel höher. Warum hört ihr Sprung so früh auf? Natürlich ist der Sprung nicht alles, aber wie will zu den Besten und da muss alles perfekt sein. Sie muß raus aus dem negativen Denken, sich auf das konzentrieren was sie kann, nicht auf das was sie nicht kann. Nur nicht an das Denken was sie nicht kann. Aber dann kommt die Angst vor der Angst. Scheiße. Denk an Sex.

Von unter dem Naschmarkt haucht der Wienfluss seinen feuchten Atem aus den Kanalöffnungen heraus. Oder an Essen.

Paul hat sich den ganzen Tag nicht entschuldigt. Positiv sein. Er will ja nur, dass sie das Vortanzen schafft.

"Na und", denkt Tricia

Die nächste Scheibe Nebel enthält eine Strassenbahn. Die drei steigen ein. Paul hat eine Jahreskarte. Tricia und Beau zahlen nicht.

"Persönliche Aufstockung der Kulturförderung", sagt Beau immer. Seit die Regierung die Fördergelder gekürzt hat, gleicht Beau aus, wo es geht. Sogar im Schwimmbad klettert sie über das Gitter.

Die Bahn schiebt sich über den Ring, der, wenn überhaupt, dann maximal zweidimensional aussieht. Wie Bühnenmalerei in der Sauna.

Paul versucht rauszukriegen wo sie sind. Er muss wissen, wo sie sind, steht neben Beau und stiert in den Nebel um nach markanten Punkten zu suchen. Als er denkt, irgendein Haus erkannt zu haben, ist er zufrieden. Er meint auf dem richtigem Weg zu sein. Seinen Standpunkt zu kennen. Nicht nur das Ziel klar vor Augen zu haben, sondern auch den Weg dorthin. Sogar im Nebel.

Tricia sitzt mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf einem Einzelsitz und tut, als ob sie I-Pod hört.

Beau sagt irgendwas lustiges und zieht sich den engen Pullover nach. Das macht sein immer, wenn sie zuwenig Aufmerksamkeit hat. Paul schaut von der Nebelwand weg zu ihr und lacht im nachhinein über ihren Witz. Eigentlich müßte er mal mit schlafen. Ist sicher heiß im Bett und hat nichts gegen Reizwäsche. Im Gegenteil.

Tricia ist leer. Wie ein großer Saal ohne Publikum. Leblos, kalt und weit. Ganz allein ist sie in dem unendlich großen Saal und ganz vorne oder ist es hinten? oben? unten? Weit entfernt ist etwas und wartet. Tricia weiß, daß es zu ihr kommen wird, dass es kein Entrinnen gibt, das sie springen muss und frei zu kommen, von dieser bedrückenden Weite, die so groß ist, dass sie alles einschnürt und jedes Leben nimmt.

"Wir sind da", sagt Paul und schlägt ihr auf die Schulter. Tricia zwingt sich ein Lächeln auf die Lippen, wie immer, wenn sie aus ihren Gedanken gerissen wird, wenn sie Angst hat vor der Zukunft. Angst, das alles zu schaffen, was alle von ihr erwarten.


Dengs Chow liegt in einer Seitenstrasse. Hinten steht sonst immer ein Haus von Otto Wagner. Heute ist da nichts. Nur Grau. Sendeschluss. Übertragungsfehler.

Der Eingang, ist eine blaue Schleuse aus Licht. Innen, im Blau, zwei Chinesen im Anzug.

"Wir haben reserviert", sagt Beau, "Beau. Be. Eh. Ah. Uh."

"Bitte", befiehlt einer der Beiden mit vorgetäuschter Freundlichkeit. Ohne den Oberkörper zu bewegen zupft er drei Speisekarten hervor und schreitet tiefer und tiefer nach unten, drei Treppen hinab bis hinunter
in einen reduzierten Raum mit langen Tischen und Bänken. Paul liebt diese Treppen, geht hinter Beau und schaut ihr auf den runden Po, studiert jede Bewegung, läßt sich ein auf den Rhythmus, fühlt jede Bewegung, wird selbst zu ihrem runden, geilem Hintern und weiß nun ganz sicher, daß er die Nacht mit verbringen muss. Yessssssir.

Über den hellen Tischen baumeln an meterlangen Kabeln große, glockenförmige Lampen herab. Klare, schlichte Linien. Sogar bei den Pflanzen. Beau war noch nie hier. Bemerkt die dicken, dunklelgrünen Lüftungsrohre, die die Luft frisch halten. So tief unter der Erde.

Die ganze Stadt hat diese Keller. Früher war das alles verbunden. Heute ist das nur noch im Regierungstrakt so. Als im Jahre 2000 für zwei dumme Perioden die Rechten das Land übernahmen, gab es so viele Demonstrationen, dass sich die Politiker am Anfang unterirdisch zum Parlament begeben mussten. Auch zur Nazizeit wurden die Gänge oft benutzt, wie wahrscheinlich immer, wenn mächtige Leute sich unerkannt bewegen wollten. Früher ging man so auch Bordell. Und manche Menschen wurden auf diesem Wege direkt in die Donau befördert.

Der Chinese zeigt auf einen Tisch an der Wand. Eine Weltkarte ist in das stumpfe Glas geätzt, leuchtet gleichmäßig grün von Ost bis West. Nett. Paul weis schon was er isst. Tricia und Beau wissen nicht mal die Getränke.

In Dengs Chow kommt hinter der Mauer mit der Karte, von aussen völlig unsichtbar, geheim gehalten von den wenigen, die es kennen, eine Stahltüre, dann ein Gang mit Spiegeln, Wachen, eine zweite Stahltür, noch ein Gang, dieser mit Selbstschußanlagen, UV-Strahlern und Gasdüsen, Wachen mit Schutzanzügen, 25 cm Blei und schließlich ein großer, weiter Raum.

Paul schaut, ob der Kellner nicht endlich kommt. Tricia und Beau hoffen das Gegenteil.

Der Raum ist UV-frei, aber hell erleuchtet. Filmlicht. Kameratauglich. Was für das Auge leicht gelblich wirkt, sieht für die Kamera angenehm frisch aus. Selbst der kahle Tisch in der Mitte der Raumes entfaltet auf den digitalen Bildschirmen im Regie- und Schneideraum eine gewisse harmlose Freundlichkeit. Obwohl mitten auf der abwaschbaren Öberfläche etwas liegt. An Händen, Hals und Füßen gefesselt, brutal zusammengeschlagen, mit halb abgerissenem Ohr und nur noch einem korrekt befestigtem Auge wimmert auf diesem Tisch ein chinesischer Vampirjüngling im Scheinwerferlicht. Jemand hält einen Lichtmesser vor den Haufen Fleisch.
„5.6“
Der Chinese will spucken, findet aber im Kopf seinen Mund nicht schnell genug, kann die Muskeln nicht schnell genug bewegen, sucht zu lange in sich herum und tropft schließlich, als die Hand schon lange weg ist, ein wenig Flüssigkeit auf sein eigenes Kinn.

Im Regieraum wird jedes Bild der Kameras noch ein letztes mal geprüft. Oben saust eine Kamera am Kabel entlang. Close up auf den anderen Tisch, mit dem Menschen. Zoom auf das Klebeband über dem Mund. Pan hoch zu den Augen, das eine leider zugeschwollen, kann man vielleicht noch aufschneiden bevor es losgeht. Die Einbisslöcher am Hals zeigen ein wenig Schorf. Das ist immer so nach ein paar Stunden. Der Kopf des Menschen ist ebenfalls fest auf den Tisch geschnallt. Arme, Beine, Körper sowieso.

Allein liegt der da, umgeben einer ganzen Horde Techniker, unbeweglich, über ihm Licht, bis plötzlich eine Hand das Bild verdunkelt, ein Hand mit Skalpell, schwarz vor Augen wird es, dann der Schmerz, der stechende Schmerz, Tupfer, bis plötzlich wieder alles hell ist, Blut verschmiert die Sicht, jetzt dreidimensional, grelles Licht, so hoch über ihm.

„Noch 30 Sekunden“ sagt ein Lautsprecher.

Seine Auge, Ohren, Nase und so weiter sind relativ unversehrt und leisten seinem Gehirn den verzweifelten Dienst jede Bewegung im Raum zu erforschen, nur um möglichst rasch herauszufinden, was hier vor sich geht. Das letzte, woran sich sein Hirn erinnern kann, war der Kuss, den ihm der süße Typ geben wollte, an der Mauer vom Parkcafe after hours auf dem Weg zu mehr Zigaretten. Jetzt fühlt er nicht einmal seinen Mund, sein ganzer Körper ist irgendwie hohl. Er riecht besser als sonst. Riecht die Wärme vom Licht, die Kälte der Mauern, den beissenden Gestank der Angst neben sich. Auch seine Ohren sind klarer. Hören das Summen des Stroms. Pochen, klopfen, rammen. Schritte dröhnen herbei.

Der Kellner kommt. Paul sagt, er wisse es schon. Tricia und Beau wissen noch nicht. Der Kellner sagt, er käme gleich wieder.

"Deng", ruft jemand.

Die Schritte kommen näher, bleiben stehen.

"20 Sekunden", sagt der Lautsprecher und plötzlich flackert, hinten im Raum ein Fernseher ins Leben. Der Mensch ruckt den Kopf vor. Vergebens. Jetzt schiebt der Augen zum Monitor, Blut quillt hervor, der Schmerz sticht erneut zu, weiter schiebt er Augen, weit über den Schmerz, bis an die Grenzen. Zahlen laufen rückwärts. Ein Countdown. Für was?

Paul bestellt ein Bier. Tricia Tee. Beau einen naturtrüben Apfelsaft. Paul wüste auch schon das Hauptgericht. "Später", sagt der Kellner und geht.

"5,4,3,2....", ruft eine Stimme.


Die Zahlen verschwinden und nun sieht zeigt eine Kamerafahrt über applaudierendes Publikum. Einige Gesichter sind ganz groß zu sehen. Lachen. Staunen. Warum läuft da Fernsehen? denkt der Gefesselte und erforscht das Innere seines wie unbekannten Körpers. Sein Gedärme ist noch schwer vom Abendessen, aber vom Magen aufwärts scheint alles wie ausgeschabt. Eine weiche Kälte, da wo sein Herz ist. Er fühlt nichts. Stillstand.

Schriftzeichen flattern tonlos ins Bild.

Ein reich verziertes Tor öffnet sich. Jetzt mit Ton, aber von hinter ihm. Wahrscheinlich eine Surround system, dass sie jetzt erst eingeschaltet haben. Neben ihm stöhnt etwas. Warum ist er gefesselt? Seine Angst macht sich noch breiter. Er wippt, soweit es geht mit den Fesseln, also eigentlich gar nicht.

Jetzt erscheint ein Mann in schwarzem, imperialem Gewand auf dem Monitor. Während er läuft spricht er schon. Die Stimme klingt absolut real. Komischerweise hört man aber auch ein leichten Schieben, und noch weiter hinten das Rutschen von Kabeln über glatten Boden.

Die Kamera zeigt ein feines, nobles Gesicht, fast adelig. Unter den festen Haaren, eine faltige Stirn, dann zwei schmale, stechende Augen.

"Unsere Nahrung ist knapp geworden. Sehr knapp." Der Mann scheint wichtig. Sicher der Showmaster. "Deshalb ernähren wir uns so..." sagt der Mann und die Kamera zeigt, wie er eine kleine Box von einem von vier Drachen gehaltenen Tisch nimmt, den Halm auf der Box abreißt und oben durch das silberne Rund schlägt... "und nicht so...." Nahaufnahme von seinem Mund. Die Lippen springen auf. Dahinter ein tiefroter Abgrund, an dessen Eingang seitlich zwei Monolithen emporragen. Vampirzähne.

Schnitt. Der Monitor zeigt eine Total vom Studio. Der Showmaster geht in der Vogelperspektive auf zwei Tische zu, auf denen zwei Kandidaten zu sehen sind, die wie die Figuren einer Spielkarte, allerdings Kopf an Kopf positioniert sind. Die Schritte sind erschreckend nah. Der Ton ist unrealistisch gut. Was ist nur mit seinen Ohren? Der Gefesselte schiebt die Augen noch weiter an den Rand und versucht die Kandidaten auszumachen. Sie sind gefesselt.

"Und warum nicht?", fragt der Mann und nun fühlt er ihn, spürt den Luftzug der Bewegung und die Aura einer uralten Macht, die die seine verdrängt und nur noch Platz lässt für sich. Die Augen reißen sich los von Monitor, suchen im Raum nach dieser Macht, finden aber nur die von Eisenstäben, Kabeln und Lampen überzogene Decke.

"Mein Gott, ich bin im Fernsehen", denkt der Gefesselte. Und dann zeigt der Monitor die Kandidaten genauer: unten mit halb zertrümmerten Gesicht, der nette Chinese von gestern, darüber, kreidebleich, alt, verschwitzt, gefesselt und mit zugeklebtem Mund.... mein Gott, das bin ja ich.

"Warum nicht", fragt die Stimme erneut und schlägt mit seinem Gehstock dem Chinesen so brutal auf den Kopf, das die Haut platzt. Ein langer Riss. Ganz ohne Blut.

Der Mensch will schreien, bleibt aber stumm, nicht nur von dem schwarzen Tape, dass über seinem Mund klebt. Sein ganzer Hals ist gefühllos, gelähmt. Wahrscheinlich haben sie ihm Stimmbänder stillgelegt. Sein Herz sucht nach einem Ausweg und findet nur immer mehr Angst. Mehr Schweiß platzt aus der Stirne hervor. Mehr Panik klopft in ihm. Dann Ruhe. Apathie.

"Weil wir nicht wollen, dass es noch mehr Vampire gibt", röchelt es neben ihm.

Paul nimmt die Pekingente. Tricia wählt vegetarische Gyoza. Beau bestellt Dimsum.

"Weil wir nicht wollen, dass es noch mehr Vampire gibt. Denn jedesmal, wenn wir uns an einen Menschen vergreifen, machen wir ihn zu einem von uns", wiederholt die Stimme.

"Macht der Bauer gleich jede Kuh zum Bauern, wenn er sie melkt?"

Lachen aus der Dose ertönt von irgendwo. Vielleicht nur im Kopf. Publikum gibt es im Studio keines.

"Liebe Freunde, dieser arme Sünder hat fehl getan. Er hat von der Quelle getrunken, die verboten ist. Er hat ein durstiges Maul mehr in diese Welt gebracht. War seine Blutration kleiner als unsere? Oder war es nicht der Mensch, der ihn verführte? Was zeigt dieser Mensch ihm auch seinen langen, weißen Hals? Mitten in der Nacht. Allein. Was soll ein armer, hungriger Vampir da schon anderes tun, als seinem ureigenem Instinkt zu folgen? Wozu hat er denn seine Beisser? Zum Strohhalm saugen?
Ja! Liebe Zuschauer. Ja! Denn wenn auch nur jeder Zehnte von uns, sein Blut selbst jagen würde, hätten wir schon morgen mehr Vampire als Menschen.“

Stauen, Abscheu, Applaus.

„Was soll also geschehen mit diesem Verräter?", fragt der Mann auf dem Monitor. "Liebe Freunde, wählt Endziffer 0 für den ewigen Durst und Endziffer 6 für den sofortigen Tod. Bitte wählt jetzt", lächelt der Mann und auf dem Monitor erscheinen Telefonnummern.

Ob er noch ein Bier haben könne, fragt Paul. Tricia und Beau sind O.K..


"Off-air", ruft eine Stimme und der Monitor flackert zurück in traumlosen Schlaf.


"Ich weis das Ergebnis schon" flüstert die Macht nah am Ohr des Gefesselten. Der Chinese winselt. Die Stimme wendet sich ab, Schritte entfernen sich. Dann hört man das schwere Geräusch von Hammer auf Holz und gleich danach einen elenden Schrei.

Der Mensch verliert das Bewusstsein.

"Die neuen Scheinwerfer brennen noch immer auf der Haut", ruft Deng. Dann zieht er ein Taschentuch hervor und tupft seine Stirn.

"Teilt Euch das Restblut vom Neuen. Und pfählt ihn. Sofort."

"Endlich", sagt Paul und fängt gleich an mit der Ente. Tricia und Beau wünschen Guten Appetit.


605.

Tief unter der Erde, in einem großen Saal, der etwas von einem rötlich beleuchteten Paketschalter hat, nur sauberer, stellt ein kleiner, fast dicklicher Vampir, vier schwere, blutrote Kanister auf ein kurzes Fließband und drückt Start. Das kurze Fließband führt zu einem Längeren, das Längere zu einem schwarzen Gummivorhang. Hinter dem Vorhang kommt eine Rutsche, die Rutsche endet unten an einem weiteren, längerem Band. Am Ende des Bandes fallen die Kanister auf eine Drehscheibe. Oben an der Drehscheibe werden die Kanister angehoben und automatisch aufgeschraubt. Nun folgt eine Edelstahlführung, dann die Kippvorrichtung, die die Kanister über der antiseptischen Kühlwanne nach vorne beugt und, dank Druckluft, bis zum letzten Tropfen entleert. Unter der Kühlwanne warten 4 mal 12 Abfülldüsen und pumpen das Blut direkt in die kleinen, handlichen Getränkteboxen. Versiegelung, Stapelung, Transportverpackung, Fertig.

Hinten verlasen genormte Paletten mit kleinen, handlichen Blutkartons die Fabrik. Einige werden nie die unterirdische Welt verlasen, werden durch ein Labyrinth von Gängen zu den Armenvierteln gebracht werden, dorthin wo unzählige Vampire hungernd auf Lieferung warten.

Doch einige reisen mit dem Aufzug hoch, hoch, hoch in die Lagerhalle mit Rampe, fahren auf Gabelstaplern durch eine Kühlhalle voller Schweinehälften vorbei und landen schließlich in einem der freundlichen LKW mit der Aufschrift: Frisch für Sie.

Einer der LKW rattert seine kühle Fracht von Hof, hinaus aus der Stadt, bis zu einem großen, schmiedeeisernen Tor. Anmeldung in die Kamera, Ausweis, Codewort, kann passieren.

In dem Schloss erhebt sich Melog von seinem wuchtigen Schreibtisch und schlendert an das zugemauerte Fenster. Oben brennen Kerzen im Leuchter, wie seit vielen Jahrhunderten. Melog, Kaiser von Österreich, König von Ungarn, Rumänien, Dänemark, Schweden, Slovakien, Tschechin, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Bulgarien, Russland, Deutschland, Spanien, Portugal, Italien, Polen, Griechenland, Finnland, Litauen, Estland, der Schweiz, England, Albanien, Liechtenstein, ganz Europa bis hinauf nach Uzbekistan, fast der ganzen Türkei, Zypern, kleiner Teile von Israel, den Azoren, dem sich immer neu umbenennenden Balkan, und zeitweise großer Teile von Nord und Südamerika und sogar ein wenig Australien und Neuseeland. Melog, mächtig und alt, das Oberhaupt der europäischen Vampire, schaut gegen die Steine des Fensters und lässt seine spitzen Fingernägel über den Daumen kratzen.

"Die Sicherheit ist wirklich garantiert?"

"Melog, wir haben sorgfältig überprüfte, hochausgebildete, absolut loyale Truppen. 78% der Soldaten sind seit mindestens vierhundert Jahren bei uns. 17% seit über 300 Jahren, die restlichen 5 % nicht unter 200 Jahre. Alle ausgesuchten Kräfte sind kampferfahren und mit mindestens 10 Medaillen ausgezeichnet. Wir haben von jedem Einzelnen jeweils 3 Referenzen eingeholt. In Summe reden wir über 1000 Soldaten die 72 Gäste bewachen. Es kann wirklich nichts schief gehen."

Hagasan ist sich sicher. Wie immer. Entgegen seinem eigenem Selbstbild leider etwas zu fleischig, spannt sich seine Uniform mehr um den Bauch als um den Brustkorb. Die goldnen Knöpfe vertuschen da wenig. Von 1618 bis 1648 trug er diese Uniform. Der 30-jährige Krieg. Was für ein Festmahl. Millionen von Opfern in ganz Europa. Aufgespießt, abgestochen, erhängt. Nahrung für seine wachsenden Legionen von Vampiren, die nachts ganze Landstriche zur Tafel machten. Gute Zeiten, denkt Hagasan und bewundert sich.

"Es ist das größte Treffen der europäischen Vampire seit", Melog wirkt alt im Brokat seines reich verzierten Mantels, "seit dem Zusammenschluss vor 600 Jahren. Ich will keinerlei Risiko eingehen. So viel Macht an einem Ort macht verwundbar."

"Wir sind perfekt vorbereitet, Melog. Es kann - nichts - passieren."

"Deng hat Spione", gibt Melog zu bedenken und dreht sich von Fenster weg hin zu Hagasan. Seine Augen lodern heiß unter faltigen Stirn.

"Alle Einladungen ergingen ausschließlich persönlich über Boten. Alle Delegierten reisen ausschließlich konventionell. Niemand kann auch nur den leisesten Verdacht erahnen."

"Wir sollten wachsam sein."

"Das werden wir, Melog, das werden wir."


606.

Sie Sonne steigt auf, zieht hoch zum Himmel, brennt tödliche Strahlen auf alle dunkeln Wesen. Gott hat diese Sonne erschaffen, so wie Satan die Feuer der Hölle erschaffen hat. Gott hat die Sonne tödlich gemacht, für alle Teufel und Vampire, so wie Satan sein Feuer tödlich gemacht für alle Engel und Heiligen. Nur wenige Teufel können jemals die Hölle verlassen, so wie nur wenige Engel den Himmel je verlassen können. Und so wie die Vampire ehemalige Menschen waren und nun auf ihre Weise das Geschick der Erde bestimmen, sind auch die Seeligen und Heiligen Gottes wahre Muskeln auf Erden. Selbst kann Gott die Erde nicht betreten und nicht die Hölle, so wie Satan selbst weder Himmel noch Erde betreten kann. So sind alle Wesen gefangen in ihrer Welt, und haben keinen direkten Einfluß auf das Treiben in den anderen Ebenen, so wie Licht und Schatten keinen direkten Einfluss auf die dritte Dimension haben, keine Mauern bauen können und keine Häuser.
Aber Licht kann verbrennen und Schatten kann eine Eiszeit hervorrufen, wenn der Himmel verdeckt wird für lange Jahre. Beides kann den Tod bringen und nur durch den Tod kann Gott und jeder Engel, Satan und jeder Teufel, jeder Mensch, jeder Vampir, jeder Heilige seine Welt verlassen und herüber springen in die andere Welt. Himmel. Hölle. Erde. Drei Welten getrennt. Drei Welten vereint. Drei Welten verwoben im Schicksal der Zeit.

Die Sonne senkt sich und die Nacht legt sich über die Stadt. Tricia hat morgens trainiert und am nachmittag. Sie hat im Stadtpark die Enten besucht, hat an Freiheit gedacht und an fliegen, hoch und losgelöst von den Fesseln der Erde.

Wenn sie das Vortanzen schafft, will sie entspannen. Eigentlich müßte sie vorher entspannen. Aber wie?

Die Straßenbahn hält und Tricia steigt aus. Bim, sagen die Wiener zur Straßenbahn, aber Tricia ist keine Wienerin. Sie ist hier um zu tanzen. Vielleicht hätte sie nach L.A. gehen sollen, oder nach Tokyo. Aber vielleicht wäre es da ja genauso, nur das Paul dort Jeff heißen würde, oder Takashi. und das Tanzen vor Silke Winter würde dort auch stattfinden. More or less. Scheiß drauf.

Tricia öffnet die Türe, zahlt und betritt das WUK. Paul muss irgendwo sein. Und Beau. Heute tanzen Tricias Konkurrenten hier. Sodom und Gomorra. Rapper-Namen. Hipp Hop- Namen. So heißt doch kein normaler Mensch.

Ein Hauch von Kleid umfließt Beaus schlanken, hochgewachsenen Körper, verfeinert gewagt jede Ihrer ohnehin graziösen Bewegungen. Leichte, kühle Seide, trotz der Kälte draußen.

"Das Nackt-Kleid", denkt Tricia und fragt sich wen Beau heute abend mit zu sich nach Hause nehmen will.

"Wir waren noch an der Bar", lacht Beau.

"Tricia", sagt Paul und reicht Ihr ein langes Glas Sekt.

Der Aufführungssaal im WUK hat keine Stühle. Drei leere Podeste kämpfen still um Publikum. Die Menschen stehen dicht gedrängt. Einer raucht, aber da kommt schon der Saalordner und die Zigarette verschwindet in einem Gewirr von Beinen, bis sie die Unterseite eines Schuhs trifft, fest gegen den Boden drückt und langsam zerreibt. Schon jetzt wird es heiß.

"Ich hätte weniger anziehen sollen", denkt Tricia.

"Ich habe gehört, die Beiden sind super", sagt Paul und zwingt eng einen Schluck Sekt aus seinen Glas.

""Ich glaube sogar, dass Silke Winter sie wollte."

"Aha", meint Tricia, deren Schultermuskeln nervös anspannen, allein bei dem Namen Silke Winter, Ihrer Richterin über Wohl und Wehe, Erfolg oder Versagen, Ruhm oder Umschulung.

"Aber sie wollten nicht", ergänzt Paul.

Eine Welle der Bewegung schwappt durch die dicht gepackte Masse. Die Tänzerinnen rempeln sich zu den zwei Bühnen. Eine von ihnen stösst Tricia hart zur Seite.

"Arschloch", ruft Tricia, sieht aber nur noch zwei Beine in kurzen schwarzen Turnhosen und schweren, schwarzen Stiefeln direkt vor ihr auf die Bühne springen.

Dann zerreißt Musik die Luft.

Die Tänzerinn ist drahtig. Durchtrainiert. Firm. Das Oberteil nur ein schmaler, schwarzer Klebestreifen, quer über die Brust.

Tricias T-shirt wird klebrig. Tricia fühlt nach und riecht: Sekt. Der muss wohl bei der Rempelei rausgeschwappt sein. Auch die Jackettärmel sind voll. Klasse.

Die Tänzerin schaut über die Masse im Saal. Dann brennen drei Scheinwerfer auf. Das Podest explodiert in Bewegung. Hart. Stark. Schnell. Der Tanz ist extasisch. Sekundenlang. Minutenlang. Dauerpower. Auf dem anderen Podest scheint es ähnlich zu sein. Wer mehr sehen will, muss sich umdrehen, hingehen. Man hat immer nur ein Podest vor sich. Wie im Zoo. Exponat- Performance. Das Publikum wogt. Überall spritzt die Gischt der Begeisterung hoch. 20 Minuten nonstop. Die Augen der Tänzerinn fokussieren die Zukunft. Erst der Blick, dann die Hand, der Arm, das Bein. 30 Minuten. Konditionsbeweis. Schweiß spritzt bei der kleinsten Bewegung. Sogar von den Fingerspitzen.

Tricia hat Respekt.

"Wollt Ihr was von der Bar?" fragt Tricia, der die Dauerdynamik auf der Bühne langsam auf die Nerven geht.

Beau und Paul heben halbvolle Gläser in die ohrenbetäubende Musik. Sie haben noch. Tricia zwängt sich raus. Endlich Luft. An der Bar ist es angenehm leer. Nur die Fotoausstellung stört. Unbegabte Schnappschüsse bedeutungsvoller Situationen. Die Rahmen sind ganz O.K..

Vielleicht ist es Wut über die blöde Anmache. Vielleicht ist es Angst vor Silke Winter. Vielleicht ist es auch einfach nur so, weil die gestrige Scheiße von Paul wieder hoch kommt und das klebrige T-shirt nervt. Auf jeden Fall sagt Tricia "Grappa" und dann "Doppelte" und dann "Drei mal bitte".

Der Barmann schreibt mit. Alzheimer oder ehemalige Tischbedienung. Drei Grappa später muss Tricia pinkeln.

Obwohl drinnen die Performance tobt ist alles besetzt auf dem Frauenklo und Tricia geht eine Tür weiter zu den Männern.
"Scheiß drauf. Oder piss drauf", denkt Tricia und lächelt, weil der Grappa den Witz für sie gut macht.

Das Klo ist genauso dreckig wie bei den Frauen. "Ficke Dicke. Mittwochs hier" steht da gekritzelt. Blauer Kuli auf rutschigem Plastik.
"Da kommen bestimmt viele" denkt Tricia und grinst, als sie die Doppeldeutigkeit ihres Satzes bemerkt.

Dann plätschert es unten.

Tricia wartet, wischt, zieht ihre noch immer viel zu warme Unterwäsche, Strumpfhose, Hose wieder hoch, knöpft, schnallt und rammt beim rausgehen die Tür gegen etwas.

"Hey", ruft das Etwas. Tricia macht vorsichtig die Türe auf und schaut. Das Etwas ist jung, schön, asiatisch.

"Ich hab den Deckel wieder hoch geklappt", sagt Tricia und bläst dem schönen Mann einen Kuss zu.

"Danke", sagt der Asiate.

"Tricia", sagt Tricia.

"Yuan", sagt der Asiate.

Sie lächelt. Er lächelt. Für einen fast kitschigen Moment bleibt die Zeit stehen. Von der Gegenwart befreit sieht Tricia für einen kurzen Augenblick ewig die Zukunft. Ihre Nacht in der Hochzeitssuite, die weite Kirche, die Geburt einer neuen Welt ohne Not und Leid, voller Liebe von ihr und ihm.

"Darf ich?", fragt Yuan und schaut an Tricia vorbei zur Toilette.

"Natürlich" sagt Tricia und ist wieder zurück.

Yuan huscht behende in die Kabine und dreht die Farbe im halbrunden Sichtfenster der Türe ihrer gemeinsamen Zukunft auf rot.

Tricia ist heiß. Vom Grappa und von dem ewigen Moment, den sie noch immer schmeckt. Jeder ihrer Schritte macht die Musik lauter, bis sie Yuan vergisst. Die Bar winkt mit mehr Grappa, aber der Alkohol gibt ihr einen Tunnelblick. Hauptsache zurück zur Performance. Die Türe zum Saal schwingt auf. 600 mal 36,5° Körpertemperatur schlagen ihre entgegen.

Drinnen schieben halbnackte Männer die Podeste durch den Raum, während oben noch immer die Ekstase pulsiert und ihren Schweiß in die Menge fliegen lässt.

"Laß uns morgen länger trainieren", empfiehlt Paul und schaut Tricia direkt in die Augen.

"Oder jetzt gleich", meint Tricia und springt auf das Podest. Sie fühlt sich gut, frei, lebendig.

Das Podest fühlt sich gut an. Die Luft noch heißer als unten, aber ergiebiger. Tricia geht in die Brücke.

In Sekundenschnelle sind die halbnackten Männer bei ihr, wollen sie greifen, zurückholen, doch dann steht die Tänzerin plötzlich da, wahnsinnig schnell und drückt die Männer davon. Weg vom Podest, nach unten ins Dunkel des Saals.

"Ich bin Sodom", zischt die Tänzerin Tricia in Ohr.

"Ich bin Tricia", ruft Tricia zurück. Die Beine ziehen in den Handstand und drehen wenig später, trotz Grappa, tausendmal geübt, absolut elegant zurück zum Boden. Tricia fühlt sich klar und in Kontrolle.

"Nicht mehr lange", zischt Sodom.

Sie zwingt Tricia in die Knie, wirbelt sie auf dem harten Boden herum, lässt ihr etwas Freiheit, zieht sie am Arm hoch, biegt Schultern zum Rhythmus und lässt sie unerwartet los. Tricia geht mit. Die Beiden tanzen wild und wilder. Kopf, Hals, Schulter, Bauch pulsieren zu stampfender Musik. Arme, Hände, Beine, Füße rutschen, grätschen, schrauben unter - über - umeinander, beugen, strecken, reißen, pochen und plötzlich legen sich blutrote Schenkel von hinten um Tricias Hals. Tricia riecht den Schweiss ihrer Rivalin, die gerade noch vor ihr stand und sie nun von hinten nach unten zieht, mit unglaublicher Kraft.

Der Saal denkt das gehört dazu.

Tricia weis nicht was los ist, hebt ihren Körper rücklings empor und landet Kopf an Kopf mit Sodom. Sodom greift Tricia am Hals. Äußerlich zärtlich, doch viel zu kraftvoll, fast brutal, fixiert die Tricias Hals, Kinn, Kopf, gewährt keine Bewegung, keine Freiheit. Tricia lässt geschehen, fragt sich, was in Sodom gefahren ist, fühlt plötzlich Sodoms Haß aufkommen, fühlt wie dieser Haß ihre Seele ergreift und einschnürt, sieht Sodom Zunge hervor kommen, lang und rot bohrt sie sich geradewegs zu Tricias Lippen. Sodoms Griff wird immer fester. Drückt Blut ab. Macht schwindelig. Tricias fühlt die harte Zunge an Ihren Lippen, wehrt sich, kämpft, spannt an, doch Sodoms Fleisch will weiter. Tricia verliert fast das Bewusstsein und glaubt, schon halb im Reich der Halluzination scharfe Zähne zu spüren. Tricia fühlt Panik. Sodoms Griff entspannt.

