,,Seit nun mehr als eineinhalb Jahren werden der nun bereits achtzehn jährige Jason Lestrange und die fünfzehnjährige Sarah-Jane Gray aus dem Londoner Stadtbezirk ,,The City of London“ als vermisst gemeldet. Am frühen Nachmittag verließ er das elterliche Haus, um mit einem Freund in der Bücherei zu lernen. Zwei Tage später verschwand auch Sarah-Jane auf geheimnisvolle Weise.
Seitdem fehlt jede Spur von ihnen.
Überall wurde nach dem Mädchen und dem Jungen gesucht, eine Fahndung an die Öffentlichkeit herausgegeben - alles ohne Erfolg. Doch geschlossen werden die Akten nicht. Die Hoffnung wurde noch nicht aufgegeben. Polizeisprecher Beckenbauer verspricht, sobald sich neue Ansätze ergeben, werden sie wieder geöffnet und es wird weiter ermittelt. Die Polizei spricht von Entführungen, gar von Mord. Noch unklar ist, wo sich Jason und Sarah-Jane zurzeit aufhalten oder ob sie am Leben sind…“
Bedeutungsvolles Schweigen
,,Bereue nie was du getan hast, wenn du im Augenblick des Geschehens glücklich warst.“
Sonntag.
Liebevoll, ja, beinahe hingebungsvoll bestaunte ich kurz das majestätische Breitschwert in meiner schmalen Hand und wog es ab. Allzu schwer war es nicht.
Perfekt ausbalanciert lag der Knauf federleicht zwischen Daumen und Zeigefinger.
Wie es sein sollte. Wie eine Verlängerung des Armes. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Gewicht, das sich in meine Hand schmiegte.
Seit langem hatte ich es vermisst, hatte meine Energie extra hierfür aufgespart und heute war endlich der Tag, an dem ich diese belebende Kraft in mir freien Lauf lassen konnte.
Jedes Mal, wenn ich eine Waffe in die Hände nahm, verspürte ich dieses eigenartige Kribbeln durch mich hindurchfahren. Angefangen von meinen Fingerspitzen bis hin zu meinen Zehen.
Der Schwertkampf war belebend, berauschend.
Dann machte ich einen Schritt nach vorn, stieß mit der todbringenden Klingenspitze in meinen imaginären Gegner, sprang zur Seite, rollte mich auf den Boden ab und schlug erneut zu.
Der Waldboden unter meinen nackten Füßen gab leicht nach und das kalte Moos schmiegte sich zwischen meine Zehen. Ich verharrte in gebückter Haltung, den Arm mit der Klinge noch immer ausgestreckt und hörte auf den Herzschlag in meiner Brust.
Während der gesamten Übung waren meine Sinne auf das äußerste geschärft und meine Muskeln bis zum Zerreißen angespannt. Ich musste mir den Kampf verinnerlichen, in welchen Situationen ich was anwende und wie der Gegner darauf reagieren würde. Das war überlebenswichtig, wenn man ein Schwert besaß und führte. Konzentration war wichtig. Niemals den Feind aus den Augen lassen und ihm den Rücken kehren. Immer beobachten was er tut, welche Schritte er macht, wie man sich einen Vorteil verschaffen kann.
Aufmerksam sein, seine Schwächen finden und gegen ihn verwenden. Zustechen, wenn er es am wenigsten erwartet.
Zweifels ohne wäre ein echter Übungsgegner eine bessere Alternative gewesen ein solches Gefecht auszutragen. Mit bedauern stellte ich es immer wieder fest.
Ich richtete mich auf und strich mit einem Finger oberhalb der Klinge entlang, vorsichtig, damit ich mich nicht verletzte. Mit großen Augen betrachtete ich, wie sich die Sonnenstrahlen in der Klinge spiegelten.
Das Schwert besaß eine einzigartige rotschillernde Farbe, die sich in den Sonnenstrahlen brach und je nach Winkel oder Bestandteil, die Farbfacetten änderte. Zum Beispiel jetzt war es in einem dunklen Rot, vielmehr Blutrot. Sie schrie förmlich nach Gefahr. Nach Gefahr und blutiger Vergangenheit.
Mein alter Meister schenkte mir das Schwert kurz bevor ich umzog. Nur widerwillig nahm ich das Geschenk an, da ich wusste, wie viel es ihm bedeutete.
,,Schwinge es mit Bedacht.“, hatte er mir geraten und mich ernst angeschaut. ,,Und füge nicht unnötig Leid zu, wenn du es verhindern kannst.“
,,Hat es auch einen Namen?“, fragte ich interessiert nach. In Büchern las ich, dass Schwerter Namen besaßen. Man gab sie ihnen, nachdem sie nach langer schweißtreibender Arbeit angefertigt worden waren – um ihnen eine Art Persönlichkeit zu geben, weil jedes davon einzigartig war und nur die besten Schmiede sie schmieden konnten. Aber heutzutage wurden sie nicht mehr nach alter Tradition hergestellt. Kaum jemand kannte das Geheimnis der Schwertschmiede und nur sehr selten besaß einer die Fertigkeiten, die es benötigte, um es anfertigen zu können.
,,Das Schwert heißt Ihoss.“, erklärte er verwundert und erstaunt gleichzeitig. Was für ein komischer Name. Mein Meister hatte mich angesehen, als hätte ich das achte Weltwunder entdeckt oder eine tote Person wiederauferstehen lassen. Daraufhin schwieg er und ignorierte jegliche meiner Nachfragen.
Zurück in der Gegenwart schob ich das Schwert in die Scheide - seit Stunden hatte ich nun schon
geübt - und bewegte mich lautlos durch das Geäst, schlich mich an hohen alten Bäumen vorbei, deren Lebenspanne weit mehr als ein halbes Jahrhundert betrugen und dementsprechend mächtig aussahen.
Fahles Licht gleißte zwischen den Tannen und Bäumen hindurch, warf seltsame Schattenfiguren auf die umlegenden Steinen und umgestürzte Baumwurzeln. Geraume Zeit später stieß ich auf den Pfad, der mir bekannt war und folgte diesen zum Dorf. Vögel zwitscherten ein melancholisches Lied nach einer Mischung aus herzzerreißender Sehnsucht und fortwährender Liebe. Ein Käuzchen am Waldrand stimmte wehmütig in den letzten Chor des Tages ein.
Knapp eine halbe Meile folgte ich den Weg, bis ich an den ersten Häusern vorbeikam.
Der schmuddelige Pfad wechselte zu einer roten Pflasterstraße, einige Schlaglöcher und Unebenheiten waren zu erkennen, aber trotz dieser Mängel war es begehbar.
,,W-o-W!“ Ich formte das Wort zu drei Silben.
Es war anders als ich es mir vorgestellt hatte - moderner und gepflegter. Nicht so heruntergekommen und verlassen, wie ich es geglaubt und mir vorgestellt hatte. Heute war mein erster Tag, ab heute fing für mich das Dorfleben an.
Manche Häuser hatten weinrankenüberwucherte Balkone oder hinter Sichtschutz versteckte Terrassen. Der Rasen war absolut einheitlich gemäht, die Hecken akkurat geschnitten, das Moos von den Dächern säuberlich entfernt, das Unkraut gejätet und die Fassaden der Häuser ordentlich gestrichen.
Wo hatte mein Vater mich nur hingeschleppt? Am liebsten hätte ich auf dem Absatzkehrt gemacht, wäre zu meinem neuen Zuhause gestampft und hätte gefordert, augenblicklich wieder nach England zu ziehen.
Das einzig Gute in diesem Kaff waren der Mini-Supermarkt im Ortszentrum, die kleine Dorfkneipe am Rande des Dorfes, die kleine Apotheke, dessen Schaufenster sommerlich zurecht dekoriert wurde und, wie erstaunt ich darüber war, die Schule, auf der ich ab Morgen gehen würde.
Den ganzen Weg hatte ich das unwohlere Gefühl, beobachtet zu werden. Ich spürte die Blicke in meinem Rücken ganz deutlich. Sie drückten sich praktisch in die Haut und krochen in den Rückenwirbel.
Unbehaglichkeit breitete sich in meinem Magen aus. Nervös fuhren meine Augen umher.
Auf einem Balkon erblickte ich schließlich einen jungen Mann, Anfang zwanzig, wie ich ihn schätzte, mit tiefschwarzen Haaren, schmalen gebogenen Lippen und Augen, die im schwachen Schein funkelten.
Die Farbe seiner Augen blieb verborgen. Zu gerne würde ich den undurchdringlichen Blick, Farbe verleihen, ein wenig Leben einhauchen.
Weiße und unberührte stramme Haut zeichnete sich unter dem schwarzen Hemd ab, wobei der Kontrast zwischen dem Hemd und der Haut unglaublich subtil war. Und dennoch schmeichelte ihm der dunkle Stoff, als wäre er extra für ihn gemacht.
Meine Intuition sagte mir, dass er mich beobachtete.
War ich so interessant, dass er mich ansehen musste? Oder bildete ich mir alles nur ein?
Ja, das musste die Einbildung gewesen sein. Jetzt fantasiere ich schon und reimte mir zusammen, jemand würde mich beobachten. Mehr aus Höflichkeit schaute ich weg und ignorierte ihn bewusst.
Sollte er sich ein Bild von mir machen, damit er mich anstarren konnte, wann immer er wollte.
Ich erhöhte meine Schrittgeschwindigkeit um schneller wegzukommen.
Und so tollpatschig wie ich war, trat ich mitten in eine Pütze. Die Pfütze versenkte meine Füße vollständig bis zu den Gelenken, Wasser spritze an meine nackten Beine und lief eiskalt und schaudernd hinunter.
Vor Schreck schrie ich kurz auf, zog die Luft scharf ein und biss meine Zähne zusammen.
Oberhalb auf dem Balkon hörte ich ein leises, aber herzzerreißendes musikalisches Lachen, das mir den Atem raubte. Zitternd sah ich nach oben, doch er war verschwunden. Wo er einst stand, umwehte ein leichter Luftzug die Vorhänge hinter der offenstehenden Terrassentür.
Fluchend setzte ich meinen Weg fort. Er war Zeuge meiner Tollpatschigkeit und hatte sich darüber schlappgelacht. Gerne wollte ich vor Scharm im Boden verschwinden, mich unter der Bettdecke verkriechen, solange bis er es vergaß. Ob er es überhaupt vergaß, stellte sich die Frage.
Sein Gesicht war mir unbekannt und ich konnte ihn nicht nach seinem Äußeren beurteilen, wie seine Persönlichkeit war. Das wäre zu oberflächlich. Und das war ich nicht. Jedenfalls würde ich ihn bestimmt wieder über den Weg laufen, da das Dorf so klein war und man sich nicht ausweichen konnte. Es war unheimlich erschreckend so dicht beieinander zu wohnen. Wir lebten wie in einer Kolonie, Reihe an Reihe. Unweigerliche Bekanntschaften waren unumgänglich.
Dank der Sonne, trockneten meine Beine schnell. Noch während des Nachhauseweges erstarb das Zitternd und ich fühlte mich wärmer.
Wenn auch nicht viel, da der kalte Wind allmählich zunahm und dunkle Wolken vor den Himmel zogen. Die Kälte ließ die Temperatur der Erde in binnen wenigen Minuten abkühlen und die Stille, die allgegenwertig war, trat deutlich hervor und ich spürte sie in meinen Knochen.
Toten still.
Alles verstummte, nur der Wind fegte durch das Unterholz und durch die Laubblättern, die reglos auf dem Boden lagen und sich ausschließlich regten, wenn eine Brise vorbei zog.
Schneller als zuvor bewegten sich meine Füße vorwärts. Die Kälte und die Stille jagten mir unerklärliche Angst ein. Und auf einmal wollte ich nur noch zu Hause sein.
Ich nahm meine Beine in die Hände und rannte, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter mir her.
Erleichtert schloss ich hinter mir die Tür, lehnte mich an sie und schloss meine Augen einen winzigen Moment. Ein Glück, ich war zu Hause. Erleichterung breitete sich aus und mein rasendes Herz beruhigte sich.
