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Langsam und etwas ungelenk kletterte er über die Autobusstufen hinunter. Nun stand er in der Bushaltestelle und blickte dem rasch davoneilenden Bus hinterher.
Ein plötzlich aufkommender Windstoß ließ ihn seine Jacke rasch schließen. Er zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und blickte umher um sich zu orientieren. Zweifellos war er angekommen, er war in der Stadt. Eigentlich war sie ihm völlig fremd, so anders als seine Heimat am Lande. Und doch gab es Momente in denen der Besuch derselben unumgänglich war. So wie heute…er wollte sich etwas Neues zum Anziehen kaufen. Schließlich wollte er für den geplanten Krankenhausaufenthalt etwas Ordentliches zum Anziehen haben. Seine Tochter hatte zumindest behauptet, dass seine alte Wäsche nicht mehr zeitgemäß sei.
Die Stadt irritierte ihn sehr. Man sah den Himmel kaum. Alles war grau und hektisch und laut.
Autolärm, Hundebellen, Kindergeschrei, irgendwo ein Radio, Stimmengewirr.
Überall eilten die Menschen an ihm vorbei. Ernste Gesichter, kaum ein Lächeln.
Langsam setzte er sich in Bewegung, seine Beine taten bereits weh, bevor er richtig angefangen hatte zu gehen. Immer wieder mussten Menschen auf dem vielbegangenen Gehsteig ihm ausweichen, ihn überholen, manchmal hinter ihm abbremsen. Er fühlte sich wie ein lebendiges Hindernis. Anfangs versuchte er noch, den einen oder anderen zu grüßen, ihm zuzulächeln, zuzunicken…aber hier in der Stadt gab es das einfach nicht, man war schließlich nicht am Land, wo jeder jeden kennt. Schließlich gab er es auf, in den ihm entgegenkommenden Menschen ein vertrautes Gesicht zu entdecken und setzte seinen Weg unter hunderten von Menschen fort, ohne aufzublicken. Plötzlich fühlte er sich sehr einsam.
Endlich hatte er es geschafft und das Einkaufszentrum fast erreicht, das ihm seine Tochter empfohlen hatte. „Hier findest du bestimmt was passendes, Papa,“ hatte sie gesagt. Und er hatte genickt.
Plötzlich sah er auf einer kleinen Verkehrsinsel ein paar Gänseblümchen. Niemand außer ihm schien sie zu bemerken. Doch da kam ein kleiner Junge, an der Hand einer Frau, vermutlich seiner Mutter. Der Junge sah mindestens genauso ernst aus wie seine Mutter. Plötzlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht und er blieb abrupt stehen, auf die kleinen Blumen zeigend. Der alte Mann beobachtete die Szene erfreut, schien er doch zumindest eine ihm ein wenig gleichgesinnte Seele in dieser Stadt entdeckt zu haben…doch als die Mutter den kleinen Jungen mit den Worten:“ Na los doch, wir haben es eilig!“ weiterzerrte, sah er den beiden kopfschüttelnd hinterher. Noch lange hörte er den Jungen protestieren aber es half eben alles nichts…
Schließlich hievte er sich über die Stufen des Eingangsbereiches und betrat das Einkaufszentrum. Hier drin war es nicht viel besser als im Freien. Es wimmelte nur so von Menschen und Geschäften, und die Luft war irgendwie stickig.
Schließlich betrat er wahllos das erste der vielen Geschäfte.
Sogleich eilte eine dienstbeflissen lächelnde Verkäuferin herbei.
„Guten Tag, Sie wünschen?“ fragte sie, und während ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog, bemerkte er erschrocken, wie ihre Augen dabei völlig teilnahmslos blieben, kalt und hellblau wie zwei Geltscherseen.
„Also die Sache ist folgende: ich komme vom Land und bin mit der Stadt hier so gar nicht vertraut. Meine Tochter schickt mich. Sie meint, ich solle mir was Neues zum Anziehen kaufen. Wissen Sie, nächste Woche muss ich operiert werden. Ich habe nämlich seit langem..“
„Oh, Sie wollen also etwas zum Anziehen kaufen? An was haben Sie da genau gedacht?“ unterbrach sie ihn, und diesmal klang ihre Stimme leicht gereizt.