Plötzlich reißt Sodom Tricia zu sich empor. Tricias Beine schleifen matt über den Boden, Tricias Ohr hängt direkt neben Sodoms Mund.

"Leb´ wohl", sagt Sodom wie durch einen Vorhang.

Dann fühlt Tricia eiserne Griffe an Fesseln und Handgelenken wird aufgehoben, erst hoch, dann seitwärts, dann wieder hoch und jetzt über dem Publikum hinaus, raus aus dem kochenden Saal. Tricia schwitzt, sucht, findet bekannte Gesichter Paul und Beau und dann Yuan, den süßen Asiaten, der Ihr nachschaut, nachschaut, nachschaut, zu lange um keine Halluzination zu sein. Ihr wird wieder schwarz.

Die Tür zum Saal knallt zu.
"Laß mich", brüllt Tricia, schreckt auf, fällt zu Boden und sieht statt der Freunde die Polizei. Handschellen blitzen hervor.

"Immer schön freundlich bleiben," droht der Polizist und drückt die Handschellen so eng zusammen, dass es schmerzt.

"Garderobe?", fragt ein anderer.

"Wie?", sagt Tricia. Eine staatliche Hand fährt in Ihre Tasche und sucht nach dem Zettel.

"Was soll das?", ruft Tricia, aber da hält die Hand schon den Bon, verschwindet im Foyer. Ein dritter Typ, ohne Uniform,
sagt: "Hausfriedensbruch, Störung der öffentlichen Ordnung, Widerstand gegen die Staatsgewalt."

"Seit Ihr bescheuert? Ich hab doch nur getanzt", brüllt Tricia, die vom Adrenalin gepeitscht zu sich kommt.

"Das sehen einige Personen völlig anders", sagt der Typ in Zivil.

Zwei Polizisten halten sie fest, zerren sie hinaus in die Kälte und "vorsichtig, bitte" hinten ins Polizeiauto.

Tricia weiss nicht was los ist. Alkohol, Adrenalin, die Art von Sodom zu tanzen, ihre Kraft, die Geschwindigkeit, der Hass von Ihr, ihre Zunge, die schreckliche Zunge, und dann der Anflug von, nein das kann nicht sein, niemand hat solcher Zähne, nicht in Wirklichkeit. Tricia nimmt erst jetzt das Auto wahr, die Polizei, alles vergittert. Verzweifelt dreht sie sich um und sieht gerade noch wie Paul auf die Strasse rennt und machtlos dem fortfahrenden Polizeiauto nachblickt.

"Scheiße", sagt Tricia und versucht die Handschellen um die Gelenke ein wenig zu lockern.

"Die Fäkalsprache werden wir Dir schon austreiben."


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Auszug aus "Historie des Vampirismus" Universität Heidelberg 1905


Das Wort "Vampir" hat seine Wurzeln wahrscheinlich im slavonischen Magyar mit der Stammsilbe vam für Blut und pir für Monster . Auch der altrussische Begriff upir, welcher in diesem Zusammenhang jedoch erst im Jahre 1047 als Upir Lichy (Böser Vampir) schriftliche Erwähnung findet, wird als Wortstamm betrachtet.

Die schriftliche Dokumentation über die Existenz transsylvanischer Vampire dagegen geschieht erstmalig zu Zeiten des Hunnenkönigs (und Brudermörders) Attila (434- 453 n. Chr.). Dies belegt aber nicht, das es in Transsilvanien erst ab diesem Zeitpunkt Vampire gab: "The absence of proof, is not the proof of absence."

Im Vergleich belegen überlieferte Aufzeichnungen bereits im Jahre 600 v. Chr. die Existenz chinesischer Vampire, Giang Shi, zumindest in Tibet.

Ein Grund für die zeitliche Verzögerung der Dokumentation europäischen Vampirismusses ist bis heute nicht zu finden, liegt aber eventuell an der politisch zerfallen Struktur des Kontinents, die einen Austausch über solche Vorfälle Jahrhunderte lang erschwerte.


Die Trennung der Wesen in chinesische und europäische Vampire hält sich entsprechend bis heute aufrecht.

Beide Gattungen haben viele Gemeinsamkeiten:
- sie leben in einer Schattenwelt zwischen Leben und Tod
- sie besitzen außergewöhnliche Kräfte
- sie können verschiedene Gestalten annehmen (u.a. Ratte, Wolf, Fledermaus)
- sie ernähren sich von Blut, das sie zur Existenz benötigen
- sie sterben qualvoll im Sonnenlicht, durch Holzpflöcke und Silberkugeln
- sie meiden Knoblauch und religiöse Utensilien (Kreuz, Weihwasser bei den Europäern, gelbe Gebetszettel mit Tinte aus Hühnerblut, bei den Chinesen, die durch letzteres unbeweglich werden)

Für Beide gilt ebenso der Leitsatz: "Je älter desto stärker" bis hin zu den archaischen Urwesen mit geradezu dämonischer Macht.

Die Unterschiede beider Gattungen liegen zu einem in der Vampirwerdung, die bei den Europäern nur durch den Biss, bei den Chinesen zusätzlich durch das nicht Absterben der zweiten Seele (p`o), sowie durch Geschlechtsverkehr erfolgen kann, zu anderen in der körperlichen Steife, die insbesondere bei niederen chinesischen Vampiren teilweise extrem hoch ist und zu einer Art hüpfender Fortbewegung führt, während europäische Vampire selbst nach langen Hungerstrecken körperlich voll beweglich bleiben.

Außerdem nehmen niedere chinesische Vampire den Menschen nur über seinen Atem wahr.
Europäische Vampire erfassen dagegen seine visuelle Gestalt.

Ältere Vampire beider Gattungen stehen im allgemeinen über den genannten Eigenheiten und besitzen zusätzlich zahlreiche, leider meist undokumentierte Kräfte.

Beide Gattungen sind hierarchisch organisiert und haben an der Spitze jeweils einen Stammvater, dem sie, je nach Rang, unterschiedlich stark hörig sind.

Physiologisch entsprechen zahlreiche Symptome der Blutkrankheit „Porphyria“, die im schlimmsten Fall (Congenitale Erythropoietische Porphyria) die grausame Entstellung des Erkrankten zur Folge hat. Ohren und Nase fallen ab, Lippen und Zahnfleisch erodieren, die Haut platzt auf und vernarbt. Sonnenlicht beschleunigt diesen Verfall des Körpers, Blutzufuhr verlangsamt denselben.

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607.

Es wir kälter. Besonders in den Wäldern und Sümpfen vor der Stadt. Hier draußen haben sich die Wolken aufgelöst und ziehen nur noch als lange Fetzen über den klaren Sternenhimmel. Zerrissene Masken vor dem stummen Gesicht eines mongoloiden Mondes.

Das Schloss liegt noch dunkler im Dunkeln. Der Wind pfeift um die hohen Mauern, deren Schwärze man trotz der Nacht schon hunderte von Schritten entfernt wahrnimmt. Unfreundliche Steine. Abwehrend.
Die Ruhe weckt Erinnerungen an das Geschrei der Schlachten, an machtgieriges Morden gewaltsam genommener Söhne. Oben auf den Zinnen hackt eine Schar Raben im Stein die kleinen Flächen Eis zu Wasser.

In der Weite der Anlage knarren schwarze Bäume mit den alten Ästen, vielgliedrige Gichtfinger, die nur über die Jahrzehnte hinweg um sich greifen, aber immer zu spät sind.

Zaghaft beißt der Frost an den flachen Pfützen.

Auf den Pfeilern links und rechts neben dem schwarzen Gitter hüten mittelalterliche Fabelwesen die Schwelle zum Schloss. Zusätzlich patrouillieren hier heute Elitetruppen. 1000 Mann auf das Sorgsamste ausgesucht. Lautlos leuchten ihre kleinen Augen in der Nacht.


Noch immer holpern unzählige Wagen, Kutschen, Automobile über den engen Weg, als ob die Gäste nicht anderweitig reisen könnten, unterirdisch oder mit ledrigen Flügel im Wind. Melog aber bat, zumindest ab der Landesgrenze konventionell zu reisen. Vampire haben einen Sinn für die Sättigung in der Luft, die von anderen Vampiren ausgeht, besonders wenn diese sich magisch verhalten und andere Körper annehmen. Deng könnte dies fühlen, könnte vorgewarnt sein, könnte Melog zuvor kommen und eine Attacke starten, gegen das Volk der europäischen Vampire, das sich heute hier versammelt um Rat zu halten und Deng zu vertreiben, zu verdrängen, zu vernichten. Das Blut ist zu knapp geworden. Selbst für die heimischen Vampire allein. Jedes Opfer ein neuer Vampir. Seit Jahrhunderten. Ökonomen nennen dies: exponentielle Verknappung der Resourcen. Das System ist an der Grenze. Jetzt hilft nur Krieg.


Hinter dem Schloß liegt der Park. Geometrisch geschnittene Bäume neben gepanzerten Fahrzeugen der Sicherheitstruppen. Überbleibsel der großen, sovjetischen Armee. Damals auf den neuesten Stand. Uranangereicherte Geschosse. Computer gesteuert.

Vorne, am sorgfältig vom Winterschutz befreiten Brunnen, parken schwarze Limousinen neben Wassernixen mit vom Wind einseitig beeisten Schwänzen. Daneben frieren drei, vier schwarze Fiaker mit dampfenden Pferden unter schwarzen Decken mit schwarzem Brokat.

Hagasan fühlt sich prächtig. Er steht fast unsichtbar auf dem von steinernen Atlanten gestütztem Balkon links über dem Haupteingang und betrachtet sein Werk. Emsige Kontrolle, freundlich, aber gründlich. Einladungen mit geheimen Siegeln. Passworte. Sogar an Sprengkörper hat er gedacht und trotz des sensiblen Geruchsinns der Vampire elektronische Detektoren organisiert, die ein einziges gefährliches Molekül in einem Liter Luft melden.

Im Hof öffnet eine Gestalt mit Umhang die hintere Türe der russischen Limousine, die gerade vorgefahren ist. Überlanger Beweis vergangener Macht. Staatskarosse ohne Staat. Eine schwarze Figur setzt schwarze Schuhe auf schwarzen Kies und knirscht ohne Hast dem Gebäude entgegen. Kein Rauch tanzt vor Mund.

Im Foyer grüßt ein toter Kamin. Vampire haben keine Körpertemperatur, die gewärmt werden müsste. Ein Herr mit langem Gehrock nimmt Mantel und Hut. Schwarze Handschuhe, schwarzer Schal, schwarzer Gehstock mit schwarzem Knauf. Ohne nach dem Namen zu fragen kommt alles zur Garderobe.

Ein paar Schritte später zieht sich ein langer Tisch mit Samowar und weiteren Herrn in Gehröcken durch den Raum.

"Alexander Szeneszy", verkündet der Herr aus dem Auto, "Budapest."

Einer der Gehröcke sucht den Namen in einer Liste, findet, und kritzelt etwas mit Federkiel daneben. Ein zweiter überreicht die Tagungsunterlagen. Alles geordnet in einer Louis Vuitton Aktentasche aus schwarzem Straussenleder. Ein dritter bittet um das Handgelenk, bindet ein schwarze Patek Phillip mit mechanischem Automatikwerk um dasselbe und versiegelt diese mit schwarzem Band und schwarzem Wachs.
Hinten in der Garderobe schreibt eine uralte Hand mit schwarzer Tinte "Alexander Szeneszy" auf eine kleine Karte und hängt sie über der Kleidung an den Mantelstock.

"Herzlich Willkommen, Herr Szeneszy. Wir freuen uns, daß Sie da sind."

Ein weiterer Diener erscheint und hebt für Szeneszy die Louis Vuitton Tasche vom Tisch.

"Für Sie wird roten Salon eröffnet."

Szeneszy schaut die Patek Phillip. Schwarze Noppen auf halbrundem Zifferblatt. Passend zum Straussenleder.

"Wenn sie das Siegel bitte bis zum Ende der Konferenz ungebrochen lassen könnten."

Szeneszy nickt und geht dann mit dem Kofferträger vorbei an mehr und mehr Personal, die breiten Treppen hinauf und Flügeltüre um Flügeltüre immer tiefer in die Eingeweide des Schlosses. An den Wänden weisen dunkle Gemälde in vergangene Zeiten. Bilder von Männern mit weißen Perücken, Frauen mit dunklen Gestecken, Kinder mit schwarzem Reifen vor nächtlichem Wald. Ein paar Räume weiter ein Monumentalwerk vom Hades. Leidende Massen im bläulichen Licht. Dahinter der Fluss mit düsterem Kahn.

"Nicht wirklich einfach überzusetzen", scherzt Szeneszy. Der Kofferträger schaut weiter nach vorn.

An jeder Türe stehen zwei fahle Gesichter mit Gehrock, öffnen die hohen Türblätter, warten, schließen die Türe, warten erneut. Szeneszy schaut sich unweigerlich um. Hinter jeder Türe stehen ebenfalls zwei. Falls einmal jemand aus der anderen Richtung kommt.

Die Schritte geben ein Echo. Tack tack. Tack tack.

In der Ferne rumort ein blitzloser Donner.

Szeneszy fühlt sich gut. Er weis warum er hier ist. Weis, daß er für Krieg stimmen wird, obwohl sein Volk ja eigentlich dem Frieden verpflichtet wäre. Er denkt zurück an seinen Aufstieg, denkt an die ersten Blutgelage, durchsoffene Nächte mit Melog.
Der stetige Aufstieg, langsam, fast zaghaft von Bukarest über Prag nach Ungarn. Er hat sich alles erarbeitet. Nichts ist ihm geschenkt worden. Niemals. Jetzt hat er es geschafft. Sein Vater wird stolz auf ihn sein.

Jetzt schluckt ein Teppich das Laufgeräusch. Der Koffer wird langsamer, letzte Diener öffnen letzte Türen, der Koffer bleibt stehen, Szeneszy geht vor: der rote Salon.

In der Mitte des Raums regiert ein langer, schwerer Tisch mit 11 älteren Herren auf 12 Stühlen. Szeneszys Stuhl wird zurückgezogen, sein Koffer wird auf den Tisch gestellt, der Stuhl kommt wieder vor, Szeneszy setzt sich.

"Alexander Szeneszy", grüßt Melog vom Kopfende des Tisches, "Wie war Deine Reise?"

"Ungarn ist groß, aber noch größer war mein Wunsch Deiner Einladung zu folgen."

Gut gesagt, denkt Szeneszy und öffnet den Koffer mit den Tagungsunterlagen. Er will konzentriert wirken. Arbeitsam. Fleißig.

Der Donner kommt näher.

Die Diener ziehen sich zurück, schließen hinter sich die vergoldeten Türen und überlasen dem roten Samt der Tapeten die Aufgabe, sich um die Gäste zu kümmern.

Die Kerzen im Leuchter auf dem Tisch geben ein ruhiges Licht, angenehm auch für sensible Augen. Die Stühle sind golden. An der Wand zieren Jagdbilder den Raum. Vor jedem Delegierten wartet ein Tintenfass.

Auf Knopfdruck verriegeln die Türen. Dann verriegelt ein Schlüssel den Knopf. Sicher ist sicher.

"Danke", sagt Melog. "Was für eine Versammlung. 72 Gäste in 14 Sälen.
Und hier, vor mir, in diesem schönen Salon, die wichtigsten Kräfte in unserem Europa. Luigi Farlorne, Gregor Hagasan, Ole Lundstrøm, Serge Vaschenko, Frederique De Boer, Victor Kån, Alexander Szeneszy, Thomas Wiebach, Piet Verbij, Thorsten Iberl, Gabriel Prosor, seid mir willkommen."

Szeneszy hört Pferde wiehern .

"Meine Freunde, wir sind heute hier, um unsere Zukunft zu gestalten. In jedem Saal dieses Schlosses wird heute Nacht eine Resolution erarbeitet. Jedes Ergebnis wird dann dem gesamten Konzil zur Abstimmung vorgelegt. Unser Thema hier ist das Größte von allen. Das wichtigste. Das dringlichste."

Szeneszy blickt tief in die Tinte in dem geschwungenen Fass vor sich, ergibt sich der Schwärze der schweren Flüssigkeit und fällt, fällt, fällt in seine Vergangenheit, seinen Auftrag, seine Zukunft. Er denkt an die Macht, der er seine Existenz verdankt, sein Wandeln auf dieser Erde, als Halbwesen, zwischen den Welten, die sich sonst nie überschneiden, sich nie berühren. Und dennoch wandelt er hier unter den Lebenden, den Menschen, denen, die vom Boden leben und atmen und sterben und Gott dienen im Schweiße ihres Angesichts. Er jedoch ist unsterblich. Unantastbar vom Tod, zumindest wenn dieser, wie auf der Erde üblich eine Sense trägt. Ist es ein Segen unsterblich zu sein? Ist es ein Segen auf dieser Welt wandeln zu dürfen? Auf dieser Welt, in der er nicht hineinpaßt, dieser Welt, für die er nur ein zweidimensionaler Lichteffekt ist. Wie lange wird er das noch aushalten? Wie lange noch, bevor sich diese Welt zur einer Hölle entwickelt, aus der es kein Entkommen gibt?


"Wir sind heute hier", sagt Melog mit leiser Stimme, "um Krieg zu erklären. Krieg gegen die asiatische Macht. Seit Jahrhunderten haben wir Frieden gehalten. Wir haben die Asiaten respektiert. Die Asiaten haben uns respektiert. Doch diese Zeit ist nun vorbei. Wir werden belagert. Schleichend. Ohne es zu bemerken. Unsere Menschen fallen chinesischen Vampiren zum Opfer. Unsere Menschen. Menschen für die wir alles tun. Menschen die wir seit Jahrhunderten pflegen, schützen, ernähren. Gehen wir nach China? Stehlen wir den Chinesen ihr Blut? Nein, meine Freunde, aber die Chinesen sind zu uns gekommen. Sie haben unsere Freundschaft mißbraucht. Sie stürzen sich auf unsere Menschen, als ob sie ihnen gehörten. Als ob es ihre Reserven wären. Als ob Ihnen das Land gehöre, auf dem diese Menschen leben, mit all Ihrem Blut."

Ein Zischen übertönt die Worte Melogs. Dann schlägt die Rakete ein.

Staub.
Splitter.
Mauerwerk da wo es absolut gar nicht hingehört.
Der rote Salon ist grau.

Von einer Sekunde zur anderen ist nichts wie es war.

Der Vorhang bleibt starr und zeigt die Nacht durch ein kreisrundes Loch. Der Donner hängt rhythmisch vorm Fenster. Vor vielen Fenstern. Allen. Behäbig bäumt sich Vorhang ein letztes mal auf, bevor er in sich zusammen fällt. Noch während er stürzt, zerreißen Schnellfeuergewehre seine ehemals samtrote Haut. Jede Kugel ein handgegossener Schatz aus Silbermienen Chinas. Der Vorhang tanzt sich zu Boden. Die Delegierten werfen sich unter den Tisch. Erst jetzt treffen die Glassplitter ein. Reißen blutlose Wunden. Bringen schneidenden Schmerz.

Im Gang vor den Saal versuchen die Wachmänner verzweifelt die Türen zu öffnen. Hagasan hat ihr Innenleben verstärkt. 16 mm Stahl, rundherum alle 30 cm handtief im festen Mauerwerk verankert. "Da kommt keiner so schnell rein", sagte Hagasan schon während der Vorbereitungen und behält recht.

Die Luft ist erfüllt vom Surren der Silberkugeln, die für die überragende Sinne Vampire nicht schneller auf sie zuströmen, als ein Schwarm kreischender Vögel für Menschen. Hungrige Raubvögel, die zuerst auf die Weichteile abgesehen haben. Der Hubschrauber spuckt immerzu neue Angreifer aus, zu viele um allen zu entkommen.

Panik unter den Deligierten. Szeneszy fährt mit der Hand zur Brust.

Melogs Gedanken bleiben klar. Noch in der ersten Welle des Angriffs, als alle anderen unter den Tisch flüchten, stößt sich Melog vom Tisch weg, hoch in die Ecke des Saals. Seine Augen rasen durch das Chaos, seine Ohren springen vor die Mauer. Seine Nase sucht und findet. Alle Sinne weit geöffnet, erstellt Melog in seinem Kopf ein Bild der Situation, das perfekte Timing, die Menge an Kriegsgerät, das hohe Niveau an Koordination. Das ist von langer Hand geplant. Und zwar mit nur einem Ziel: Europa mit einem Streich seiner Führung zu berauben. Es gibt nur einen Gegner, der zu so einem Schlag in der Lage ist: Deng.

Unter dem Tisch bohrt sich der endlose Schwarm der Silberkugel auf den dichten Haufen schutzsuchender Vampire zu. Die ersten Opfer stehen fest, noch bevor das tödliche Silber den Körper durchbohrt. Zwecklos, der Versuch zu entkommen, denn dort wartet anderes Silber, sinnlos die Idee Deckung zu suchen, denn das Holz des Tisches ist längst durchbohrt.
Kaum dringt das Silber durch die Epidermis, sprengen haarfeine Risse die Haut entzwei, lassen sie vom Körper platzen, vom Gesicht. Aschfahle Muskel spannen, als das Silber tiefer eindringt, zerren verzweifelt an grauen Sehnen. Die Wangen reißen auf, die Zunge zuckt nach hinten, zerfällt bis nur noch Knochen zu sehen sind, ein Totenschädel, da wo eben noch eine Person war, für einen Moment, dann nichts weiter als Staub. Die Uhr fällt zu Boden, wirbelt ein wenig Asche auf.

Im Ohr dreht sich alles im Kreis. Langsam die Rotorblätter der Hubschrauber, schneller die Trommel der Maschinengewehre.

Hagasan ist entsetzt. Mit einen fensterseitigen Angriff konnte niemand rechnen. Das ist gegen die Sitte zivilisierter Kriegsführung. Um ihn nur Staub, vermengt sich allem was an Flüssigkeit da ist, verklebt die Wimpern, verbrennt die Augen. "Ich bin ein guter Soldat" denkt Hagasan, und drückt sich vom Boden auf in den Silberhagel. Er hastet zum Knopf der Türsperre. Überall Staub. Überall Kugeln. Der Schlüssel jagt über das Schloß. Nebenan schreit Ole Lundstrøm und zerfällt zu Staub. Hagasan entriegelt.

Dann schlägt die Türe auf. Wachpersonal feuert quer durch den Raum auf die Angreifer vor dem Fenster. Unter dem Tisch findet eine weitere Silberkugel ihr Ziel und verdampft einen Delegierten aus Italien. An der Türe zerfällt die erste Welle Elitetruppen zu Staub. Endlich bohrt sich eine Panzerfaust durch den Lärm und dröhnt in Richtung Hubschrauber. Gregor Hagasan öffnet das Rohr und lässt die leere Kartusche zu Boden scheppern. "Ich bin ein guter Soldat."

Das Geschoß zwingt den Hubschrauber zur Seite. Eine kleine Gruppe Delegierten nützt die Chance und flüchten durch den beißenden Staub, nichts wie raus aus der kollabierenden Grabstätte.

Ungesehen, verdeckt, umwallt von Asche und Staub bleibt einer der Gäste unter dem Tisch. Allein, wie ein Kind, verweigert er störrisch die Flucht, hartnäckig bleibt er im Schatten der zerfetzten Tafel und schaut sich langsam und vorsichtig um. Um ihn herum nur Schutt, Asche, und fliehende Füße. Oben stemmt Gregor Hagasan seine Beine erneut in den Dreck und feuert ein Zweites mal. Unter dem Tisch umschließt Szeneszy mit einer kleinen Bewegung das Amulett an seinem Hals. Das Amulett ist zu einem Drittel rund. Den Rest zieren zackige Narben. Als ob es abgebrochen wäre, Teil eines größeren, runden Medaillons. Der schreitende Fuß. Uralt. Uralt. Uralt. Er faßt also das Amulett, schließt die Augen und versinkt, absolut lautlos und von allen Anderen völlig unbemerkt, wie ein bodenloser Kahn in einem ruhigen, kleinen See, unspektakulär und beinahe beiläufig, schnell, gradlinig, prompt, als sei es das Normalste der Welt im Boden. Einfach weg. Aus den Augen aus dem Sinn.

Das Gewirr der Gejagten wälzt sich weiter durch die Gänge, gegen den Strom der Truppen, die sich zu den Fenstern durchzukämpfen versuchen. Überall diese dicke, steinige Rauch. Es gibt keine Ordnung mehr, keine Taktik, jeder kämpft für sich, flieht für sich.

Da reißt sich Melog aus dem Dreck, springt mit archaischer Gewalt in die Schlacht. Mitten im Flug ändert er seine Gestalt und landet als riesige Fledermaus direkt neben dem zerschossenen Fenster. Der Wind schlägt eisig auf den ledrigen Körper Melogs, angetrieben von den ohrenbetäubendem Lärm der Rotorblätter, die immer wieder Hubschrauber vor dem Fenster halten. Melog ergreift mit schwarzen Klauen die eiserne Stange des Vorhangs. Tiefgelb bohren sich seine Krallen um das Eisen. Er röchelt mehr als er atmet, sammelt sich und stößt seinen Kopf für einen unendlich schnellen Blick aus der Deckung hervor. Bruchstücke von Zeit. Er sieht den Hubschrauber, die glutroten Geschütze, das dunkle Glas und am Steuer die schmalen Augen eines chinesischen Vampirs. Der Krieg hat begonnen, bevor er erklärt wurde.
Melogs Klauen reißen am Eisen, seine Kehle schreit unhörbar laut in die Nacht. Mit unglaublicher Kraft rammt Melog die Vorhangstange zwischen die Rotorblätter. Stillstand.
Langsam wie ein Schiff torkelt der Hubschrauber in der Luft, stellt sich auf und stolpert betrunken die Hauswand entlang nach unten. Melog faucht der getöteten Maschine nach und springt durch das Fenster nach draußen.

Dumpf schlägt der Hubschrauber in den Kies. Brennende Gestalten formen sich aus seinem Feuer, flüchten mit grausamen Schreien über den Hof. An den anderen Fenstern wird weiter gefeuert. Melog jagt hinter den Flüchtenden her, fliegt, rennt auf allen Vieren, springt, beißt, schlägt und tötet alles, was sich ihm in den Weg stellt. Schweres Geschütz fährt auf und schlägt eine leuchtende Faust nach der anderen auf die Hubschrauber. Der Lärm der Explosionen übertüncht alle Schreie. Brennende Hubschrauben taumeln zu Boden. Vampire stürzen sich aus lodernden Fenstern auf erlegten Stahl, reißen die Panzerung auf und fallen über die wimmelnden Innereien her. Hagasan steht aufrecht im Tumult und kommandiert. Einsam steigt Melog aus dem Hof empor. Wütend. Mächtig. Schwärzer als schwarz. Das wenige Licht der Nacht verlischt unter seinem Zorn. Entsetzen greift um sich. Starr schauen die Angreifer zum verlöschendem Himmel. Uralte Kälte stemmen sich ihnen entgegen. Der Fels wird zum Meer, rächt sich am Wasser, wehrt sich, trotz nicht mehr nur den stürmischen Wellen, sondern erhebt sich und schlägt endlich zurück. Kraftvoll. Gnadenlos. Melogs Zorn kennt keine Grenzen. Selbst den Ratten erstarrt das Blut. Zuerst in den feinen Adern von Retina, Gebärmutter, Hirn. Die Augen werden blind. Die Zehen brechen beim Versuch zu entkommen. Schmerzlos. Wie aus Glas. Die Ameisen graben sich zu Tode. Die Kakerlaken zerdrücken sich selbst in den Ritzen der Gemäuer, in die sie immer tiefer zu flüchten versuchen.

Die Untoten können nicht streben. Noch nicht.

"Ich bin der ewige Schatten", haucht Melog aus eisigem Mund zu schleudert erstarrende Kälte zu Boden. Rotoren frieren ein. Geschütze zersplittern.
"Ich bin die ewige Verdammnis", zischt Melog aus schwarzer Kehle hervor. Im Eissturm unter ihm rammt sein Volk einem Chinesen nach dem anderen einen Holzpflock ins Herz.
"Ich bin Verzweiflung, Hass und nie endendes Leid."
608.

"Ich wünsche mir, dass sie sterben. Ich wünsche mir das sie sterben und zwar sofort. Lieber Gott mach, dass sie sterben. Ich gebe Dir alles dafür, wenn sie nur sterben, diese dreckigen Schweine."

Das Polizeiauto holpert über das Kopfsteinpflaster zum Revier.

"Nazistrasse." Tricia fühlt Jahre der Ungerechtigkeit in sich aufwallen.

"Vielleicht werde ich mich erhängen", denkt Tricia und macht einen Plan, wie sie aus dem Gummiband der Unterhose einen Strick knüpft und oben in der Zelle ums Fenster bindet. Aber das Band ist zu kurz um zusätzlich den Kopf hindurch zu bekommen, denkt sie und überlegt ob es nicht besser wäre einfach die Waffe der Bullen zu klauen, dann könnte sie noch einen oder zwei dieser Wichser mitnehmen, doch was ist, wenn sie nicht schießen, sondern sie nur überwältigen, Drecksäcke, wegknasten werden die sie dann, aber das ist es nicht wert, lieber sterben, oder lieber noch, sehen wie dieses Arschloch vom Tänzerin stirbt. Sodom, was für ein Scheißname. Und wie hieß überhaupt diese andere Zicke, stand nicht mal richtig auf dem Plakat. Gab es überhaupt ein Plakat? Oder kam das Alles nur von Paul, scheiße die Handschellen tun weh.

"Aussteigen", sagt der Bulle.

Innen ist alles noch beschissener. Scheiß Licht. Scheiß Wände. Scheiß Poster mit beschissenen Fotos von irgendwelchen Leuten, die der Scheiß Staat wegen irgendeinem Scheiß sucht.

"Papiere."

Tricia schaut auf die Handschellen. Irgendein Arschbulle fummelt das Schloss mit seinen kleinen Pissschlüssel auf und Tricias Hände sind wieder frei.

Sie knallt den Pass auf den Tisch. Der Arsch mit Brille blättert mit seinen dicken Fingern in dem Ausweis herum.

"Mein Name steht vorne. Unter dem Bild", sagt Tricia.

Der Arsch guckt nicht mal.

Langsam und unbegabt hämmert der Idiot auf Staatskosten die Daten von Tricia in einen veralteter Computer.

"Es gibt Leute, die schreiben auf so einem Gerät Gedichte", denkt Tricia.

"Schnellrichter", furzt der Arsch, "Dann sind sie gleich wieder raus."

"Fick Dich", denkt Tricia.

Der Bulle aus dem Auto ist schon wieder weg. Irgendein anderer Bulle kommt auf Tricia zu. Der Bulle kaut.

"Wiederkäuer", denkt Tricia.

"Mitkommen", muht der Bulle.

"Dumme Sau", denkt Tricia.

Der Schnellgerichtssaal sieht aus genauso scheiße aus wie der Rest vom Bullenstall.

Tricia wird auf eine harte Bank geworfen. Neben ihr heult ein Typ im Anzug.

Endlich kommen Paul und Beau.

"Tricia, was ist los?", fragt Paul

"Schnellgericht", sagt Tricia.

"Sind die bescheuert?", fragt Beau

"Frag mich", sagt Tricia.

Vorne sitzt eine Richterin. Fett und dumm. Wie ein Politesse. Nur ohne Hütchen.

Sie ließt den schlecht geschrieben Bericht, schaut zu Tricia.
"... wegen Störung der öffentlichen Ordnung, Widerstand gegen die Staatsgewalt: 30 Stunden Sozialarbeit." Ein Hammer fällt. Wie bei einer Versteigerung. Verkauft. Sklavenmarkt. "Beginn morgen früh 6: 00Uhr. Sie können das Urteil annehmen, was die Kausa abschliesst, oder eine Gerichtsverhandlung vorziehen, was im ungünstigsten Fall eine Haftstrafe nicht unter 8 Monaten bedeutet."

"Nimm an", bittet Paul.

"Nimm an", bittet Beau.

"Aber Freitag ist das Vortanzen", fleht Tricia.

Die Richterin nimmt den Füller in die Hand.
"Und..?"

"Sie nimmt an", sagt Paul.

"Ist das Ihr Bevollmächtigter?", fragt die Richterin dumm.

"Blöde Fotze", denkt Tricia und sagt: "Ich nehm an."

Tinte fließt auf Papier. Stempel drückt auf Tinte. Papier schwappt in Hand.

"Ich geh da einfach nicht hin. Ich muss trainieren, jetzt. Ich hab echt keine Zeit für so was."

Tricia schaut auf den Zettel in Ihrer Hand.

"Hey, die holen dich ab, die knasten dich weg. Das ist der Staat, Tricia, die sind schlimmer als die Mafia."

Tricia fühlt sich schwach und allein.

"Wo musst du denn hin?"

Tricia hält den Zettel vor. Paul liesst.

"Rotes Kreuz, da war ich als Zivi."

Tricias Kehle wird eng. Die Welt um sie verschwimmt. Fast lautlos beginnt Tricia zu weinen.
609.