,,Nesi, Schätzchen, bist du das?“, rief meine Mutter, während sie fröhlich ein Lied pfiff und in der Küche zwischen Töpfen und Topfdeckel herumhantierte. Was für eine blöde Frage. ,,Ja, Mom, ich bin´s.“ Wer sollte es sonst sein? Jemand anders?
,,Komm in die Küche und iss mit uns.“ Der Geruch von Kartoffelecken mit Majoran, dicken Bohnen und einer selbstgemachten Bratensauce zog durch das Haus, ließ meinen Magen hungrig knurren und meine Beine, wie von selbst, in die Küche vorantreiben. ,,Riecht gut.“, machte ich meiner Mom ein Kompliment für ihre gute Kochkunst, und schaufelte mir Unmengen auf mein Teller. Meine Familie und ich ernährten uns ausschließlich vegetarisch - keine von Tieren produzierten Produkte. Dad blätterte in einem Buch, ein richtiger Wälzer mit schätzungsweise neunhundert Seiten, derweilen er seine Gabel, die leer war, immer wieder in seinen Mund steckte und leise vor sich her sprach.
,,Schizophrenie, da haben wir es ja … ist eine psychische Erkrankung… gestörtes Verhältnis zur Realität… äußert sich durch Halluzinationen… und Wahnvorstellungen...“
Mom, die über sein Verhalten verwirrt war und aufhörte zu kauen, konnte diesen Akt der Verzweiflung nicht mehr mit ansehen. ,,Schatz, soll ich dir dein Essen warmstellen?“ Ihre Finger zuckten schon in Richtung der Wärmebehälter. ,,Wie bitte?“ Dad sah irritiert auf. ,,Was hast du gesagt, Liebling?“
,,Ob Mom dir dein Essen warmstellen soll, hat sie gefragt.“, wiederholte ich Moms Frage barsch und schenkte ihm einen Blick, der Bände sprach. Wenn Blicke töten könnten, schoss mir der Gedanke durch den Kopf. Heute war Dad ziemlich neben der Spur. Ob es etwa am Wetter lag? Dad atmete tief aus, presst seine Augenlider zusammen, bevor er sie öffnete und verbittert lächelte. Ein Hauch von Müdigkeit lag darin.
,,Schon gut… Tut mir Leid, wir haben gerade viel zu tun in der Klinik. Papierberge ohne Ende. Ein Patient mit Schizophrenie kam gestern zu uns. Uh, übler Fall. Seine komplette rechte Körperhälfte war zerschmettert. Dank des Autounfalls. Und statt bewusstlos zu sein, plapperte er nur wirres Zeug und sah Dinge, die gar nicht da waren. Wenn ich daran denke, wie viel Morphium wir ihm verabreichen mussten…man o man… Jetzt liegt er jedenfalls einige Wochen auf der Intensivstation bis seine Lage einigermaßen stabil ist und wir ihn auf die Krankenstation verlegen können.“ Papas Fachgebiet war Unfallchirurgie, größtenteils auch Allgemeinmedizin. Das zweite Studium zum Allgemeinmediziner hatte er abgebrochen, als er Mama heiratete. Normallerweise waren geistesgestörte Patienten das Aufgabengebiet einer Psychiatrie und keiner Klinik. Kein Wunder, dass er sich aufregte. ,,Ihr hättet ihn hören sollen! Lauter krankes Zeug, wie - ,,Nimmt euch vor den Vampiren in Acht!“ oder ,,Es werden neue Opfer den Weg ins Jenseits finden“. Und wer erledigt jetzt den ganzen Papierkram? Ich, wer sonst. Aber die Hauptsache war, wir hatten alle unseren Spaß.“, witzelte Dad, um die Stimmung aufzuheitern und zuckte die Schultern. Ich fragte mich, ob Geisteskranke wirklich so gestört waren, wie behauptet wurde.
,,Doch genug davon. Ich möchte euch das Abendessen nicht verderben. Guten Appetit.“ Dann langte er zu. Mama nickte zufrieden und aß weiter. Als hätte Papa nie etwas gesagt.
,,Bevor ich es vergesse, deine Tante Olivia hat dir ein Packet geschickt. Es liegt in der Stube.“, erklärte Mama im Plauderton, als wäre es normal, dass Tante Olivia mir ein Packet schickte. Tante Olivia war eine typische Engländerin, die schwarzen Tee pünktlich zur Nachmittagszeit einzunehmen bevorzugte, Gebäck dazu zu knabberte und sich gerne in Büchern wälzte. Nichts desto trotz, dass sie telefonisch selten von sich hören ließ, war sie meine liebste Tante. ,,Hat sie vergessen, dass ich erst Samstag Geburtstag habe?“ Meinen Geburtstag vergaß sie fast jedes Jahr. ,,Ja, hat sie wohl. Auf dem Packet steht überall ,,Happy Birthday“ geschrieben. Sogar Luftballons hat sie aus der Zeitschrift ausgeschnitten und aufgeklebt.“
,,Macht nichts. Ich rufe sie nachher an und bedanke mich.“ Das verlangten nun mal die Höflichkeit und der Anstand. Papa blieb kommentarlos und beschränkte sich darauf, mich zu übersehen und zu überhören. Ausnahmsweise war ich ihm dankbar.
Sobald wir mit dem Essen fertig waren, verschwand ich im Bad des Erdgeschosses, ließ warmes Wasser in das Waschbecken laufen, zog meine Schuhe aus und wusch meine Füße und Beine mit Kernseife. Ich musste mich von dem Dreck befreien. Dann erst schritt ich die Treppe nach oben, aber nicht ohne vorher das Telefon und mein Schwert mit hoch zu nehmen und ließ mich oben in meinem Zimmer auf das Bett plumpsen, welches schräg zu den beiden Fenstern vorne und rechts ausgerichtet war. Schwaches Licht durchflutete die Fensterscheiben und von innen heraus konnte ich die schwarzen Wolken vorbei ziehen sehen. Die Telefonnummer meiner Tante wählte sich beinahe wie von selbst. Ich hielt das Display an mein Ohr und nach dem ersten Piepen nahm sie ab, als hätte sie die Zeit über direkt neben dem Telefon gestanden und gewartet, dass ich anrief. ,,Olivia Gray.“, meldete sie sich zu Wort und sofort umfing mich ihre samtige Stimme.
,,Hallo Tante Olivia, ich bin´s Nesi.“
,,Nesi! Wie schön von dir zu hören. Wie geht es dir, meine Kleine?“
,,Super, danke der Nachfrage.“ Sie schien ehrlich erfreut über meinen Anruf. ,,Du hast den Flug gut überstanden?“ Wie man es nehmen will. ,,Klar, sicher.“, log ich. Außer, dass ich mich übergeben musste und die halbe Flugzeit die WC-Kabine blockierte. Tante Olivia kannte mich und wusste dennoch Bescheid. Sie schnaubte und schimpfte:
,,Alexander hätte dich wenigstens nach deiner Meinung fragen können, dann wären alle Beteiligten glücklich und du müsstest nicht in einen Flieger steigen. Möchtest du nicht lieber zu mir ziehen?“ Meine Katze kam lautlos durch den Türspalt getapst und sprang geschmeidig neben mir auf das Bett. ,,Cherry, ich hab dich vermisst.“, flüsterte ich seufzend und streichelte ihren Rücken. ,,Nein, nein.“, lachte ich, genoss Cherrys Anwesenheit und stopfte das Kopfkissen unter meinen Kopf. ,,Ich werde es überstehen. Wirklich.“ Irgendwie. Sie schnaubte verächtlich.
,,Gut, aber wenn er auf die krumme Tour kommt, weißt du, wen du erreichen kannst. Dann komme ich und mach ihm lange Beine. Ich bin Tag und Nacht für dich erreichbar.“ Tante Olivia und ihre Abneigung gegen meinen Dad. Seitdem Tante Olivia herausfand, welchen Beruf mein Vater ausübte, verabscheute sie ihn. Früher hatte sie eine heimliche Beziehung mit einem Unfallchirurgen, der sie letztendlich betrog und wegen einer anderen hatte fallen gelassen, und ihr somit das Herz brach. ,,Ich merke es mir. Aber Tante Olivia, ich wollte mich bedanken für das Geburtstagsgeschenk…“
,,Gefällt es dir?“, unterbrach sie mich freudig und ich konnte sie schon vor Aufregung hüpfen, und in die Hände klatschen sehen. ,,Ich hab es dir extra anfertigen lassen.“ Heilige Scheiße, es war unfair, dass ich sie nun kränken musste. Verlegen gestand ich: ,,Äh, nein, noch nicht. Mein Geburtstag ist aber erst am Samstag.“ An der gegenüberliegenden Leitung wurde es ruhig. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. ,,Tante Olivia?!“ Ein Fluchen ertönte.
,,Ich wusste, ich hätte mir deinen Geburtsdatum in den Kalender eintragen sollen… Nesi, öffne das Geschenk nicht vor Samstag, hörst du. Das ist sehr wichtig.“ Ihre Bitte konnte ich unmöglich ausschlagen, also versprach ich es ihr hoch und feierlich. Sogar mit Hand auf dem Herzen. Tante Olivia schlug man nichts aus.
Mittlerweile waren die Wolken zu einer einzigen, grauen Wolkendecke verschmolzen und verdrängten die Sonnenstrahlen, die die letzte Wärme gaben. Es war Windstill und die Pflanzen und Bäume erstarrten zu leblosen Statuen. Mein Zimmer lag im Halbdunklen und die bizarren Schatten der geisterhaften Bäume und Tannen zogen sich durch die Spiegelreflexion in den Fensterscheiben in die Länge, als wurden sie durch einen Fleischwolf gepresst. Ich griff neben mich zum Nachttisch, tastete auf der Auflagefläche umher, bis ich das gefunden hatte, wonach sich mein Herz zum wiederholten Mal sehnte. Ein Foto. Von mir und meinem früheren besten Freund. Das Bild zeigte ihn und mich herumalbernd vor unserem Zelt, als wir unseren ersten Zeltausflug zusammen mit unseren Freunden erlebten. Wie kleine Kinder tollten und spielten wir, neckten uns gegenseitig und konnten nicht widerstehen, Schabernack zu treiben. ,,Erinnerst du dich noch an Jason, Tante Olivia?“
,,Ja, wie könnte ich ihn auch vergessen, deinen besten Freund, der mir die Schokoladenkekse aus der Keksdose stahl, um sie mit dir zu teilen? Ihr beide hattet nur Unfug im Kopf… Was ist mit ihm?“ Sollte ich ihr erzählen, wie sehr ich die Nachmittage vermisste, an denen wir in der Stube vor dem Fernseher auf dem Teppich saßen, Videospiele zockten oder Vampirfilme anschauten? Wie wir beide wie besessen waren von übernatürlichen Wesen aller Art und uns deshalb stundenlang über mystische Kreaturen unterhalten konnten? Dass es die Diskussionen waren, die wir geführt hatten, welche ich vielleicht am meisten vermisste? Oder dass er sich eines Tages drastisch veränderte und er sich plötzlich einen scheiß Dreck aus mir machte, mich links liegen ließ, ohne mir einen Grund zu nennen, warum er mich unterkühlt behandelte? Die letzten Monate waren schwierig gewesen, meine Gefühle neu zu ordnen und das fehlende Puzzleteil in meinem Herzen langsam übergrasen zu lassen.
,,Ach nichts. Schon gut. Ich vermisse ihn nur.“ Ihn und sein altes Ich, korrigierte ich mich.
,,Süße, wir vermissen ihn alle… Nesi sei mir nicht böse, aber ich brauche meinen Schönheitschlaf und muss ins Bett. Niemand will Olivia Gray mit Augenfalten sehen! Denk immer daran: gestalte die Zukunft nach deinem Willen und lass dich nicht unterkriegen. Gute Nacht.“
,,Gute Nacht, Tante Olivia.“ Das Gespräch war beendet.