„Sie wollen also gar nicht wissen, was mir fehlt? Warum haben die jungen Leute heutzutage nur immer solchen Stress? Meine Tochter ist ganz genauso. Sie…“
„Hören Sie, ich bitte Sie, sich nun von mir bedienen zu lassen. Wenn Sie etwas kaufen wollen ist es ok, wenn nicht muss ich Sie bitten zu gehen!“
„Also gut. Ich suche einen Freizeitanzug.“
„Schon besser,“ sagte sie und lächelte wieder. „Welche Marke wäre Ihnen denn recht? Wir führen hier alles, von Addidas über Puma, Nike und….“
„Nike“ wiederholte er kopfschüttelnd und die Art wie er das sagte musste dazu führen, dass jeder der es mit anhörte von einem seltsamen Gefühl beschlichen wurde.
Die Situation hatte etwas Groteskes an sich.
Ein alter Mann mit einem Gesicht das vom Leben geprägt war stand hier mitten in der Grosstadt in einem riesigen Einkaufszentrum, bekleidet mit einem Anzug den er bereits von seinem Großvater geerbt hatte und einem Hut, dessen Blütezeit lange vor der Geburt der Verkäuferin gelegen haben musste. Ein Mann mit Schuhen die bereits mehrere Reparaturen hinter sich hatten und trotzdem noch ihren Zweck erfüllten. Ein Mann mit abgearbeiteten Händen und einem krummen Rücken und einem verlorenen Blick, und dieser Mann sagte „Nike“. Man konnte förmlich spüren wie eine der Hauptsäulen der Konsumgesellschaft, nämlich das Prestigebewusstsein der Menschen, bei diesem alten Mann nicht nur keinen Halt fand sondern sogar jämmerlich zusammenstürzte. Er befühlte abwechselnd die Stoffe der verschiedenen Markenfreizeitanzüge und fragte schließlich nach dem Preis.
Fast kleinlaut nannte die Verkäuferin eine Summe, zögernd, fast so als schäme sie sich dafür, von diesem Mann zu erwarten, sich dem allgemeinen Konsumzwang zu unterwerfen.
Er erschien ihr plötzlich in diesem Geschäft so fremd zu sein wie ein Außerirdischer.
Mit viel Mühe gelang es dem alten Mann, sich seiner Jacke zu entledigen und sich die Sportjacke überzuziehen. Fast hatte es den Anschein, als hätte er sich verkleidet. Der alte Mann blickte an sich herunter und strich etwas hilflos den Stoff glatt. Dann versuchte er, den Reisverschluss zu schließen, was ihm erst nach dem fünften Versuch gelang. Er stand vor dem Spiegel und betrachtete eine ganze Weile sein Spiegelbild.
„Sind Sie sicher, dass das zu mir passt?“ fragte der Mann und blickte die Verkäuferin fragend an. „Wenn ich ehrlich bin…ich glaube nicht wirklich…“ sagte sie leise, und diesmal war ihr Lächeln echt, er sah es genau, ihre Augen lächelten ebenfalls.
„Vielen dank für Ihre Ehrlichkeit, Sie haben mich sogar entgegen Ihrem Gewinn beraten, das imponiert mir sehr, vielen Dank!“ sagte der Mann, reichte der Verkäuferin seine Hand und verließ das Geschäft, nicht ohne sich vorher umzuziehen, was ihm recht viel Mühe abverlangte, da seine einstige Gelenkigkeit im lauf der Jahre etwas abhanden gekommen war.
Die Verkäuferin fühlte sich seltsam berührt, fühlte sie sich doch diesmal gut dabei, nichts verkauft zu haben.
Der alte Mann aber begab sich so schnell wie seine müden Beine ihn trugen zurück zur Bushaltestelle, um schnellstmöglich nach Hause zu fahren. Er beschloss, nichts mehr zu kaufen, weil es für ihn einfach nichts zu kaufen gab. Schließlich hatte er alles, was er brauchte. Mit einem Schlag ging es ihm wieder besser , er fühlte sich beschwingt und leicht, würde er doch bald wieder sein geliebtes Dorf erreichen und dieser großen, rauen, lauten und stinkenden Stadt den Rücken zukehren können. „Aber ein Problem bleibt mir noch, “ dachte er, „Wie bringe ich das nur meiner Tochter bei?“


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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2009

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