Mitten in der Stadt, hoch über den Häuser, lehnt sich Deng in seinen weichen Sessel und betrachtet ein drittel rundes Amulett an seinem Hals. Zackige Narben trägt es, als ob es abgebrochen wäre, Teil eines größeren, runden Medaillons. Es trägt uralte Zeichen in sich, doch nun glüht es mit den Bildern der Verdammnis, die in Melogs Schloß wütet. Brennende Hubschrauber, Zerfallende Vampire, urangestärke Raketen, die sich durch die alten Mauern bohren.

„Sterben und Sterben lassen.“

Dem Amulett genügt der Gedanke an einen Ort oder eine Person. Fern oder nah. Offen oder verborgen. Dem Amulett entkommt nichts und niemand. Es zeigt alles und jeden. Daher sein Name: Das sehende Auge.

Deng wendet seinen Blick ab. Das Amulett erlischt.

Zufrieden mit sich und dem begonnen Krieg, lässt sich Deng tiefer in das schwere Leder fallen. Endlich hat er seinen Rivalen Melog vollkommen übertrumpft. Endlich, im letzten, entscheidenden Abschnitt, hat er ihn überholt. Deng hat den Westen aufgebaut. Ohne ihn, gäbe es hier nur Langnasen. Schwierige Zeiten hat er hinter sich. Zeiten, in denen niemand daran glaubte hier langfristig genug Nahrung zu finden, wo es doch seit ewig so viel mehr Menschen in Asien gab.
"Ich will ja keinen Austausch, West statt Ost, ich will Expansion: Ost und West", hat Deng damals argumentiert. Damals musste er noch argumentieren.
Dann die Entscheidung nach Wien zu gehen, dem Brückenkopf zwischen West und Ost, dem europäischen Stützpunkt der UNO, Heimat der OSZE, Regierungssitz von Melog, dem Erzfeind.
"Um den Löwen zu besiegen, müssen wir in seine Höhle".
Und jetzt hat er ihn besiegt. Den Löwen. Das Kätzchen. Miau.

Ich war schon immer ein großer Mann, denkt er. Auch in den ersten Tagen. Bescheiden in dem kleinen Loch, aus dem er seine Expansion steuerte. Natürlich, er hat auch Fehler gemacht. Falschen Leuten vertraut. Aber er hat sie sofort gepfählt. Annulliert. Ohne Wahrung. Schnell und effektiv. Damit kein unnötiger Widerstand entsteht.
"Tatsachen muss man schaffen", denkt Deng und genießt die Tatsache, die er heute geschaffen hat. Er, Deng Xo Hue, Imperator Maximus, Herrscher über ein endloses Reich voller Menschen. Von Ost bis West. Ein Reich in dem Sonne nicht aufgeht.

Ein Klopfen entweiht den Moment. Die Türe fliegt auf. Yuan betritt den Raum. Deng schaut nicht einmal hin. Dann drückt er sich aus dem Sessel
Empor.

"Als Dschingis Kahn die Welt eroberte, tat er dies mit unserer Hilfe. Was wäre er ohne uns gewesen? Nichts. Ein Rotzjunge mit Pferd. Aber er gab uns das Blut seiner Schlachten und wir gaben ihm unbesiegbare Macht. Immer mehr wollte er. Immer mehr bekam er. Und wir labten uns, wurden satt und satter, faul und fauler, bis sein Reich zerfiel und uns der Hunger einholte.
Die Welt von Dschingis Kahn war ein mieses Stück Dreck. Die Erde. Jeder Planet. Nichts als Sternenschrott. Gebrauchte, zusammengepresste Reststoffe, die um eine tödliche UV-Quelle kreisen. Den Himmel gilt es zu erobern. Und die Hölle. Die Welt, mein Sohn, ist mehr als das Weltall. Himmel, Hölle, Universum. Ich werde die Trennung aufheben. Ich werde die Welten verschmelzen. Dreieinigkeit, werde ich schaffen. Unmöglich, sagst Du? Unmöglich, daß haben alle gedacht, als ich hier hin ging. Und jetzt habe ich Melog besiegt. Und so werde ich sie alle besiegen. Wir Schattenwesen einen Vorteil, Yuan, gerade weil wir keine Heimat haben, gerade weil wir nirgendwo hingehören. Wir können die Grenzen der Welten durchbrechen. Gott wird niemals auf diese Erde kommen können. Er schickt seine Engel, oder lässt seinen mageren Sohn zum Menschen werden. Satan bleibt diese Ebene der Existenz verschlossen. Teufel schickt er, Versuchung. Wir aber, wir sind Schattenwesen. Wir kennen die Hölle und bald, mein Sohn, bald werden wir auch den Himmel kennen. Wir werden ihn betreten, ohne anzuklopfen. Wir werden die Hölle in Brand setzten und den Himmel in Schutt und Asche legen. Dann werden wir Gott aus seinem Reich vertreiben und uns auf seinen goldenen Stuhl setzten. Im Licht werden wir sitzen und gelben Nektar trinken. Gelben Nektar. Süß und rein. Anbeten werden wir lassen. Verehren, von Gott oder Satan oder wen immer wir dazu verdammen. Meinetwegen von den Menschen, obwohl die mir schon langen auf die Nerven fallen.“

Yuan blickt gelangweilt auf die Kunstwerke, die das Arbeitszimmer seines Vater schmücken. Die großen Flächen feinster chinesischer Malerei. Ganze Landschaften mit Dörfern, Bauern, Menschen, die für Deng nichts sind als lebendes Verpackungsmaterial für ihr kostbares Blut.

"Wandelnde Blutkanister. Einwegflaschen. Ich werde es sein, der alle Grenzen überquert, der überall regiert. Und die Macht dazu, die Macht steckt in einem kleinen, alten Talisman."

Kein einziges Geschenk von Yuan hat sich hier je behaupten können. Alles wurde sofort entfernt. Deng wählt selbst aus, was er sieht. Nicht einmal eine einzige Tasse in der meterlangen, mit gesammelten Geschirr randvollen Vitrine, verdankt seinen verglasten Platz etwas anderem als Dengs gutem Willen. Geschenke, Ehrbekundungen, Danksagungen, kurz Sentimentalität findet keinen Platz in Dengs sorgsam gestalteter Welt.

"Das Amulett der Dreifaltigkeit der Dinge. Alles ist dreifaltig, mein Sohn. Erde, Himmel, Hölle. Vater, Sohn, heiliger Geist. Satan, Luzifer, Dämonen. Mann, Frau, Seele. Dreifaltigkeit soweit das Auge reicht. Und warum, mein Sohn: Weil das Amulett dreifaltig ist: Das sehende Auge. Der schreitende Fuß. Die schlagende Hand. Deshalb ist die Welt so, wie sie ist. Und ich werde diese Macht vereinen. Ich werde das Amulett zusammen bringen. Ich werde über mehr herrschen als nur diesen ... Haufen Dreck."

Yuan setzt sich ins Halbdunkel neben einer Reihe flackernder Überwachungsmonitore. Er hat die Rede schon öfters gehört. Wie sich alles ändern wird, wenn sein Vater die Macht hat. Wie Vampire dann im Himmel leben werden und Sonnenbäder nehmen, wie das alles mit dem Tor zur Macht zu tun hat und das es jetzt endlich bald soweit ist, wie er Berechnungen angestellt hat und weis, wann und wo genau sich das Tor diesmal öffnen wird und wie wichtig, wichtig, wichtig es ist, dann ja alle Teile des Amuletts zusammen zu haben.

"Hast Du die fehlenden Teile?", fragt Deng.

"Wir geben unser Bestes, Vater."

"Unser Bestes?"

"Ich dachte..."

"Ich habe Jahrhunderte gewartet. Jetzt ist es endlich wieder so weit. Das Tor zur Macht öffnet sich nur alle 666 Jahre. Und nur für die Dauer eines Schreis. Weist Du wie lange ein Schrei dauert? Ich weis es, Yuan, ich habe es experimentell berechnet. Tausendmal. Ich habe die Entwicklung von Uhren vorangetrieben, habe die besten Köpfe der Zeit damit beauftragt , habe aus elenden Sand- und Wasseruhren, feinste Messinstrumente gemacht, die unser Handeln präzise koordinieren. Früher wußte niemand wann 11: 30 ist. Heute weis es jeder. Jeder. Ich habe Satelliten in die Umlaufbahn geschickt, habe den Globus vermessen, habe Raum und Zeit erobert, weil ich Raum und Zeit messen kann und alles was du tust ist dein Bestes? Hör mir mal zu, mein Sohn: Ich habe das alles nicht getan um zu verlieren. Ich werde siegen. Siegen. Ist das klar? Nur wer das dunkle Amulett komplett in den Händen hält, regiert über alle Mächte. Aller Welten. Aller Zeiten. Und nur wenn er am richtigen Ort ist. Zur richtigen Zeit. Und ich werde das tun, Yuan, ich werde da sein. Am richtigen Ort. Zur richtigen Zeit. Und nichts wird daran hindern. Auch Du nicht. Hast Du mich verstanden?"

Yuans Blick geht zurück zu den Monitoren. Auf einem der Videoschirme schlagen Sodom und Gomorra eine Frau auf der Damentoilette mit der Nase gegen den Wasserkran und trinken ihr spritzendes Blut. Dann werfen sie das ohnmächtige Opfer auf den Boden und verlassen die Szene.

"Vater... ich meine... also, ich arbeite daran, dass wir Blut melken können. Warum müssen wir unsere Nahrungsquelle töten? Jahrhunderte lang hatten wir in der Medizin Aderlass. Weist Du noch? Die Menschen gaben uns ihr Blut freiwillig. Es war phantastisch. Ich, die Presse, unsere TV Sender, wir alle versuchen die Menschen wieder zur alternativen Medizin zu bringen. In 2 oder 3 Jahren werden die Menschen in Scharen zu unseren Ärzten kommen. Sie essen schon wieder Kleie, ich meine... was willst Du mit all dieser ... Macht?"

Ein weiter Videoschirm zeigt wie Sodom und Gomorra an ein paar Wachen vorbeigehen.

"In drei Tagen wird sich das Tor zur Macht öffnen. In drei Tagen werde ich das dunkle Amulett in den Händen halten. Und zwar komplett!"

Deng drückt auf einem Knopf. Sodom und Gomorra betreten den Raum. Lange Schritte in hohen Schuhen. Anmutig. Graziös.

"Sodom, Gomorra. Ich würde mich freuen, wenn ihr meinen Sohn bei seinen Bemühungen mir die fehlenden Teile des Amuletts zu bringen, unterstützen würdet."

"Ich helfe Dir bei allem, was Du willst, Yuan.", haucht Sodom. Dann leckt sie ihm mit der blutigen Zunge über den Mund.

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Auszug aus "Beobachtungen über den Vampir und dessen Bekämpfung"; geheimes Staatsdokument der ehemaligen DDR, Berlin, 1976

Der Biss des Vampirs führt diesem das zur Existenz notwendige Blut zu, dessen Entzug den Vampir nicht tötet, sondern vielmehr in eine Art Wartezustand versetzt, wie wir ihn aus der Biologie unter anderem von einigen Süßwasserfischen in Afrika her kennen, die oft jahrelang im Trockenen überleben um dann bei Regenfall sofort mit der Nahrungsaufnahme und dem Paarungsverhalten beginnen. Dieser Wartezustand ist bei Vampiren jedoch sehr unangenehm und besonders in der ersten Monaten des Entzugs mit extremen Schmerzen verbunden. Die Schmerzen beginnen, einem starken Durstgefühl nicht unähnlich, in der Kehle, breiten sich dann aber über die Tage auf den ganzen Körper aus, der schließlich permanent von pulsierenden Krämpfen geschüttelt wird, bis der Vampir zu schwach wird, um seine Empfindungen für Außenstehende erkundbar zu machen.

Zufuhr von nicht menschlichem Blut, kann diesen Effekt verzögern, aber nicht aufhalten. Je näher die Verwandtschaft des Blutes (zum Beispiel von Primaten) desto größer die Verzögerung. Echte Substitute sind jedoch unbekannt.

Der zweite wichtige Effekt eines Vampirbisses ist die – relativ -spontane Infektion des Opfers, das schließlich, ab einem Blutverlust von ca. 65%, selbst zum Vampir wird. Dabei ist festzustellen, daß die Infektion keine biologische ist, sondern eher einen physikalisch, chemischen Prozess darstellt. In der letzten Transition zum Vampir zieht eine einzelne Welle (Soliton) durch den Körper auf deren Kuppe das - bisher nur unzureichend erklärte - Phänomen der Vampirwerdung sich von der Bißwunde aus kreisförmig durch den Körper zieht. Die Welle erreicht dabei alle mit dem Körper organisch verbundenen Teile. Abgetrennte Gliedmassen, die zum Beispiel noch durch Sehnen oder Hautfetzen mit dem Körper vereint sind, erliegen der Transformation. Sind diese nur durch Metallstäbe miteinander verbunden, findet die Transformation nicht statt. Nicht transformierte Körperteile werden abgestoßen, und können anschießend mit dem transformierten Körper nicht mehr verbunden werden.
Die komplette Umstellung des Körpers kann bis zu 8 Stunden dauern.

Ist der beißende Vampir noch selbst in der Vampirwerdungsphase, genügt eine einfache Infektion des Gebissenen um dessen Vapirwerdung auszulösen. Der Grund hierfür wird in der Kraft der Solition gesehen, die durch den Biß die Grenzen der Körper überspringt und sich nahezu ungeschwächt im neuen Körper ausbreitet.

Einige Wissenschaftler bezeichnen den Biß des Vampire als dessen Paarungsverhalten , wobei es somit ausschließlich zur "extraspeziösen Paarung" kommt, also zur Fortpflanzung außerhalb der eigenen Spezie. Ein Phänomen, dass in der Natur ebenfalls kein Einzelfall ist und zum Beispiel sehr erfolgreich von Vieren angewendet wird, die zur Vermehrung bekanntlich auf den Zellapparat eines anderen Lebewesens zurückgreifen. Der kapitale Unterschied ist jedoch der, daß bei Vieren der Gastorganismus nicht selbst zum Virus wird, wobei bei Vampiren jedes- auch über mehrere Bisse hinweg über die Grenze von 65% Blutverlust infizierte Opfer- selbst zum ersteren mutiert.

Dieser Effekt, gepaart mit dem Fehlen des Absterbens älterer Vampirgenerationen, übt einen enormen Druck auf das Mensch-Vampir Verhältnis auf.

"Die exponentielle Vermehrung der Vampire bei gleichzeitiger Abwesenheit von entlastenden Mechanismen, wie Ableben, wird eine artengefährdende Bedrohung für den Homo Sapiens, spätestens zur Mitte des 20 Jahrhunderts zur Folge haben", schrieb Dr. van Helsing in einem offenen Brief an die europäischen Königshäuser im Jahre 1886.

Dieser von Dr. van Helsing genannte Zeitpunkt wurde, auf Grund der humanmedizinischen Fortschritte des 20. Jahrhunderts, nicht zum Beginn der beschriebenen Katastrophe. Dennoch lässt sich eine Entwicklung auf das vorhergesagte Szenario hin, auch nach heutigen Stand der Erkenntnisse, nur mit massivem, koordinierten Einsatz radikaler und konsequenter Methoden aufhalten.

Von einer Offenbarung dieser Situation der Öffentlichkeit gegenüber, ist, trotz der zu erwartenden Panik, nicht von vorn herein abzuraten und könnte einen groß angelegten, offenen Krieg gegen den Vampirismus vorbereiten.

Die nötigen Unterlagen sind an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, den Staatssicherheitsdienst, das Gremium zur Sicherheit der Sozialistischen Arbeiterklasse und in Abschrift an das Zentralorgan der kommunistischen Völkerverbände der UDSSR weitergeleitet.

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610.

"Frauen kriegen Medium. Wenn die Arbeitskleidung über die übliche Abnutzung hinaus defekt ist, muss sie auf eigene Kosten in Stand gesetzt, beziehungsweise komplett ersetzt werden. Den jeweiligen Abnutzungsgrad beurteilt der Zeugmeister, also ich."

Im Neonlicht steht Tricia da, hundemüde. Tricia schaut schlaftrunken zu Seite. Komisch, wie lebendig es ist, um 6 Uhr in der Früh.

"Du kannst dich auch direkt hier umziehen.", sagt der Zeugmeister und schiebt ihr die Uniform rüber. "Aber ganz langsam."

Um diese Uhrzeit ist es unmöglich zu beurteilen, ob das ein Witz war oder eine blöde Anmache. Um diese Uhrzeit ist das auch egal. Tricia nimmt den Packen Uniform.

"Halt, Unterschrift, Schuhe kriegst Du für die paar Tage keine. Deine Stiefel sind eh fest genug."

Einen Moment später sitzt Tricia ganz in Orange auf einer Bank und schaut auf den Becher Kaffee, von dem sie keine Ahnung hat, wie er in ihre Hand gekommen ist. Sie stiert auf das Schwarz und erkennt, daß Milch fehlt. Egal. Tricia nimmt einen Schluck. Der Kaffee tritt ihr so fest in Magen, daß es ihre Augen auseinander reißt. Gut, denkt Tricia und gibt sich noch einen Mund voll.

An dem Pult vorne gestikuliert jemand. Klare, feste Bewegungen in orange. Um sie herum auf den Bänken hocken überall menschliche Umrisse. Ebenfalls in orange. Aus dem Orangen am Pult fließen Worte. Einen Schluck später erkennt Tricia, dass es sich um Anweisungen handelt.

"Thorsten fährt mit Alex, Michel mit Heinz, und Tricia (der Mann spricht ihren Namen sehr Deutsch aus: Tri-zi-a) mit Fathim."

Tricia fühlt einen Blick und entdeckt, hinter der Rauchwolke am Ende der Bank, einen schwarzen Kopf mit langen Rasta Haaren. Der Kopf nickt freundlich. Tricia lächelt automatisch zurück.

"Liebe Neulinge, noch eine Bitte: im Einsatz bitte nicht vergessen: Kotzbeutel liegen im Handschuhfach."

Alle lachen und gehen. Nur Fathim und Tricia bleiben sitzen, viel zu weit auseinander, jetzt, wo die Anderen weg sind.

"Ich heiße Fathim", raucht der Kopf.

"Tricia."

"Schön, daß Du da bist."
611.

Nicht weit vor der Stadt, in rollenden Hügeln, liegt, schwer verwundet, alt und bleich Melogs Schloß auf dem eisigem Boden. Die Schlacht ist vorüber, zumindest für die Nacht. Die erste Strahlen der Sonne kriechen in den Hof und verbrennen jeden, der jetzt noch nicht Schutz fand. Nur die Skelette der Hubschrauber bleiben, die Torsos der aufgeplatzten Panzerwagen.

Selbst die Vögel meiden den grablosen Friedhof der vergangenen Nacht, der eigentlich Krieghof heißen müsste. Oder Massakerhof. Nicht einmal der Wind wagt sich hier her. Feinste Zweige reglos, leblos. Nur der Nebel atmet tief.

Innen im Schloß klopft die Verzweiflung ihr melodieloses Lied.

Melogs Schritte hallen durch die staubigen Gänge, die ihm den frischen Tod in die Nase wirbeln und in die Augen. Er ist nicht allein. Gregor Hagasan ist bei ihm und Alexander Szeneszy. Hagasan hält sich ein reich besticktes Tuch vor den Mund.

"Die Bilanz ist erschütternd, aber nicht hoffnungslos", sagt Hagasan, "Die Vertreibung des Feindes ist vollzogen. Die eigenen Ressourcen sind dezimiert, das will ich nicht verleugnen, 98 % Verlust, das ist kein gutes Zeichen, leider, aber, die Talsohle scheint fürs erste durchschritten und: wir sind operativ."

"So viel Leid", sagt Melog, "so viel Zerstörung. Was bleibt ist Asche.“

Hagasan nimmt eine der wertvollen Uhren vom Boden.

"Wir sollten uns beeilen. Gleich geht die Sonne vollends auf."

Hagasan geht dicht neben Melog. Sein Führer braucht Unterstützung, denkt er. Wäre er nicht so unnahbar, man müsste ihm die Hand auf die Schulter legen.

Die Drei schreiten immer tiefer in das Gemäuer, weg von zerschossenen Wänden und zersplitterten Fenstern. Szeneszy folgt beflissen hinter her. Niemand fragt ihn, wie er dem Angriff entkommen ist. Niemand stellt die Frage, warum er nicht noch in der Nacht auf und davon ist, heim, auf schnellen Flügeln, so wie die anderen Delegierten, die den Kugeln entkamen. Er ist einfach nur da. Jetzt, wo man zusammen hält.

Nach einer Weile erreicht die Gruppe eine Falltüre.

"Schon einmal gab es so einen Kampf"; sagt Melog, "Gnadenlos war er. Und erbittert."

Szeneszy ist zufrieden. Hagasan eifrig und, wie immer, bemüht.

Melogs Augen sinken tief. Seine untote Seele wandelt zurück, immer weiter, bis zu einer Zeit vor aller Zeit. Staub, gab es damals, noch dichter als jetzt. Schwarz war der Himmel, die Hölle, die Erde. Schwarz vom Rauch der Vernichtung, die überall tobte.

"Unendliches Leid überzog alles was war. Denn alles was war wollte mehr als es war. Alles wollte das Andere beherrschen. Alles war gierig auf mehr und achtete nichts. Doch alles was kam, war Not. Der Kampf um Fülle, erbeutete Knappheit. Die Schlacht um mehr Leben, brachte nur Tod. Aus Freiheit wurde Versklavung. Erde, Himmel und Hölle bluteten und die Freude wich aus der Welt und alles was blieb waren Tränen.

Da berieten sich die Wesen der Welt und erschufen das Amulett der Dreifaltigkeit. Und als sie es teilten, da teilten sie die Welt in drei nie wieder zu vereinende Gebiete. Den Himmel, die Hölle und die Erde. Keine Macht kann seither die Grenzen überqueren. Kein Gegenstand. Keine Physik. Nur der Geist, der Glaube und das Denken.
Jede Welt bekam einen Teil des Amuletts. "Der schreitenden Fuß" ging in den Himmel, auf das Gottes Boten überall wandeln können um seine Botschaft zu verkünden. Keine Mauer konnte sie aufhalten, keine Burg und kein Berg. "Das sehende Auge" fiel in die Hölle, auf das Satan die Versuchung regiere, alles sehen könne, jede Sünde, jede Schande, jede Gier. "Die schlagende Hand" aber kam auf die Erde, furchtbare Strahlen, die alles vernichten. So kam es, daß sich die Menschen seit ewig bekriegen, als Ausgleich zum Frieden in Himmel und Hölle.
Nur wir bekamen keinen Teil des Amuletts. Die Schattenwesen. Die heimatlosen. Aus diesem Grund aber können wir zwischen den Welten leben, aus diesem Grund sind wir es, die ewig um die wahre Herrschaft streiten werden."

"Deng hat das Amulett der Hölle: das sehende Auge", sagt Szeneszy.

Einen langen Moment passiert erst einmal nichts.

"Aber, warum hat er uns dann angegriffen?", fragt Hagasan. "Was hat er nur damit bezweckt?"

"Er wollte uns nicht töten. Nicht alle."

"Was meinst Du damit?"

"Es hat nicht unseren Tod gesucht. Er suchte etwas anderes."

"Wir müssen Deng vernichten, bevor er an Macht gewinnt", unterbricht ihn Szeneszy. "Wir müssen ihm das sehende Auge nehmen. Jetzt."

"Genau deshalb sind wir hier", sagt Melog und zieht an der Kette, die neben ihm von der Decke baumelt. Die Falltüre gibt nach. Unter ihnen liegt ein riesiger Raum. Hunderte roter Lichter flackern an. Reihe um Reihe erhellt sich ein endloses Waffenlager.

Hagasan ist überwältigt.

AN-94 Sturmgewehre, 5,45 mm Nikonov Sturmgewehre, AK- 74 und AKS- 74, mit Magazin aus Glas, RPKS-74 Maschinengewehre mit einklappbarem Stutzen für Angriffe aus der Luft, Kiparis Schnellfeuergewehre mit Schalldämpfer, kurze KDER Schnellfeuerpistolen, PRG GM-94 Granatwerfer, RPO Shmel und RPO-A Infrantie Flammerwerfer, RPGs/Bazookas und VOG-25 Granaten mit eigenem Sprengkopf, 12,3 mm Udar Revolver, 9 x 21mm Gursa Selbstlader, PSM Pistolen für verborgenes Tragen, Pss Vollautomatik, MR-444 Bargia für 9mm, 9x19mm Luger und 9X17 Browning Handfeuerwaffen, APS Unterwassergewehre und SPP-1M
Taucherpistolen für Spezialeinheiten, lautlose Vss Scharfschützengewehre, 2s1Gvozdika Granatwerfer, Sprut-B Granatwerfer mit OP4M-48A Tagessicht- und 1PN53-1 Nachtssichtausrüstung, Msta-S Howitzer, 2s4 Tulpan, 2x3 Akatsia, ZSU Shilka für stark elektronisch überwachte Kampfgebiete.

Weiterhin 3 vollautomatische Anlagen zum Gießen von Silberkugeln, endlose Meter dicht gepackt mit unterschiedlich großen UV-Lampen und Holzpflöcken, sechs 20.000 Literfässer mit Weihwasser, entsprechend viele leere Granatwerferhülsen, Zerstäuber, Silbersplitter, Plastiksprengstoff, Messer und Säbel mit Klingen aus Silber.

"Unser Amulett hat nur zwei Gesichter", sagt Melog in die rote Gruft, "China oder Europa. Deng oder ich. Grgor Hagasan. Alexander Szenszy. Hiermit erkläre ich das allgemeine Sterben für eröffnet."
612.

"Nicht rauchen" steht groß auf dem Handschuhfach von Einsatzwagen.
Tricia fällt in den schlecht gepolsterten Beifahrersitz. Sie ist noch immer müde, trotz des Kaffees, trotz des Umziehens, trotz des netten Fahrers, Fathim, der sich so rührend um sie kümmert.
Fathim klappt das Handschuhfach auf und holt einen Tabaksbeutel hervor.

"Zigarette?"

"Nein Danke?"

"Marihuana?"

"Ich bin im Training."

"Das ist gut", grinst Fathim und steckt sich einen fertigen Joint aus dem Beutel zwischen die Lippen.

Neben zerknüllten Kotztüten, leeren Tabaksbeuteln und zerknüllten Bonbonpapier schläft auch ein alter Minidiscplayer. Offene Kabel verbinden das Gerät schwindelig zum Einsatzradio. Fathim klickt dem Gerät eine silberne Scheibe ins Maul und drückt Play. Jemand spricht französisch, dann fließt ein trockener Beat unter die Worte.

"Afrika Rap", denkt Tricia

Süßer Rauch beißt sie in die Nase.

Jetzt blubbert der Motor ins Leben und Fathim setzt hinaus auf die halbleere Strasse. Noch ist es zu früh für Berufsverkehr.

"Ich habe auf Dich gewartet", sagt Fathim.

"Ich bin aus Versehen hier", sagt Tricia, "Störung der öffentlichen Ordnung."

"Der Hase rennt immer noch schneller. Der Igel ist noch öfter immer schon da", sagt Fathim und zieht genussvoll am Joint. Tricia hat keine Ahnung was seine Worte bedeuten.

"In drei Tagen ist Audition. Vortanzen. Bei Silke Winter. Wenn die dich nimmt, dann, also, dann kannst du echt alles machen."

"Welches Ziel erreicht der Hase, wenn er rennt? Welches Ziel erreicht der Igel, wenn er schon da ist?"

"Was für ein Wirdo", denkt Tricia und schaut raus auf das graue Band der Häuserfassaden. Eine Frau mit Wintermantel und Hausschuhen bringt
ihren Hund zum scheißen. Zwei Strassen weiter tritt jemand gegen sein Auto. Oder das Auto eines Fremden, eines Freundes, eines Feindes.

Das Glas der Scheibe isoliert Tricia vom Leben schlimmer als ein Gefängnisgitter. Ein Müllwagen flattert vorbei, hinten bewacht von zwei standhaften Zinnsoldaten. Ebenfalls in prächtigen Orange. Sie müssen Kapitäne sein. Oder hohe Admirale. Ihre Auszeichnungsstreifen passen nicht einmal mehr um die Ärmel und laufen, hell erleuchtet vom Scheinwerferlicht, rund um ihren ganzen Körper. Wacker stehen sie da und halten die Stange neben den Tor zum Müll. Selbst im eisigen Fahrtwind.

"Ich weis echt nicht, ob ich es schaffe", sagt Tricia zur Scheibe.

Am Café Landmann dampft altes Putzwasser im Rinnstein. Mozart war schon hier. Oder woanders. Oder was weis ich.

Tricia sieht sich selbst im Seitenfenster. Wenn Sie auf sich fokusiert, verschwimmt die Welt. Wenn sie die Welt anschaut verschwindet sie.

"So eine Scheiße", denkt Tricia. "30 Stunden Rotes Kreuz für 10 Minuten Tanz. Oder 1 Sekunde Übermut." Länger hat der Entschluss, auf die Bühne zu springen, nicht gedauert.

Fathim sagt nichts mehr und raucht. Ein Segen. Der Afrikaner von der Minidisc spricht um so mehr. Eventuell sagt er was von Liberté. Der hat gut Reden. Ist auch egal.

"Unfall im ersten Bezirk. Tuchlauben Ecke Salzgries. 4 Verletzte", quäkt das Funkgerät plötzlich los.

Tricia läßt die Nachricht kalt. Wie Nachrichten, mit denen sie auch nie so richtig was anfangen kann.

"Vamos", sagt Fathim und wirft den Wagen rechts in die Einbahnstraße.

Tricia wundert sich, daß die Worte aus dem Lautsprecher einen tatsächlichen Einfluß auf ihr Leben nehmen.

Der Beat der Musik treibt das Auto nach vorn, saugt sogar die Sirene in sich auf. Fathim durchbricht das Rot der Ampel. Ein paar Fußgänger spritzen zur Seite. Im ersten Bezirk ist schon jetzt viel Verkehr. Lieferanten. Verkäufer. Fensterputzer. Fathim biegt ab.


Noch bevor der Wagen steht, spürt Tricia das Entsetzen. Schrecken dringt in den Wagen. Und Angst.

Die ganze Strasse ist tot. Ein Kinderwagen liegt umgestürzt in der Gosse. Die Räder drehen sich. Entweder noch oder im Wind. Hinten, biegt ein Fiaker um Ecke. Tricia meint, daß sie gerade noch sieht, wie sich der Kutscher umdreht. Meint einen stechenden Blick in dem wettergegerbten Gesicht zu sehen. Einen zu tiefen Schatten für die kurzkrempelige Melone. Kurze Zigarre. Kalt. Wie ein Stengel Kautabak.

Dann bricht sie aus der Tür.

Als Tricia zu den Opfern rennt, sieht sie in leere, weit aufgerissene Augen. Ohne Leuchten. Tot. Fahl. Fathim will sie wegreißen, aber Tricia ist schneller und Fathim ist stoned. In den Gesichtern sieht Tricia die ersten Blutspuren. Feine Spritzer. Auch in den Haaren. Noch tiefer unten: die Löcher im Hals.

"Mein Gott", stammelt Tricia. Ihr Magen wird eng. Das Entsetzten trocknet ihr die Kehle.

"Ganz im Gegenteil", haucht Fathim und hält ihr die Hand vor Augen.

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Auszug aus "Historie des Vampirismus" Universität Heidelberg 1905

Das Volk der Vampire teilt sich in eine (alte) Oberschicht, eine (gewachsene) Mittelschicht und ein (relativ junges) Proletariat.

In der Oberschicht gibt es unter anderem folgende Vampirpersönlichkeiten:

- Varacolaci
Stammt aus Rumänien. Helle Haut. Weiße Lippen. Kann Mond- und Sonnenfinsternisse herbei befehlen und auf dem astralen Garn der Mitternacht unendlich schnell und weit reisen, solange der Faden nicht bricht.

- Ekimmu,
Einer der am meisten gefürchtetsten und ältesten Vampire der Assyrer und Babylonier. Seine Macht war/ist so groß, daß aus Furcht über seine Rache sonst nichts über ihn/sie bekannt ist.

- Brahmaparush
Großer Vampir Indiens, der das Blut durch den Schädel seine Opfer trinkt, dann deren Hirn verspeist und schließlich ihre eigenen Eingeweide um die Opfer wickelt, bevor er für sie seinen rituellen Tanz vollzieht.

- Kuang- Shi
Chinesisches Vampirgeschlecht, dessen Söhne und Töchter beständig an Macht zunehmen, bis hin zur Fähigkeit zu fliegen. Kuang-Shi haben das grausame Aussehen eines Toten.

- Dracular
Sieg über die moslemischen Türken beim Angriff auf Rumänien im Jahre 1462. Dracular, heißt "Sohn Draculs", wobei "Dracul" für den geheimen Bund des "Orden der Drachen" steht, der die Sicherheit des Römischen Kaisers garantiert und später viel Ruhm bei den Kreuzzügen erlangte. Draculars menschlicher Name war Vlad Tepes.