Ich schloss meine Augen und die Müdigkeit überwältigte mich. So gut es ging, verdrängte ich das Aufwallen der Traurigkeit und der nagenden Sehnsucht und beschloss erneut, ihn aus meinem Leben und meinen Gedanken endgültig zu verbannen. Er hatte es verdient.
Neben meinem Ohr hörte ich das leise gleichmäßige Atmen meiner Katze, doch bevor ich in den tiefen Schlaf sank, wurde ich an die Oberfläche zwischen Dämmerschlaf und Wachzustand gerissen.
Wie durch Watteohren vernahm ich unter geschlossenen Lidern das leise Flüstern meiner Mutter unten in der Küche, wie sie mit meinem Vater in Englisch debattierte. Nicht wissend, dass ein Lauscher ihnen zuhörte.
,,Wir sollten es ihr sagen.“ Dad hantierte an der Mikrowelle, welche seit der Ankunft in diesem Gruselhaus den Geist aufgab und sich weigerte, das Essen aufzuwärmen. Metallisches Klirren hallte durch die Decke zu den oberen Zimmern und wurde kurzzeitig unterbrochen. ,,Und wenn wir es ihr gesagt haben, was dann? Nein, Emily, sieh mich nicht so an. Ich weiß, wie viel es dir bedeutet, ihr die Wahrheit zu sagen, aber du weißt auch, dass es unmöglich geht. Nicht in ihrem verwirrten Zustand. Gib ihr Zeit.“
Mom ging nicht auf ihn ein. Sie sträubte sich dagegen. ,,Wie viele Jahre willst du ihr es noch verheimlichen? Bis sie es selbst herausfindet, sie uns Vorwürfe macht, wir hätten es ihr nicht rechtzeitig erzählt oder bis sie uns davonläuft, Alexander?“ Sie sprach leiser, als hätte sie bemerkt, dass jemand sie belauschte.
,,Willst du es genauso enden lassen wie bei Sarah-Jane?“ Mom war den Tränen nahe.
,,Nein Schatz, dass meinte ich nicht.“, verteidigte sich Papa eilig und dennoch ruhig. Er war schon immer der gelassenere von den beiden gewesen und auch der nachdenklichere. ,,Wir werden es ihr sagen, aber nicht heute, nicht Morgen. Bald erfährt sie es. Und glaub mir, dass ich es ihr ebenso erzählen will, wie du es willst.“ Die beiden setzten sich. Stühle knatschten und die Stuhlbeine schabten über den Holzboden.
,,Das weiß ich, aber ihr dieses Geheimnis vorzuenthalten ist wie, als betrüge man sich selbst. Es zerreißt einen innerlich, verstehst du?“ Papa seufzte zustimmend. Aber er hatte bedenken und konnte Mama nicht sofort zustimmen. Er brauchte Bedenkzeit und wechselte stattdessen die Thematik.
,,Schatz, möchtest du einen Kakao?“, fragte Papa zeitschindend und stand auf. Mom verstand sein zögern und berücksichtigte sie. ,,Ja, gerne. Heißen Kakao, bitte.“ Es wurde ruhiger im Haus. Angenehm ruhiger. Während die beiden gemütlich ihre Kakaos tranken und in der Schweigsamkeit ihre Zweisamkeit genossen, packte mich die Schläfrigkeit von neuem und lullte mich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Mysteriöse Vorkommnisse
,,Man sagt, der Glaube sei der Schlüssel zur Seele.“
Montag.
Das Donnern und Blitzen ließ mich aus meinem Schlaf hochschrecken. Draußen regnete es in Strömen. Und als wollte mein Herz ein Wettlauf veranstalten, raste es im Höllentempo mit dem Donnern um die Wette. Es war wie der Weltuntergang. Der Wind pfiff heulend und wehklagend; knarrend schlugen die Rollläden bei jeder Luftbewegung gegen die Hauswände.
Am Himmel erhellten Blitze und Donner die Nachtschwärze und tauchte die tief schwarze Landschaft für eine Zehntelsekunde in ein sattes Gelb. Sie polterten drohend und verschwanden zugleich, um dann erneut woanders aufzutauchen und zu grollen. Erst jetzt bemerkte ich, als das gelbe Licht kurz meine Zimmer durchflutete, dass ich meine Kleider trug und sie mir nicht vorher ausgezogen hatte. So müde wie ich gestern gewesen war, vergaß ich glatt mich umzuziehen. Typisch ich. Das sah mir ähnlich.
Süß träumend, schlief Cherry dicht neben mir am Kopfende Bettes. Ihre Nähe gab mir ein wohliges Gefühl, geborgen zu sein und ihre Ruhe färbte sich auf mich ab.
Ich drehte mich zur Seite, gähnte mit Händevorhaltenden Mund und schaute unter halbschweren Lidern auf die Uhr – es war kurz nach vier und zu früh aufzustehen. Obwohl ich noch müde war, wollten meine Augen nicht zufallen und mich träumen lassen; wollten mir nicht meinen ersehnten schlaf schenken, denn ich dringend benötigte. Das unruhige Gewirr, das Waldgewitter, draußen hielt mich wach. Plötzlich, aus dem Nichts, vernahm ein merkwürdiges Poltern und Schritte auf den Dachziegeln, wenige Meter direkt über mein Bett. War dort oben jemand? Ich hielt die Luft, blieb reglos unter der Decke liegen und vermied jegliche Bewegung, jegliches Rascheln der Bettdecke und Kopfkissen, die die Aufmerksamkeit auf mich lenken könnte. Vielleicht würde er mich hören.
Bloß still liegen bleiben. Keinen Mucks von sich geben. Mein Atmen wurde schwer.
Wer zum Henker schlich nachts auf das Dach eines fremden Hauses? Es wurde mir unheimlich.
Wenn jemand dort oben war, dann könnte er bestimmt ebenso mühelos ins Haus einbrechen und uns überwältigen. Ein Donner grollte weit in der Ferne.
Ich lauschte, spannte meine Muskel an um auf eine mögliche Flucht vorbereitet zu sein. Adrenalin wurde zusätzlich in meine Adern gepumpt und schärfte meine ohnehin starken Sinne. Dann fing ich unkontrolliert zu zittern an. Im Zimmer schaute ich mich nach einem möglichen Gegenstand um, welches ich zum Gegenschlag benutzen könnte, falls er mich angriff, und bemerkte ein kühles Metall an meinem Arm. Mein Schwert lag in seiner Scheide gleich bei mir. Bei einem möglichen Angriff könnte ich mühelos das Schwert ergreifen. Der Fremde lauschte auch, wartete auf den leisesten Fehler meinerseits, denn das leise Klirren der Dachziegeln waren verstummt. Doch der Regen prasselte unaufhaltsam nieder.
Ob er nach wie vor da oben herumgeisterte? Aufmerksam verharrte ich in einer unangenehmen Position und spitzte angestrengt die Ohren. Minuten verstrichen. Nachdem es ruhig blieb und er allen Anschein verschwunden war, konnte ich einschlafen.
Ein Teil in meinem Inneren aber fühlte seine gegenwärtige Anwesenheit. Sie schreckte sich von meinen Fußzehen bis zu meinem Kopf aus und durchrüttelte mich bei kleinsten Muskelzucken.
Diese Ruhelosigkeit, die mich eiskalt packte, erlosch selbst im Schlaf nicht.
Er war irgendwo dort draußen und lauerte. Nur auf wen? Das war wie ein schrecklicher Vorbote des Grauens.
Schrill und fordernd piepte mein Wecker auf der Kommode neben meinem Ohr. Gereizt schlug ich mit der Faust auf den Ausschalter. Endlich herrschte wieder Still.
Das Weckerklingeln brachte mich aus meiner inneren Ruhe und versetzte mich in eine hektische Betriebsamkeit.
Ich rollte mich vom Bett, tapste Barfuß ins Bad und ließ das Wasser in der Dusche warmlaufen. Sobald ich mir die Kleidung abgelegt, und in den Wäschekorb geschmissen hatte, stieg ich in die wohlig warme Dusche. Meine Muskeln, die sich verkrampft hatten - das bemerkte ich erst jetzt, als die Wassertropfen meine Haut berührten -, entspannten sich allmählich.
Sorgfältig wusch ich meine Haare, mehrmals, und ließ mich noch einige Zeit berieseln. Ich summte still ein Lied – ein Lullaby - vor mich her, eines, das ich von früher kannte und das mir meine Tante Olivia beigebracht hatte, als wir am Kamin saßen und uns Geschichten erzählten.
Als ich ausstieg, trocknete ich mich mit dem Handtuch ab und suchte mir frische Sachen aus dem Kleiderschrank. Ich fand meine schwarze Lieblingsröhren-Jeans und mein Leoparden-Reißverschlusstanktop zwischen all den Stapeln, zog mich an, obwohl mir die Lust vergangen war, überhaupt irgendwo hinzugehen und ich lieber zu Hause bleiben würde, ging zu meinem Bett und kraulte meine noch immer schlafende Katze zwischen den Ohren. Ich murmelte ihr ein ,,Bis nachher“ und verschwand griesgrämig nach unten in die Küche.
Mom saß am Tisch im Bademantel und aß ein Frühstückscroissant mit Marmelade und pflanzlicher Margarine. Vor ihr lagen ein Modemagazin der neusten Ausgabe; neu im Supermarkt gekauft, wie ich anhand des Datums sah und eine Tasse heißer Kaffee. Weiße Dunstschwaden rangen sich zur Decke empor und verstreuten einen aromatischen Duft. Vertieft lass sie die Artikel, den Blick starr auf die Zeilen geheftet. Sie war sehr konzentriert, dennoch wusste ich, dass sie mich bereits kommen hörte.
Ich wusste auch warum: die unterste Stufe der Treppe knatschte bei der kleinsten Gewichtsverlagerung.
,,Guten Morgen, Nesíreä.“, sagte sie freundlich und biss, heiter und munter wie jeden Morgen, ins Croissant hinein. ,,Ich hoffe, du hast Hunger.“ Sie zeigte auf einen Stuhl zu ihrer rechten, den Blick auf ihre Magazine. Gleich darauf schob sie mir die Zeitung zu. Dass es in dieser Gegen überhaupt Zeitungen gab, wunderte mich. Man würde meinen, dieses Dorf läge zu abgeschieden zwischen den winzigen Bergen und die Druckereien würden uns vergessen.
,,Nicht wirklich. Aber danke.“, murrte ich, fügte noch etwas Artiges, um nicht ganz so schlecht Gelaunt zu klingen. Die Croissants auf dem geflochtenen Strohteller sahen lecker aus, deswegen nahm ich mir ein paar, schmierte sie für meine Schule als Frühstückspaket und legte sie in eine Brotbüchse. Dann ergriff ich die Tageszeitung, durchstöberte wahllos die Seiten nach Informativem.
Ich kam zu einer Titelseite, die mich stutzen ließ. Ich zog die Augenbrauen zusammen, beugte mich tief über den Tisch und nahm die Zeitung zwischen meinen Fingern.
,,Unachtsamkeit fordert neue Todesopfer.“, lass ich. Das wurde ja jetzt schon spannend. ,,Täter nicht gefasst. Nahe Kaulenfeld im Westerwald wurden am späteren Abend weitere Leichen in mehreren Privatwohnungen gefunden. Ein Jahr zuvor gab es einen ähnlichen Fall in demselben Ort mit den gleichen Aufweisungen des Tatherganges, der auch damals die Menschen beängstigte. Der Mord forderte drei Tote, wie auch bei diesem Fall. Welchen Zweck beabsichtigt man damit? Welcher Hintergrund veranlasst einen dazu, solch eine grausige Tat zu vollbringen? Zu diesem Zeitpunkt des Auffindens waren die toten Körper in einer fortgesetzten Leichenstarre. Die Körper wiesen die gleichen Merkmale auf: alle waren Blutleer und jeder war weiblich im Alter von siebzehn bis achtzehn Jahren mit roten Haaren.
Außerdem hatte jedes dieser Opfer runde Einstichlöcher am Hals. Keine Kratzspuren, keine Kampfspuren. Nichts deutete darauf hin, dass die Opfer sich wehrten, als der Täter zuschlug.
Doch war es wirklich eine einzelne Person, die dieses Blutbad anrichtete oder war es das Werk einer brutalen Bande? Wer tötet aus Spaß unschuldige Jugendliche? Und die dringlichste Frage lautet: Wie tötete er sie, da keine Werkzeuge oder ähnliches benutzt worden waren?
Beschreibungen des Täters oder der Täter sind nicht vorhanden. Die Polizei tappt im Dunklen und die umliegenden Nachbarschaften bangen, jeder von ihnen könnte der Nächste sein. Merkwürdig ist allerdings, dass keines der Wohnungen Einbruchspuren zeigten und niemand mitbekam, wie der Täter sich zugriff verschaffte. Tatortermittler untersuchen nach weiteren Indizien auf einen möglichen Serienmord. Die Polizei rät, nur mit einer Begleitperson das Haus ab acht Uhr zu verlassen und niemals allein zu bleiben. Verschließen Sie ihre Türen und Fenster und halten Sie mögliche Verteidigungswaffen bereit.“ Kaulenfeld, das lag ganz in unserer Nähe. Keine fünfzehn Kilometer entfernt. Ob dieses Örtchen auch betroffen war? Eine blutige Hintergrundgeschichte wäre schädlich für den Tourismus. Kein Wunder also, warum es hier wie ausgestorben war. Die Menschen fürchteten sich. Und da die Zeitung im ganzen Land gelesen wurde, mied man den Westerwald.
Ich atmete tief aus und lehnte mich in die Stuhllehne. Er kam mir auf einmal kühler und härter vor und drängte sich hart an meinen Rücken.
Ein Mörder ging herum. Aber irgendwas machte mich stutzig. Ich kam nur nicht auf was. Es gab weder Angaben vom Täter noch von den Opfern in dem Artikel. Der Mörder lief auch noch frei herum. Praktisch konnte er überall sein. Und ich saß seelenruhig am Frühstückstisch und lass den Bericht. Komischer Zufall.
Aber warum suchte Papa sich so einen Platz aus, wenn er wusste, dass diese Umgebung unsicher war? Ich zweifelte daran, ob es überhaupt ein Zufall gewesen ist.
Ich horchte auf irgendwelche Geräusche, Anzeichen, dass Papa im Haus war. Nichts. Er war weg.
Also musste er schon zur Arbeit aufgebrochen sein.
Mom wagte ich nicht zu fragen, warum er unbedingt hierher ziehen wollte, sonst kämen wir auf das Thema zurück, das ich unbedingt aus dem Weg gehen wollte. Vorerst beschloss ich, es ruhen zu lassen.
Jetzt drängte sich die Realität zurück ins Gedächtnis und forderte vollste Aufmerksamkeit.
Neue Mitschüler, neue Schule, neue Lehrer. Der blanke Horror. Ich kräuselte meine Lippen, als hätte ich soeben in eine Zitrone gebissen. Das Zusammentreffen konnte ich leider nicht verhindern.
Aber Moms Stimmung blieb ungetrübt währenddessen sie aufschaute und mein Gesicht forschend musterte. Sie blätterte genüsslich die nächste Seite um und nahm ein Schluck des Kaffees.
,,So schlimm wird es nicht werden.“, redete meine Mom in meine Gedanken, als könnte sie sie lesen.
Stimmt, es war schlimmer. Ich runzelte die Stirn und sah sie fragend an. Hatte ich etwas überhört oder etwas nicht mitbekommen? Jeder Teenager hatte das Glück eine normale Mutter zu haben, die nicht in den Gedanken herumpfuscht, aber ich wurde ausgeschlossen.
,,Es steht auf deinem Gesicht geschrieben, dass du keine Lust hast, neue Mitschüler kennenzulernen. Niemand hat es leicht, neu anzufangen. Aber versuch dein Bestes.“, erklärte Mom, als ich sie gerade fragen wollte, woher sie es nun wieder wusste. Mom überraschte mich viele Male. Und auch dies Mal war ich erstaunt, was sie da sagte, was sie aus ihrem kleinen kecken Mund von sich gab.
,,Und sei nicht den ganzen Tag schlecht Gelaunt.“
,,Mom, warum sagst du so was?“ Sie schüttelte den Kopf. Das Thema war für sie beendet.
,,Musst du nicht los?“, lenkte sie mich geschickt ab, mit einem kurzen Nicken in Richtung der Uhr.
Sie hatte Recht. Es wurde Zeit, dass ich aufbrach. Dankend, dass sie das unverdauliche Thema wechselte, lächelte ich kurz auf. Dabei war es mir egal, dass sie mich nicht hatte aussprechen lassen.
Mit einem schnellen Kuss auf ihre Wange verabschiedete ich mich, zog meine Schuhe an, nahm meine Tasche und Brotbüchse und stürmte zur Tür hinaus. Auf dem Kiesweg blieb ich wie angewurzelt stehen.
Ich atmete genießerisch ein und aus. Die Luft war klar und kühl und ein sauberer Duft von Erde zog in meine Nase. Nach einem Unwetter war die Luft reiner und angenehmer, aber auch kühler.
Härchen auf meinem Arm stellten sich auf und ich sah meinen Atem in Rauch aufsteigen.
Nass vom Regen, funkelten die Wassertropfen und der Morgentau auf dem Rasen und Blättern.
Und während die Wolkendecke sich auseinander zog und sich ein fast perfekter strahlend blauer Himmel offenbarte, badeten die Blumen in den funkelnden, ja beinahe goldenen, Sonnenstrahlen. Nur vereinzelt bewölkten sie den grauen Himmel. Weitere Sonnenstrahlen fielen durch die Lücken der Äste und erfassten jeden Grashalm, jeden Baumwipfel und die entlegensten Schattennischen unter den Bäumen und Büschen, wo kleine Tiere sich verkrochen und nun allmählich aus ihren Schlaf aufwachten.
Selbst der Wind war ein schwaches wehen, eine kaum merkliche Luftbewegung, der sich kriechend auf dem Boden bewegte und meinen Gesicht und meinen Nacken streife, als ich meinen Kopf dem Wind entgegen streckte.
Auf dem Weg zur Schule musste ich höllisch aufpassen, den Matsch zu umgehen und meine Schuhe sauber zu lassen. Was keine so leichte Aufgabe war, denn der Matsch war heimtückisch und befand sich in den kleinen Furchen der unbefestigten Straße und freute sich diebisch, meine Designermodelle vollzusauen. Im Dorf watschelte ich unter Hochkonzentration erneut an dem Haus vorbei, wo der junge Mann auf mich herunter geblickt hatte, mich auslachte und plötzlich verschwunden war. Aber als ich auf den Balkon blickte und vergeblich nach seinem Lächeln Ausschau hielt, war es verlassen und leer.
Meine Augen schweiften automatisch umher, als ich den Eingangsbereich der Schule betrat, die im Übrigen unerträglich laut war wie ein Orchester in einem Opernhaus, und fanden ein Schild an einer Nebentür mit der Aufschrift: Sekretariat. Nach meines Wissens zu urteilen, musste ich dort hin - falls ich es richtig lass. Deutsch war schwierig.
Bevor ich sie öffnen und eintreten konnte, wurde sie weit aufgerissen. Heraus geplatzt kam derselbe junge Mann, der mich gestern beobachtete. Sein Anblick war so erschreckend, dass ich aufschreckte, meine Tasche mit einem plumpen Geräusch fallen ließ und sich der Inhalt, samt meines Lieblingsbuches in einem alten Einschlag, auf dem Boden verteilte. Und auch ihm fiel etwas aus der Hand. Nur für einen Bruchteil einer Sekunde hielt die Welt den Atem an und die Schwerelosigkeit ergriff mein rasendes Herz, trennte alle Arterien und schmiss es ihm zu. Wo sich das Herz vorher befand, war nun eine klaffende Wunde. Unregelmäßig verwuchs die Haut zu einer krüppeligen stümperhaften Narbe, die jeder Zeit aufreißen könnte und mich zwang, den süßlichen Schmerz zu spüren, und der mich befangen machte. Unsere Augen trafen sich und ich fühlte mich, als würde ich von ihnen eingesogen wurden; so stark war die Anziehungskraft seines umwerfenden Blickes.
Erst jetzt bemerkte ich die Schönheit dieser kristallblauen Augen - schöner als ich sie je gesehen hatte und mir sich die Brust zusammen zog. Er marschierte jedoch weiter, als ich ihm ohne hinzusehen ein eingeschlagenes Buch wiedergab und die restlichen zurück in die Tasche legte.
Ich versuchte das wütende Grummeln in meinem Magen zu überspielen und schwang peinlich berührt meine Tasche über die Schulter. Sollte er mich doch ignorieren und so tun, als habe er nicht über mich gelacht.
Mit fluchendem Gemurmel betrat ich das pflanzenvollgestellte Sekretariat und stellte mich an den Empfangstresen. Eine kleine Frau, mittleren Alters saß auf einem Computerstuhl hinter dem Tresen und ließ ihre Wurstfinger rasant über die Tastatur wandern. Eine typische halbmondförmige Lesebrille lag auf ihrer Nase und rutschte pausenlos runter. Ich wartete geduldig und sah ihr zu, wie sie die Blätter bearbeitete, Briefe ihre Stempel verlieh oder einfach auf den Monitor starrte, bis sie mich dann endlich bemerkte und mich unter den schiefen Zähnen anlächelte. Mir fiel sogleich ein Kosename ein, der zu ihr passen würde: Büro-Zombie. Klang gemein, war aber wahr. Höflicherweise sagte ich ihr meinen Name und sie fing an, in ihren Unterlagen und einem Stapel Papier etwas zu suchen. Sie überreichte mir meinen Kursstundenplan und eine Infobroschüre über die Clubs und nickte mir wortlos zu.
Kursstundenplan: 1. – 2 Stunde Leistungskurz Geschichte, 3 – 4 Stunde Leistungskurs Englisch, 5 – 7 Stunde Leistungskurs Deutsch. Wenigsten konnte ich Englisch wählen; ein Fach, in dem ich gut war. Als gebürtige Engländerin muss ich ja meinen Stolz bewahren und die Landessprache perfekt beherrschen. Deutsch war ein heikles Thema, eine Nummer für sich. Die Übung fehlte mir und zum größten Teil mangelte es mir an Vokabeln. Wenn ich also etwas verstand, dann nur aus purem Glück.
Auf dem Gang zu den Klassenräumen las ich den Kursstundenplan, wobei ich es dicht vor mein Gesicht hielt und suchte nach meiner Klasse. ,,Entschuldigung, weißt du vielleicht, wo-“, versuchte ich ansatzweise meine Mitschüler anzusprechen, ob jemand so nett sein könnte, mir zu zeigen, wo sich meine Klasse befand, doch alle gingen an mir vorbei und mieden mich, wie die Maus die Katze im Haushalt. Ich bog ab und zu falsch ab, oder landete an dem gleichen Punkt, derselben Stelle, woher ich gekommen war. Noch rechtzeitig ich den Klassenraum am Ende des Flures und betrat ihn so unauffällig ich konnte.
Hinten in der Ecke am Fenster war ein leerer Platz und genau dorthin zielte ich, den Blick starr auf den Stuhl geheftet und die Körperhaltung ganz starr gerade. War meine Schulterkugel schon ausgerenkt? Eine minimale Hebung meines Armes zeigte mir keine Beschädigung oder Verletzung. Die Umgebung blendete ich aus und tat so, als gäbe es sie gar nicht. Wusste ich doch, wenn ich eine Sekunde Schwäche zeigte und meine Mitschüler Beachtung schenkte, sie es ausnutzen und über mich herziehen würden. So waren sie, so waren alle. Ich ließ mich, halb verkrampft und den Taschenriemen fest umklammert, auf den Stuhl plumpsen und verfrachtete die Tasche links von mir. Beinahe war ich gewollt, sie von mir zu stoßen und abzuhauen. Es wäre eine Versuchung wert.