- Nosferatu
Ebenfalls Rumäne. Uneheliche geboren von unehelichen Eltern. Veranstaltet seit seinem Untod immer neue wilde Orgien mit den Lebenden. Nimmt gern die Form von Ratten an.

Vampire sind dafür bekannt, häufig Ihre Namen zu ändern, da das Wissen um ihren (wahren) Namen eine gewisse Macht über sie ausübt.
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613.

Über der Stadt schiebt sich der Mond zaghaft an den matschigen Himmel. Fahlgraue Wolken verdecken neblig das ehemalige Stück Erde, das vor Urzeiten ein Meteorit aus unserem Planeten herausschlug und dann so weit es ging in den kalten Weltraum warf.

Der Schock vom Morgen steckt tief in den Knochen. Noch nie zuvor hat Tricia einen Toten gesehen. Bei den Großeltern sah sie nur den geschlossenen Sarg. Bei der Tante ging sie nicht einmal hin.

Noch immer sitzt Tricia im Wagen. Noch immer denkt sie nur an die Leichen. Kaum hat Fathim sie weggezerrt, kam schon der Hubschrauber der Rettung. Dann immer mehr Autos. Absperrung. Polizei. Als sie kurze Zeit spät davon geschickt wurden, bogen schon die ersten Leichenwagen ums Eck.

Jetzt hat sie ihn also gesehen. Den Tod.

Sie hat nichts gegessen seit dem. Acht Stunden. Ob Fathim gegessen , kann sie nicht sagen. Erinnert sich nicht. Erinnert sich sowieso an nichts, außer an die Gesichter, die Augen, das Blut in den Haaren, die Löcher im Hals.

Tricia hat noch nie so lange nichts gegessen. Nicht einmal zur Entschlackung. Jetzt hat sie genug Reserve um durch Nahrungsverweigerung ihre Trauer zu füttern.

Fathim hat schon geholfen. Wußte immer wann er reden sollte, und wann nicht. Komisches Zeug, was er immer von sich gibt. Dopekopf. Aber lieb, wie alle Kiffer.

Tricia weint wieder.

"Trauer für wen? Vielleicht trauere ich ja um mich?"

Erst jetzt bemerkt Tricia, daß Fathim sie zum Studio gefahren hat.

"Du musst jetzt trainieren. Das Leben geht weiter. Ich stemple die Karte für Dich."

Zum ersten mal an diesem Tag bricht so etwas wie ein Lächeln über Tricias Lippen.

Ihr Arm kriecht hinter den Sitz und kommt mit einer Sporttasche in der Hand wieder hervor.

"Danke."

Tricia steigt auf den Gehsteig und schaut dem Wagen nach, bis seine Rückleuchten in der roten Perlenkette des späten Nachmittagsverkehrs verschwinden.

"Woher weis er eigentlich, wo das Studio ist?", geht es Tricia durch den Kopf.

Die Treppen, wie immer. Die Tür, wie immer. Die Umkleidekabine. Nur das heute Orange Kleidung über den Bügel kommt. Tricia legt ab und streift sich dann ihr normales Leben über. Enge Balletthose. Hellblauer Body. Als sie bei den Schuhen ankommt, ist ihr Kopf relativ klar.

"Hey, Du bist früh", ruft Paul und läuft ihr entgegen. "Wie war´s?"

"Laß uns loslegen..."

Tricia tanzt. Sie tanzt sich in einen unschuldigen Raum, frei Haß, Sorge, Leid. Tricia tanzt den unschuldigen Raum in sich hinein und um sich herum. Sie füllt ihn mit nichts als ihrem Tanz. Makellos und rein.

Paul bewundert ihren Tanz, bewundert, daß er unaufhaltbar ist, nicht von dieser Welt, daß er nichts und niemanden gehorcht, außer Tricia, seiner Geliebten, die eins ist mit ihm, in ihm.

Tricia dreht sich, grätscht, wirbelt.

Dann springt Tricia hoch, höher, am höchsten, fliegt zur Decke hinauf, als wolle sie auf ihr weiter tanzen, schwingt herum, verliert den Kontakt mit sich, schwankt und kracht abrupt zu Boden. Tricia bleibt liegen.

"Hab ich Dir erlaubt aufzuhören?!", brüllt Paul, "Hab ich Stop gerufen?!"

Furios ist er. Unnachgiebig und streng. Tricia liegt am Boden und fragt sich, was das eigentlich alles soll, jetzt wo es Tod gibt und sogar Mord.

"Nein Paul, ich hab Stop gerufen", sagt Tricia ganz leise.

Paul hockt sich zu ihr, schaut ihr in die Augen.

"Tricia, Du bist die Beste und du weist es. Es ist nur doch nur ein Sprung. Du musst einfach weiter tanzen. Das Gesamte ist wichtiger als diese eine Figur. Du bist einfach zu erschöpft von dem Tag und..."

"Ist schon gut, Paul, ist schon gut."

Tricia, steht auf und geht.

"Tricia, Tricia, hey, was machst du? Willst du weglaufen? Willst Du aufgeben, wegen einem bescheuertem Sprung. Hey, Tricia. Hast Du Angst?"

Vielleicht hätte er sagen sollen, daß die einzig sinnvolle Antwort auf den Tod nicht die Verzweiflung ist, sondern das Leben. Vielleicht hätte er sagen sollen, das Musik und Tanz das Leben erhalten und nichts, aber auch rein gar nichts auf der Welt wichtiger ist, als Freunde zu schenken. Vielleicht hätte er sagen sollen, daß es schon genug Leid gibt, um selber auch noch zu leiden. Vielleicht hätte das geholfen. Aber, er hat es nicht gesagt. Leider.

614.

Zuerst brennt die Kehle. Doch das ist schon Ewigkeiten her. Dann zittern die Finger, erst einzeln. Wild. Ruckartig. Schließlich krümmt sich die ganze Hand zu einem kraftlosen Zittern. Ankleiden kann man sich nicht mehr. Nicht mehr Waschen. Nicht einmal den Strohhalm kann man allein in die Blutkartons rammen, wenn man einmal einen bekommt. Die Bluttransporte sind rar geworden. Die Wagen schwer bewacht. Als ob die Armee der Schwachen auch nur den Türgriff herunter drücken könnte, wenn ein voller Blutwagen unbewacht vor ihnen im Dreck läge.

Das Haar fällt aus. Nase und Ohren faulen ab. Überall platzt die Haut, zernarbt zu einem Flickenteppich der Qual. Die Lippen ziehen sich hoch, fallen ab, das Zahnfleisch bricht. Dann kommen die Flecken. Dann Anemia. Dann nur noch Schmerz.

Die Gräber sind eng befüllt, Stapelware. Die Erinnerung schwindet. Angeblich soll man einmal selbst ein Mensch gewesen sein, mit eigenem Blut. So wie jede Kellerassel einmal ein kleines Ei war. Jetzt nagen Würmer an einem herum, und kriechen davon, weil sie bemerken, das man untot ist. Der letzte Respekt.

Der Hunger kam und ging, kam und ging, kam und blieb. Früher gab es noch Hoffnung. Jetzt kann man nur warten. Und man weis nicht einmal mehr auf was.

Angeblich sollen die mächtigen Vampire noch so viel zu Trinken haben, dass sie Blutorgien feiern. Wie in alten Zeiten. Wann war das?

Jüngere Vampire jagen Kleintiere. Aber das Blut ist zu dünn und oft krank oder vergiftet. Wenigstens darf man sie beißen. Aber es gibt eine schmerzhafte Infektionsgefahr. Auf dem Land sollen Vampire sich an Schafen sättigen.

Wer Zugang zum Internet hat sieht, was mit Plünderern passiert. Vielleicht ist besser als warten. Durchhalten wozu?

Wissenschaftler arbeiten an neuen Formeln, Blut künstlich herzustellen. Fast nächtlich gibt es Meldungen vom nahen Durchbruch. In manchen Gebieten Albaniens rammen sich Vampire selbst den Holzpflock ins Herz, wenn sie noch die Kraft dazu haben. Einige legen sich einfach auf eine Wiese oder einen Felsen und warten bis die Sonne kommt. Das ist sehr qualvoll. Die Sonne kommt langsam.

Im Westen herrscht noch Ordnung. Wenn nur die Rationen nicht noch mehr gekürzt werden. Niemand weis wie lange die Vorräte noch halten. Wenn die Weltbevölkerung der Menschen weiter zunimmt, können Vampire bald wieder aus dem Vollem schöpfen. Wir müssen nur standhaft bleiben. Wenn nur der Durst nicht wäre.

Im Internet gibt es jetzt Werbung für die Armee. Es soll einen großen Krieg geben. Oder gibt es ihn schon? Soldaten erhalten angeblich die 4fache Ration. Vielleicht sollte man sich freiwillig melden. Die Nummer steht schon auf jeder Packung. Wenn schon sterben, dann wenigstens satt. Die Einberufung dauert nicht mal 5 Minuten. Wenn man nur einmal satt genug wäre um hinzugehen.

Revolte geht einem nicht aus dem Sinn. Aber gegen wen? Niemand weis genau, wo die Blutbank ist. Niemand weis genau, wo die Satten wohnen. Niemand weis wieviel Blut es noch gibt.

Am besten man wartet weiter. Irgendwann wird alles besser. Es wird wieder mehr Menschen geben. Oder künstliches Blut. Irgendwann werden alle wieder satt sein. Wenn nur die nächste Ration endlich käme.

615.

"Guten morgen, liebe Arbeitnehmer, Zeit aufzustehen. Hallo, liebe Studenten, Zeit schlafen zu gehen."

Der Wecker zeigt 4: 55.

"Heute ist es genau wie immer. Beim Wetter. Beim Stau. Bei allem. Nur eines ist anders: Wo gestern noch alte Hundescheiße lag, liegt heute Neue."

Tricia schmunzelt schwach. Geschlossene Lippen, noch zugeklebt von der Nacht, wie die Augen. Schwere Wimpern. Trockene Kehle, von der Heizungsluft, obwohl sie jedes Jahr versucht diesen Winter endlich in einem kalten Raum zu schlafen, aber nicht so kalt.

„Pada pam daaaaa. Es ist 5 Uhr, die Nachrichten.“ Aha, sie muß wohl wieder eingeschlafen sein.

„Wien. In der Nacht kam es erneut zu Vandalismus. Nachdem, einem Wanderer zufolge, ein leer stehendes privat Schloß auf gröbste vandalisiert wurde, sollen in der Nacht die Ausschreitungen auch auf einige Gebäude in der Wiener Innenstadt übergegriffen haben. Polizeiberichten zufolge werden dem Besitzer des Schlosses Kontakte zur russischen Waffenmafia zugesagt. Angeblich sind auf dem Hof entsprechende Beweise gefunden worden. Das Schloß selbst ist jedoch versperrt, und kann erst nach Erstattung einer Anzeige betreten werden. Mensch kamen nicht zu Schaden.“

Tricia rollt aus dem Bett, Gummibeine.

„Polizeisprecher Schmöller nimmt auch bei den gestrigen Vorfällen eine Mafiainterne Auseinandersetzung an. Das Hab und Gut ordentlicher Bürger sieht er nicht gefärdet.“

Im Bad geht alles automatisch. Das Wasser spült die Augen frei und den Mund. Tricia trinkt aus dem Duschkopf, wie ein Kind vom Regen. Langsam kommt Leben in den Körper. Stretchen im Wasserstrahl. Ihr Oberkörper klappt zu den Fersen, sie zieht die Brust an die Knie, Handflächen am Boden, Wasser läuft den Rücken hinab zu den Haaren. Tricia zählt wirr bis irgendwas, 2,3,6,9,10, kommt dann wieder hoch, atmet tief ein, reibt sich mit beiden Händen über die Augen, schüttelt aus und ist, zu ihrer allgemeinen Verwunderung, relativ wach. Doch kein Nachtmensch.
„Was war das in den Nachrichten?“

Taost. Tasche, Thermoskanne. 20 Minuten später ist sie aus dem Haus.

"Ping" singt die alte Stechuhr, und meint damit "Du hast es geschafft."

"Ich hab Dir Kaffee mitgebracht", sagt Tricia zu Fathim, der aussieht als ob er schon stundenlang da ist. "Die Scheiße hier ist ja ungenießbar."

"Der Kaffee auch", sagt Fathim und nimmt sich einen der beiden Becher die dampfend auf der Holzbank stehen, wie kleine Kühltürme mit Griff.

Obwohl es erst ihr zweiter Tag ist, fühlt sich Tricia fast geborgen. Die Reihe mit den Mantelharken, die Regale mit irgendwelchem Rot-Kreuz Zeug, die nackten Neonröhren an der unverkleideten Decke. Es gibt nicht viel verborgenes, hier. Alles ist offen. Durchschaubar.

"Auf meinen Becher steht: The time to be happy is now", sagt Tricia.

"Now", wiederholt Fathim ruhig und fast gedankenverloren. "Wo ich herkomme, gibt es kein jetzt. Kein später. Kein gestern. Alles fließt zusammen, weil alles zusammen ist. Der Bauer erntet im Sommer, was er im Frühjahr gesät hat. Gestern bestimmt heute, heute bestimmt morgen. Die Trennung der Zeit ist im Kopf. Es gibt Vorsehung, Bestimmung, Schicksal. Kennst Du Dein Schicksal, Tricia?"

"Mit Silke Winter?"

"Deine Bestimmung ist wichtiger als ein Vortanzen."

"Lieb, dass Du das sagst. Ich nehm das alles vielleicht echt etwas zu schwer. Paul, vom Studio, er macht immer so einen Druck: eine einmalige Chance."

"Was weis Paul von einmaligen Chancen...."

"Hey, ihr Quatschtanten! Seit wann ist das hier ein Kaffeehaus?", brüllt ein Kapo in Orange.

"Ober, zahlen", ruft Tricia und merkt, daß sie nicht ur wach, sondern auch unerwartet gut gelaunt ist.

"Raus hier", brüllt der Orange.

Becher in der Hand, Zigarette im Mund, hebt Fathim den Kopf und sieht den Mann an. Dann raucht er sich einen Vorhang aus Qualm vors Gesicht und steigt gemächlich ins Auto.
Tricia macht es ihm nach, packt die Tasche nach hinten, den Kaffee nach vorn und klemmt die Beine auf`s Handschuhfach. Fathim startet den Motor und knattert hinaus auf die Strasse.

"Und Fathim, gut geschlafen?"

"Mein Dreamcatcher fängt nur die guten Träume", sagt Fathim während seine Hand dem Geflecht am Rückspiegel einen kleinen Stubs gibt.

"Ich habe geträumt, ich könnte fliegen", sagt Tricia, "Hoch über der Stadt bin ich geflogen und um mich war nur Ruhe. Ich war allein und doch mit allem verbunden. Dummer Traum?"

"Gab es ein Licht?", fragt Fathim

"Ich glaube nicht", antwortet Tricia.

"Einen Schatten?"

"Ich weis nicht, es war ein Traum. Ich konnte fliegen, das war alles."

Durch die kahlen Bäume sieht man die Lichter im Park. Niemand geht dort. Leere Bänke. Die Mülleimer hungrig mit offenen Maul. Mistkübel, sagt man in Wien. MA 48. Wahnsinn, wie sich die Stadt in einen drängt. Wie sie einem ihre Organisation aufzwingt. Die Bezirke. Die Magistratsabteilungen. Die Worte. In den Geschäften sagt Tricia, schon Sackerl, wenn sie Tüte meint.

"Ich habe das wahrscheinlich geträumt, weil ich dieses Vortanzen habe. Na ja, hab ich eh erzählt. Da muss ich genau das können: Fliegen. Deshalb habe ich geträumt, das ich das kann. O.K.?"

"Du kannst fliegen."

"Ach, Fathim."

Der Wagen holpert in Richtung Gürtel.

Gerade will Tricia etwas sagen, da kommt ihr Fathim zuvor.

"Du bist etwas ganz Besonderes, Tricia. Ich habe lange auf Dich gewartet."

"Immer schön langsam. Wir kennen uns einen Tag. Ich habe ein Leben, außerhalb dieses tollen Overalls."

"Ich kenne Dich seit dem ein Kind war. Ich habe Dich überall gesucht. Aber ich wußte, daß ich das Schicksal nicht beschleunigen kann. Du mußtest mich finden Tricia, ich durfte nur warten. Und jetzt bist Du da. Ich bin sicher, daß Du die Richtige bist."

"Wir wollen mal nichts überstürzen, Fathim. Ich finde Dich ja auch ganz nett, aber dabei wollen wir es besser belassen. Jetzt kaufen wir uns erst mal eine Zeitung. O.K.?"

"O.K.", sagt Fathim und kurbelt das Fenster herunter. "Ich muß es auch noch genau prüfen, ob Du tatsächlich die Richtige bist. Wie nennt das dein Freund Paul: eine einmalige Chance."

"Oh je", denkt Tricia.

Vor der Ampel steht ein Zeitungshändler in der Kälte und läuft von Auto zu Auto. Auch er trägt orange. Tricia wußte gar nicht, wie beliebt diese Farbe ist. Fathim zahlt und reicht Tricia den Stapel Papier.

„Das Neuste von Gestern“, sagt Fathim und lächelt süß mit gelben Zähnen. Fürsorgend sieht er aus. Ein guter Mensch.

Tricia nimmt den Becher zwischen die Beine und legt die Zeitung oben drauf.
Nichts auf der Titelseit. Nicht im Wien-Teil. Tricia ist entsetzt.

"Das gibt`s doch nicht. Da steht ja gar nichts drin, von gestern.
Da können doch nicht 1000 Leute verrecken mitten in der Stadt und kein Arsch schreibt was darüber."

"Oh doch."

"Oh doch, was"

"Tod, Unglück, Chaos. Klar soll das passieren. Aber nicht hier. Weit weg soll es passieren. Am besten in einer anderen Kultur. Indien. Pakistan. Mosambique. Dann wissen die Leute, es gibt das Böse. Aber nicht hier bei uns. Das ist beruhigend für die Massen."

"Das ist eine Zeitung, Fathim. Berichterstattung. Nachrichten. Wir sind hier ja nicht in was weis ich für einem Land. Hier gibt es Pressfreiheit. Meinungsfreiheit. Da muss doch was stehen, von gestern."

"Die Zeitung schreibt nicht was gestern war. Die Zeitung schreibt, was du heute denkst. Und heute wird man denken: Es ist alles in Ordnung. Mir wird nichts geschehen. Da kann ich Ruhe Aktien kaufen, oder einen Mantel. Dabei wird die Welt vielleicht morgen schon untergehen."

Tricia blättert und findet einen großen Artikel mit großen Bilder von dem zerschossenen Schloss bei Wien.

" “Vandalismus nimmt zu”. Das ist schlecht. Das ist hier!"

"Was ist der Unterschied zwischen Vandalismus und einem Massaker?
Bei einem Massaker gibt es Leichen. Bei Vandalismus nicht."

"Auf der Scala für Scheiße ist Vandalismus also nicht so schlimm?"

"Was ist, wenn wir hier die Bilder eines Massakers sehen? Was ist, wenn hier nur die Leichen fehlen?"

„Oder die Bilder, von einem Fußballspiel. Nur ohne Spieler, Tor, Bälle. Fathim, da wird ja wohl jemand recherchiert haben. Wofür gibt es denn Journalisten?“

„Für die Beruhigung der Massen. Für die Verbreitung von Scheininformation. Für die Erhaltung der Ordnung. Leeres Geschreibsel um unser Verlangen nach Kontakt mit der Welt zu stillen.“

„Woher Du das wieder weist.“

„Von meiner Ausbildung. In den Anden.“

„Ja, dann.“

Tricia nimmt einen Schluck und merkt, daß sie gemein war.

„Ist schon gut“, kommt ihr Fathim zuvor.

Fathim stoppt. Sie sind am AKH.

"Rotes Kreuz. Blutlieferung", spricht Fathim in dem lackierten Metallpilz, der etwas zu kurz aus dem Boden wächst. Die Schranke hebt sich. Das Allgemeine Krankenhaus schluckt den Wagen, das Gespräch, die Gedanken.

Das Auto sieht richtig unhygienisch aus, in all dem Weiß. Gekachelte Wände, neben der engen Fahrbahn. Immer tiefer schraubt sich der mit Schneematsch beschmierte Bazillus. Bringt zwei unabhängig von einander lebende Organismen und kanisterweise Blut 3 Stockwerke tief unter die Erde. Unter dem Mikroskop würden die beiden Organismen oberflächlich relativ ähnlich aussehen, orange Körper mit vier beweglichen Auswüchsen. Wenn die Wissenschaftler die erste Schutzhülle entfernen, wäre der eine Körper jedoch schwarz und der andere weiß. Und sie hätten unterschiedliche Ausbuchtungen. Und innen jeweils einen anderen Fortpflanzungsapparat und ein anderes Skelett. Aber sonst wären sie gleich für die Wissenschaftler. Keine unterschiedlichen Gedanken. Keine unterschiedlichen Gefühle. Keine unterschiedlichen Erinnerungen. Keine unterschiedlichen Seele.

Fathim hält an und drückt von innen die Hecktüren auf. Tricia und er steigen aus, laden das Blut auf zwei kleine Wagen und schieben die Fuhre zu einer Stahltüre. Nichts hallt, trotz der vielen Kacheln. Gummisohlen, Gummiräder. Der Linoleumboden schluckt den Rest. Kurz bevor sie da sind, schwingt die Tür automatisch auf.

Der Raum hinter dem Stahl hat etwas von einem Paketschalter, nur sauberer. Eine Wage, Bücher, eine Kasse, oben sind Zahlen angeschlagen. Vorne rechts steht eine Zentrifuge und daneben der Molekularscanner.

Do not cross, steht auf dem Boden.

Zuerst schiebt Fathim seinen Wagen rüber, dann sich selbst, dann folgt Tricia mit ihrer Ladung.

Hinter dem Glas kratzt ein alter, fahler Mann nervös mit den Fingern. Dünnes Haar. Trockene Haut. Der Hals zu faltig, die Hände grau, ohne Altersflecken, ohne Adern. Nur die Sehen springen beim Kratzen hin und her. Etwas zu schnell greift er nach dem Kanister voller Blut. Etwas zu gierig färbt sich das Röhrchen in seiner Hand. Die Pipette befruchtet die Zentrifuge, verwischt zu einem Kreis, der außen ganz dunkel wird. Molekularscanner. Ein Lichtfaden zieht sich hoch.

"Danke", sagt die alte Stimme hinter dem Glas. "Der nächste , bitte."

"Ich muss mal", flüstert Tricia Fathim ins Ohr.

"Hinten links", sagt Fathim, "Ich mach das hier schon."

Tricia ist froh weg zu sein. Komischer Tag. Komische Welt. Hauptsache sie wird Fathim schnell los. Ihr Leben ist schon kompliziert genug. Vielleicht sollte sie ihm mit Beau verkuppeln. Die kriegt wirklich jeden.

"Hinten links", geht es ihr durch den Kopf, "Hinten links, wo?"

Leise brummt das Neon sein nervöses Licht in die Gänge. Ihre Schritte lautlos in den langen Gängen, wie schon vorne in der Halle. Als ob sie nicht da wäre. Unpräsent. Eine Nicht-Person. Eine, deren Existenz vorbei ist.

Die Bilder der Opfer blitzen auf. Die leere Strasse. Die seelenlosen Augen. Tricias Puls wird schneller, das Herz klammert. Man hört nichts hier unten. Minus dritter Stock stand in mannshoher Schrift an der Wand. Negatives Stockwerk mal drei.

In der Ferne klackt ein Aufzug seine Türe auf oder zu. Dann brummt es, dann Ruhe. Hinten links, wo.

Überall Türen mit Nummern. Minus Drei acht fünft neun F&E.

Eine Türe weiter, geht die Klinke nach unten. Jemand tritt heraus, biegt vor Tricia auf den Gang, verschwindet nach links. Die Türe schließt langsam. Zu langsam.
Tricia erhascht einen Blick in den Raum. Ein Mann im Rollstuhl. Operationskleidung. Überall Schläuche. Lampen nur auf ihm. Hautfarbene Lederriemen binden seine Arme an die Lehne, seine Füße an die heruntergeklappten Eisenflächen. Was ist das überhaupt für ein Rollstuhl? Er sieht so schwer aus, fast unbeweglich. Die Ärzte mit Masken vorm Gesicht.
Der Mann hat irgendetwas vorm Mund. Hinten schießt eine Person in Weiß durchsichtige Flüssigkeit von einer Spritze in die Luft. Der Mann schaut Tricia mit großen, fragenden Augen an, dann ist die Tür zu.

Man hört nichts.

Tricia sieht die Wunden der Opfer. Die Hälse brutal aufgerissen. Alle an der gleichen Stelle. Sie konnten nichts mehr machen. Fathim hat Tricia sofort weggedreht, aber sie hat alles gesehen.

Überall der Geruch von Desinfektionsmitteln. Hinten links, wo? Tricia öffnet den Kragen. Endlich ein Pfeil. Die Herrentoilette. Tricias Blase schlägt vor hinein zu gehen. Tricias Kopf sagt, daß die Damentoilette sicher auch nicht weit weg ist. Tricia wägt ab. "Das ist hier das AKH", sagt ihr Kopf, "und nicht irgendein Tanzstudio, Theater, Ballettseminar. Hier wird alles getrennt", fährt ihr Kopf fort, "Männer - Frauen, Notaufnahme - Psychiatrie, Gynäkologie und innere Medizin. Alles hat seine Ordnung. Nichts darf durcheinander kommen. Die richtigen Patienten hinter den richtigen Türen. Sonst wird aus Versehen ein Arm amputiert. Eine Niere entfernt."

"Es lebe das kreative Chaos", entscheidet sich Tricia und geht rein.

"Schlecht. Falsch. Gar nicht gut", merkt sie. Sofort, aber zu spät.

Das kalte Licht summt. Millionen kleiner Teilchen, die sich dem Ganzen unterordnen, oder verglühen. Die glatten Flächen sprechen von dem herausstehenden Nagel, der eingeschlagen gehört. Der Raum befiehlt ihr zu gehen. Wie kann man so eine Architektur zulassen?

Tricia hebt die Beine und versucht jetzt nur nicht unnatürlich vorsichtig aufzutreten. Angst mit Mut bekämpfen.

Über dem Waschbecken tropft ein silberner Wasserhahn immer auf die gleiche Stelle. Tricia dreht ihn ab und es wird noch stiller. Im Raum nur das Summen des Lichtes. Sie hört ihren Atem. Hinter ihr die Reihe gleicher Türen. Jeder Atemzug beweist, dass sie da ist. Fremd. Unerwünscht. Eingedrungen. An der Wand baumelt eine Schnur von der Decke. "SOS" steht auf den Kacheln hinter der Schnur. Sie geht an fünf, sechs Türen vorbei. Dann bleibt sie stehen.

Als sie die Türe zum WC öffnet, brummt automatisch eine Lüftung an. Tricia klappt den Sitz runter und wischt mit Papier drüber. Der Ventilator zurrt ihre Anwesenheit in die Welt. Tricia öffnet die Reissverschluss Ihres Overalls, sie streift die Unterhose ab. Der Sitz ist so konstruiert, dass man ihn nicht fühlt. Keine Oberfläche. Keine Temperatur. Tricia bleibt still.

Der Wasserhahn beginnt wieder zu tropfen. Im Rohr unter ihr hat sich das Papier vollgesaugt und ist unter die Wasseroberfläche gesunken. Tricia wirft etwas Toilettenpapier nach, um ja leise zu sein.

Der Raum sagt ihr, dass sie hier nicht hingehört.

"Ich geh ja gleich wieder", denkt Tricia, "hörst du mich? Ich piss und dann bin ich gleich wieder weg. O.K.?"

Hinter dem Ventilator raschelt etwas. Ein kleines, fernes Kratzen. Wie das in dem Schalterraum. Tricia pinkelt still auf den Berg Papier und drückt ihn schon mit den ersten Schwall tief nach unten.

"Ich bin ja gleich fertig", denkt Tricia.

Sie schaut auf das Weiß der Tür. Makellos. Fehlerfrei. Non-Existent. Falls jemand hier mal etwas hingeschrieben hat, ist es verschwunden. Spurlos. Als wäre es nie dagewesen. Als wäre es hier immer nur sauber. Immer korrekt. Todeszelle, denkt Tricia, Omega- Kammern. Da, wo Leute entsorgt werden. Klinisch. Sauber. Als hätte es sie nie gegeben.

In dem Schacht hinter dem Ventilator scheint jemand zu stöhnen. Ganz fern. Sicher nur der Wind. Tricia beginnt zu summen.

Plötzlich springt hinten im Raum die Tür auf. Tricia öffnet die Lippen, das Summen verstummt. Schritte kommen näher. Lautlos. Huschend. Immer näher. Tricia hält die Luft an.

Das Wasser tropft weiter. Wie eine Infusion. Flüssignahrung. Intensivstation.

"Geh weg", denkt Tricia.

"Hallo", ruft die Stimme.

Tricias Blase will sich weiter entleeren. Tricias Kopf hält den Schwall auf‘s erste zurück. Still bleiben. Einhalten. Es kann nichts geschehen.

"Ich weis, dass Du da bist", ruft die Stimme.

Tricias Augen suchen nach irgendetwas. Eine Waffe. Hier. Wo nichts ist. Nicht einmal Schrift.

Die Schritte schleichen näher. Immer näher.

Tricias Blick findet die Toilettenbürste. Stumpf, leicht, ungefährlich.
Die Schritte sind nur noch zwei Türen entfernt.

"Geh weg", denkt Tricia.

Die Schritte werden langsamer.

Tricias Muskel pressen die Blase endgültig zu.

Noch eine Türe.

Tricias Hand bewegt sich in Richtung Klobürste. Der Spalt unter der Tür verändert sein Licht.

Tricia stiert auf die Tür. Das kleine Fenster zeigt rot. Besetzt. Die Klinke bewegt sich trotzdem.

Tricia versucht nicht mit den Augen zu blinken.

"Niko?", fragt eine Stimme.

Tricia hält den Atem an.

"Niko, bist Du das?"

Die Türklinke bleibt unten. Der Rahmen der Tür beginnt leicht zu knarren, als sich, wer immer da draußen steht, schwer gegen die Tür lehnt.

"Hallo?"

"Besetzt", brüllt Tricia.

"Wen haben wir denn da?", fragt die Stimme. Langsam. Bedrohlich.

Vorsichtig rollt Tricia eine Schulter nach der anderen zurück in den Overall.

Vorne in der Halle steckt Fathim die gestempelten Lieferscheine in einen Umschlag. "Danke, der nächste Bitte." Niemand erkundigt sich nach seiner Kollegin. Fathim schiebt die Wagen zurück zum Bus, setzt sich auf den Fahrersitz und legt eine Minidisc in den Player. Um nicht zu stören, klingt er Kopfhörer ein.

Tricia bleibt stumm. Ihre Hand greift nach der Bürste.

Vor der Tür hört sie den Atem. Ein Scharren. Die Klinke bewegt sich ein wenig.

Tricia sucht am Boden unter dem Spalt in der Türe nach Schatten. Alles grau meliert. Nichts als klinische Sauberkeit. Jetzt scheint sich etwas zu bewegen. Tricia erhebt sich so leise es geht vom Sitz und schließt mit der freien Hand den Reisverschluss. Vergewaltigung vorbeugen. Reize verstecken. Vorsichtig rutscht der Reisverschluß nach oben. Zacken für Zacken. Zaghaft löst sich ein Tropfen Wasser von der Klobürste platscht zu Boden.

Im Wagen dreht Fathim den Regler auf 10.

Der Atem vor der Türe kommt wieder näher.
Tricia lockert die Muskel. Sie hebt den Fuß ein wenig vom Boden, spannt an. Dann dreht sie die Türsperre frei und rammt aller Kraft die Tür auf.

Afrika-Rap.

Lautlos der Rumms. Kein Krachen. Kein Poltern. Das letzte Stück leicht, weil der Widerstand des fremden Körpers weg ist. Umgestoßen. Vor ihr auf dem Boden. Noch. Langsam dreht sich der Kopf auf dem Boden zu Tricia.

Fathim schließt genussvoll die Augen.

Pechschwarze Haare. Die Haut ist dunkler als weiß, aber nicht braun. Die Augen, zwei Schlitze hinter schützendem Glas. Tricia hat das Gesicht schon mal gesehen. Die Erinnerung spuckt ein Bild herbei.
Tanzsaal. An dem Abend an dem sie von der Polizei verhaftet wurde.

"Schön, dich wieder zu sehen", sagt der Mann.

Fathim entfacht ein Zündholz.
"Feuer ist Leben", denkt Fathim und sieht wie das Feuer seinen Joint überfällt, sich vermehrt, seine Gene überträgt, das Papier infiziert und den Tabak, Asche scheißt, Glut wird, beim ersten Atem wieder zur Flamme pubertiert, dann erwachsen wird, ruhig glimmt, Schwelbrand."