Meine Mitschüler waren bereits alle da, nur der Lehrer fehlte. Meinem Stundeplan zufolge hatte ich in den ersten beiden Stunden Geschichte bei Mr. Rosell.
Mr. Rosell war, wie sich herausstellte, zurzeit auf Kur, weswegen wir einen Vertretungslehrer zur Verfügung gestellt bekamen. Dem seufzenden Stöhnen zu urteilen, waren die Mitschüler ganz anders als begeistert, als die Nachricht bei ihnen eintraf. Dementsprechend sollte der Englischlehrer als Ersatz eintreten. Ich freute mich einen Keks.
Langsam verstrichen die Minuten. Der Zeiger der Uhr an der Wand bewegte sich mühsam weiter.
Tik-tak-tik-tak. Das Ticken der Zeiger machte mich schläfrig.
Vorsichtshalber, um meine Müdigkeit zu umgehen, holte ich einen Block und einen Stift zum Schreiben aus der Tasche und fing an, auf dem Block herum zu malen.
Seufzend malte ich verrückte, unreale Blumen auf das Blatt und fügte den schwarz-weißen Kontrast hinzu, während ich wartete, dass der Unterricht anfing oder das wenigsten der Lehrer auftauchte.
Allmählich wurde es uninteressant und ich legte meinen Kopf auf den Tisch und schloss meine blinzelnden Augen. Gegen die Schläfrigkeit war ich machtlos. Und gegen sie ankämpfen hatte ich keine Lust.
Gähnend rappelte ich mich verträumt vom Stuhl auf, als die Schulklingel ohrenbetäubend klingelte und die Mitschüler eilig aus dem Raum traten.
Große Pause war angesagt. Schleifend tuckerte ich hinter den anderen her, nachdem ich mein Frühstück verzerrt hatte und betrachtete im Vorrübergehen die vielen grauen Schließfächer zu beiden Seiten.
Einer davon musste meiner sein. Ich kramte das Papier von vorhin aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf: Schließfachnummer 189.
Suchend durchforsteten meine Augen die Nummern der einfarbigen Schränke.
Mir schien es eine halbe Ewigkeit, nachdem ich es endlich dankend fand. Natürlich wusste ich, dass ich die beäugte Neue war und verwunderlich angestarrt wurde, wann immer welche vorbei gingen.
Der Schülerfluss hinter meinem Rücken nahm nie ab. Ununterbrochen liefen neue Schüler an mir vorbei und bestraften mich mit ihren Blicken. Hatten sie noch nie eine rothaarige Engländerin gesehen? Genervt fummelte ich an meinem Schloss und rutschte dauernd mit meinen spinnbeinförmigen Fingern ab.
,,Verflixt!“, murmelte ich wutgerötet. Meine Finger waren heute nicht zu gebrauchen, stellte ich fest.
,,Soll ich dir helfen?“, fragte eine Stimme hinter mir und trat neben mich, um mir das Schloss aus der Hand zu nehmen und aufzuschließen. Es waren zierliche straffe Hände eines Mädchens meines Alters, die so elegant dieses fragwürdige, und mich hassende Ding, öffnete.
Ich spürte wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete, weil ich schon wieder von jemand abhängig wurde.
Mit erstickter Stimme bedankte ich mich und schaute an ihr vorbei, den Blick meidend. Absichtlich wich ich ihren undurchdringlichen Augen aus, unbehaglich wand ich mich auf der Stelle und öffnete nach einigen Sekunden des Schweigens das Schließfach.
Es lagen die Bücher darin, die ich für den Unterricht benötigen würde. Für neu konnte man sie keines Wegs halten, dazu waren sie an den Kanten zu abgewetzt und die Buchseiten zu vergilbt. Ansonsten sahen die Buchcovers aus wie frisch vom Drucker. Nigel-nagelneu.
Um sie nicht weiter zu beschädigen, zog ich sie vorsichtig aus der hinteren Ecke hervor und enddeckte ein gefalteter Zettel mit meinem Namen in gekritzelter Form versehen und eine schwarze Rose. Auf dem Zettel stand nur ein einziges Wort: ,,Stirb“
Komiker! Da machte sich jemand einen Scherz aus mir. Konnte er mir die Nachricht nicht wenigstens persönlich überreichen? Mensch, war der feige. Den Zettel weitergehend ignorierend, hob ich die Bücher mit einem schnellen Ruck auf meine Arme. Angestrengt verzog ich das Gesicht zu einer merkwürdigen Fratze und spannte meinen Kiefer an; die Zähne pressten sich aufeinander, bis ich sie knirschen hörte.
Meine Arme, bei denen die Adern und Sehnen deutlich durch die schwere Last hervortraten, gaben beinahe unter dem Gewicht nach. Wie konnten einfache Bücher nur so schwer sein? Die sahen wirklich leicht aus. Hilfesuchend stemmte ich die Bücher breitbeinig an die Wand.
Verwundert schwang ich meine Hüfte gegen die Tür, ließ sie zufallen und drehte mich unbeholfen um. Sie stand noch hinter mir. Ihre Aufmerksamkeit galt meinem Gesicht. Suchend durchforsteten ihre Karamellbraunen Augen jeden Winkel, wobei sie etwas Bestimmtes zu suchen schien.
Etwas, das mir verborgen blieb und nur sie sehen konnte.
Ich empfand sie als schön. Sogar schöner als die Models in den Zeitschriften. Die, mit ihren mageren Leibern, deren Knochen unüblich hervorstanden und ihren überdrehten Diäten.
Nein, dieses Mädchen, das vor mir stand, besaß die perfekten Rundungen, um Männer in den Wahnsinn zu treiben und ihre Fantasien auf das Schärfste anzuregen. Ihre schwarzen kinnlangen Haare umrahmten lockig ihr ovales braugebranntes Gesicht, das so aussah, als hatte sie Stundenlang in der Sonne gelegen, wäre da nicht der Umstand, dass ihr vollständiger Körper die gleiche ebenmäßige Farbe besaß, woraus ich schloss, dass sie eine ,,Farbige“ sein musste.
Ohne von mir abzusehen, schnappte sie sich unvorhergesehen und leichtbehändig meine Bücher und sagte: ,,Dürfte ich?“
,,Nein, das geht schon….“, erklärte ich und verstummte sofort, als sie mir dennoch voraus lief und in den Massen der Schüler verschwand. Verdattert starrte ich atemlos hinter ihr her. Die Anspannung und die Wut, die sich bei mir in den letzten Wochen angestaut hatten, verpufften mit einem Mal. Warum sollte ich meine schlechte Laune an ihr auslassen? Sie war nicht mein Vater, also hatte ich keinen Grund, so weiter vor mich her zugrummeln. Herzhaft musste ich über ihre Frechheit lachen. Mir fiel auf, dass wir uns in dieser Hinsicht ähnlich sahen. Ja, ich glaubte, ich fing an sie zu mögen.
Ich machte mich auf dem Weg ihr zu folgen. Schließlich wollte, oder besser gesagt brauchte ich meine Bücher wieder. Die Lehrer würden es mir verübeln, wenn ich ohne sie aufkreuzen würde. Schnell holte ich sie ein und sie passte sich meiner Geschwindigkeit an. Wir schlenderten gemütlich nebeneinander, die Bücher auf ihren Armen.
,,Sag mal, machst du das immer?“, fragte ich sie und wich eine herumschleudernde Tasche gerade noch so aus, bevor sie mich am Kopf treffen konnte und mir ein Veilchen verpasste. Noch Glück gehabt.
,,Was mach ich immer?“, wiederholte sie verwirrt und legte ihre Stirn in Falten, als ob sie über die Bedeutung meiner Worte nachdenken würde, obwohl sie wissen mussten, was ich meinte.
Ihre akkurat gezupften Augenbrauen schoben sich leicht zusammen und eine Falte zwischen ihnen machte sich bemerkbar. War sie ernsthaft verwirrt? Ich war mir unsicher.
,,Na, einfach Leuten die Sache aus den Händen zu reißen.“
Sie wirkte ehrlich verwirrt, fing sich gleich wieder und schmunzelte herzzerreißend. Wenn sie das tat, sah sie noch unglaublich hübscher aus. Das Gesicht hatte dann eine faszinierende neue Wirkung. ,,Nur, wenn es mir Spaß macht. Und das tut es.“ Sie warf einen belustigten Blick aus ihren Augenwinkeln in meine Richtung. Wie es auch die Vorherigen getan haben. In ihren aber lag Neugierde, keine wie die der anderen und der Schimmer in den Augen funkelte aufrichtig. Sie war verwirrt, ich glaubte ihr.
,,Ich bin übrigens Risa.“, stellte sie sich vor und zwinkerte mir aufmunternd zu.
,,Ich bin Nesíreä , aber alle nennen mich Nesi. Nett dich kennenzulernen.“
,,Ich würde dir gerne die Hand geben, aber du siehst ja selbst.“
Der Gang zog an uns vorbei, hell erleuchtet durch die Röhrenlampen und dem spärlichen Licht der aufgehenden Sonne, das vom Fenster in das Gebäude fiel.
,,Du musst neu sein. Ich habe dich noch nie gesehen. Wie lange bist du schon hier?“
,,Seit gestern.“
,,Das muss ziemlich fremdartig für dich sein.“, bemerkte sie. ,,Ich meine, schließlich ist es eine
ganzschöne Umstellung, plötzlich in eine völlig neue Umwelt zu kommen.“
,,Wenn du wüsstest.“, flüsterte ich leise, sodass meine Worte im Getümmel kaum hörbar waren.
Nebeneinander her spazierten wir in die beinahe vollbesetzte Cafeteria im riesigen Gebäudekomplex.
Ich gab mir Mühe, meine Augen zu trauen. Denn die Cafeteria war übersät mit Flyern, Poster und Fahnen, worauf das Logo der Fußballmannschaft der Schule zu sehen war - der Hintergrund der Fahnen war in schwarz-gelb Streifen eingeteilt und darauf prunkte ein stolz erhobener Löwenkopf, dessen Maul weit aufgerissen war und deren Zähne im Schein der Farben blitzten. Wie ich von der Broschüre herausgefunden habe, symbolisierte das Wappen die Stärke des Teams und verkörperte zudem die Schnelligkeit und Wendigkeit ihrer Spieler. Löwen sind angsteinflößende Raubtiere und diese Eigenschaften nahm sich das Club zu nutze. Die Konkurrierenden sollten Angst vor ihnen bekommen und sich weigern, gegen sie anzutreten. Wer es dennoch tat, sollte glauben, sie würden Haushoch unterlegen sein und verlieren. Und sie sollten verzweifeln. Zweifeln an ihren eigenen Fähigkeiten, an ihrem eigenen Willen und der Teamstärke. Erschreckend faszinierend. Aber auch tiefgründig.
Das Logo füllte fast jeden Zentimeter der Wände, der Tische und Stühle und zudem auch die Müllkörbe aus, die bereits damit überquollen.
Zu meiner Begeisterung existierte auch ein Laufclub, den ich bestimmt einen Besuch abstatten sollte.
Ich suchte im Raum nach Anzeichen von Blättern, wo ich mich eintragen konnte und um mich anzumelden. Fand aber keinen. Nachher musste ich herum fragen, wer einen gesehen hatte.
Vielleicht würde ich dann eine Antwort bekommen. Ich hoffte. Und betete, obwohl ich offizielle Realistin und Gott rein erfunden war.
Meine Beine brannten bereits darauf, frei über den unebenen Waldboden zu laufen und meine Füße wollten die weiche, nasse Erde zwischen ihren Zehen spüren und immer schneller durch die Landschaft flitzen, als gäbe es kein Morgen mehr.
,,Ich will dich jemanden vorstellen.“, sagte sie dann und schritt vor mir auf einen runden Tisch zu, an denen einige Mitglieder saßen.