Tricia greift die Bürste. Stumpf, leicht, ungefährlich. Droht mit der nassen Bürste, deren einzige Hilfe darin liegt, daß Tricia sie fest umgreifen kann. Ihr Blick rast über das Weiß des Mantels vor ihr. Hin zum Namensschild. Dr. Yuan Hue schreiben schwarze Buchstaben auf silbernem Grund.

Yuan kommt näher.

"Tricia, nicht wahr?", fragt Yuan.

Sein Gesicht schein harmlos. Fast nobel und zart. Aber etwas ist falsch an seinem Aussehen. Unpassend. Minus dritter Stock. Negativ.

Fathim prüft, ob die Scheiben fest zu sind, weil es im AKH überall Rauchmelder gibt. Er führt das Zündholz zu seinem Joint und zieht ein. "Mehr Glück als der Dalai Lama. ", denkt Fathim. "Mehr Glück als Shizue Combs. Nur noch einmal checken. Sicher ist Sicher. Ganz in Ruhe."
Der Luftzug reißt die Flamme mit sich.

Yuans Mantel ist nicht richtig. Nicht so, bei einem Stationsarzt. Nicht so, wie bei jemandem, der fragt, ob es einem gut geht. Feine, rote Spritzer punkten die Brust. Blut.

"Yuan", sagt Tricia.

Ein Arm in falschem Weiß kommt unaufhaltsam auf ihre Hand zu. Fünfzehn Tonnen Schmutzwäsche produziert das AKH täglich. Fünfzehn Tonnen frische Wäsche kommt täglich zurück. Der Ärmel hat einen leichten Schmierer. Ebenfalls rot. Kleines, unperfektes Blut. In diesem zu perfekten Haus. Tricia lässt die Klobürste fallen und streckt Yuan die Hand entgegen.

Fathims Hirn ergibt sich dem THC.

Yuans Hand umschließt Tricias Hand.

"Du bist wohl auf allen Toiletten zu Hause", lächelt Yuan.

"Ich, ja, was machst Du denn hier?", fragt Tricia zurück.

Fathim Muskeln verringern ihre Grundspannung. Ein leichtes Hungergefühl setzt ein.

"Experimente", sagt Yuan, "Ich forsche an Blut. Plasma. Übertragung durch Insekten. Absaugen. Einspritzen. Machst Du hier sauber?"

"Ich, äh, vergiss es", sagt Tricia.

"Gerne", sagt Yuan. Und dann sagt er den einen, alles verändernden Satz. Den Satz, der Tricia zu Tränen bringen wird, zum Verlust ihrer Ehre, der Verwicklung in eine Entführung, zu Staatsorganen in ihrer Wohnung, lodernden Drohungen, Einkerkerung, Schmerzen und Leid: "Wollen wir mal essen gehen?", fragt Yuan und sieht richtig nett aus.

Und schließlich nistet sich dieser Satz, nach einigem Hin und Her ("Ich muss trainieren" - "Auch nachts?" - "Nachts muss ich schlafen." - "Ich lade Dich ein. Heute nacht um elf im Aux Gazelle? Hinten im Restaurant." - "Ist das nicht teuer?" - "Nicht für dich" - "O.K., ich bin sowieso ein Nachtmensch." - "Ich auch.") immer fester in den Verlauf des Schicksals ein und beginnt, zuerst langsam aber dann immer heftiger, mit der Vermehrung seines Einflusses auf den Ablauf aller Gegebenheiten.
616.


"Liebe Freunde hier im Studio, liebe Freunde daheim vor den Bildschirmen, es ist mal wieder soweit: Finderlohn! Wie immer haben jede Menge interessanter Dinge auf der ganzen Welt versteckt: Vasen, Autos, Schmuckstücke."

Musik setzt ein. Deng geht in großen Schritten über die Bühne aus leuchtendem Glas. Hinten kreisen Revuegirls in glitzernder Reizwäsche funkelnde Arme.

Im Studio brennen die Scheinwerfer ihr UV loses Licht glatt und gleichmäßig über alles was ihnen in den Weg kommt. Beste Beleuchter sorgen dafür, daß es ja keine Schatten gibt. Die Zuschauer wollen Klarheit, Schönheit, Perfektion. Die perfekte Welt, in der alles Ungewisse auf einen einzigen Punkt reduziert ist: die Ungewissheit des Glücksrads.

Deng trägt westliche Kleidung. Nur ein kleiner, goldener Drache am Revers, glitzert dezent Dengs stolze Abstammung in die Welt. Millionen von Zuschauern sehen ihm zu. Im Fernsehen oder auf www.free.tv, www.fun.tv, www. my.tv. Deng besitzt sie alle, erwarb schon früh Glasfaserkabel und Satelliten, setzte auf terrestrische Übertragung, für alle die überirdisch wohnen. "Wer die Macht will, muss die Massen im Griff haben. Nicht nur die Vampire." Die Massen. Private Fernsehstationen kontrolliert Deng, ein wenig Rundfunk, Yellow Press. Zeitung nur in der untersten Kategorie. Da, wo man schreibt was er will. Sensationspresse. Massenblätter. Vampire sehen ihn meist per Internet. Spezielle Programme gibt es auch per Decoder.

Selbstsicher schlendert er an einem der Mädchen im Glitter vorbei. Lange Beine glitzern gekonnt, jede Bewegung synchron. Deng schaut nicht einmal hin. Personen zweiter Klasse. Seit jeher interessiert sich Deng nur für Leute, die ihn weiterbringen. Jeder Blick, jedes Dinner, jeder Schritt von Deng ist eine Investition, die sich auszahlen muss.

Die Kamera zeigt gespannte Augen des Publikums. Dabei ist das Studio leer. Wie immer. Die Aufnahmen stammen aus dem Archiv. Wie immer. Das gibt mehr Kontrolle, bei der Sendung. Keiner, der draußen darüber redet, was hier drinnen tatsächlich passiert.

Dengs Hand lässig in der Jacketttasche. Noch ein Schritt. Die Musik erreicht ihren Höhepunkt. Jetzt ist er da. Neben ihm glittert das überdimensionale Glücksrad den Zufall des Schicksals in die Welt.

Close-up: Deng
Blick.
Und los.

"Wie immer heißt die Devise: `Das Glücksrad zeigt mit seinem Bild, was es heut´ zu finden gilt.´ Wie immer kann das Gesuchte überall sein. Vielleicht in einer Grabkammer in Afrika, vielleicht bei Ihnen daheim in einer Schublade. Und jetzt die beste Nachricht: Der Finderlohn ist heute die einmalige, sagenhafte, noch niemals erreichte Summe von...."

Lichter flackern. Hörner blasen. Schnitt auf gespanntes Publikum

"...fünf Millionen Euro in Cash."

Close - up einer Zuschauerin. Ungläubigkeit schlägt in Begeisterung um.

Close-up Deng:

"Eins, zwei, drei, vier, fünf Millionen..."

Applaudierende Zuschauermassen. Paare nicken sich anerkennend zu. Eine Mutter erklärt ihrem Kind, wie viel das ist.

"Keine Fragen. Keine Steuer. Keine falsche Bewegung."

Deng macht eine Fingerpistole und schießt zum Spaß die Kamera. Im Studio erschallt lachen aus der Dose.

"Nur ein bisschen Zeitdruck. Einsendeschluss ist in zwei Tagen. Aber immerhin: zweieinhalb Millionen Euro pro Tag. Dafür schau´ ich sogar in die Schublade der Nachbarin."

Wieder erschallt eingespieltes Lachen. Dengs Sender operiert, der besseren Kontrolle wegen, mit einer Ausstrahlungsverzögerung von zwei Minuten. Sollte es unerwartet einen Amoklauf geben, kann dieser den Senderstatuten gemäß behandelt werden: das normale Programm läuft weiter, der Täter wird sofort gepfählt. Jedes Programm läuft nach Wunsch original, untertitelt oder synchronisiert. Von Asien bis Europa, von Südamerika bis Canada, von der Dürre Australiens bis in die indischen Sumpfgebiete, Deng ist überall.

Gewandt steht er am Glücksrad und dreht. Während die Kamera auf die glitzernde Nadel zoomt, rennt eine Maskenbildnerin zu Deng und tupft Ihm ein wenig Schweiß von der Stirn.

Im Regieraum halten Legionen von Reglern und Knöpfen eine Parade ab. Eine kundige Hand nähert sich einem von ihnen und dreht ihn nach links.

Am Glücksrad erwacht eine magnetische Bremse aus schuldigem Schlaf.

Weltweit halten Zuschauer den Atem an.

Das Glücksrad wird langsamer. Die magnetische Bremse lässt wieder locker. Dann stottert das Rad zu einer Windmühle, einem Teller mit einem Drachen, einer afrikanischen Maske, die Bremse zieht an, das Glücksrad verharrt, bleibt stehen, fest auf der Maske, robbt sich dann aber doch noch ein klein wenig vorwärts und rutscht mit einem letzten bisschen Schwung ganz knapp auf das Nachbarfeld. Komisch sieht das Bild aus. Zerbrochen. Alt.

"Das ist es: sieht aus wie der dritte Teil von einem größeren Amulett", schießt es Deng, ohne auf das Glücksrad zu sehen, aus dem Mund.

Im Regieraum geben die Finger den Knopf der Magnetbremse erst einmal frei.
Der Regisseur denkt kurz nach, ob der Dengs Patzer, mit dem „dritten Teil“ ausgestrahlt werden soll, oder ob er blockiert, Deng fragen läßt, was das ist, was man da sieht und kurze Zeit später ein Revuegirl mit Briefumschlag voll näheren Informationen zu Ihm kommen läßt. „Danke an die Regie“, könnte Deng dann sagen, loben wie gut alles organisiert ist. Da haut die Tonregie aber schon künstliches Staunen hinter Dengs Worte und plötzlich wirkt es, als ob Deng einfach nur gut analysieren könnte, was da auf dem Glücksrad bildfüllend zu sehen ist.

"Also, liebe Freunde, seht es Euch genau an", sagt Deng.

Der Regisseur gibt ein Zeichen die Adresse zum herunterladen des Bildes einzublenden. Dengs Maschine läuft. In den Zeitungsredaktionen wurden schon vor Stunden die Artikel für den größten Finderlohn aller Zeiten (mit Bild) rechtzeitig für die nächste Ausgabe fertig.

"Zwei Tage, fünf Millionen Euro, hey, ich glaube ich schau´ mich in der Werbepause mal gleich hier im Studio um."

Die Kamera zieht noch einmal im Close up auf das Amulett. Zu einem Drittel rund, zu zwei Drittel zackig. Uralte Runen zieren die Front.

Im Off gibt ein Assistent Fingerzeichen: Drei, zwei, eins, dann kommt eine Halsschneide-Geste und Deng ist off air.

"Welche Sau steuert das scheiß Rad", brüllt Deng

"Ist doch alles gut gegangen", hämmert eine Blechstimme aus der Technik.

Deng rast vom Studio in den Abschminkraum. Idioten, alle.

"Nach der Werbung gehen wir auf Konserve."

Beflissen reißt einer der Leute für Deng die Türe zur seiner Garderobe auf.

"Bloddy Marry", ordert Deng und knallt der Meute die Türe vors Gesicht.

Sofort reicht Ihm Sodom ein Glas mit Wodka und Blut.

"Warum siehst Du nicht einfach nach, wo die anderen Teile sind?", fragt Gomorra und schaut im Videoschirm auf Ihre Augenbrauen, während sie eine Pinzette hervor zupft und hier und da ein paar Haare entfernt.

"Die drei Amulette waren ehemals eins. Die einzelnen Stücke wirken nicht untereinander. Das Auge sieht alles, nur nicht die anderen Teile."

"Nach dieser Show hast Du Millionen von Augen die für dich sehen."

Sodom reicht Deng das blutige Glas.

"Hunderte von Millionen", korrigiert Deng und trinkt.


617.

Chirurgen sollen ja nach 60 Stunden Dauerarbeit immer noch relativ fehlerfrei arbeiten, obwohl sie vergessen, wie man ein Pizza wärmt. Ein geistiger Tunnelblick. Konzentration auf das wesentliche.
Für Tricia dauert der Tag zwar erst 18 Stunden, aber obwohl sie in beiden Nächten zuvor, für ihre Verhältnisse, so gut wie gar nicht geschlafen hat, ist sie rundherum topfit. Nur, dass bei ihr die Gedanken eher abschweifen. Geistiger Tundrablick. Im Vordergrund das Vortanzen, die Bewegung, Arme, Kopf, Sprung, ein guter Sprung, positiv denken, ein guter, einfacher Sprung, scheißschwer, positiv bleiben, die neuen Outfits in der Tasche. Gut. Perfekt vorbereitet, eng an der Haut, auch in den Gelenken und am gebogenen Rücken, dann Yuan, sehr süß, sehr speziell, werde heute auch wenig schlafen, seine Augen, seine Art sich zu bewegen, zu sprechen, was für ein Zufall, ihn wieder auf zu Treffen, was ist überhaupt Zufall? Paul kommt ins Bild, meint, es gibt keinen Zufall, sondern nur statistisch mehr oder weniger häufig auftretenden Ereignisse, Fathim erscheint, schwebt über Boden, zieht an einer Wasserpfeife und nennt es Vorsehung, Vorsehung, die ein Ziel hat, einen Weg weist, den man geht, oder nicht geht, aber immer wird man dieses Ziel erreichen, weil alle Wege zu diesem Ziel führen und wenn man nichts tut , kommt das Ziel zu dir, ganz egal was Du tust.
Tricia selbst geht über die Tundra und fragt Fathim durch seinen Rauch, was der Mist soll, mit: ich bin die Richtige, muss er aber noch mal genau prüfen, na, ja , mach mal. Dopekopf. Plötzlich ein Feld voller Köpfe, zerschossen, blutig, die Hälse, die Straße, Massaker. Die Polizei hat alles aufgenommen. Die Berichte sind geschrieben und abgelegt. Es geht alles seinen ordentlichen Gang. Sie bräuchte sich da nicht näher kümmern. Als ob es bei so etwas einen ordentlichen Gang gebe. Hinten Beau mit ihrer Freundin beim Fernsehen (wenn das mit Beau nicht klappt, könnte Fathim vielleicht mit dieser Freundin, obwohl, die passen vielleicht nicht so gut ....) ohne Originalmaterial, sagte die Freundin, ist das für uns uninteressant. Außerdem ist im Zoo ein Elefantenbaby geboren. Das bringt eine bessere Quote.
Plötzlich ist die Weite der Tundra weg. Tricia steht auf Straße und wartet auf die Straßenbahn.
Nach dem Vortanzen wird sich Tricia mehr in die Sache reinhängen. Das kann doch nicht sein. Da muss es doch Familie geben, die interessiert ist. Vielleicht gemeinsam was auf die Beine stellen. Gerechtigkeit suchen. Oder zumindest Öffentlichkeit.

Ihr Blick geht die Straße hinunter. Leer Gleise. Bereit für die Straßenbahn, bereit, liegen sie am kalten Boden, bereit, für alles, aber nichts kommt. Was können sie mehr tun, als warten?

An der Haltestelle küssen sich zwei. Kalte Ohren, warmer Mund. Ob sie Yuan küssen wird, heute nacht?


Wie Silhouetten säumen die Bäume die gelblich beleuchteten Straße. Die eine Seite noch weiß vom Schnee mit dunklem Rand, da wo der Schnee schon abgefallen ist. Wie Scherenschnitte. Romantisch.

Sonst nichts.

Draußen steht eine Frau am Rinnstein und raucht. Während der Hund wartet bis sie fertig ist, nutzt er die Zeit und scheißt. Kaum landet ihre Kippe im Schnee, zieht er sie an der Leine davon.

Tricia zieht die Kälte in die Lungen.

Dann endlich ein Licht.

Kleine Funken blitzen an der Fahrleitung als die Strassenbahn langsam um die Kurve quietscht. Die Fahrgäste wie Fische in einem Aquarium. Das Aquarium hält. Tricia schwimmt hinein. Leere Bänke, leere Gesichter. Tricia greift zur Stange und dreht sich an ihr wie ein Kind. Sie hätte gern ein Kind. Spätestens bevor sie 30 ist. Aber eigentlich schon lieber jetzt. Nur was ist dann mit dem Tanzen? Kinder und Küche, das geht, Kinder und Kunst, das geht nicht.


"Museumsquartier", blubbert die Durchsage.

Tricia schwimmt raus. Die Tasche über der Schulter, stampft sie an dem langen Gebäude entlang. Senkrechte Lichter stehen wie Zinnsoldaten. Sie biegt in den Innenhof, MUMOK, Kunsthalle, Sammlung Ludwig, Zoom, rüber über die Mariahilferstrasse, die Treppen runter, unten schon das Feuer vor der Türe, gezähmte in tiefen Schalen, kontrolliert aber dennoch wild, gefährlich, anziehend, wie ein Raubtier hinter Gittern.

Im Aux Gazelle ist Garderobenzwang.

„Geldmacherei“, denkt Tricia und sagt: "Danke, ich halte die Jacke lieber an."

"Die Tasche , bitte", sagt die Frau hinter dem Tischchen.

Tricia reicht rüber. Die Tasche verschwindet mit der Frau irgendwo hinten, in dem dunklen Nichtbereich der schmalen Garderobe, die früher wohl einfach ein Durchgang war, damals als das hier noch eine Galerie war. Jetzt steht hier ein Kunstwerk aus Matelstöcken, Schals, Schirmen und irgendwo im Unterholz nistet sich Tricias Tasche ein. Living Art, nennt man das wohl, und Tricia bekommt als Dankeschön für ihren Beitrag eine gelben Zettel mit schwarzer Nummer.

"5 Euro."

"Scheisse", denkt Tricia und zahlt.

"Schönen Abend."

Dunkel ist es. Kleines Licht aus kleinen Lampen. Vom Club her wiegt sich ein wenig Musik in der Luft.

Tricia schlendert durch das Kaffee ins Restaurant. Pärchen, Geschäftsleute, eine Gruppe von Werbern an einem längeren Tisch. Yuan ist noch nicht da. Tricia weiss auch nicht warum, sie ist absichtlich ein wenig zu spät, hoffte auf einen vorbereiteten Tisch, hoffte auf einen kleinen , romantischen Tisch mit Ihm, schaut sich um, denkt, dass sie alle anstarren, ihre Jacke, warum hat sie die Jacke nicht einfach mit eingecheckt? will die Jacke rechtfertigen, tut geschäftig, und rettet sich eilig zur Bar.

Als der Barmann bemerkt, dass sie nur untertauchen will, nur nichts bestellen, alles viel zu teuer, kommt schneller als sonst. Steht da. Wartet. Tricia öffnet die Zuckerdose auf der Theke und schaut in die kleine Landschaft aus Schnee.

"Bitte", unterbricht der Barmann.

"Ich, äh, die Karte."

Der Barmann greift blitzschnell unter die Theke und zaubert die Karte hervor. Jetzt liegt sie da. Wie gewünscht. Der Barman bleibt stehen.

Tricia will ablegen, fühlt sich beobachtet, blättert. Der Barmann schaut zu. Getränke mit Rum sind teuer. Getränke mit Gin sind teuer. Getränke mit Vodka sind teuer. Cocktails sind teuer. Softdrinks sind teuer. Wein, nur Flaschenweise, auch 1/2 Flaschen, im Glas nur Süssweine oder Port, teuer, Bier will Tricia nicht, Sekt wäre eine Idee.

"Sekt."

"Champagner finden Sie gleich hier", sagt der Barmann und platzt mit seiner Hand über die Theke, mitten in Tricias Karte. Er zeigt mit dem kleinen Finger, Nagel nach unten, 5, 6, 7 Zeilen französisch, 0,1 Liter ab 12 Euro 50.

"Ich hätte gerne..."

"... einen wunderschönen Abend", haucht es von hinten ins Ohr, "Die Daiquiris sind gut."

Yuan. Dunkeler Anzug, dunkles Hemd, dunkle Krawatte.

"Wow", sagt Tricia, "ich meine, ja, gerne, Daiquiri, ich habe mich gar nicht so schön gemacht."

"Oh, doch", meint Yuan und nimmt ihr die Jacke ab. Gewandt legt er sie auf den Hocker neben sich, bleibt stehen, ganz nah bei Tricia, die lächelt, zur Seite blickt, zur Bar, da wo vorhin noch der Keeper stand und jetzt nicht einmal mehr seine Persönlichkeit hängt. Nur endlosen Reihe von Flaschen im Regal, und dahinter, statt der Barspiegel, die sonst immer den Alkoholvorrat verdoppeln, schweres, dunkles Holz. Überhaupt ist alles sehr dunkel hier.

"Immer, wenn man bestellen will, ist keiner mehr da", schmunzelt Tricia, als von der Seite zwei kristallene Gläser Daiquiri auf die Bar gestellt werden.

"Auf einen netten Zufall", sagt Yuan und hebt sein Glas.

"Auf einen netten Zufall."

Der Daiquiri ist süss und sanft.

"Du kommst gerade vom Tanzen?", fragt Yuan

"Ich , äh, ja, es gibt da so ein Vortanzen, aber, hey, wow...", sagt Tricia, und fragt sich vorher er das weis.

"Wollen wir was essen?"

"Oh, ja, ich sterbe... aber, die Drinks..."

"Wir hätten die Drinks dann gerne im Restaurant."

Dezent leuchtende Wände wechseln langsam und zart ihre Farben, marokkanische Muster, Kakteen hinter dem Fenster, das so schwach beleuchtet ist, das die Pflanzen nur Umrisse formen. Bizarr, stachelig, fremd und sexy.

Hinten gibt es ein türkisches Bad, das man -angeblich- komplett mieten kann. Geschäfte machen Deals auf dem Massagetisch, verhandeln im Dampf, Verträge auf niedrigen Tischen mit runden Sitzkissen. Die OPEC soll hier ein und aus gehen. Und die Medien. Und eh jeder, der auf sich zählt. Tricia war noch nie da.

Auf der Speisekarte nur drei lange Menüs. Eines mit Fleisch. Eines mit Fisch. Eines Vegetarisch. Yuan nimmt mongolisches Kamelfleisch. Tricia das Vegetarische.

Der Daiquiri muss stark sein. Tricia fällt in Yuans Augen, sinkt tiefer und tiefer in den dunklen Kratersee seiner Pupillen, taucht dort nach Schätzen, findet schlanke, sanfte Hände, lange Finger, hohe Wangen, weiche, sinnliche Lippen. Gerade kommt sie wieder hoch, da sind die Kellner schon da, zeigen Weinflaschen, entkorken, lassen Yuan probieren. Tricia beobachtet wie sich seine zarten Lippen sanft an das Glas schmiegen, vorsichtig den roten Wein kosten, fast zaghaft, dann fahren, wie in Zeitlupe, die Augenlieder herab, Wimpern auf Wimpern, die Nase öffnet sich ein wenig, das Spiel der Lippen, wie kleinen Wellen auf einem Sommersee. Yuan nickt. Es wird eingeschenkt.

"Dankeschön für die Einladung", sagt Tricia.

"Ich habe zu Danken."

Der Wein ist ausgezeichnet, verführt die Nase, liebkost Zunge und Gaumen, erinnert die Seele an einen weiten, freien Sommertag, Wiese, Wald, ein leichter Hang voller Blumen.

"Wenn man einander zweimal trifft, in so kurzer Zeit, ich glaube, das Schicksal will uns was sagen."

"Vielleicht, dass ich nicht so oft zur Toilette gehen sollte", sagt Tricia, merkt , wie blöd das war, fühlt wie Alkohol und Nervosität Ihren Geist bedrängt und sucht einen Satz, wie sie jetzt da wieder raus kommt.

"Ich meine, wir hätten uns dann ja sicher auch woanders getroffen, irgendwo netter."

"Hier zum Beispiel", sagt Yuan und rettet Tricia aus der Peinlichkeit.

"Hier zum Beispiel", sagt Tricia und lächelt, "danke."

"Mist" denkt Tricia, "Warum hab ich schon wieder danke gesagt. Zu viel. Sag weniger, trink weniger. Sei langsam. Lass ihn reden. Höre zu. Sei charmant. Distanziert. Zeige dich von deiner besten Seite. Rede über Kultur. Kunst. Tanz."

"Ich bin verknackt worden“ sagt Tricia, „Schnellrichter. Wegen Störung der öffentlichen Ordnung. 30 Stunden rotes Kreuz. Der Hammer."

"Ich dachte, Du interessierst Dich für Blut."

"Bitteschön", sagen zwei Ober gleichzeitig und stellen je eine rote Skulptur auf den Tisch. Wir unfertige Vasen auf einer Töpferscheibe, sehen sie aus, unten und oben bauchig, in der Mitte ganz schmal. Oben ist jeweils ein kleiner Griff, wie der Stiel eines Apfels. Yuan zieht an dem Stiel und legt den Deckel neben sich auf das rote Tischtuch. Unter dem Deckel ist ein kleines Schälchen in das Gefäss eingearbeitet, aussen rot, innen schwarz, und mitten drin liegt eine aufgefächerte Gurke umrandet von etwas Salat aus Seetang. Tricia macht es ihm nach und entdeckt eine Blume aus gelbem und rotem, eingelegtem Paprika.

"Wow, ist das schön."

Tricia hebt ein Schälchen nach dem anderen aus der Skulptur, bis der ganze Tisch voll ist.

"Diese Gefässe kommen ursprünglich aus Japan", sagt Yuan, "Sie wurden traditionell zur Hochzeit bedeutender Personen speziell angefertigt und nur einmal benutzt."

"Meine Eltern sind nicht mal verheiratet", sagt Tricia.

"Meine auch nicht." Yuan hebt sein Glas.

"Auf unverheiratete Eltern."

"Auf unverheiratete Eltern", sagt Tricia, greift das Weinglas und trinkt.

"Meine Mutter lehnt es ab, dass ich tanze. Sie denkt, dass alle Tänzer sexuell überstimuliert sind und es die ganze Zeit immer nur miteinander treiben. So ein Quatsch. Beau, Paul und ich. Wir sind Freunde. Aber schlafen wir deshalb zusammen? Sie hat echt keine Ahnung."

"Mein Vater ist auch nicht von dieser Welt."

"Ich meine, wie lange bleibt man Kind? Irgendwann muss man ja aufhören mit dem ewigen Rechtfertigen und einfach tun was man will."

"Oder für richtig hält."

"Auf das, was man für richtig hält", prostet Tricia.

"Auf das, was man für richtig hält", antwortet Yuan.

"Läuft ja super" denkt Tricia als sie den Wein nimmt, fühlt sich gut, fällt wieder in Yuan Augen, warm und tief. Der Wein ist wirklich sehr gut.

„Er mag mich“, denkt Tricia. Eine Inneres Lächeln macht sich breit und der Wunsch, Ihn mehr von ihr zu zeigen. Intimer zu werden. Aber charmant!, warnt ihr Überich, und verliert, wie immer.

"Also, nur für die Bücher, normalerweise gehe ich auf die Damentoilette, zur Damentoilette, ich möchte ja nicht zu grafisch sein, z-u-r Damentoilette und nicht übermässig oft. Also , ich meine, ich habe da nicht einen Tick oder ein Problem, oder so, es ist nur, hey, nirgendwo trennt man die Geschlechter, Sauna, Schule, Sport ... O.K. im Gefängnis, Krankenhaus? egal, mein Punkt ist: ich bin völlig normal."

"Hallo, mein Liebling."

Tricia, hört die Worte, viel zu nah neben sich, dreht sich um und glaubt ihren Augen nicht. Schwarz vom Scheitel bis zu Sohle, dunkler Glitter den gesamten langen Körper entlang, steht, Hände in den Hüften, provokativ, und absolut absolut die Tänzerin vom Podest direkt an ihrem Tisch. Ausgerecht die. Ausgerechnet jetzt. Tricia wird rot.

"Scheisse", denkt Tricia. Und dann noch einmal "Scheisse".

Yuan bemüht sich ruhig zu bleiben. Er scheint noch viel überraschter als Tricia, bleibt aber entspannt genug, um die Situation herunter zu spielen und die Peinlichkeit mit Höflichkeit zu attackieren.

"Tricia das Sodom. Sodom das ist Tricia."

Sodom küsst Yuan auf die Wange. Tricia versinkt in ihrem Stuhl, zwingt sich zumindest körperlich gerade sitzen zu bleiben, trennt Körper und Geist, schaut vorsichtig auf die Situation und bemerkt, dass Yuan beim Kuss sich leicht weg dreht.

"Seit wann triffst Du Dich mit solchen...", zischt Sodom Yuan ins Ohr.

"Ich geh dann wohl besser." Tricia faltet Ihre Serviette vom Schoss.

"Du bleibst brav hier", sagt jemand hinter ihr und drückt sie an der Schulter zurück in den Stuhl. Es ist die Gomorra. Die zweite Tänzerin.

Tricia schaut zu Yuan, der an Tricia vorbei zur Tür schaut.

"Ich brauch das nicht", denkt Tricia und will aufstehen. Die Hand auf ihrer Schulter erhöht ihren Druck, Tricias Beine verstärken ihre Kraft, das Gewicht der Hand wächst ins Unermessliche, Tricia sackt zurück in den Stuhl. "Scheisse", denkt Tricia zum dritten mal, "Warum passiert sowas immer nur mir".

Yuan schaut noch immer an ihr vorbei, blickt direkt zur Tür, als ob da ein Geist stünde. "Warum hilft er mir nicht? So eine Kacke. Wie kann man auch nur so blöd sein und sich auf einer Herrentoilette zum Dinner einladen lassen. Selbst schuld. Dabei ist er eigentlich ganz nett."

"Mein Sohn glaubt wohl, wenn die ganze Welt das sucht, was ich ihn bat für mich zu finden, kann er sich tatenlos zurücklehnen und gemütlich dinieren."

"Vater, ich..."

"Für wie blind hältst Du mich eigentlich? Glaubst Du ich weis nicht, wo Du bist, was Du tust?"

Die Worte kommen näher nun fühlt sie ihn, spürt den Luftzug der Bewegung und die Aura einer uralten Macht, die die ihre verdrängt und nur noch Platz lässt für sich.

Die anderen Gäste begutachten mehr oder weniger unauffällig den Tisch mit Yuan und Tricia: zwei sitzende Gäste umringt von drei stehenden Personen. Schwere Arme auf unfreiwillig niedergedrückten Schultern. Hände in Lederhandschuhen mit drohendem Finger. Die männlichen Gäste wägen aus sicherem Abstand ab, wie lange dieser Abstand wohl sicher bleibt, schauen nach Notausgängen, werden etwas nervös. Die Damen fühlen sich unwohl, spüren die Spannung, wollen gern gehen. Irgend jemand der Werber sagt Mafia, dann Yakuza und schliesslich Triad., bei den Chinesen heisst das Triad. Jemand am Nebentisch möchte zahlen.

Deng neigt seinen Kopf nach vorn, wie ein Stier in der Arena. Die Luft im Raum wird kälter. Es fällt schwer zu atmen. Deng steht da wie ein Monolith, dunkel und gross, und plötzlich hören alle seine Worte. Tief im inneren schwingen sie, als ob die eigenen Organe sie sprächen. Dengs Lippen bleiben verschlossen, aber seine Worte sind so laut, das irgendwo aus Angst ein Glas zu Boden fällt und auf dem kalten Stein zersplittert.

"Glaubst Du ich sehe es nicht?", fragt Deng mit donnernder Stimme, ohne den Mund zu öffnen. Kerzen beginnen zu flackern. Verlöschen. Sind tot.

Tricia schleudert den Kopf zu Deng. Der Tisch mit den Werbern ist leer, bis auf ein Bündel Geld.

"Und was ist das für eine ... Person?", brüllt Deng.

Die restlichen Gäste verlassen den Saal. Servietten landen auf halbvollen Tellern. Weingläser werden wie Schnäpse gekippt. Einige Männer werfen Visitenkarten auf die verlassene Tafel.

"Du hintergehst mich wegen ... so was?", knurrt Deng und stützt sich mit beiden Händen bedrohlich auf den mit Schälchen übersäten Tisch. Ein Wasserglas stürzt, reisst das Weinglas gleich mit. Dengs Augen bohren sich in Yuan, Tricia hört ein archaisches Knurren, nicht mit den Ohren, hört sie, nur mit dem Herzen. Dann duckt sich, duckt sich schneller als die Hand auf ihrer Schulter, schiesst zur Seite, stösst den Stuhl zu Boden, sich selbst in die Freiheit, greift, völlig dumm in so einer Situation noch zur Jacke und rennt, rennt, rennt, nichts wie weg. Yuans Körper will mit, doch Sodom drückt ihn fest auf seinen Platz.

"Finde das Amulett", befiehlt Deng, "Los, steh auf, such, mein Sohn, such..."

Tricia rast auf die Strasse, weint, ist in Schock, nichts als Wind und Nacht. "Polizei", denkt Tricia, "oder zumindest ein Taxi. Notruf. Warum habe ich kein Handy? Verdammt!"

Das Restaurantist menschenleer. Kein Gast. Kein Kellner. Nur die Dochte der Kerzen spucken immer noch schwarzen Rauch in die Höhe.

"Du suchst nur Hass", flüstert Yuan in Richtung seines Vaters. Dann hebt er gelassen Sodoms Hand von seiner Schulter und geht durch den weiten Raum.

"Ich versuche uns zu retten. Uns alle!", ruft Deng.

Yuan dreht sich nicht einmal um.

"Wenn Du jetzt gehst, bist Du nicht mehr mein Sohn."

Dengs Schatten frisst jeden Tisch, Teller, Stuhl
Dengs Haar weht im eisigen Wind
Dengs Zorn umspült Yuan, wie ein tosender Fluss
Dengs Herz verstösst lieblos sein Kind


"Entscheide dich zu wem Du stehst", donnert die Stimme Dengs. Und dann fragt er die letzte Frage, die Frage nach er es kein zurück mehr gibt.

"Stehst Du zu Deines Gleichen?"


Dengs Sohn verlässt Vater und Heimat und Hof
Dengs Sohn geht mit festforschem Schritt
Dengs Sohn wählt die Liebe, die Freiheit, den Tod
Dengs Herz bricht und Yuans bricht mit


-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.-.

Von Nathan.Combs@intelli.gov
Datum 20. Februar 2002, 21:36
An gregor.hagasan@bitenet.com
Betreff Kalender

Hallo Gregor,

hier die von Dir gewünschten Infos zum Kalenderthema.

Ich hoffe damit geholfen zu haben.

N.


Die Kalenderrechnung unterliegt einer Vielzahl von historischen Einflüssen und ist bis zum heutigen Tage eine willkürliche. Im Groben unterscheidet man Kalendarien nach Himmelskörperorientierung und Zeitrechnungsbeginn.

Kalendarien mit Zeitrechnungsbeginn, haben als Anfangspunkte ihrer Zeitrechnung recht unterschiedliche Eckdaten, wie den Beginn einer Dynastie, die Gründung einer Stadt, oder die Erschaffung der Erde.

Bei der Himmelskörperorientierung gibt es prinzipiell die Mond und die
Sonnenorientierung.

Islamische, jüdische, hinduistische und der buddhistische Kalender rechnen nach dem Mond.

Das Jahr wird dabei in 12 Monate unterteilt, die jedoch von den modernen, westlichen Monaten verschieden sind, jeweils zu Neumond beginnen und entweder 29 oder 30 Tage dauern. 7 mal innerhalb von 19 Jahren wird ein doppelter Monat, gleichsam des jüdischen "Zweiten Adar", eingefügt, der auch unter dem Namen "Blauer Mond" bekannt ist.

Der christliche und der chinesische Kalender bedienen sich dagegen der
Sonnenorientierung.

Im chinesischen Kalender beginnt das Jahr astrologisch korrekt, genau in der Mitte zwischen dem niedrigsten und dem höchsten Punkt der Sonne. Der Jahresbeginn des chinesischen Kalenders findet somit an unterschiedlichen Kalendertagen statt, meist Anfang Februar.

Der Beginn des westliche Jahres ist dagegen immer konstant am 1. Januar. Dieser Umstand geht auf Julius Caesar zurück, der bei der Einführung seiner Kalenderrechnung, dem Senat, der jeweils zum
1. Januar sein fiskales Jahr begann, politisch ein Eingeständnis machte und den Jahresbeginn auf dieses Datum fixierte.

Die traditionelle Zeitrechnung Roms begann "ab urbe condita" (a.u.c.), also nach Gründung der Stadt (Rom). Diese Zeitrechung hielt bis zur Eroberung Ägyptens im Jahre 48 v. Chr. , als sich Caesar mit dem alexandrinischen Astronomen Sosigenes beriet, um ein neues Kalendarium zu erarbeiten, das den Anforderungen seines wachsenden Reiches Rechnung trüge. Im Jahre 709 a.u.c. (46 v.Chr.) führte Caesar seinen "Julianischen Kalender" ein, der sich seinerseits an dem "Alexandrinischen Kalender" von Aristarchus orientierte.
Die Umstellung der Zeitrechnung funktionierte nur holprig. So hielten in den Jahren von 43 v.Chr. bis wahrscheinlich 8 n.Chr. die römischen Kalenderbeauftragten versehentlich alle 3 Jahre ein Wechseljahr ab (statt wie vorgesehen alle 4), was bis in die heutige Zeit grössere Verwirrung bei der genauen Bestimmung zahlreicher historischer Daten mit sich bringt.

Im Jahre 527 wurde von Dionysius Exiguus, die Bezeichnung AD (Anno Domini, Jahr des Herrn) eingeführt. Dionysius Exiguus errechnete an Hand unzureichender Aufzeichnungen, dass Jesus am 25. März 754 a.u.c. empfangen und 9 Monate später geboren wurde. Er definierte somit das Jahr 754 a.u.c. als das Jahr 1 AD. Die Berechnungsfehler von Dionysius Exiguus belaufen sich nach heutigen Schätzungen im günstigsten Falle auf nur 4 Jahre, inklusive des Fehlers mit 1 statt mit 0 zu beginnen. Im ungünstigsten Fall kann dieser Fehler jedoch wesentlich grösser sein, einige Stimmen sprechen von bis zu 20 Jahren.
Der Wechsel von a.u.c. auf A.D. stellt damit seit dem Jahre 527 eine zusätzliche Unschärfe in der exakten Datierung historischer Ereignisse da.

Wegen Ungenauigkeiten in der Berechnung der Laufbahn der Sonne, addierte sich des weiteren der Unterschied zwischen dem julianischen Kalender und den tatsächlichen Jahreszeiten im 16. Jahrhundert auf volle 10 Tage. Diese Differenz wurde von Papst Gregor XIII behoben, der auf den 4. Oktober 1582 direkt den 15. Oktober 1582 folgen liess. Der "Gregorianische Kalender" wurde zuerst nur von katholischen Ländern angenommen. Italien, Spanien, Portugal und Teile Polens begannen sofort, also am 4./15. Oktober1582, mit der neuen Zeitrechnung. In den kommenden Jahren folgten zahlreiche Bistümer, Herzogtümer und Markgrafschaften, bis am 18. Februar/1. März 1700 das evangelische Deutschland, Dänemark und Norwegen folgte. Die komplette Einigung Europas unter den gregorianischen Kalender kam in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts zustande. Konkret folgten 1913 Albanien, 1916 Bulgarien, 1918 Russland, 1919 Jugoslawien, 1923 Griechenland, 1924 Rumänien und 1927 die Türkei.

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618.

Der Rauch kratzt ein wenig, trotz der Süße. Fathim hält ihn tief und lange in Lunge, läßt dem Blut genug Zeit das THC aufzunehmen und gemächlich zum Hirn zu bringen. Friede von der drohenden Gefahr. Ruhe um ohne Hast nachzuschauen, ob Tricia die Auserwählte sein könnte.

An der Tankstelle unten im Haus kaufen die Junkies nachts ihre Süssigkeiten. Hagere Figuren in Lederjacken mit Kleingeld in der viel zu engen Jeans. Neben der Tankstelle ist ein Kino "Nur für Erwachsene" . Das einzige Pornokino der Stadt in dem man kein Sperma riecht, sondern Benzin. Schüler und Rentner onanieren gemeinsam zu Filmen ohne Anfang.

Username: SOS
Password: ekudo 26

Fathim lockt ein.

SOS steht für save our souls.

Ekudo steht für: Erneuter Kampf um die Oberherrschaft. 26 bezieht sich auf die erste überlieferte Teilung des Amuletts vor 17.316 Jahren, was den Zyklus der Macht nun somit zum sechsundzwanzigsten mal erneuert.

Der Computer bitte nach Freigabe um einen Retinascan.

Die alten Aufzeichnungen berichten nicht, ob das Amulett nach der Teilung jemals als Ganzes gehalten wurde. Auch lässt sich keine Quelle finden, die die Welt nicht in die bekannten drei Sphären von Himmel, Hölle und Erde teilen würde. "Drei Sphären der Welt für drei Teile der Macht."

Fathim tippt Tricias Namen in das schwarz umrandete Feld.

Es gibt Stimmen, die behaupten, es sei das Amulett, das die Welt ordne.
Stimmen die sagen, dass es die drei Spähren nur dann gebe, wenn auch das Amulett dreigeteilt sei.

Fathim drückt return. Der Rechner legt los.

Nur archaische Wesen können das Amulett halten, ohne schon nach wenigen Tagen von seiner Macht vernichtet zu werden. "Altes zu Altem", warnte Fathims Lehrer, als er ihm die geheimen Bücher zeigte.

Tricias Blutlinie wird schon ab dem Jahr 1561 unscharf und teilt sich, wegen unklarer Vaterschaft eines ihrer Vorfahren, zusätzlich in zwei unterschiedliche Wege, deren Wahrscheinlichkeit vom Computer mit 20 zum 80 bewertet wird.

Mit 3 Jahren wurde Fathim in die verbotenen Berge gebracht, wo er von den Ältesten die Lehre erfuhr. Zwölf Sommer, zwölf Winter, abgeschlossen von der Welt, noch heute, und nicht wie die so lange verborgenen Klöster des Dalai Lama, die gerade jetzt, auf der letzten Strecke des alten Zyklus, der vor 666 Jahren die jetzige Weltordnung begründete, felsenfest, unantastbar, bis sich das Tor wieder öffnet, gerade jetzt also entdeckt wurden, an die Öffentlichkeit gelangten, und nun - was sollen sie tun? - Fernsehteams einladen und Touristen beherbergen. Nur drei Klöster hat es gegen. Das erste ging unter als die Maori unter gingen. Dann fiel Tibet. Jetzt bleibt nur er. Der zwölfte Schüler. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

1214 kommt die zweite unklare Gabelung in Tricias Blut, diesmal mit einer Wahrscheinlichkeit von 65 zu 35. 70 Jahre früher gabelt sich der unwahrscheinlichere Strang von 1561 mit 70 zu 30. Die Menschheit war in diesem Zyklus in die Hölle verband, die Teufel regierten die Erde, Folter und Not, die dunklen Jahre, tiefes Grauen, überall.

Fathim steht auf und geht zu dem Buch mit Dope. Er nimmt noch einmal Block schwarzen Afghanen aus den in der Mitte zerschnittenen Seiten.

Die vier Blutlinien zweigen sich 864 mit 80 zu 20, 942 mit 75 zu 25, 792 mit 90 zu 10 und schon 1001 mit 60 zu 40. Die anderen Erblinien sind eindeutig, jeweils mit unangezweifelten Eltern.

Die Hitze der Flamme erweicht das Haschisch. Fathims kleines Zimmer füllt sich wieder mit der Erinnerung an die kahlen Berge seiner Jugend, an den tiefblauen See, so nah an den Wolken, dass Fremde kaum laufen konnten, in der dünnen Luft.

Im Jahre 226, teilt sich Tricias Stammbaum bei einem der Stämme zum ersten mal in drei unterschiedlich wahrscheinliche Arme, die, in sekundenschnellem Vergleich von über sechshundertfünfzigmillionen Möglichkeiten, mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von 50 zu 40 zu 10 beziffert werden.

Fathim hört die Stimmen der Indios, die mit schwarzen Zähnen über ihn reden, über seine ach so dunkle Haut, die es schwer machen wird ihn zu verstecken vor Denen, die kommen werden, um ihn und seines Gleichen zu finden und zu töten.

Christi Geburt läuft in jeder der wahrscheinlichen Familien der Vorfahren Tricias ohne grössere, sexuelle Abenteuer ab.

Ein möglicher Arm teilt sich 576 v.Chr. in 5 Wege. Sehr ungenau mit 25 zu 25, zu 10, zu 20, zu 30. Jetzt leben die Götter auf der Erde. Genau wie zur Zeit der Pyramide. Die Menschen im Himmel. Ein kurzes Paradies, dass erst zur Zeit der Pharaonen wieder erreicht wird.

Fathim wird ein wenig schwindlig und er überlegt, was er macht, wenn Tricia tatsächlich die Auserwählte sein könnte.

Mittlerweile werden die Festplatten von fast 56.000 Computern genutzt, um die exponentiell wachsende Aufgabe zu meistern.

Die Vergangenheit Tricias wird fünfstellig.

Fathim zwingt den Schirm vor seinen Augen in die Schärfe.

Einer der Äste scheint noch immer auf dem richtigen Weg, zeigt noch immer hin zum Ursprung, hin zu den Stämmen Ariwas, die sich einst mit den Gefolgsmännern Joshuas in den Kampf um das Amulett warfen, die es einst mit erschaffen hatten, deren Blut vor all dieser Zeit Eins war, mit der uralten Macht.

Tricia mögliche Abstammung reicht jetzt über 14.000 Jahre zurück.

Fathim denkt an die Anweisungen seiner Lehrer, die magischen Riten, die Koka-induzierten Ekstasen, die ihm die Welt zeigten, wie sie wirklich ist, hinter dem Vorhang aus sichtbarem Licht, hörbarem Ton, messbarem Raum.

Fathim beschäftigt weltweit 1,4 Millionen Rechner. Er beginnt entspannt zu summen.

6,4 hoch 12 Gabelungen

2,9 hoch 13.

8,1 hoch 14. Stopp.

Fathim summt noch immer.

Ein kleiner, roter Pfad zweigt über Jahrtausende hinweg, über heimliche Geburten, Affären, Vergewaltigungen und Polygamie, über Verschleppung, Versklavung und Eroberung, Aussetzung totgewünschter Kinder und deren unwahrscheinliches Überleben, über Völkerwanderung, hinweg über Lust und Gewalt, Liebe und Hass, Zorn, Freude, Irrtum und ewige Treue von Tricia hin zu Ariwa.

"Oh, yeah", sagt Fathim und verwischt alle elektronischen Spuren.
619.

So eine Scheiße. Blöde Zicke. Und Yuan, Toilettenkontakt. Was soll da anderes rauskommen als Scheiße. Nie wieder wird sie mit ihm reden. So eine dumme Nummer, sich für den gleichen Abend mit ihm zu verabreden.
W-a-r-t-e , sagt Beau immer, und die hat sicher mehr Erfolg als sie.

Die Stadt weint filzigen Regen auf Tricia. Jetzt nur nicht mit weinen. Doch da schwellen schon erste warme Tränen hervor, vereinen sich mit
dem kalten Russ der Regentropfen zu einem grossen Meer des Schmerzes, einem Meer, dessen Ufer wachsen und wachsen bis an das Ende Stadt, des Landes, des Lebens groß, weit und allein.

Allein unter Neonreklamen, Bareingängen, lachenden Nachtschwärmern, hilflos allein.

Tricia zieht stumme Tränen in ihren Hals. Die Verzweiflung beisst in der Kehle und bringt einen neue Heulwelle mit sich. Tief hockt sie am Boden, so tief, so tief, so tief. Gehässiger Regen, der nicht einmal vom Alkohol abgehalten wird in Ihre Seele hinein zu drängen.

"Steig ein."

Neben ihr rollt ein dunkler BMW in den Stillstand.

"Tricia, bitte."

Yuan hängt mit feuchtem Gesicht aus dem Fenster. Tricias Wimpern tropfen ein Cocktail aus Tränen und Regen in die Kanalisation.

"Tricia, das ist alles ganz anders. Bitte."

In den Seiten der Augen verschwimmt Yuan im Auto. Unscharf. Ein einzelner Geist, der zu ihr kommt, jetzt wo sie so allein ist, wie der Tod, der kommt, wenn es Zeit ist zu gehen, wenn sonst schon alle weg sind, auf einer anderen Ebene, nur der Tod und man selbst, auch wenn man umringt ist von Freunden, Familie, auf jener anderen Ebene.

"Das hast du alles völlig falsch verstanden", haucht der Geist.

"Ich hab das falsch verstanden! Ich! Ich glaube, Du hast das alles falsch verstanden", brüllt Tricia in die Unschärfe.

"Es tut mir leid. Tricia, bitte. "

"Was fällt denen ein mich so anzumachen?"


Vaterlos, familienlos, freundlos sitzt Yuan auf geheiztem Leder. Am Handgelenk tickt die feine Mechanik einer automatischen Patek Phillip. Mit schwarze Noppen auf halbrundem Zifferblatt. Passend zum Straussenleder. In der alten Art der Hofgarden ehrwürdig eingeschlagen in ein blutrotes Tuch lag sie bei ihm in der Klinik im Postkasten. Eine Trophäe. Früher überbrachte man so den Kopf des Feindes.

Yuan fühlt den Regen und macht die versöhnende Beifahrertür auf. Tricia wird vom Licht getroffen, steht auf und geht weiter, tief in den Regen. Dann dreht sie sich doch zu ihm. Schwer beladen vom Wasser und vom Gefühl, dass nur langsam abtropft.

"Hab ich irgendwas? Hab ich irgendwas gesagt? Irgendwas getan?"

Blicke unter vertropften Wimpern. Maskera rinnt. Alles im Eimer, „im Kübel“ wie man hier sagt.

Yuan ist nass wie ein Hund, obwohl er im Auto sitzt, neben ihr, Schrittempo, mit noch immer offener Türe.

"Das ist, die..., ich..."

"Und wie behandeln die Dich eigentlich? Als ob du ihr Arsch wärst!"

Tricia bleibt stehen. Yuan drückt die Tür weiter auf, weil sie von der Fahrt immer leicht zugekippt, als ob es Wesen wäre geschlossen zu sein, immer nur kurz zu öffnen, nur mit dem richtigen Code, dann fest versiegelt, verschlossen, zu.

"Tricia. Komm. Bitte."

"Was soll das alles! Ich hab gedacht, die manchen dich fertig. Ich war schon halb bei der Polizei, wenn ich nicht so ..."

"Steig erst mal ein..."

Wohin? Nass. Kalt. Allein. Tricia zieht die Nase hoch, versucht zu lächeln, macht den Schritt zu Yuan, patscht einmal noch in den Rinnstein, auch egal. Der Sitz ist geheizt. Der Rest vom Auto auch. Es riecht nach Leder und Holz.

"Hier", sagt Yuan und hält ihr ein Taschentuch hin.

Tricia nimmt an.

"Das ist alles sehr kompliziert", sagt Yuan ohne loszufahren.

"Ist mir gar nicht aufgefallen", sagt Tricia und ist fast schon wieder sauer, dass sie überhaupt eingestiegen ist.

"Mein Vater, weißt Du, also..."

"Und was macht diese Frau da! Drückt mich in den Stuhl, als ob ich ein Häftling wäre."

"Sodom, was für ein Name. Ich scheiss drauf. Scheiße", sagt Tricia, und denkt, dass sie alles kaputt gemacht hat. Wie immer. Wie immer und immer und immer. Warum hätte es diesmal auch anders sein sollen?

Yuans dreht den Kopf hält auf halben Weg inne.

"Wir haben ein Problem", sagt Yuan.

"Das glaub´ ich auch." Tricia will raus.

Yuan packt das Lenkrad, rammt den rechten Fuß hart auf das Gaspedal. Der Wagen springt mit aller Kraft den Asphalt der Straße an. Wie einen Tritt, schlägt es Tricia zurück in den Sitz. Vollgas. Erschrocken schaut sie zu Yuan, irgendwo leuchten kleine Lämpchen ihre Warnung dumm vor sich hin, werden ignoriert, machen nichts, als leuchten, als der Wagen um die Kruve wirbelt, Kontakt zur Fahrbahn verliehrt, dreht, dreht, dreht, und schließlich doch wieder nach vor donnert. Yuan blickt
streng nach vorn, dann in den Spiegel. Er hat ihren Gurt eingeklickt, wann hat er das denn gemacht?, reisst das Steuer wieder zur Seite prescht die Straße hinab, 90, 100, 110, gibt weiter Gas, wie geisteskrank.

Tricia, starr vor Schreck, macht nichts, als sich festzuhalten, will ihn zur Vernunft bringen, weiß aber nicht wie und schlägt ihm, was soll sie auch sonst tun?, mit aller Kraft ins Gesicht.

Yuan schleudert bei Rot auf den Ring. Tricia schlägt weiter, schreit, anhalten soll er, der Wahnsinnige, was soll das, wird gegen die Türe geworfen, als der Wagen mit einer Seite über die Kantsteine jagt, schlägt mit dem Kopf-PENG- gegen einen Airback und sieht, wackelig im vom Ruck heruntergeklappten Schminkspiegel, zwei Lichter näher hasten. Scheinwerfer. Immer näher. Wackelig. Wie ein Raubtier .

Links heult ein Polizeiauto in Aktion.

Hinten rast das Licht näher. Schwarz sieht Tricia, schwarzes Auto, schwarze Scheiben, so nah ist der Wagen, schwarz, groß, Cadillac.

Yuan stiert auf die Strasse.

RUMMS! Tricias Kopf peitscht nach vorne, wirbelt zurück, schlägt mit der Wange auf die Kopfstütze, aber nicht allzu hart, weil der Gurt sie am Sitz hält.

"Sind die bescheuert", schreit Tricia, kommt aber nicht heran an Yuan, dessen Konzentration auf der Strasse liegt.

Der BMW schleudert rechts in die Hofburg. Räder auf Kopfsteinpfaster. Yuan beschleunigt, macht Vorsprung, 4 Meter, 5. Links blinkt ein zweites Polizeiauto an. Yuan hält auf die Kuppel, wird schneller. Immer schnell. Die ganze Kuppel blinkt vom Licht der Polizei. Sirenen heulen auf. Hinten drängt der Cadillac nach, kommt näher, gierig, wütend, wild.

"Das ist dein Vater, nicht wahr?"

Yuan donnert durch das Michalertor.

"Nicht wahr?", beharrt Tricia.

Yuan schmeisst das Lenkrad nach rechts und rast vorbei an Reitschule, Albertinum, Oper, in Richtung Westautobahn.

Tricia glaubt, wenn sie weiss wer sie verfolgt, ist alles nur noch halb so schlimm.

Der Cadillac rammt ein zweites mal. Diesmal stürzt Tricia mit den Händen aufs Handschuhfach. Hinten fällt etwas auf die Strasse.

Yuan jagt vor, gerade vor, direkt zu auf den Einsatzwagen, der in voller Breite die Strasse am Naschmarkt blockiert, kurz hinter Starbucks, fast genau da, wo gestern morgen der Funkspruch zum Einsatz kam. Tricia fällt zurück durch die Zeit und landet in der Strasse ohne Menschen. Selbst der Kinderwagen ist umgestürzt. Das Rad dreht sich. Entweder noch oder im Wind.

"Halt Polizei."

Yuan wirft das Auto über den Kantstein auf den Naschmarkt und rast zwischen den Hütten entlang. Mülleimer fliegen aus dem Weg. Salatköpfe schlagen von unten gegen das Blech.

Im Rückspiegel umzingeln drei Polizeiautos den Cadillac und keilen ihn zum Stehen.

Yuan schaltet das Licht aus, rast quer über die Strasse in den vierten Bezirk. Tricia wird schlecht. Dunkel donnert der Wagen verkehrt herum in eine Einbahnstrasse, rast ungesehen eine dritte Gasse herab, biegt blind in eine Einfahrt, touchiert deswegen einen Müllkontainer, wirft sich links in den kleinen Hof, dreht den Motor ab und wartet: kein Blinken, keine Heulen von Sirenen, Kein Rammen gegen den Kofferraum. Alles still. Nur das Blut pocht im Ohr. Schwach und fern.


Hinten am Naschmarkt ist der Cadillac in der Zwickmühle. Sechs Polizisten haben in im Netz, zücken die Waffen, springen aus den Einsatzfahrzeugen, nähern sich begeistert dem Opfer, Adrenalin stößt aus, macht wach, sorgt dafür, sich lebendig zu fühlen, noch, denn noch wissen sie nicht wem sie sich da nähern, zwei zu den vorderen Türen, zwei zu den Hinteren, zwei bleiben am eigenen Fahrzeug, der Sicherheit wegen.

Die Sirenen stumm, nur das Licht blinkt seine blaue Dringlichkeit auf den schwarzen Lack des eingekeilten Autos

"Hände ans Lenkrad", brüllt einer der Polizisten aus sicherer Entfernung. Er hält die schmale Seite seines Körpers zum Wagen, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Steil zur Türe tasten sich seine Füsse näher und näher. Genau wie in der Ausbildung geübt.

"Polizei", brüllt er.

Der Wagen liegt da und sagt nichts. Dann senkt sich ganz leise das schwarze Fenster der Fahrertür. Irgendwo knackt Metall in der Kälte.


Der Polizist sieht vorne zwei Frauen. Hübsch und asiatisch. Hinten sitzt auch jemand, doch es ist zu dunkel, um zu erkennen wer oder was das ist.

"Oh, Herr Wachtmeister, ich hab sie gar nicht gesehen", sagt die Fahrerin.

"Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte."

Die anderen Polizisten bleiben in Position. Beine breit am Boden. Arme gerade vor. Waffen in der Rechten. Die Linke unter das Magazin. Das gibt zusätzlich Halt.

"Wagen 326, Fluchtauto entkommen", kratzt es aus den Lautsprechern.

Der Polizist streift sein Maglite aus dem Gürtel und leuchtet ins Innere des Wagens.

Auf der Rückbank wendet Deng sein Gesicht aus dem Licht.

"Wir su Bezuch, Tu-listen. Zöne Ztatt", flötet Gomorra vom Beifahrersitz aus.

"Haben Sie was getrunken?", fragt der Polizist.

Die Beiden am Einsatzwagen schnippen die Sicherung ihrer Waffen wieder nach oben. Alles entspannt.

"Aussteigen", sagt der Polizist.

AB HIER IST DAS BUCH NOCH NICHT KONTROLL GELESEN!!!!!!!!!! DIE STORY BLEIBT ABER

Die Fahrertüre schwingt auf. Sodom züngelt ihr Bein über die feuchten Steine, die nichts widerspiegeln, als den langen, silbernen Absatz ihres spitzen, schwarzen Schuhs.

"Schauen sie mich mal an", befiehlt der Polizist unsicher.

Die Waffen den anderen verschwinden in ihren Halftern.

"Sie sind ja völlig betrunken. Ich glaube es ist besser, wenn wir eine Blutprobe machen."

"Das glaube ich auch", sagt Sodom und winkelt den Arm an.

Eine gebogene Klinge springt aus dem Ellenbogen hervor, dunkler Stahl, sichelt seinem Zweck entgegen und schneidet, schneller als ein Auge blinkt, dem Polizisten mit einer Bewegung so tief in den Hals, dass sein Kopf nur noch halb auf den Schultern sitzt und nach dem Tritt gegen seine Brust mit einem Ruck nach hinten klappt. Die Beifahrertür macht einen Satz und Gomorra dröhnt dem anderen Polizisten einen Totschläger an die Stirn. Kaum knicken die Beiden zu Boden, spritzt den anderen Beamten am Auto schon das warme Blut aus der offenen Aorta. Hinten fummelt die Sicherheitscrew verzweifelt ihre Waffen hervor, da steht Sodom schon vor Ihnen, so schnell, als sei gar keine Zeit vergangen. Eine Klinge ragt aus ihrem Ellenbogen dunkel in die Nacht. Die Klinge kommt näher, verschwindet unten aus dem Blickfeld, man fühlt einen leichten, schmerzfreien Schlag, dann zieht die Strassenbeleuchtung vorbei, Sterne erscheinen, das Bild wird milchig, die Schulter wird warm, alles wird dunkel, und dann sieht man den Tunnel, von dem alle reden, bläulich und hinten das wunderschön einladende Licht.

Rot spritzt das frische Blut auf das Kleid und die schwarzen Strümpfe als Sodom ihren Kopf nach unten neigt und sie in grossen Zügen vom Hals ihrer Opfer trinkt.

"Du hast meine Kleidung befleckt" sagt sie zu einer der Leichen und
drückt ihr mit dem Knie so fest auf die Brust, bis sie die Knochen krachen hört.

"Es gibt wichtigeres zu tun", sagt Deng aus dem Wagen.
620.

"Unsere Armee besteht aus drei Haupteinheiten."

Hagasan trägt die Uniform eines Offiziers aus dem Krieg gegen Napoleon. Der Kragen hochgeschlossen, zwei Reihen glänzender Knöpfe auf der Brust, helle, enge Hose mit Seitenstreifen, schwarze Stiefel. Hinter ihm projeziert ein Beamer von der Decke, bunte, animierte Charts an die Wand. Der grosse Balken des Heeres teilt sich in drei, schmalere Arme. Später werden dort kleine Bilder erscheinen. Und Zahlen. Am Ende gibt es sogar triumphale Musik. Hagasan ist stolz.

"Am Tag kümmern sich zwei Kompanien Blutjäger im Feld für die Nahrungsbeschaffung. Zusammen mit den Vorräten im Bunker, können wir so eine Armee von 10.000 Mann bei vierfacher Ration vier Monate lang unabhängig ernähren. Im aktiven Kampfeinsatz benötigen wir die achtfache Ration. Gleichzeitig ziehen wir Blutreserven aus den nördlichen Ländern ab, die uns freundlicherweise Ihre Unterstützung zugesagt haben. Den Vorschlag Estorias Blutjäger und Truppen zu entsenden, haben wir abgelehnt, da wir keinen an Mangel an Kämpfern, sondern an Proviant haben.

In der Nacht wird unser Fussvolk aktiv. Wir haben zur Zeit, wie bereits erwähnt, 10.000 Mann im Einsatz, unterteilt in 3000 schlagkräftige Trupps zu je 3 Personen und zwanzig Geschwader zu je 50 Mann. Im Stadtgebiet operieren fast ausschliesslich die kleinen Guerilla Einheiten. Werden grössere Nester gefunden, verständigen diese kodiert bis zu 5 Geschwader, die die Chinesen mit schwerem Geschütz ausradieren. Die Feuerkraft einer Truppe von drei Mann, besteht aus 5000 Schuss Silbermunition, 6 Pistolen, drei Revolvern, drei Maschinenpistolen, einem Maschinengewehr im neutralem Fahrzeug, zwei Granatwerfern, einem Flammenwerfer, drei UV- Strahlern, sechs UV-Lampen, neun Silbermessern, drei Silberbajonetten, 400 Holzpflöcken, davon je 5 am Körper und pro Einheit 500 Liter Weihwasser in drei unterschiedlich grossen Behältern.

Die Feuerkraft der Geschwader umfasst zusätzlich in Summe 200 Howitzer, 800 Granatwerfer, 1200 Bazookas, 6 Hubschrauber, 12 gepanzerte Kampffahrzeuge, sowie einiges an Marineausstattung, die in der "Operation Frisches Blut" jedoch voraussichtlich nicht zum Einsatz kommen wird.

Das dritte Standbein im Kampf gegen Deng, ist unser Geheimdienst. Er umfasst zum jetzigen Zeitpunkt, durch die gestrige Reaktivierung unserer Schläfer, weltweit ca. 35.000 Voll- und 1.350.000 Teilkräfte. Flankiert wird dieser Apparat durch 25.000 Spinnen, also Personen, die internetbasierte Informationen für uns aufsammeln und aufbereiten."

"Wir erhöhen die Armee auf 200.000 Mann", sagt Melog, "Aktiv."

"Das bedeutet eine volle Schlagkraft von nicht mal einer Woche", warnt Szeneszy.

Melog ignoriert den Einwand. "Wie schnell können wir die Truppen breit haben?"

"Gib mir 6 Stunden", sagt Hagasan und greift sofort zu seinem Telefon.

"Ich halte es für Wahnsinn, in so kurzer Zeit eine Armee aus dem Boden zu stampfen, die in 3 Tagen an Kraft verliert und danach elendig verdursten wird", brüllt Szeneszy in den Raum.

"Eine grosse Arme ist unsere einzige Chance", erklärt Melog ruhig. "Deng sieht was wir tun. Das wissen wir. Also sind wir schnell. Und überall. Wie die Sommermücken in Ungarn. Ich sehe sie, aber sie beissen mich trotzdem. Was soll er tun? Wir sind zu viele."

"Ich habe unseren Obmännern den Auftrag erteilt im Schneeballsystem zu rekrutieren", bellt Hagasan "Jede Gruppe baut sich selbst auf, jeder beauftragt drei weitere Personen dasselbe zu tun. Die Waffenausgabe erfolgt dezentral an den bekannten Stellen. Die Lager wurden bereits vor einigen Stunden geöffnet, kontrolliert und falls nötig nachgefüllt. Da es im Schneeballsystem zu Überrekrutierung kommt, können wir unsere Schlagkraft auch dann halten, wenn Deng grössere Kontingente unserer Kräfte aufreibt."

Schon lange fühlte sich Hagasan nicht mehr so gut. Die peinliche Geschichte mit der Konferenz hat vielleicht sogar ihre Vorzüge. Natürlich gibt es Probleme mit dem Ausland, fast alle Delegierten sind tot. Aber einige haben überlebt. Szeneszy zum Beispiel. Und der ist hier geblieben und sieht jetzt wie perfekt Hagasan alles im Griff hat. Wie er alles kontrolliert. Mobilisiert. Organisiert. Ein Phönix aus der Asche. General Hagasan. Im aktiven Krieg. Sensationell.

"Wenn Deng stärker wird, wird er in die Zukunft blicken können", warnt Szeneszy.