Sie bewegte sich so mühelos Leichtfertig mit den Büchern, als würden die Bücher kein Gewicht für sie haben. Wenn ich sie so sah, wunderte und fragte ich mich, ob die Bücher wirklich so schwer sein sollten oder ob es meine Einbildung gewesen war, die ich vorhin erlebte.
Sie verlagerte die Bücher auf den einen Arm und hob den anderen, um ihnen zu zuwinken. Damit erregte sie ihre volle Aufmerksamkeit, was sie womöglich auch damit erreichen wollte.
Jetzt war ich ziemlich erstaunt - erstaunter als vorher zu mindestens. Sie musste vor Stärke nur so trotzen und das, obwohl es ihr vom äußeren Anschein nicht anzusehen war. Da ich sie erst vor Minuten getroffen hatte, nahm ich an, dass sie viele Proteine zu sich nahm und jeden Tag fleißig Sport trieb. Anders war es kaum zu erklären.
Vom Tisch her konnte ich ihre Lachen hören, die spaßigen Witze und die Kommentare zu den Themen, über die sie redeten und endeten, als wir bei ihnen waren.
Risa packte meinen linken Arm und zerrte mich sacht neben sich.
,,Leute“, begrüßte Risa sie und machte eine Handbewegung in meine Richtung. ,,Das ist Nesi.“
Reflexartig versteifte ich mich neben ihr und war für einen kurzen Moment zu befangen, um einen richtigen Satz aus meinem Mund zu bekommen. Meine Gedanken kreisten wie Sterne, nur schneller und zu durcheinander, als das ich hätte einen vollständigen Satz bilden können, geschweige denn formulieren. Wie betäubt lag meine Zunge in der Mundhöhle, außerstande der Beeinflussung meines Gehirns zu entkommen.
,,Sie ist neu hier, also seid nett zu ihr Jungs.“
Ich nahm meinen Mut zusammen und stammelte verlegen: ,,Hallo.“ Dann zog ich es vor, meine Hände eingehender zu studieren.
Da es aber unhöflich war, ihre Freunde auszublenden, schaute ich auf und blinzelte erstaunt.
Ich hatte erwartet, sie würden mich genauso anstarren, wie alle es taten, doch niemand musterte mich lange genug, als das ich es hätte als starren gelten lassen können.
Ich war ihnen dankbar. Meine Verlegenheit verschwand zunehmend. ,,Du bist also die Neue, über die die gesamte Schule redet.“, bemerkte ein Junge sachlich, der mit an dem Tisch saß und um dem sich alle zu kreisen scheinen wie die Planeten die Sonne. Er war das Herz des Sonnensystems, er war der Mittelpunkt des Geschehens; die Sonne.
,,Ja, die bin ich.“ Noch einer, der mich als Neue adressierte. Wunderbar!
,,Gerüchte sagen, du wärst jemand Außergewöhnliches.“ Bei dieser Aussage legte sich ein gefühlt- gequältes Lächeln auf mir. Dass das eines Tages irgendwer behauptet, klang wahrhaftig Geisteskrank in meinen Ohren. Dennoch war das Gerücht zu entzückend und daher verzieh ich es dem geschwätzigen Geschichtenerzähler, welche Absicht er auch hegen möge.
,,Man sollte nicht alles glauben, was man hört.“ Jetzt grinste er grimmig. Seine Augen verrieten mir, dass er dieser Lügen wahrhaftig seinen Glauben schenkte und dass er mich um alles in dieser Welt davon überzeugen wollte. Koste es was es wolle.
,,Ich bin mir sicher, dass es ein Fünkchen Wahrheit beinhaltet, sonst wäre deine Haarfarbe nicht rot wie Blut.“ Er unterdrückte ein Lachen, als er meinen Gesichtsausdruck sah, indem er sich die Hand vor dem Mund hielt und richtete seinen Kopf zu der verputzen Mauerwand. Nachdem er tief Luft geholt hatte, schaute er von neuem zu mir. ,,Jeder der dich sieht und davon Ahnung besitzt, sagt das. Und ich teile ihre Meinung. Du bist jemand. “ Wenn er meinte.
,,Und wer ist ,,jeder“?“, hackte ich nach, meine ungezügelte Wissensbegierde war unmöglich zu bremsen, obgleich ich gekrängt wurde. Er beugte sich zu mir vor.
Seine Stimme wirkte unheilvoll: ,, Gegebene Umstände zwingen mich, Stillschweigen über jene Namen zu bewahren, da Unbeteiligte in diese Sache hineingezogen werden könnten, was wir zu verhindern versuchen.“ Sprach er absichtlich in Rätzeln? ,,Wenn zu viele mit hinein geraten, würde es in einer Katastrophe enden.“ Falten traten auf seiner Stirn, derweilen er den nächsten Satz so leise munkelte, wodurch ich genauer hinhören musste, damit ich ihn verstand.
Selbst dann traute ich mühsam meinen Ohren. ,,Und was deine Seelenfarbe angeht… vermutlich...“
,,Julian!“, zischte Risa tadelnd und unterbrach ihn.
,,Was hab ich denn gesagt?“, rief er verstört aus, doch Risa antwortete nur: ,,Lass es gut sein!“ und er erstarrte. Resigniert wandte er sich versteift erneut an mich. ,,Da hast du deine Antwort, zufrieden?“
,,Ich verstehe nur Bahnhof.“, erklärte ich verdrießen. Es war zum Haare ausreißen.
,,Siehst du, Risa? Du regst dich grundlos auf. Als könnte eine rothaarige es verstehen, also bitte!“
Reiß dich zusammen, ermahnte ich mich und ballte meine Finger neben meinem Körper zu Fäusten. Unachtsam ballte ich sie derart fest, dass sich meine Fingernägel in die Haut bohrten und ein taubes Pulsieren mein Unterbewusstsein streifte und kribbelnd verschwand, nachdem ich sie behutsam öffnete.
Ich presste die Lippen fest aufeinander, damit ich keine beleidigende Erwiderung ansetzte und ich ihn unweigerlich kränkte. Feinde wollte ich mir äußerst wiederwillig an meinem ersten Tag heraufbeschwören.
Unsere Blicke begegneten sich und die imaginären Blitze schossen fortwährend bedrohlich zwischen uns hin und her. Bevor die Situation eskalieren konnte, trat Risa dazwischen. Wehmütig und reuevoll ihr Gesicht verzerrt an mich gewandt, sagte sie: ,,Bitte verzeih sein unbeholfenes Geschwätz und beachte ihn nicht weiter. Setz dich doch zu uns, wenn du noch magst.“
Diesmal war ich es, die wehmütig dreinblickte. ,,Ich hab schon etwas vor, wir sehen uns.“ Mit diesen Worten drehte ich ihnen den Rücken zu. ,,Ich bring dir deine Bücher nachher in die Klasse!“, rief Risa mir noch zu. Hinter mir hörte ich ihre hiesigen Debatten darüber wie er es wagen konnte, mich zu beleidigen und zu vergraulen. Geschah ihm recht. Ein unfreundlicher Bursche. Mir fiel ein, was ich tun konnte, bevor ich raus ging: den Beitrittsformular suchen. Das erschien mir wichtiger zu sein.
Heilloses Durcheinander
,,Die Liebe überwindet alles, selbst den Tod.“
,,Entschuldigen Sie!“, rief ich, nachdem ich eine schemenhafte Gestalt erblickte.
Seit einer geschlagenen Stunde durchforstete ich den Großteil des Gebäudekomplexes und verlor zunehmend den Verstand. Wo befand ich mich? In welchen Korridor hielt ich mich auf? Die Schule war diesbezüglich zu unübersichtlich und ohne meine Orientierung war ich hilflos.
Den Unterricht verpasste ich zudem noch. War wirklich eine miese Idee gewesen, dieses Formular suchen zu gehen. Und dabei wollte ich bloß meine Unterschrift setzten und im Freien meine Pause genießen. Das konnte ich so wieso streichen.
Ich stand irgendwo inmitten eines kleinen Korridors, welches weitreichende Abzweigungen nach rechts und nach links führte, und vor mir spazierte eine schlanke Frau, die ich freudig erblickte. Das erste Anzeichen von Leben seit geraumer Zeit.
Beim ersten Ruf reagierte sie nicht auf mich, nachdem ich aber ein zweites Mal laut ausrief, drehte sie sich um.
,,Bitte?“, fragte sie überrascht. ,,Was gibt´s denn?“
,,Wissen Sie, wo ich das Beitrittsformular für den Laufclub finde?“ Eine Sekunde lang war sie wie befangen; ihre Augen hefteten sich auf mich und musterten mich absonderlich eindringlich. Ich ließ es zu, trotz des unangenehmen Verdachts, irgendetwas Merkwürdiges ginge vor sich. Irgendetwas Großes oder jemanden, vor dem man Ehrfurcht verspüren musste.
Mir fielen Julians Worte von vorhin ein: ,, Jeder der dich sieht und davon Ahnung besitzt, sagt das. Und ich teile ihre Meinungen. Du bist jemand. “ Anscheint gab es tatsächlich Menschen, welche glaubten, es gäbe ,,besondere“ Personen auf der Erde. Personen, die außergewöhnliches geschehen lassen können oder einfach in ihrem Aussehen oder ihrem Charakter einzigartig waren. Ich lass es deutlich genug von ihren Augen ab, um mir die Gewissheit und die Bestätigung zu verschaffen, dass sie es auch glaubte.
Die Frau fing sich sogleich und blinzelte, als wäre sie soeben aus einem Traum erwacht.
,,Ja, sicher, weiß ich. Aber sag mal, müsstest du nicht im Unterricht sein?“
,,Müsste ich, richtig, doch ich hab mich verlaufen.“
,,Nun gut.“, sagte sie. ,,Ich bring dich dahin. Wenn du fertig bist, bringe ich dich in dein Klassenzimmer zurück, verstanden?“ Erleichtert lächelte ich dankend. Wir setzten uns gerade in Gang, als Schritte auf den Fliesen des Korridors erschienen und der Schall von den Wänden wiederhallte und verstärkt wurde, so laut, dass es in meinen Ohren dröhnte und mich vorrübergehend befangen machte. ,,Das wird nicht nötig sein, Mrs. Lupin. Ich werde sie begleiten.“, ertönte eine Männerstimme, die mir allzu gut bekannt war.
Wie angewurzelt blieben wir stehen und sie drehten sich wiederum langsam um. ,,Mr. Bryce.“, wisperte Mrs. Lupin erschrocken mit großen schreckerstarrten Augen. ,,Hätte ich geahnt, dass Sie in der Nähe waren, dann …“
,,…Dann hätten Sie mich gleich benachrichtigt, ich weiß. Keine Sorge, ich spaziere nur gedankenverloren umher, nahm keine bestimme Richtung und treffe rein zufällig auf euch.“
Mrs. Lupin wurde sichtbar und ohne einen bestimmten erkennbaren Grund nervöser. Dennoch war sie erfreut über sein erscheinen. Das Gesicht halb abgewandt, sagte er: ,,Mrs. Lupin, lassen Sie uns doch jetzt gleich miteinander reden, bitte.“ Die beiden verschwanden hinter einer Abbiegung.
Ich zuckte spitzbübisch die Ohren und schlich auf leise Sohlen, darauf bedacht, keinen Lärm zu verursachen und mich zu verraten an das Ende der Mauer, und lugte vorsichtig um die Ecke. Da ich aber zu ängstlich war, zog ich den Kopf gleich wieder zurück und presste meinen Hinterkopf an die Mauer. Mein Puls beschleunigte sich hörbar.
,,… eine Blutelfe…“, hörte ich bloß Mrs. Lupin raunen. Ich müsste näher heran, um es besser verstehen zu können. ,,Noch nicht, die Verwandlung steht erst bevor.“
,,…und weiß sie…?“
,,Nein.“, war seine knappe Antwort. Sie kam wie aus der Pistole geschossen. ,,So soll es auch bleiben.“
Eine Haarsträhne fiel mir in mein Gesicht. Mit den Fingern steckte ich sie hinter mein Ohr.