"Er wird nicht stärker", sagt Melog

"Nicht, wenn wir schnell sind. Und radikal. Und gründlich."

Auf der Stirnseite des Raums erscheint ein Stadtplan. Einige Punkte leuchten rot auf. Andere kommen ständig dazu.

"Wir sehen hier einen Plan mit den strategisch wichtigen Punkten der Chinesen. Der Plan wird von unserem Geheimdienst ständig aktualisiert. Die Zielorte werden nach einem chaotischen System an die Einsatztrupps weitergeleitet, deren Bewegungen dadurch wesentlich schwerer vorhersehbar werden."

Hagasan drückt auf einen Knopf. Eine Weltkugel erscheint. Auch hier leuchten überall rote Punkte, besonders in Asien.

"Gleichzeitig attackieren Schläfer strategisch wichtige Punkte im Ausland. Dadurch zwingen wir Deng, in die ganze Welt zu schauen. Deng hat nur ein Amulett und zwei Augen. Die Informationsflut der Attacken schafft uns genug Freiräume, um selbst empfindliche Stellen zu treffen. Sollte Deng auch nur den kleinsten Fehler begehen, werden wir wissen, wo er sich aufhält. Ein e-mail, ein Telefonat, eine Live-Sendung und wir haben ihn. Garantiert."

Hagasan wird den Krieg gewinnen. Vielleicht mit hohen Verlusten. Aber er wird überleben. Das ist immer so. Der Plan ist perfekt. Deng hat keine Chance. Und, wenn es nicht klappt, schiebt er alles auf Melog. 200.000 Mann für drei Tage. Seine Entscheidung war das ja nicht. Er hat nur ausgeführt. Organisiert.

"Ich liebe den Krieg", denkt Hagasan und zupft sich die Hose hoch.

621.

Still, steht der Wagen im Dunken. Starr und kalt, wie eine Leiche. Nur der Motorblock ist noch hieß, rot, würde man ihn durch ein Infrarotgerät betrachten, aber Deng braucht keins und die Polizei irrt woanders umher.

Das Blech knackt ein wenig, vom Temperaturunterschied.

"Die wollten uns umbringen", flüstert Tricia.

"Nicht direkt", antwortet Yuan.

Dann bleibt es wieder still. Bis auf das Blech.

Yuan und Tricia wagen keine Bewegung. Irgendwo fährt ein Auto. Zu schnell um ein Suchtrupp zu sein. Der Himmel bleibt dunkel. Der Hof schluckt den Rest.

Langsam legt der Atem einen weichen Vorhang über die Scheibe. Milchglas, so feucht, das sich schließlich ein Tröpfchen bildet und langsam nach unten läuft. Unvorhersehbarer Zickzack, obwohl die Erde es schnurrgerade nach unten zieht.

Tricia sitzt da und denkt: erst rannte sie hinaus, dann kam Yuan, dann rammte sein Vater ihr Auto. Der Halz tut ein wenig weh, aber nicht viel, weil sie wohl doch entspannt war, trotz der Aufregung. Irgendwann muß
der Streit im Restaurant eskaliert sein, irgendwie muß Yuan sie gesucht und gefunden haben, wie schlimm das für ihn mußte, wie schlimm die ganze Eskalation sein mußte, wenn sein Vater so reagiert, rammt das Auto, diese Kälte am Tisch, die Art sie zurück in den Stuhl zu drücken, die Worte von den Gästen, Triad, hat einer gesagt: chinesiche Mafia.

Tricia folgt dem Tropfen, sieht wie er seinen Weg geht, ein kleines Rinnsl mit klarer Sicht.


"Ich wohne nicht weit von hier", sagt Tricia ohne den Blick von der Tropfenspur zu nehmen.

"Darf ich mitkommen?", fragt Yuan.

"Nach allem was passiert ist ..." , sagt Tricia und blickt auf die Spur des Tropfens, wie eine Schlange, immer gewunden, je kleiner desto giftiger, erdrückend, wenn groß, gefährlich, verboten, verführend, denkt an die Tätovierungen der asiatischen Mafia, der ganze Rücken voll mit einem großen Bild, einer großen Schlange, tötlich, denkt an den entsetzlichen Hass von Yuans Vater, erdrückend, tötend, aus dem Wege gehen muss man so was, sonst wird man selbst erdrückt, Opfer, Beute, zermalmt wird man, zerquetscht, bis einem das Leben aus dem Körper gepresst wird "...da lass ich Dich doch nicht allein."

"Wir gehen zu Fuss."

Ruhig geht Yuans Hand zu ihr, nur ein Moment, dann hoch zum Innenlicht, wo er den kleinen Schalter auf Null dreht, bevor er die Autotür öffnet. Alles bleibt dunkel. Er schliesst nicht einmal ab, damit die Blinker am Auto nicht aufleuchten.

Die Straße ist kalt. Keine Sirenen. Keine Motoren. Keine Schritte. Nur der Wind heult ein wenig, zerrt an den Haaren, beißt in den Hals. Die Mauern bröckeln. Große Architektur vor dem Untergang. Immer wieder ein unbewohntes Haus. Ein leerer Laden. Masshemden. Friseur.

"Das ist doch nicht normal", sagt Tricia, "gerammt zu werden, abzuhauen vor der Polizei, das ist ja wie in einem Gangsterfilm."

"Horrorfilm", sagt Yuan und schmuzelt.

Befreit lacht Tricia mit.


Neben einer alten Schusterwerkstatt ist Tricias Tür. Yuans Arm bleibt leicht um ihre Schulter, während sie in der Manteltasche nach dem Schlüssel gräbt.

"Welche ist Deine?", fragt Yuan und schaut auf die Klingelbatterie an der Wand.

"Carlos Feliz", sagt Tricia, "Ich lass immer die alten Klingelschilder dran."


Die Türe quält sich stückweise auf. Innen suchen ihre Finger nach dem Schalter.

"Lieber nicht", sagt Yuan und berührt vorsichtig ihren Handrücken.

Dunkel huschen die Beiden ins Haus.

"Der Aufzug ist kaputt", sagt Tricia. Sie öffnet den Briefkasten. Nicht mal Reklame.

Das Treppenhaus ist schmal, rund, steil und kalt. Die Fenster vergittert. Auf der zweiten Etage hängt ein Ring am Rückgrad der Treppe. Yuan schaut aus dem Fenster und sieht nur den Hinterhof. Tricia schliesst auf.


Die Wärme der Wohnung tut gut, streichelt die kalte Haut, genau richtig, zart, ohne zu brennen. An der Garderobe hängt fast nichts, nur ein Schaal oben und noch zwei gestrickte Mützen aus dicker Wolle.

Tricia läßt die nassen Schuhe im Gang.

In der Küche ist es noch wärmer. Holzregale, ein kleiner, einfacher Tisch. Tricia wirft den Pullover, wie immer, über einen Stuhl in der Ecke. Geborgenheit breitet sich aus. Die Sicherheit daheim zu sein, in der kleinen Welt des Bekannten. Hier kann nichts passieren, weil hier nie etwas passiert. Außer Frühstück und Abendbrot und machmal ein netter Mann, der dort sitzt und plaudert, ungefährlich plaudert, nur dass der Mann heute nichts sagt, dass er da sitzt und in das schwarz der Nacht stirrt, dass sie um ein Haar umgebracht worden wären, von der Polizei verfolgt, aus einem Restaurant geflohen.


"Magst Du Tee? Ich hab ziemlich viel. Alles Bio. Na ja, fast. Beau hat mir was mitgebracht aus Indien, da weiss ich nicht genau. Steht aber “organic” drauf."

"Ich nehme, was Du nimmst."

Tricia kramt nach Teefiltern, findet Streichhölzer und macht erst mal eine Kerze an. Gemütlich soll es sein. Normal. Ungefährlich. Schließlich ist ja nichts passiert, eigentlich, und doch zittert ihre Hand, ganz leicht, so als ob ein Windzug mit der Flamme tanzt, aber da ist kein Wind.

"Du bist ja ganz nass", sagt Tricia. "Ich bring Dir ein Handtuch."

Yuan schaut auf, lächelt, die nassen Haare, so dunkel, edel, die Augen mit den langen, feuchten Wimpern, ein kleiner Tropfen auf der Nase, der geschwungene Mund.

"Ich kann das nicht so einfach erklären", sagt Yuan

"Ist schon O.K..."

Tricia bringt ein Badetuch. Sie hat nur Badetücher, weil sie sich nach dem Duschen im Studio darin einwickeln kann.

Der Tee ist fertig.

Tricia zieht den linken Fuss auf den Schoss und wickelt endlich das Tape ab, das noch immer von Training dort klebt. Der Tee und die Routine der Bewegung glätten sich die Wellen ihrer Seele und Tricia sieht wieder die Insel ihrer Träume.

"Ich hab ein riesen Vortanzen, in zwei Tagen."

Yuan senkt seinen Blick in die Kerze.

"Zwei Tage..."

Yuans Blick brennt in der Flamme. Dann reisst er ihn aus dem Feuer, hin zu Tricia. Tief blickt er ihr in die Augen, bis Tricia in das Schwarz fällt, das Schwarz seiner Augen so edel, so nobel, tief fällt sie, immer tiefer, läßt seine Hand die Ihre berühren, seine Finger die Ihren umwerben, umringen, ohne den Blick von Yuans Augen zu nehmen, ohne den Fall zu beenden.
Seine Hand wird langsamer, immer langsamer, bis sie ganz behutsam auf ihrer Haut landet. Erst ganz leicht, dann bewusster, schliesslich innig und heiss. Tricia blickt in seine Augen und fühlt die Wärme seiner Hand, gibt sich ihm hin, öffent sich, sehnsüchtig, bis es ihren ganzen Körper durchströmt, den Bauch, das Herz erfasst. Vorsichtig nähert sich sein Mund dem ihrem, sein zarter Mund, die weichen Lippen, die Augen, die Hand, die Wärme in Tricia. Tricia schließt die Augen, spürt seinen Atem, nur noch ein Herzschlag und sie wird seine Lippen fühlen, endlich, seine Lippen auf ihren, nur noch einen Herzschlag.

Im Radiowecker springt die hintere Stelle auf null. Fünf Uhr zehn.

"... kam es in der Stadt zu grösseren Ausschreitungen."

Yuan springt zurück.


"Schon so spät", sagt Tricia und steht auf.

"Die Sachschäden gehen in Millionen höhe. Menschen kamen nicht zu schaden. "

"Menschen kamen nicht zu schaden.", wiederholt Yuan.

Tricia sucht seine Augen, seinen Mund, seinen Hand.

Yuan blickt in das Schwarz der Nacht.

"Ich muss zum Roten Kreuz", sagt Tricia, "Wegen der Sache... im WUK"

"Mit Sodom?"

"Ich hab das Schnellgericht akzeptiert. 30 Stunden Sozialarbeit."

"Kein Problem", sagt Yuan und lächelt nett, wie ein kleiner Junge, "ich muss sowieso zu Hause sein, bevor es hell wird."

Tricia lacht.

"Ehrlich", sagt Yuan, geht ans Fenster und lauscht in die Nacht.
621.

Beau fühlt sich super. Eigentlich fühlt sie sich immer super. Besonders morgens, und ganz besonders heute morgen, weil sie gerade mit Paul geschlafen hat, der es wirklich versteht, sie zu beglücken.

Frisch gefickt betritt sie also die Strasse, jeder Schritt, wie auf Watte, jedes Geräusch entweder ganz nah oder richtig weit weg, aber ganz bestimmt anderes als sonst. Sie hatte schon fast 5 Tage keinen Sex mehr gehabt. Wie eine Nonne.

Der Biostand am Naschmarkt hat wie immer schon auf.

"Hi, Beau."

"Hi, Robert."

"Gut siehst Du aus."

"Danke."

Sie kauft Soja, Chili con Tofu, Salzzahnpasta und zwei Bioäpfel für jetzt. Robert addiert mit den Stift. An der Wand neben der Kasse hängen Werbeposter. Shiatzu Massagen, Tai Chi Kurse, ein schwarz-gelbes Poster mit knallroten Buchstaben: "Besser als Blutegel: Aderlass. Die sanfte Heilung." Darunter eine Bild von einem Asiaten mit Glatze.

"Den kenn´ ich doch von irgendwoher."

"Wen?", fragt Robert.

"Na den Typen hier. Besser als Blutegel: Aderlass, die sanfte Heilung."

"Du kennst Professor Lao?"

"Professor Lao? Nein, das ist jemand anderes."

"Wow, Beau, der ist echt bekannt. Professor Lao."

"Wo hab´ ich den schon mal gesehen?"

"Er ist einer von den drei Erleuchteten. Seine Lehre ist verboten, in Peking."

"Nein, ich hab´ den irgendwo hier gesehen."

"Was kostet der Haarschlamm?", fragt eine Stimme hinter dem Holzregal.

"5 Euro 90", sagt Robert aus dem Kopf, "Wo hast Du ihn gesehen?"

"Na, hier", sagt Beau

"Hier?", Robert zeigt in den Laden.

"Nein, hier in der Stadt, Robert."

"Das kann nicht sein. Er kommt doch erst noch. Nächsten Samstag. Stadthalle. Wir gehen alle hin."

Die Stimme hinter dem Regal, kramt in den Gewürzen.

Egal wie fest sich Beau auch das Bild beißt, ihr fällt einfach nicht ein, woher sie das Gesicht kennt. Lang es nicht her, dass sie ihn gesehen hat. Aber er sah irgendwie anderes aus. Mit Brille, oder Bart, oder ohne Glatze.

"Kann ich das Bild mitnehmen?"

"Da liegt ein ganzer Stapel. Da neben dem Lebensbrunnen."

Beau angelt ein Flugblatt. Die Stimme hinter dem Regal raschelt in den Linsen.

"Möchtest Du eine Karte? Wir haben nur noch 3."

"Ich hätte gerne eine Karte", unterbricht die Stimme hinter dem Regal. Jetzt taucht ein Kopf auf. Hager, mit viel zu rotem Mund.

"Oder, lieber gleich zwei, weil dann gehe nicht allein."

Der Mund knackt. Als er noch immer nicht aufhört zu knacken, merkt Beau, dass es sich um Kichern handeln könnte. Vielleicht sogar um Lachen.
"Wenn Bio so gesund ist, warum sehen dann alle immer so krank aus?", denkt Beau und legt noch ein kleines Tütchen mit indischer Aufschrift zur Kasse.

"Und einmal Liebespulver", bemerkt Robert. "Macht 24,80."

Beau zahlt. Robert hält ihr ein Einmachglas mit Gummibären hin.

"Biobärchen?"

"Darf ich auch eins?", fragt die Knackende und greift noch vor Beau in das Glas.

"Ach, ist das nett hier."

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Auszug aus "Cuba libre", dem aufklärenden Staatsorgan der kommunistischen Einheitspartei Kubas


Nationaler Schatz gestohlen


Mit der Eroberung Kubas durch Diego Velázquez de Cuéllar im Jahre 1511, begann vor nahezu 500 Jahren die blutige Ausbeutung der neuen Welt, die, unter Hernán Cortès, auch die zahlreichen Schätze Mexikos von ihren rechtmässigen Eigentümern presste und zum imperialistischen Hofe Spaniens entführte.

Generationen von Maya, Inca und Azteken gaben unter Qualen, neben Gold und Silber, schliesslich auch einen ihrer grössten Schätze an die spanischen Conquistadores: ein sagenumwobenes, geheimes Amulett.

Dieses Amulett bewachte der Legende nach über Jahrhunderte die Tore der sagenumwobenen Stadt El Dorado, bis im Jahre 1627 der feige spanische Musketier Gabriel Sandino einen, der als göttlich geltenden Träger, gemein aus dem Hinterhalt erschoss und das Amulett unbefugt an sich nahm. Im Gegensatz zu dem Rest seiner Kameraden, entkam der Verräter Sandino und flüchtete mit dem Amulett per Maultier-Karavane bis in imperialistische Veracruz, wo er es, ausgemergelt und halb dem Wahnsinn verfallen, direkt in die schmutzigen Hände des blutrünstigen spanischen Admirals Juan de Benavides übergab. Benavides verlangte in imperialistischer Gier nach mehr, insbesondere der genauen Lage von El Dorado. Sandino, ein ungebildeter Muskel der herrschenden Klasse war der Geographie jedoch unkundig und konnte Benavides den Ort der geheimen Stadt nicht vermitteln. Wenige Tage später erlag der ohnehin geschwächte Sandino den Folgen der Inquisition.

Zur gleichen Zeit bekriegte der ehemalige Galeerensklave Piet Heyn, mit proletarischem Mut unter holländischer Flagge, den in seinem Heimatland "Silber Flotte" genannten Ausbeutungsapparat Spaniens. Am 4. August 1628, erfuhr Heyn dank seiner treuen Informanten vor der Küste Kubas von einem unermesslichen Schatz, der sich auf einem der ausbeutenden Schiffe von Juan de Benavides befinden sollte: ein geheimnisvolles Amulett, dass dem Träger die Macht verleih "feurige Blitze" zu werfen und "brennenden Tod" über seine Gegner zu bringen.

50 Meilen östlich von Havanna, in der Matanza Bucht, wurde Benavides noch im selben Monat von 30 Kriegsschiffen überrascht. In seiner Panik setzte der verweichlichte Aristokrat seine gesamte Flotte auf Grund. Die Holländer stürmten die Schiffe, nahmen Benavides gefangen und segelten zwar mit 46 Tonnen Silber an Bord in die Heimat. Das sagenhafte Amulett wurde jedoch nicht erbeutet.

Am Dienstag voriger Woche fanden die glorreichen Taucher der Marine Archäologischen Organisation der Kubanischen Regierung (Carisub) in 54 Meter Tiefe ein zerbrochenes Medaillon, das stark mit den Beschreibungen des El Dorado Amuletts übereinstimmt. Das, mit den neuesten Mitteln der Technik geborgene Objekt, wurde in einen geheimen Trakt des Castillo de San Salvador de la Puenta am Hafen von Havanna gebracht und dort von der wissenschaftlichen Elite unseres Landes auf das Genaueste untersucht.

Gestern nacht wurde das Amulett unter Anwendung brutaler Gewalt aus dem ruhmreichen Labor entwendet und gilt seitdem als verschwunden.

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622.

Die Gänge sind alt. Fäulnis liegt in der stillen Luft. Eng ist es, klamm. Und still. Oft kommt man mit geschultertem Gewehr nicht durch, so niedrig ist das Gewölbe. Aber die Sonne kommt hier nicht hin und die Kanalisation führt schliesslich in fast jede Schlafstätte, ausser den Gräbern. Nur die reichen Vampire, wohnen überirdisch. Der Rest haust hier.

Fette Ratten mit kleinen Augen ziehen ihren Schwanz durch den Müll, der von Strasse herunter gespült wird. Sonst hört man nichts. Still, wie der Tod, obwohl es gerade der Tod ist, der hier niemals seine Sichel schwingen kann.

Je tiefer man in die Schichten der Keller und Kanäle dringt, desto erbärmlicher werden die Zustände. In der untersten Zone, schaben abgemagerte Vampire mit Blecheimern kleine Kojen in die rissige Wand, die sie hart verteidigen müssen, gegen Nesträuber.

Der Gestank wird unausstehlich. Wie Wasserleichen. Vermoderte Körper mit ausgedunsenem Bauch. Eine Posse des Hungers, die Bäuche so dick werden zu lassen.

Das Display auf dem Handheld zeigt noch immer Signale. Dann kommen die Drei an eine unvorhergesehene Mauer.

"Nach Plan ist hier frei."

Der Bulligste von ihnen nimmt einen Schluck Blut. Dann stellt er sich seitlich vor die Mauer und rammt sein Gewehr gegen den Stein. Der Mörtel gibt nach.

"Frisch gemauert."

Die Drei schlagen auf die Wand ein, die Ihren Rachen öffnet, immer weiter. Hinter der Wand zischt etwas.

"Könnte ein Nest sein."

Das Zischen wächst zu einem Gurren. Den Dreien wird mulmig. Die Läufe der Waffen gehen nach vorn. Das Gurren kommt von überall. Man kann kaum etwas sehen, in all dem Staub und der Dunkelheit. Aber hören kann man. Einen Saal. Einen ganzen Saal voll mit leisem Gurren.

Die Hände lösen sich von den Gewehren und greifen zu den UV Strahlern.

Im Gang hinter ihnen platscht etwas ins Wasser.

"Drei.....zwei....eins"

Das tödliche Licht schiesst in die gefundene Höhle. Für einen kurzen Augenblick erkennen sie überall Lautsprecher und Kabel. Dann Spiegel.

"Eine Falle", ruft einer.

Einen Moment später zerfallen die Drei qualvoll zu Staub.
623.

Als Tricia die Zentrale vom Roten Kreuz betritt, fühlt sie sich fast wie zu Hause. Die Spinde mit den Nummern, die einfachen Harken, die Stahlreagle, die Wagen.

"8 Minuten zu spät", sagt der Mann am Pult, "Wagenpflege."

Tricia strahlt übers ganze Gesicht.

"Wagenpflege."

Yuan sagte es sei besser, wenn sie getrennt das Haus verließen, nur für den Fall, daß man noch nach ihnen sucht.

"Ich habe dich schon gefunden", ging es Tricia durch den Kopf und dieser Gedanke ließ sie nicht mehr los. Ja, sie hatte ihn gefunden. Endlich, den richtigen, endlich jemand bei den sie sich geborgen fühlte, auch wenn die halbe Stadt sie jagt. Und vielleicht sogar die chinesische Mafia. Sie hatte ihn gefunden.

Fathim hatte den gleichen Gedanken, endlich gefunden zu haben, was er so lange gesucht hatte. Jetzt saß er einfach nur da, und labt sich in der Ruhe seines, erst vor kurzem gerauchten, Morgenjoints.

Während Tricia heisses Wasser in den Putzeimer füllt, hievt Fathim Kisten hervor und prüft sie auf Inhalt. Nach Vorschrift wird erst bei drei fehlenden Einheiten ersetzt. Fathim ersetzt immer sofort.

"Nun frag schon", quirlt Tricia.

"Was denn?"

"Wie er heisst? Wer er ist? Ob ich verliebt bin?"

Fathim öffnet eine Kiste mit zwei Boxen Einweghandschuhen. Er drückt die offene Box um zu prüfen wie voll sie noch ist.

Tricia wischt sie unter dem Fahrersitz.

Fathim pflückt einen Handschuh heraus und fährt mit den Finger in den Auszupf. Er fühlt, schaut, denkt, wirft die geprüfte Box in einen grossen blauen Eimer und plaziert eine Frische dorthin, wo vorhin noch die andere Packung stand.

"Wie heisst er? - Wer ist er? - Bist Du verliebt?"

An Tricias Lappen kleben drei Streichhölzer, eine leere Packung Zigarettenpapier, eine Kinokarte und ein gelb-schwarzes Poster mit einem glatzköpfigen Mann.

"Yuan? - Professor Lao? - Was ist denn das?"

Tricia ist baff.

Fathim nimmt den Eimer und geht zum Regal.

"Aha", sagt Fathim und hebt gemütlich die nächste Kiste hervor.

624.

Beim Bodenkontakt brennen die Reifen eine dünne Schicht Gummi auf die Landebahn. Danach geht die meiste Energie in die Bremsbacken.

Da Zeno nur Handgepäck hat, kann er sofort zum Einwanderungsschalter.

Ob er geschäftlich hier sei (nein), ob er eine Rückflugticket habe (ja), ob er Kuba aus politischen Gründe verlassen habe (nein), warum er sich überhaupt in Kuba aufgehalten habe (geschäftlich), was man da geschäftlich machen könnte (Zigarren), ob er diese in Europa verkaufen wolle (nein), warum er dann hier sei (Urlaub), wann sein Flug zurück ginge (zwei Wochen), Stempel, danke, schönen Aufenthalt.

Zeno ist hager, braun gebrannt, und wirkt - trotz seinem südamerikanischen Cowboystiefel unter dem braunen Anzug, seiner zahlreichen Ringe, wovon einer aussieht wie die Zähne eines Wolfs, die sich leicht gespreitzt in das Gelenk des rechten Mittelfingers beißen, trotz goldenem Halsschmuck und der Tasche, der listigen, der Tasche, die so unschuldig wirkt, so harmlos, so verletzlich, in ihrem südamerikanischen Leder-Stoff Gemisch, in ihrer Einfachheit, in ihrer Bescheidenheit, in ihrer Art so ganz und gar nicht auf den Inhalt schließen zu lassen, den Zeno ins Land bringt, den gefählichen, tötlichen, alles verändernden Inhalt, den er erst am Abend zuvor genommen hat, am Abend zuvor, als der Mond sein schwaches Licht auf das Castillo de San Salvador de la Puenta warf, als nur zwei Wachen dort standen um ihr Leben zu lassen, still, mit geübtem Schuß in Halsschlagader, 6 Liter pro Minute, still, wegen des aufgeschraubten Schalldämpfers, wegen der Hand vor dem Mund, wegen des helfendem Arms beim umknicken, damit der Körper kein Geräusch macht, als leere Gänge keine Ohren hatten, als nur die Putzfrau mit Wagen noch ihr Blut ließ, rot auf weißem Mantel, auf grauem Boden, an gelber Wand, als er die Türe mit dem Schraubenzieher öffenete und es in seine Tasche steckte, flach, zerbrochen, unscheinbar - irgendwie westlich. Wahrscheinlich liegt das an seiner spärlichen Körpersprache, spärlich , sogar für Europäer.

"Taxi?", fragt einer der schäbigen Anzüge hinter dem Geländer zur Halle.

"Ich bewege mich lieber im Untergrund", antwortet Zeno und verschwindet in der kofferrollenden Masse.
625.

Vor den Fenstern schleudert die hiesige Sonnen ihre tödlichen Strahlen mit 186.282 Meilen pro Sekunde auf die Stadt. Hinter den Fenstern sitzt Deng mit Sodom und Gomorra im Sessel und schaut fern. Die Fenster wirken von innen leicht braun, von aussen verspiegelt und lassen die gefährlichen Frequenzen unter 400 Nanometer gar nicht erst durch. Ebenso Geschosse bis zur Grösse einer leichten Flugabwehrrakete. Es ist einfacher durch die Wand zu brechen, als durch diese Fenster. Dann allerdings, ist zu beachten, das die Wand stahlplattenverstärkt ist, dann bleiisoliert und schliesslich noch einmal gemauert. Das hat Deng vom der amerikanischen Botschaft abgeschaut. Angriffssicher. Strahlensicher. Abhörsicher.

Blind hängt das Amulett ums Dengs Hals, der müde geworden ist, immer nur noch mehr Sterben zu sehen. Melogs Armeen schießen, verstrahlen, bombardieren und pfählen ganze Wohnviertel mit chinesischen Vampiren. Genozit, die totale Vernichtung einer ganzen Völkergruppe. Bei Vampieren gibt es keine Zivilisten.

Gomorra regelt die Videoschirm der Kamera nach, und schminkt sich die Augen. Das Schminken ohne Zofe gefällt ihr. Früher mußte man immer nur da sitzen und warten bis die Zofe endlich fertig war. Heute kann man selbst ein bißchen spielen. Besonders die lauten Fraben haben es Gomorra angetan. Blaue Lider. Grüne Lippen.

"12 Menschenleben und über 20 Verletzte forderte ein Selbstmordattentat in der Innenstadt von Tel Aviv", sagt der Mann im Fernseher, "Die palästinensische Befreiungsorganisation..."

"Was für eine Blutverschwendung", pustet Gomorra mit gespitzter Lippe auf ihre eigentlich schon trockenen Fingernägel in gold.

"Früher konnte man in der Nacht die Schlachtfelder abgehen und die wenigstens die Gefallen trinken. Optisch gräßlich, ich weiß", meint Sodom, die sorgsam ihr Ellenbogenmesser pflegt.

"Das Auge trinkt mit", flötet Gomorra.

"Aber heute hat man nur noch literweise Blutspritzer an der Wand."

"Oder, noch blöder, im Bus."

"Da braucht man zum trinken ja eine Fahrkarte."

Sodom lacht blöde über ihren Witz. Gomorra lacht mit. Nur Deng sitz da und denkt an die tausenden Vampire, die Melog abschlachtet. Tag und Nacht. Stunde um Stunde. Deng wird seinen Leuten auftragen, ein Paar wichtige Persönlichkeiten um Melog zu töten. Der Form halber.

Auf dem Fernseher erscheint ein kleines Bild im Ecke.

"Besuch für Sie, Sifu. Ein gewisser Herr “Zeno”".

"Endlich."

Der schmale Fernseher verschwindet hinter romantischer Kunst: "Der Leichenschmaus, Spitznagel" Deng liebt es ja eigentlich eher chinesisch oder modern.

Gomorras Videoschirm senkt sich in den Tisch. Sodoms Klinge klappt unter das Leder ihres Ärmels.

"Eine grosse, fröhliche Familie", sagt Deng bevor die Tür aufspringt und drei nette Sicherheitsleute Zeno ins Zimmer stellen.

"Sie sind also der glückliche Gewinner? Ich kann Ihnen den Finderlohn auch gerne life im Fernsehen übergeben", grinst Deng in bester Showmaster Manier zu dem eisigen Herrn im Ledermantel. Sodom und Gomorra grinsen mit.

"Nein Danke", erwidert Zeno trocken.

"Ich mache einen Star aus Ihnen. Millionen von Zuschauern werden Ihnen gratulieren. Sie können eine Serie in meiner Zeitung haben. Ich sehe schon die Überschrift: Millionenschwer und glücklich"

"Ich meide Aufsehen."

"Ganz wie Sie wünschen. War nur ein Vorschlag. Na, wo ist denn das Fundstück?"

"Viele Menschen ließen ihr Leben für dieses kleine Andenken."

Zeno legt einen brandneuen, silbernen Rimova Koffer vor Deng auf den Coachtisch.

"Wollen Sie es sehen?"

"Ich fühle es bereits", Deng atmet tief und schwer. Die Macht lastet auf ihm, die Gier, die Ungelduld. Er scheint zu wachsen, seine neue Größe zeigen zu wollen, unvorsichtig zu werden, vorsicht vor wem? Vor Sodeom? Gomorra? Dem Menschen da?

"Nie wieder in Verdammnis leben", schiesst es Deng durch den Kopf. "Nie wieder hungern. Nie wieder geächtet sein. Nie wieder das Licht fürchten müssen. Die Welt wird mir gehören, mich verehren, mich anbeten, mich um Verzeihung bitten, Gnade erflehen, Jungfrauen opfern, damit ich mild gestimmt bin."

"Das Geld", erinnert Zeno.

"Das Geld", wiederholt Deng und läßt seinen Traum ausklingen.

"Bar oder Scheck?", fragt Gomorra.

"Bar", lächelt Zeno zurück.

Gomorra pellt sich aus dem Sessel und klappert ins Nebenzimmer.

"Zigarre?" fragt Deng.

"Ich rauche nicht", antwortet Zeno.

"Dann nehmen sie doch wenigstens was für die Unkosten", sagt Deng, während er die Armlehne des Sessels hochklappt. Als seine Hand wieder auftaucht, hat sie ein fertig abgepacktes Bündel mit 500 Euro Scheinen erbeutet. "Die Reisespesen sind im dem Finderlohn ja nicht automatisch enthalten."

Gomorra klappert zurück und knallt einen schwarzen Louis Vuitton Koffer voll Geld neben das Bündel Fünfhunderter.

"Kleine, feine, unsortierte, absolut legale Ware."

"Ich würde gerne öfter mit Ihnen zusammen arbeiten", haucht Zeno und lässt das Geld liegen.

"Wir haben zur Zeit leider keine offenen Positionen", sagt Deng sehr abrupt.

"Man kann mich mieten."

"Das wird die Damen sicherlich mehr interessieren."

"Ich war Blutjäger für die Rumänen", flüstert Zeno zu Deng, als dieser den Rimova Koffer ergreift.

Einen Moment lang scheint Deng zu verharren. Dann zieht der Koffer zu sich.

"Ich weiss nicht, was Sie meinen."

"Selbst mattes Silber hat eine Spiegelung. Wenn eine Spiegelung möglich ist", sagt Zeno zu Deng, der ihm schon den Rücken zudreht und geht.

Deng reagiert noch immer nicht.

"Ich weiss, wo die Rumänen ihr Blut aufbewahren", ruft Zeno zu Deng.

Deng bleibt stehen. Langsam dreht er sich um. Gomorra nimmt die langen Beine vom Tisch und stellt sie fest vor sich auf den Boden. Sodom greift mit der Hand zum Ellenbogen.

"Das wissen wir auch", sagt Deng mit einem breiten Lächeln.

"Ich könnte es ... infizieren", schlägt Zeno vor.

Diese Idee scheint Deng zu gefallen. Sodom entspannt sich ein wenig. Gomorra bleibt sprungbereit. Deng begiebt sich ganz langsam zu Zeno.