Über was redeten sie da?
,,Aber dann…!“ Seine Antwort kam prompt und eiskalt wieder: ,,Es ist nicht Ihre Aufgabe, dies zu entscheiden. Vergessen Sie das bitte nicht.“
,,Wie Sie meinen, Mr. Bryce.“ Ihre Unterhaltung war beendet und ich tapste zu jenem Ort, wo ich bis eben gestanden hatte. Ich hoffte, ich wirkte in keinster Weise zu sehr nervös. Er durfte nicht bemerken, dass ich sie belauscht habe; welche Gründe ich auch haben mochte und selbst nicht verstand. Eine Stimme in meinem Kopf schrie, ich sollte das, was sie gesagt hatten, geheim halten.
Als besäßen die Worte Wer.
Sie kamen und er verzog nicht einmal eine Augenbraue über mein verzerrtes Gesicht.
,,Können wir?“ Schweigend marschierten wir. Ihre Worte machten mich grüblerisch.
Er ignorierte mich bis wir zu einer Pinnwand kamen, an dem unterschiedliche Zettel hangen.
,,Hier“, er zeigte auf ein Stück Papier. ,,Das ist das Beitrittsformular. Doch sei gewarnt: wenn du denkst, der Club sein nur zum Laufen da, hast du dich gewirrt. Es wird härter werden als du ahnst.“
Er drehte sich um und wollte weggehen, doch ich hielt ihn davon ab. ,,Hab ich irgendetwas falsches getan, dass Sie sauer auf mich sind?“ Mein Tonfall war eher kläglich. Seine Worte trafen mich hart und zielsicher. Normalerweise würde ich ruhig bleiben, doch dieser junge Mann trieb mich in den Wahnsinn. Ich wusste nicht, was ich bei ihm denken, fühlen oder sagen sollte. Er verwirrte mich so sehr, dass ich meine guten Manieren über Bord warf.
Und ich wusste, dass ich es hinterher bereuen würde.
,,Hast du was gegen mich? Hab ich dir was getan? Hasst du mich aus irgendeinem Grund, den ich nicht begreife? Du lachst mich aus, du meidest den Augenkontakt und du bist abweisend in meiner Gegenwart.“ Er verdrehte die Augen und seufzte genervt. ,,Schon wieder! Ich sag´s doch! Du kannst mich nicht leiden!“ Sei nicht so gemein, Nesi. Du kennst ihn schließlich gar nicht.
,,Nein“, grummelte er. ,,Ich hasse dich nicht! Die Situation ist momentan besser dran wie sie ist, glaub mir. Das hat nichts mit ,,hassen“ oder ,,mögen“ zu tun.“ Ich kam mir vor, als sei ich es nicht wert, eingeweiht zu werden und ich glaubte, die Einzige zu sein, mit der man nicht redet. Es war schlichtweg unfair.
Und diese Unfairness steigerte sich in meine Wut hinein und das, obwohl ich es verhindern musste.
Stattessen wollte ich ihn anschmachten, ihn an mich ziehen und umarmen, wenn ich nicht so verletzt gewesen wäre.
,,Wenn du nicht willst, das ich mich in deiner Nähe aufhalten soll, dann sag es einfach, anstatt mich zu ignorieren!“ Nesi, du steigerst sich gerade in etwas hinein. Sei besser vorsichtig. Meine Stimme schnellte mehrere Oktaven in die Höhe. Ich kreischte beinah, was mir unangenehm war, da einige Mitschüler dicht beistanden und uns merkwürdig anstarrten.
Bei dem Gekreische und seinem Anblick kam mir der Gedanke, anstatt weniger auf meine, mehr auf seine Gefühle zu achten. Bisher dachte ich bloß an mich. Und ich wusste, dass ich ihn mit meinen Worten verletzte. Ich gestand, ich habe überreagiert und es tat mir leid, wenn gleich er mich ständig provozierte und mir alles zu viel wurde. Nun bereute ich es, wie vorhergesehen.
,,Entschuldigung.“, murmelte ich beschämt. Die Entschuldigung galt nicht nur, weil ich ziemlich laut und es mir unangenehm war, sondern weil ich mich bei ihm entschuldigen wollte. Er zuckte mit den Mundwinkeln, seine Pupillen verdunkelten sich eine Nuance und seine Kieferknochen spannten sich merklich. Der Kerl jagte mir Angst ein. Mr. Bryce zog uns näher in den Flur, beugte sich zu mir herunter und kam dicht an mich heran.
,,Du verstehst das nicht und es ist auch besser so. Wenn der Tag gekommen ist, wirst du begreifen, aber bis dahin sollten wir gegenseitigen Kontakt meiden. Für deine Sicherheit.“
Was meinte er damit: für deine Sicherheit?
,,Keinen Kontakt? Wie bitte schön, soll man sich in der Schule aus dem Weg gehen?“
Ich war in meinem Stolz gekrängt.
,,Abgesehen von den Trainingszeiten sollte es kein Problem sein, sich zu meiden.“
,,…“ Ich war sprachlos. Er nahm die Gelegenheit war und trat seinen Rückzug an.
,,Wir sehen uns dann Morgen nach der Schule im Club!“, rief er im Weggehen und winkte, den Rücken zu mir gewandt.
,,Ein tolles Gespräch…“ Ich blickte ihm gedankenverloren nach. Ein Rücken kann auch entzücken, dachte ich und kam mir sofort dämlich vor.
Dann erst bemerkte ich, dass ich den Zettel unterschreiben musste. Ich nahm mir ein Stift, setzte meinen Namen unter die anderen Unterschriften auf das Blatt Papier und heftete es wiederum an die Pinnwand.
Zur Klasse schaffte ich es diesmal allein. Mr. Bryce hatte im Eifer des Gefechts vergessen, mich dorthin zu geleiten.
Der erste Schultag hatte ja super angefangen. Und war nicht zu toppen. Die vergangenen Stunden, die ich ungewollt schwänzte, durfte ich in Form von Hausaufgaben nachholen, und das nicht zu knapp. Hätte ich den Unterricht bloß mitgemacht, dann müsste ich viel weniger ,,Strafaufgaben“ verrichten. Mom war Draußen im Garten, pflanzte Blumen, wohl ihre Gartenkräuter und Dad arbeitete in seiner Praxis.
Keiner der beiden hatte Zeit, mir behilflich zu sein. Sie wussten ganz genau, dass mein Deutsch ausbaufähig war und ich haufenweise Vokabeln üben musste. Dennoch ließen sie mich allein mit dieser Ungnade.
Ich schaltete in der Stube den Fernseher ein, setzte mich an den Wohnzimmertisch und gab mir einen Ruck, die Aufgaben schnell hinter mich zu bringen. Das Zentner schwere Lexikon lag neben meinem Schreibheft und starrte mich aus seinen gebundenen Seiten an, als wollte es seine Aufmerksamkeit fordern und sagen: ,,Hier bin ich! Lese mich!“ Den Gefallen tat ich ihm nicht.
Sobald ich die Schreibarbeit erledigt hatte und mich erleichtert gegen die Sofapolsterung lehnte, durchsuchte ich die Schultasche nach meinem Lieblingsbuch und war entsetzt, als ich es nicht vorfinden konnte. Wo war das verflixte Buch? Verschollen? Verloren gegangen oder gestohlen? Ich suchte weiter und zwischen all den Büchern und den Heften, die ich heute Vormittag aus meinem Spint hinein gelegt hatte, fand ich ein eingeschlagenes Buch, welches meins zum Verwechseln ähnlich sah. Die Kanten waren abgewetzt und der Umschlag bestand aus echtem englischem Leder, kein junges sondern ein älteres Leder. Ein Unikat eben. ,, Diary – private property“, lass ich den Schriftzug vor, der auf der vordersten Seite stand und strich behutsam über das zerschlissene Leder. Ein kleines Schlösschen zierte das Tagebuch, welches sich patu nicht öffnen lassen wollte. Ich rüttelte und zerrte vergeblich am Schloss. Der Tagebuchschreiber wollte wohl nicht, dass jemand das lass.
Die Neugierde war erwacht, aber auch somit mein schlechtes Gewissen. Wenn es jemanden gehörte, sollte ich es dem Besitze unberührt zurückgeben, oder? Nur woher kam das Buch und wer war der Besitzer? Lange Zeit starrte ich auf das Tagebuch, die helle Nachmittagssonne, die durch das geschlossene Fenster schien, wechselte zu einem orangenen Farbton und ein Sonnenuntergang erschien wie gemalt auf der Leinwand, eines Regenbogens gleich. ,,Schätzchen, hast du noch Schmutzwäsche?“, rief Mama quer durchs Haus und lief mit einem Wäschekorb grazil an der Stube vorbei, ehe sie mich bemerkte, am Türrahmen stehen blieb und mich abschätzend betrachtete. ,,Was tust du da?“ Mom wirkte lebhafter wie schon lange nicht mehr.
Sie strahlte regelrecht mit der Sonne um die Wette. ,,Versuchen, dieses Schloss zu knacken.“
Mom zog eine Augenbraue nach oben und ihre Gesichtszüge verfinsterten sich. Ein Zeichen für Missbilligung. Aus mit der heiteren und ausgelassenen Stimmung. Ihr gefiel nicht was ich tat und auch nicht die Tatsache, dass ich fremde Gegenstände einsackte und auseinander nahm. Ihrer Meinung nach wäre es Diebstahl und sollte dem Eigentümer zurückgegeben werden.
Aber es war ein Notfall. Sozusagen. ,,Nesi, wer hat dir solchen Unsinn beigebracht?“ Ich zuckte die Schultern. ,,Mom, willst du mir lieber nicht helfen? Ich bekomme dieses Buch nicht auf… Autsch!“ Gerade hatte ich mit den beiden Drähten im inneren des Schlosses hantiert, als sich einer der Drähte einen Fluchtweg suchte und die scharfen Spitze in meine Fingerkuppel stach. Sofort quollen Bluttropfen aus der Schnittwunde, kullerten meinen Finger hinunter und landeten beinahe wie in Zeitlupe auf dem Tagebuch. Ein leises ,,Klicken“ ertönte und die Buchseiten sprangen auseinander, wirbelten einen feinen Lufthauch auf, der meine Wangen streifte.
,,Ich brauch doch keine Hilfe mehr.“ Gebannt starrte ich auf das vor mir aufgesprungene Buch und vergaß beinahe alles um mich herum. ,,Die Schmutzwäsche liegt oben im Korb, Mom. Du kannst gehen.“ Halt Moment mal. Irgendetwas war faul. Für gewöhnlich würde Mom mir sofort die Visiten lesen. Ein Blick nach Draußen durch das Fenster offenbarte mir faszinierend schreckliches: ein Vogel war mitten in der Luft erstarrt; die Flügel weit ausgestreckt als wollte es zum Landen ansetzen, Rücken durchgestreckt und der Schnabel zum Gesang geöffnet. Die Federn des Tieres schillerten schwarz-dunkelblau in den letzten Sonnenstrahlen. Merkwürdig war, dass ein Licht, ganz schwach, aus den Seiten des Buches schien und nach Sekunden verschwand, als wäre es nie dort gewesen. Als wäre es nur eine Eingebung.
Mom hatte sich über mich gebeugt, ihre Pupillen waren merklich vergrößert, als hätte sie Kokain oder Haschisch geraucht. Ich erwartete, sie würde jede Sekunde aus ihrer Starre aufzuwachen und mir mit einem lauten ,,Buh!“ einen gehörigen Schrecken einzujagen. Aber gut, dass Mom versteinert hinter mir stand. Ihre Neugierde war zugegebenermaßen lästig manchmal und mir kam es gerade recht, sie aus dem Geschehen rauszuhalten, wo schon zu viele mit in die Tiefen des Abgrundes hinein gezogen wurden.
Wer wusste immerhin, was passieren würde? Ich schlug die erste Seite auf, dabei musste ich achtgeben, keiner der vergilbten Blätter zu zerstören - die Seiten waren hauch dünn und geschmeidig wie Seide und bröckelten leicht. Teilweise waren die Blätter halb zerfallen oder rausgerissen worden. Der erste Tagebucheintrag war in eleganter Schrift geschrieben, ebenso die zehn Seiten danach, doch die darauffolgenden wiesen leichte Verschmierung auf, Abweichungen der Zeilen oder fehlende Wortgruppen.
Liebes Tagebuch,
in der Hochburg herrscht hektisches Treiben. Mägde laufen durch die Gänge, tragen Rüstungsteile, Krüge voller Wein, Wamse und Hosen in den feinsten Stoffen und Schüsseln mit Gebäcken und Wildfleisch. Die Krieger machen sich für den Kampf bereit. In dem ganzen Trubel stehe ich, mit solch einer inneren Ruhe, wie sie mir nur in bestimmen kriegerischen Zeiten inne kehrt. Die Stille trügt, täuscht uns eine friedliche Zeit vor. Ein Flimmern lag in der Luft, gepaart mit einer kaum zu ertragenen Anspannung, treibt jedem den Schweiß auf die Stirn. Jeder wusste, jeder Moment kann der letzte sein. Und dennoch waren die Bewohner und Krieger vorbeireitet – jeder auf seine spezielle Art. Hitze schien von den Bediensteten auszugehen, einzig allein die Burgmauer aus grauem Gestein, wo sich kein Mann mit purer Muskelkraft hochziehen und überwinden kann, spendet die nötige Abkühlung. Ich sehe zu, wie die Schwerter aus der Schwertkammer zu den Männern gebrach werden und wie sich die Gänge allmählich leeren und sich auf den Schauplatz des Kriegerischen Aktes versammeln. Die Luft war bis zum Zerreisen gespannt, doch noch immer bleibe ich ruhig; lasse alles an mir vorüberziehen, als sei dies meinem Alptraum entsprungen, als geschehe es nicht mir. Dies war unmöglich. Was tue ich hier? Wollte ich solche Gefahren nicht vermeiden? Dann ertönte das erste Hornsignal und im zehntel Bruchteil hallen Schreie über den Burghof und Schwerter klirren. Es beginnt.
Ich war baff, wagte es kaum zu atmen, weil ich somit die Stille durchbrechen würde, die mich in der Starre hielt und mir jegliches Denken untersagte. Erstaunlich, was meine Hände hier zwischen den Finger hielt, als unverfälschtes Manuskript, als Rohmaterial, und es gab nur ein Exemplar auf der Welt. Wer könnte der Verfasser sein? Die Zeilen versprachen eine wahre Lesefreude, schrie praktisch danach, fortgesetzt werden zu lesen. Buchstabe für Buchstabe zog mich in einen Strudel endloser Fantasie und Kreativität eines Genies. Praktisch war es unmöglich, mich aus dem Sog zu befreien und sich loszureißen, denn die Strömung glich einem allzerstörenden Tornado in der Hauptsaisonzeit in Amerika. Versucht man zu fliehen, wurde man eingesaugt und vollständig verschluckt. Automatisch begannen meine Augen fortzufahren:
Liebes Tagebuch,
das Schrecken nimmt seinen Lauf, hunderte von Kriegern fallen den feindlichen Klingen zum Opfer und wiederum hunderte werden verwundet in das Zelt der Heiler einquartiert. Wollte der Strom nie enden wollender Verwundeter und Sterbenden nicht abnehmen? So viel Blut und Leid auf einem Fleck… Da läuft selbst mir – eine Erfahrene auf diesem Gebiet – ein Schauer über den Rücken.
Aus Platzmangel müssen wir weitere Zelte unserer mutigen Männer als Heilstätte einrichten und die notdürftigsten unter ihnen Vorort auf dem Schlachtfeld versorgen. Was uns dort erwartet, übertraf unsere Ängste und Befürchtungen bei Weitem. Blankes Caos, bleiche, kalte Körper und der allesmitreißende Tod stritten sich um die Vorherrschaft. Körperteile von irgendwelchen Männern – ob vom Feind oder welche von unseren war nicht zu unterscheiden – lagen wild verstreut, Blutpfützen suchen sich ihre Wege und die Raben und Aasgeier hacken den Toten ihre Augapfel aus den Augenhüllen. Den anderen Heiler geht es nicht besser, erleben sie diese Art Abschlachtung das erste Mal. Ich kann ihnen keinen Trost spenden, da ich erst selbst damit fertig werden musste, trotz meiner langen Reihe an Erfahrungen. Solch ein grausamer Akt. Grausamer, als ich sie mir hätte je vorstellen können. Notdürftig unterdrücke ich die Tränen, kann sie aber nicht lange aufhalten, und spürte dann, wie sie wie ein Tränenschleier meine Augen verschleiern. Um mich herum vernehme ich Schluchzen und wütendes Gemurmel. Ein Wehklagen hallt über das Feld, markerschütternd laut, sodass es mir eine Gänsehaut beschert. Einige tapfere Frauen beginnen, die Toten zu bergen. Dann plötzlich: Rauch steigt empor, irgendwo nördlich. Vermutlich keinen halben Stundenmarsch entfernt. Trommelschläge ertönen so laut, als stünden sie neben uns. Die Wände der Burg vibrieren. Ein Warnsignal, und ein Zeichen für das weitere kommende Unheil. Die Trauernden halten inne. Die Welt hält ihren Atem an, und wir mit ihr. Es ist noch nicht zu ende.
Das Buch klappte zu und die Welt drehte von neuem seine Bahnen. Es gab mir allerhand zum Nachdenken. Gutes wie Schlechtes, aber auch Absurdes. ,,Was ist denn das für eine Rarität? Ein Sammlerstück?“ Ich hatte nicht mitbekommen, dass Mama aus ihrer Starre erwacht war und sich nun über mich beugte, um sich dieses Prachtstück von Antiquität anzuschauen. Sie schüttelte den Kopf, ihre Haare kitzelten meinen Nacken. Ein kleiner Teil meines Gehirns erinnerte sich, sie um Hilfe gebeten zu haben, das Schloss in seine Einzelteile zu zerlegen. ,,Sieht aber sehr mitgenommen aus. Woher hast du es? Ist bestimmt gestohlen!“ Sie mit ihren Vermutungen.
Mom nahm mir das Tagebuch aus den Händen, und ich bekam ein ausgesprochen merkwürdiges Ziehen in der Magengegend, welches daher rührte, dass es womöglich nicht für jeder Mann zugänglich sein sollte. Vor allem nicht für sie. ,,Du hast recht, es lässt sich nicht öffnen…“ Dann gab sie es mir zurück.
,,Wofür sollte es gut sein, wenn man den Inhalt nicht lesen kann? Gib es dem Besitzer wieder. Er wird sich freuen.“ Daran werde ich denken, wenn die Zeit gekommen war, dachte ich innerlich grinsend, aber noch gab es Spannendes zu lesen. Ich zog mich nach oben zurück, und beschloss, meine Mails abzurufen. Vielleicht waren welche für mich eingetrudelt. Sobald ich die Schlafzimmertür hinter mir ins Schloss habe fallen lassen, öffnete ein Fenster, um frische Luft herein zu lassen und fuhr den Laptop hoch und setzte mich im Schneidersitz auf den Holzstuhl. Da das Hochfahren seine Zeit beanspruchte, sah ich gespielt nebenbei zum Handy und hielt Ausschau nach dem verräterischen grünen Leuchten einer kleinen Lampe, die anzeigte, ob eine Sms oder ein Anruf eingegangen war.
Nichts. Also wartete ich weiter, bettete meinen bleischweren Kopf auf die Tischplatte und schloss meine Augen. Eine angenehme Kühle strich zart über meine Gesichtspartien.
Ich war mitten drin. Mitten in all dem Wahnsinn. Träumte ich? Wirklich träumen? Wenn ja, dann wollte ich aufwachen. Dieser Traum jagte mir eine unsägliche Angst ein – mehr als dieser trostlose Ort, der sich meine neue Heimat nannte. Angst, weil mein Unterbewusstsein wusste, was auf mich zukam. Angst, die nicht meine war und jemand anderes verspürte.
Oder vielleicht war es auch ich, die diese verspürte. Keine Ahnung. In meinem Gehirn traten die letzten Zellen ihren todessüchtigen Sprung an, weigerten sich auch nur eine nützliche Information in verwertbare Dateien umzuwandeln, die einfach zum Verstehen waren und mir sagten, dass ich mir dies nur einbildete. Ich blinzelte, doch das Bild blieb das Selbe. Mein Geist hatte sich von meinem Körper gelöst und mit dem eines anderen Geistes verschmolzen. Alles was sie fühlte, spürte ich ebenso. Eine Frau, wie ich feststellte.
Durch ihre Augen nahm ich dieses Szenarium wahr. Um mich herum war die Dunkelheit bereits angebrochen, sodass ich meine Hand vor dem Gesicht kaum sehen konnte, und ein dicker Nebel kroch schleichend über den Boden. Es war kalt, der Vollmond nahm seinen Platz am Himmel ein und die silbernen Lichtstrahlen erhellten ein Teil der in der Dunkelheit verschluckten Landschaft. Trostlosigkeit machte sich in mir breit, gemischt mit einem Hauch Panik. Auf einmal begann ein Rabe laut zu krähen, und weitere folgten immer lauter. Überall auf den kargen, ausgedorrten Baumstümpfen saßen unzählbar viele schwarze Raben, krähten aus Leibeskräften und funkelten aus ihren Augen schauerlich zu mir runter.
Sie schienen auf den Moment zu warten, in der mein letztes Stündlein schlug und sie sich auf mich stürzen konnten. Und dann sah ich ihn: Colin, wie er vor einer menschentiefen Versenkung stand - seine Haare vom Wind zerzaust, durch die ich nur zu gerne mit den Fingern durchfahren würde - und die feuchte Erde mit einem Spaten in die Grube schaufelte. Im fahlen Licht des Mondes wirkte seine sonst so blasse Haut wie die eines Gespenstes und die kristallblauen Augen, die mich jedes Mal in den Bann zogen, waren die eines wilden Tieres gleich. Irgendetwas stimmte nicht an Colin. Das war nicht der, den ich kannte. Jegliche Zärtlichkeit war verschwunden, dafür wich sie einer fast greifbaren Härte. Zögerlich trat ich zu ihm. ,,Colin“, hauchte ich mit zittriger Stimme und mich überkam der Drang, ihn umarmen zu wollen, mir zu vergewissern, dass er es wahrhaftig war.
Plötzlich ging alles viel zu schnell. Ehe ich meine Arme nach ihm ausstrecken, reagieren und blinzeln konnte, landete ich in der schwarzen Grube. Die Feuchtigkeit sog sich in meine Kleidung fest, durch die Haut bis zu den Knochen. Ich konnte mich nicht bewegen. Etwas hielt mich fest. Was passierte hier? Mein Herz dröhnte. Ich hörte mich schreien, nach Colin rufen. Unentwegt kämpfte ich gegen die unsichtbare Umklammerung an, doch sie hielt sich standhaft. Und jetzt wusste ich, warum meine Angst begründet war. Während nasser Sand auf mich niederrieselte, und ich in der Enge saß, wovon es kein Entkommen gab, sang Colin hypnotisch: ,,Jede Faser meines Körpers ist glücklich, jede Zelle fühlt sich wohl. Jede Zelle an jeder Stelle. Jede Zelle ist voll gut drauf.“ Als hätte er den Verstand verloren. Nein, als hätte ich Colin verloren, was viel schlimmer war, als ich je hätte ertragen können.
Meine eigene Beerdigung empfand ich dagegen als leichteres Übel. Wie zum Abschied krähten die Raben laut auf. Ein Zittern ergriff mich und das letzte was ich sah, bevor sich die Grube bis zum Rand füllte und sich die Dunkelheit über mich senkte, war Colins groteskverzerrter Gesichtsausdruck.
Texte: Alle Rechte liegen beim Autoren
Tag der Veröffentlichung: 24.04.2012
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