Als er so nah kommt, daß ihn selbst ein Mensch riechen könnte, so nah, daß selbst ein Mensch seinen Atem fühlt, so nah, daß er die Aura Zenos aus dem Weg drückt und mit kalter Dunkelheit ersetzt, schmiegt sich Deng an das linke Ohr seines neuen Geldsklaven:

"Ich hätte da ...." Deng legt seine kalte Hand auf Zenos Schultern, fährt herum und spricht Zeno in das andere Ohr, "...einen anderen Vorschlag."
626.

Die Pferde stehen starr im kalten Wind, nur leicht geschüzt von den Decken mit den Lederriemen, die ihnen die Kutscher überwerfen. Überall stehen die Fiaker, warten geduldig auf Touristen, die sich nach dem Fahrpreis erkundigen, feilschen, dann unwiderruflich einsteigen, begeistert prüfen wie viele Bilder noch in ihren Kameras auf Belichtung warten, wenn ihnen der Kutscher offeriert, für nur 20 Euro mehr das wahre Wien zu zeigen, das Dunkle, das Verborgene.

Das Rad des Kinderwagens dreht sich vor Tricias geistigem Auge. Der Blick des Kutschers. Die kalte Zigarre.

Der Einsatztwagen pausiert an der Ampel. Warten. Nur der Motor dreht sich. Leerlauf.

Wieso hat sie so viele Details gesehn? Auf so große Entfernung. Wieso glaubt sie sich an einen Schatten über den Augen zu erinnern. Und war da nicht auch ein merkwürdiger Ring. Mit Zähnen?

Jetzt springen die toten Augen der Leichen hervor. Die feinen, roten Spritzer an den Wimpern.

"Was würdest Du tun, wenn du alles machen könntest?", fragt Tricia, und reißt sich von all dem Schrecken los.

"Ich kann alles machen", antwortet Fathim und wartet weiter auf Grün.

"Ich meine, wenn Du Dir alles wünschen könntest? Alles! Wenn alles in Erfüllung ginge? Wenn Du unendliche Macht hättest?", fragt Tricia und hofft, dasss Fathim ihr hilft eine schöne Insel zu sehen oder ein Haus in den Bergen oder irgendwas nur nicht die leere Straße mit dem offenen Hälsen. Als ob die Hälse losgelößt existierten. Als ob sie niemals einem Menschen gehört hätten. Als ob sie niemals geküßt worden wären.

"Gier nimmt dich gefangenen. Gibt, was du besitzt und du findest Freiheit."

"Komm schon, Fathim, mach wenigsten die Krankheiten weg, O.K.?"

Die Ampel schaltet auf Gelb.

"Störe nicht das Gleichgewicht der Natur."

Dann wird es grün. Fathim rappelt wieder los.

"Wo fahren wir eigentlich hin?"

"AKH. Krankentransport."

"Gut, dass wir keinen Notfall mehr hatten."

"Das kann man auch anders deuten."

"Was meinst Du denn jetzt schon wieder?"

"Das hier ist nicht das Ende der Notfälle. Das hier, ist die panische Vorbereitung für den ganz großen Auftritt. So panisch, daß alles andere Vergessen wird. Wir werden bald etwas sehr Schreckliches erleben, Tricia."

"Du weißt immer die Worte", sagt Tricia und kurbelt das Fenster runter um sich einen letzten Rest kalter Luft zu gönnen, bevor der Wagen sie in die klimatisierten Gänge des AKH entläßt.

Das riesige Krankenhaus ist wie immer, obwohl Tricia erst drei mal da war. Die Architekten wollten wohl jede Unvorhersehbarkeit vermeiden. Leben ohne offene Fragen. Keine Überraschungen. Krankheit als planbarer Prozeß. Architektur der Sicherkeit.

"Wo ist denn hier die Kantine?", fragt Tricia, den Zivi hinten am Fenster währedn ihm Fathim den Zettel mit der Fahrt hinüber reicht.

"Die ist nur für Mitarbeiter."

"Arbeite ich etwa nicht mit?"

"Da hast Du auch wieder recht", lacht der Zivi plötzlich ganz freundlich. "Aufzug. 5 Stock. Da sind überall Schilder."

"Ich bin in 15 Minuten wieder da", sagt Tricia. Sie zieht ihren Ärmel hoch und zeigt auf die Uhr, die seit Jahren dort fehlt. Tricia glaubte noch nie an die Absolutheit von Zeit. Nur weil ein paar Zeiger behaupten, eine Minute sei für sie genauso lang wie für den Rest der Welt, stelle sie ihr Herz doch nicht in Frage. Die Minute in Yuans Hand gestern, hat mindestens zwei Stunden gedauert. Sie weiss das. Sie war ja dabei.

Trotz vorhersehbarer Architektur. Trotz gerader Linen und klarer Wegweiser. Trotz konsequenter Vermeidung jedweder Überraschnung, passiert nun doch, mitten im AKH, mitten im Hort der kalkulierten Heilung, genau das, was laut Statuten und Absicht und überhaupt eigentlich sicher nicht passieren sollte: Das Böse siegt über das Gute. Und zwar doppelt.


Während Tricia nämlich unten auf den Aufzug wartet und oben Yuan im Dschungel des gigantischen Komplexes sein gut ausgerüstetes Labor, voller Blutkonserven, Larven von Stechmücken (Culex pipiens ) und Sammelbienen (Apis mellifera), Gen- sequenzierern, Gen-spaltern, Gen- implantatoren verlässt, huscht ganz unten, in der AKH eigenen U - Bahnstation ein hagerer Mann in braunen Ledermantel an Land. Zielstrebig folgt er der Menge zum Ausgang. Niemand bemerkt ihn. Nicht einmal die zahlreichen Videokameras registrieren sein dunkles Gesicht, das er im richtigen Moment wie zufällig unter einem breitem Hut versteckt und bescheiden zum Boden neigt.

Oben denkt Yuan an die Verbindung von Biene und Steckmücke, die perfekte Kombination, das Ende des Abschachtens von Menschen, nur um an ihr Blut zu gelangen. Tropfenweise, werden die braven Mücken das Blut im Sammelstock abliefern, tropfenweise, aber unermüdlich bis millionen von Litern zusammenkommen. Täglich regineriert in den Körpern der Menschen, die heute nur ein einziges mal gemolken werden.
Das denkt Yuan und wartet auf treppenloses Ab.

Unten bricht Zeno aus der Erde hervor. Vorbereitet. Konzentriert. Dengs Anweisungen sind klar und unmisverständlich. Zeno wird ihn nicht enttäuschen.

Dazwischen hofft Trica auf fröhliche Gedanken. Leicht, möchte sie sein. Unschuldig. "Störe nicht das Gleichgewicht der Natur." Was aber, wenn sie es gestört werden muss. Ist nicht die Liebe ein gigantisches Stören der Natur? So stark, daß alles andere Unwichtg wird?


"Zu Doktor Yuan Hue, bitte", sagt Zeno zu der Person an der Pforte.

"Wen darf ich melden?", fragt die Person hinter dem Glas.

"Niemanden. Es soll eine Überraschung sein."

Zeno fühlt das Unbehagen der Person hinter dem Glas. Mit freundlicher Stimme fügt er hinzu: "Wir haben gemeinsam studiert."

Jetzt zu sagen wo, würde zu rechtfertigend klingen und vielleicht sogar Zweifel hervorrufen. Besser in Vorfreude lächeln und fast unmerklich das mitgebrachte Geschenk anschauen. Das erhöht den Entscheidungsdruck und wirkt harmlos.

"Da wird er sich Doktor Hue aber freuen".
Zeno bestätigt mit einem Nicken der Augen. Seine Mundwinkel gehen leicht auseinander, werfen freudige Falten um die Nasenflügel. Kurze Fingernägel rutschen eine Liste entlang. "Dr. Yuan Hue. Plasmaforschung", sagt die Person hinter dem Glas. Und weil Zeno so freundlich ist, so weitgereist, nur um seinen alten Studienfreund zu sehen, fügt sie hinzu, "Plasmaforschung. Wie im Atomkraftwerk, nur hier machen wir es mit Blut."

Zeno grinzt mit.

"Block 4 Raum 3026.", sagt das Glas. "Am besten gleich zweimal links und dann mit dem Aufzug."

Zur Sicherkeit lächelt Zeno noch einmal nach. Die vier gefüllten Magazine im Geschenkpapier halten zu einem drittel Silberkugeln. Immer abwechselnd 2 Blei 1 Silber. Das ist kostensparend, wenn das Gegenüber ein Mensch ist und dennoch sicher, wenn man zur Not drei mal abdrücken muss, um sein Ziel zu erreichen.

Im Untergeschoss hat Tricia den Aufzug entdeckt.

"Hoffentlich finde ich wieder zurück."

Der Punkt über dem dritten Schacht pingt Yuan zu sich.

"Ping" macht es bei Zeno.

"Ping" macht es bei Tricia.

Niemand im Aufzug spricht. Verhaltensforscher begründen dies mit Konfliktvermeidung bei erhöhtem Populationsdruck. Ratten würden sich bei so viel Enge zerfleischen. Menschen meiden Blickkontakt und senken im Falle von Konversation die Stimme.

Yuan drückt 5.

Tricia drückt 5.

Zeno drückt 3.

Von brandsicheren Wänden getrennt, hängen die drei unterschiedlich hoch nebeneinander, gleiten exakt paralell aufeinander zu und denoch aneinander vorbei.

Zeno tritt unscheinbar in den langen Gang. Oben surrt in immer gleichen Abständen das Neon. Kleine Kameras an der Decke täuschen Sicherheit vor. Zenos Hand gleitet geschmeidig unter den Mantel und entsichert lautlos die Waffe.

Tricia wird durch die Türe gesaugt, weil fast der halbe Aufzug hier aussteigt und das somit sicher die Kantine sein muss. Aber dann zerplatzt der Menschenknäul und verteilt sich gleichmässig in alle Himmelsrichtungen. Tricia ist allein. Falsches Stockwerk.

Zeno öffnet Tür 3026.

Yuan bestellt eine Suppe.

Yuans Labor wirkt sehr durcheinander. Überall transparente Röhren, in denen genmanipulierte Steckmücken kontrolliert bestimmten Duftstoffen ausgesetzt werden.

Zeno tritt ein, huscht mannshohe Regale entlang, vorbei an mit nichts als endlosen Kombinationen der vier Buchstaben G,A, T und C gefüllten Computerbildschirmen. Zenos Atem ist ruhig. Sein Schritt leise, aber fest.

Ein übers Mikroscop gebeugter Kopf im weißen Kittel behindert den Zugang zur Türe mit der Aufschrift "Kühlraum. Keim minimiert." Zeno möchte Lärm vermeiden. Sein Messer wartet am Gürtel.

Tricia dreht um und drückt noch einmal auf den Aufzug.

Der Kopf am Microskop geht hoch. Grüne Augen unter dunklem Haar. "Was kann ich für sie tun?"

"Dr. Hue", sagt Zeno

"Dr. Hue ist kurz mal weg", antwortet der Kopf. "Vielleicht versuchen es später noch einmal. Hier ist der Zutritt übrigens verboten."

"Entschuldigung", sagt Zeno und geht.

Tricia ist im richtigen Stockwerk.

Yuan setzt sich und beginnt zu löffeln.


Zeno findet die Herrentoilette und sucht unter den Türen nach Füssen. Alles leer. Er huscht auf den Gang, Richtung Aufzug.

In der Kantine hebt Yuan den Löffel zum Mund. Er spitzt die Lippen und bläßt den Dampf von der Oberfläche. Ohne diesen Schutz ist die Suppe im Löffel direkt der Umgebungstemperatur ausgesetzt.

Dann wird es dunkel. Und warm.

"Liebling?", fragt Yuan, als er die Hand auf seinen Augen fühlt.

"Wer ist Dein Liebling?", fragt die Stimme und hält Yuans Augen fest geschlossen.

Zeno liebt es die Kontrolle zu haben. Er liebt es mit seine Opfern zu spielen. Manchmal macht das Opfer nicht mit. Manchmal verbietet es die Situtaion. So wie auf Cuba.

"Natürlich Du", antwortet Yuan.

Die Bedienung hinter der Theke schiebt einen Wagen voll benutzter Teller in die Küche. Die Tabletts scheppern hell, trotz weicher Rollen auf glattem Boden.

"Da hast Du aber Glück gehabt", sagt Tricia, bevor sie Yuan seine Augen zurück gibt.

Zwei Stockwerke tiefer entscheidet sich Zeno die Kantine zu prüfen. Vampire geben oft vor, menschliche Nahrung zu benötigen. Das treibt sie dann auch zur Toilette. Irgendwo muss das überflüssige Zeug ja hin.

"Eigentlich ist die Kantine ja nur für Mitarbeiter", schimpft Yuan im Spass.

"Dann musst Du mir eben den Kaffee besorgen", sagt Tricia und setzt sich.

Der Aufzug ist leer. Zenos Finger drückt auf die 5. In Cuba hatte er immer zuerst ein Gitter zuziehen müssen, bevor der Augzug los fuhr. Hier ist das nicht mehr nötig. Fortschritt.

Als Yuan mit dem Kaffee zurück kommt liegt verknittert ein gelb-schwarzes Poster den Tisch.

"Überall sehe ich immer nur dich", sagt Tricia

"Oh, ja, äh.... , das ist schon lange her."

"Es ist nächste Woche."

"Wirklich? Nächste Woche?" Yuan prüft übertrieben genau das Datum. "O.K., ich war mal etwas Zen-mässig ..."

"Also Du bist es tatsächlich", unterbricht Tricia, "Ich dachte schon es sei vielleicht ein Doppelgänger oder so."

"Natürlich ist das ein Doppelgänger. Tricia. Du hast doch nicht etwa im Ernst geglaubt, dass ich Professor Lao..."

Zeno tritt leise auf abwaschbarer Kantinenboden. In Lagos hat er einmal fast 6 Wochen mit einem Opfer gespielt. Am Ende hat es selbst ihm leid getan. Langfristig sind ein bis zwei Tage an besten. Man lernt sich zwar kenne, aber nicht gut genug um zu viel füreinander zu empfinden.

"Hey, Yuan, es ist mir egal wer oder was Du alles bist. Meinetwegen kannst Du was weiss ich sein. Ich möchte nur nicht, dass Du mich anlügst."

Aus säulengeschenkter Unsichtbarkeit heraus, begutachtet Zeno die Lage. Yuan und Tricia sind kein Problem. Die Bedienung am Tresen ist geistig auf Stand-by und schiebt am Computer elektronische Spielkarten hin und her. Hinter dem Raucherglas arbeitet jemand an seinem Lungenlippenkehlkopfkrebs. Am Fenster lachen drei Schwestern, die höchstwahrscheinlich innerhalb der nächsten 40 Sekunden wieder auf ihre Stationen verschwinden. Die Eine hat gerade kurz, aber deutlich nach draussen geblickt. Ein Zeichen, dass Konzentration abwandert, schon wieder beim Nächsten ist, weiter hastet, zurück zum Blinddarm mit dem süssen Lächeln, oder dem Hüftgelenk, die ihr immer Pralinen anbietet.

Zenos Hand greift in das Dunkel des Mantels, dahin, wo sonst das Herz schlägt.

"O.K. Tricia. Ich bin Professor Lao. Na und? Die Leute mögen das eben."

Zenos Herz liegt von Geburt an auf der anderen Seite. Das Fadenkreuz vor seinem Augen bewegt sich gleichmässig, ruhig, entspannt.

"Ich glaube, ich mag Dich auch, Yuan."

Zeno öffnet kurz das zweite Auge um die Kantine zu checken.

"Tricia."

Die Kantine ist ruhig. Die Schwestern sind weg. Yuan und Tricia sind perfekt positioniert.

"Danke, dass Du nicht lügst."

Zeno drückt ab.

Tricias Kopf neigt sich nach unten. Ihre Augen schliessen sich langsam. Sehr edel. Ihr Körper geht tiefer.

Zeno schiesst noch mal.

Yuans Kopf dreht sich zu Tricia. Seine Lippen zittern ein wenig. Yuans Augen bleiben geöffnet.

Zeno schiesst weiter.

Tricias Lippen treffen auf Yuans. Ganz kurz nur. Eine Erinnerung an die letzte Nacht, zaghaft, wegen der Öffentlichkeit der Kantine, auch, wenn diese fast leer ist.

Zeno hat genug. Die Kamera rutscht zurück in den Mantel. Lautlos dreht er sich um, entschwindet aus der Kantine, der Etage, dem Gebäude, der Erinnerung. Nur ein paar Millionen Elektronen auf dem Chip seiner Kamera speichern das Geschehene. Deng wird ihn lieben. Das Spiel beginnt.
627.

Würden die Opfer nicht zu Staub zerfallen, wüchsen die Haufen stinkend zum Himmel. Deng läßt das Sterben unbetrachtet an sich verüber ziehen. Er schaut nicht einmal mehr auf die Leichen der Rumänen. Ungeduldig hängt sein Amulett am Hals und erwartet mehr Macht.

Sodom und Gomorra sind aus dem Zimmer gebeten worden.

"Geht euch amüsieren. Schlaft miteinander. Kauft etwas."

Deng öffent die Türe seines begehbaren Kleiderschrankes. Links zwei mal sechs Meter westliche Kleidung, rechts zwei mal sechs Meter östliches Gewand. Dazwischen, hinter Glas, wertvollster Prunk aus vergangenen Jahrhunderten. Deng öffent die Glastüre und streicht über goldene Stickerein, Edelstein besetzte Manschetten, Kimonos, in denen so viel Edelmetall verwoben wurde, daß ein menschlicher Träger vier Kleiderdiener benötigt, um diese akkurat anzuziehen.

Deng nimmt das erste Krönungsgewand der Ming Dynasty vom Haken. Die Leuchtkraft der Farben fast heller als damals. Damals, als Deng sie nur vom Mond oder von Kerzen beschienen sah und nicht wie heute im sichereren Xenon-Licht der Deckenbeleuchtung. Heute nacht wird er sich selbst Krönen. Ganz allein. Nur die private Dienerschaft und eine wunderschöne, unschuldige Jungfrau aus Xiang, die er vor einigen Monaten extra für heute Nacht hat einfliegen lassen. Bisher hat sie beim Sender gearbeitet, hat Millionen von Zuschauern mit ihrer zarten Haut verzaubert, mit ihrem langen, schwarzen Haar. Heute nacht wird sie sein Krönungsmahl. Seine Nachspeise.

Deng betrachtet sich auf dem Videoschirm. Machtvoll sieht er aus. Genau wie der Weltherrscher, der er in wenigen Minuten sein wird.

Er schreitet zum Koffer. Das schwere Gewand schluckt jeder Bewegung. Als würde er gleiten. Seine Hand macht eine kreisende Bewegung. Der Koffer springt auf.

In wenigen Sekunden wird er zwei der drei Teile des Amuletts der Dreifaltigkeit zusammen fügen. Seit 666 Jahren waren sie getrennt, verborgen in den Feuern der Hölle und den Weiten der Erde. Er wird ihr neuer Meister sein. Ihr Kaiser.

Unscheinbar liegt "Die schlagende Hand" vor ihm. Unscheinbar. Alt und zerbrochen, wie das Amulett um seinem Hals.

Die schlagende Hand. Das Amulett der Erde. Urheber der Kriege. Bezwinger von Feinden und Freunden. Vater der Waffen der Sieger. Die schlagende Hand, deren Blitze alles vernichten. Endlich.

Deng nimmt das Medaillon aus dem grünen Schaumstoff, der es sorgfältig schützt, wie eine Höhle, grob, aber perfekt herausgeschnitten von Zenos Messer, noch während dieser im Taxi sass, auf dem Weg raus aus Havanna und hin zu Dengs Geld.

Ein feines Leuchten geht von den Amuletten aus, jetzt wo sie so nah besammen sind. Alt ist das Leuchten, fahl. Nicht heller als Mondlicht in einer tiefen Grube.

Über der Stadt verdunkeln Wolken den Tageshimmel. Einen Himmel, den Deng seit Jahrtausenden nicht mehr gesehen hat, ohne Schutz. Einen Himmel, den er zu seinem neuen Domizil machen wird. Einen Himmel, der über allem steht. Der alles überspannt. Wachsam und allgegenwärtig.

Aus dem Zentrum der Amulette heraus entwickelt sich ein stärkeres Licht. Nicht unbedingt heller, aber kraftvoll. Mächtiges Licht, blitzend.

Deng wird die Menschen verdammen, zu leben jetzt die Vampire. Verabscheut, verachtet, sollen sie in ewiger Dunkelheit dahin vegetieren, ständig auf der Suche nach dem Schluck Blut der Engel, die nach Dengs Machtübernahme auf den Erde geworfen werden, um sie zu bewirtschaften, im Schweisse ihres Angesichtes. Geschundene Körper in elenden Hütten, geplagt von dem Wunsch nach Reichtum, verfolgt von der Angst, das alles so bleiben könnte, schlimmer werden könnte, Not kommen könnte und Krankheit und Hunger und Krieg kommen könnte und ihnen alles wegnimmt, was sie erarbeitet haben, in all den Jahren der Enthaltsamkeit und der Plage um etwas Besitz. Die Vampire jedoch wird er ins Paradies führen, wo er leben wird, endlich leben, aus vollen Zügen, mächtig, glücklich, satt auf dem Himmelsthron, umringt von ergebenen Dienern, Heerscharen, die ihn anbeten, ihn preisen, ihn hochloben, verehren, vergöttern.

Immer kraftvoller wird das Licht der Amulette, die Deng mit ausgestreckten Armen langsam zusammen bringt. Jetzt beginnt es zu strahlen, wirft archaischen Schein von einem Amulett zum anderen, läßt das eine fühlen, dass das andere da ist. Endlich. Nach all den einsamen Jahren.

Draussen rasen die Wolken zusammen, überrollen den Wind, der aus allen Himmelsrichtungen bläst, ohne Ursprung und doch hin zu Deng werfen sich die Naturgewalten, hin zu den Amuletten, die immer kräftiger leuchten, immer mehr nach Vereinigung schreien, kleine Blitze werfen, hoch über Dengs Kopf.

Im Zimmer schleudert sich der Sessel zur Seite, stellt der Coachtisch sich auf, rutscht über den Boden, zerrt die Stehlampe an der Schnur und gewinnt, Stühle, Vasen, Beistelltische scharen sich um Deng, bilden den magischen Kreis, heilige, reine Form, das Tor zu den Mächten, das Zentrum der Kraft. Mitten im Kreis regiert Deng, lädt Himmel, Erde, Hölle ein, seiner Transformation beizuwohnen und führt schliesslich die beiden Teile zusammen.

Ein Ruck geht durch die Welt.

Deng platzt aus sich heraus, füllt Raum und Zeit, Spiritualität und physikalische Welt, leuchtet, brennt, schreit, fällt wieder zusammen, wirft die Möbel, die Wolken, die Winde, die Engel, Teufel, Menschen zurück an ihren Platz und hält das vereinte Amulett in der Hand.

Die Bruchkanten sind verschmolzen, als wären sie niemals getrennt worden. Im Zentrum des zweidrittel Runds wacht allmächtig die Pyramide mit dem sehenden Auge, dessen magische Strahlen der schlagenden Hand in einen grossen Davidstern übergehen. In den Zacken des Sterns geben Runen geheime Kraft. Neben den Zacken, in den Zwischenräumen wachen vier der sechs Kreise von Erde, Wasser, Feuer, Luft, Leben und Tod. Dann kommt ein Ring mit fremden Buchstaben, danach zweieinhalb der vier Dreiecke mit den Himmelsrichtungen, gefolgt von dem äussersten Ring mit wieder anderen Schriftzeichen und dem Riss, da wo das dritte Amulett fehlt.

Leibwächter stürzen herbei. Die Jungfrau in ihren Armen. Deng liegt am Boden. Kraftlos. Matt. Einer der Vampire hält sein Ohr an Dengs flüsternden Mund.

"Blut", haucht Deng und verliert das Bewusstsein.

628.

Alexander Szeneszy reißt es zu Boden.

"Ich bin Arzt", hört er es lallen und sieht um sich eine verschwommene Mauer aus noch verschwommeneren Gesichtern. Jemand öffnet seinen Kragen. Über ihm rasen schwarze Wolken über die Dächer. "Oh mein Gott", sagt Szeneszy.

"Nur ein Schwächeanfall", schabbert die Stimme und Szeneszy fühlt etwas kühles in seinem Mund. "Hier, trinken sie mal."

Das Amulett an seiner Brust brennt heisser als das ewige Feuer der Seraphim, die es mit langen Zangen auf die Zungen der Ungläubigen legen, um ihnen zu zeigen, wo Gott wohnt. Irgendetwas unvorstellbares muss passiert sein. Irgendetwas mit dem Amulett.

"Danke, es geht schon", spricht eine Stimme, die klingt wie die Seine.

"Ich bringe sie in meine Praxis."

"Nein wirklich, danke."

"Dann nehmen sie wenigstens meine Karte."

Szeneszy greift nach etwas. Seine Hand stützt sich auf das Kopfsteinplaster und drückt ihn schwer nach oben. Der schwarze Himmel verliehrt seinen Zorn. Das Brennen läßt nach. Nur das Gewicht des Amulettes reißt noch an ihm. Seine Ohren platzen durch die dumpfe Mauer , lassen wieder höhere Frequenzen zu, die Augen sehen wieder schärfer. Die Kehle bleibt trocken, die Nase riecht noch immer nicht richtig, schwanken stabilisiert sich. Szeneszy steht langsam auf.

Über ihm hat der Himmel sein winterliches Einheitsgrau zurück.

Die Leute stehen noch da. Blicken ihn prüfend an, als ob sie wetten wolten ob er noch einmal zu Boden geht, oder weiter kämpft, sich in die nächste Runde herüber rettet, bevor er dann irgendwann auf ewig liegen bleibt.

Seine Knie schmerzen. Seine Adern schmerzen. Seine Brust schreit vor schmerz. "Danke, es ist wirklich alles Ordnung."

Automatisch setzt er einen Fuss vor den anderen. Schritt auf Schritt, bis er schliesslich vor der Jesuiten-Kirche steht, sich die Stufen empor qäult, Fatimapilger, alles auf blutigen Knien zur Huldigung Gottes, die rechte Türe stößt er auf, Schweiß perlt von den Schläfen, Nachbeben, irgendetwas schreckliches muss passiert, irgendetwas mit den Amletten. Barocker Pracht versucht vergebens sein Brennen zu kühlen. Er ist völlig erschöpft.

Zu dem Seitenaltar, abgetrennt vom Kirchenschiff durch hohe, gewundene Gitter, ganz ohne Kerzenbänke und Spendengefäss, unscheinbar im Dunkeln. Das Wichtigste, wie immer, am unscheinbaren Ort. Wahre Macht will verborgen blieben. Szeneszy geht auf das Gitter zu und durch es hindurch, so, als ob es gar nicht da wäre.

Hinter den Gittern kniet er nieder, öffnet die Flügel des kleinen Altars und faltet ergeben die Hände.

"Hast Du meinen Auftrag ausführt?", erschallt es in ihm.

"Noch nicht ganz, Herr. Aber, die Vampire vertrauen mir."

"Ich habe eine Erschütterung gespürt" donnert es in seinem Körper.

"Ich glaube die chinesischen Vampire..."

"Ich habe dich nicht auf die Erde gesandt, um zu glauben. Glauben, dass machen machen schon die Menschen. Wissen sollst Du. Wissen. Ich habe eine Erschütterung gespürt!", unterbricht ihn harsch die Stimme Gottes.

"Was soll ich tun, Herr?", fragt Szeneszy devot.

"Gabriel, bring mir das Amulett. Jetzt! Nimm dein Schwert. Tue alles was nötig ist. Ich will das Amulett! Fehle mich nicht, Gabriel. Hast Du mich verstanden? Fehle mich nicht."

"Ja, Herr."

"Nur für diesen einen Auftrag, bist Du auf der Erde. Du warst es, der mich bat Dich zu senden, Dir das Schwert zu geben, das Michael so lange führte. Jetzt ist die Zeit. Ich habe dir alles gegeben. Sogar die Kraft das zu tragen, was rechtmässig meines ist. "

Szeneszy fühlt das Amulett in seinen Händen. Kühl es ist, leicht. Als wäre nie etwas geschehen.

"Fehle mich nicht, Gabriel, fehle mich nicht. Ich wollte Michael senden. Du warst es, der mich bat, dich in den Kampf zu schicken. Michael kann das Schwert führen, wenn Du zu schwach bist. Ich habe eine Erschütterung gespürt."

Die Stimme verschwindet aus seinem Körper. Einen Moment lang bleibt Szeneszy noch knien. Dann schliesst er die Türen des Altars und geht durch die Gitter zurück in das Gold der Kirche.

Am Hauptaltar streichelt ein Priester einem jungen Ministranten etwas zu lang über den lockigen Kopf "Gott, ist ein Vater, ein Freund...", sagt der Priester.

"Gott, mein kinderliebender Mensch", denkt Szeneszy, "Gott ist ein Gangster."
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Auszug aus dem Fasttagebuch von Paul Scheutz, ohne Ort und Datum

Habe heute mit Beau geschlafen. Nach Tina, Julia und Janette eine echte Überraschung. Sie ist angenehm wild, und erinnert mich ansatzweise sogar an Claudia, besonders, wenn sie es mit der Zunge macht.

Sie hat schon am Anfang zugelassen, dass ich ihr die Augen verbinde und sie am Bett fessele. Dann haben wir es auf dem Sessel gemacht, über der Lehne, und schliesslich ist sie fast eine Minute lang voll vaginal gekommen, als ich XXX machte. (Du weisst schon, was ich meine, liebes Fast . Das, weswegen ich vorigen Samstag in der Stadt war.) Ich bin ihr Herr und Gebieter. Super.

Tricia ging es heute besser. Ich glaube sie hat es vorige Nacht getrieben, wahrscheinlich mit dem schokobraunen Typen, von Ihrem Rot Kreuz Auto. Schwarze sind da ja besonders gesegnet, obwohl Jerome unten eigentlich ganz normal war.

Auf jeden Fall hat sie (Tricia) getanzt wie nie. Sie trug die alten, hautfarbenen Leotards, weil sie ihre Tasche irgendwo vergessen hatte. Sah sexy aus, aber die schwarzen sind besser, obwohl die hautfarbenen an den Rundungen geil glänzen, was ich ja schon immer gut fand.

Angeblich soll Gomorra Yin in der Jury bei S.W. sitzen. Tricia wird es trotzdem schaffen, da bin ich sicher.

Gabor hat geEmailt. Er ist jetzt in Neuseeland, hängt aber noch immer mit der Norwegerin zusammen, die er in Bora Bora getroffen hat. Die muss ja echt geil sein.

Ich glaube, ich rufe jetzt Beau an. Ich hab schon wieder Lust auf sie. Ich nehm mein Köfferchen. Mal schauen wie sie auf Droge ist.

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629.

Die Rosen im Volksgarten stecken mit dem Kopf unter groben Jutesäcken. In Reih und Glied stehen sie da, als ob sie auf ihre Hinrichtung warten.

Tief unter der Erde, zu Füssen des Denkmals der Kaiserin, geliebte Sissy, schönste Kaiserin, bayrischer stolz Österreichs, zu ihren Füssen, also, tief unter dem Mamor eilt Hagazan durch die geheimen Gänge.

Der Hunger treibt Unmengen von Vampiren zu seiner Armee, die grosse Erfolge feiert, aber weder an Deng herankommt, noch einen Abzug der Chinesen erzwingt. Dabei ist alles perfekt organisiert. Aber diese Flaschen von Soldaten töten nur Fussvolk.

Wahrscheinlich ist Deng schon längst ausser Landes. Sitzt irgendwo in der Mongolei und läßt seine Befehle per Internet weiterleiten.
Die Gefangene wissen auch nichts. Die besten Spezialisten hat er eingeflogen. Alte Hasen. Alle jahrhunderte lange Erfahrung. Einige sogar speziell nur mit chinesischen Vampiren. Aber kriegen sie Antworten? Erfahren sie etwas über Dengs Versteck? Dengs Pläne? Idioten. Versager. Waschlappen. Alles muss man selber machen.

Hagasan biegt unter dem Parlament, rechts hoch, in Richtung des alten Klinikums.

Die Gefangen sagen immer das selbe. Niemand hat Deng je persönlich gesehen. Die Befehle kommen direkt aufs Handy. Karten, Zeiten, alles. Immer neu verschlüsselt. Das muss man doch knacken können. Da muss man sich doch Zugang verschaffen. Dummköpfe.

Unter dem Klinikum ist das Hauptquartier. Die Steurzentrale. Melog kümmert sich ja auch nicht. Alles muss man allein machen. Einsamer Soldat. Einsam.

Am nachmittag muss er Melog und Szeneszy berichten. Da braucht er Erfolge. Er kann nicht mal einen gefangenen General zeigen. Alles nur Fussvolk. Am Besten er läßt etwas bombardieren. Eine Fabrik. Dann kann er sagen, es wäre eine Blutfabrik gewesen. Das hebt die Moral.



Für Teil 2 (bis Ende) bitte ein email an: dietmar.dahmen@utanet.at


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.10.2009

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