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Kapitel 1 - Freundliche Einladung




Es war kurz nach Mitternacht. Heute war nicht sehr viel losgewesen auf den Straßen von New York. Es war schon fast zum Heulen. Seit ein paar Wochen herrschte absolut tote Hose dort draußen. Und das war mehr als nur ein wenig beunruhigend. Irgendetwas war im Gange und deswegen herrschte eine Angespannte Stimmung im Hauptquartier der blauen Kaste.
Die Tür glitt auf und Ella betrat den Raum. Sie trug ihre volle Kampfmontur. Ihre kurzen, kinnlangen schwarzen Haare umrahmten ihr bleiches Gesicht. Ihre mandelbraunen Augen, die leicht katzenhaft wirkten funkelten aufmerksam und ihre wohlgeformten Lippen waren grimmig aufeinander gepresst. Sie hatte ein schwarzes enganliegendes Tank-top mit einem tiefen V-Ausschnitt an und trug passend dazu einen schwarzen Minirock, der ihr knapp bis zur Mitte ihres Oberschenkels ging. Ihre schwarzen Lederstiefel rundeten das ganze Outfit ab. Ihre Waffen, mehrere Dolche in allen verschiedenen Größen und Arten, trug sie entweder an ihrem Gürtel oder in ihren Stiefeln. Ab und zu nutzte sie auch ihren Ausschnitt, um Waffen zu lagern, doch ich wusste mit einem Blick, dass sie heute nur jeweils zwei Kunai auf jeder Seite ihres Gürtels trug und zwei weitere Dolche in ihren Lederstiefeln. Sie nickte mir respektvoll zu und ging zu der kleinen Gruppe, die links von mir an der Wand lehnte.
Jetzt waren wir vollständig.
Daniela, Tamara und Gill standen bei Ella. Daniela trug ein blutrotes Kleid, das mehr enthüllte, als es verdeckte. Die Farbe schmeichelte ihrer goldenen Haut und ließ ihre kastanienbraune Mähne glänzen. Mir tat es leid, dass ich ihr Date vermasselt hatte. Ihre Augen, die so dunkel waren, dass man nicht erkennen konnte, wo die Pupille endete und ihre Iris anfing, blickten amüsiert zu Gill, die gerade einen Witz gemacht hatte. Gill hingegen kam gerade von ihrer Patrouille zurück und war genau wie Ella in voller Kampfmontur. Nur dass Gill… naja, eben etwas auffälliger gekleidet war. Sie trug eine pinke Röhren-Jeans, die ihre schmalen Beine gut zur Geltung brachte und ein bauchfreies pinkes Top mit der Aufschrift „Tussi on Tour“. Ihre Barbie-blond gefärbten Haare trug sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst und ihre Kontaktlinsen hatten jeden Tag eine andere Farbe. Heute waren sie Jadegrün. Ohne ihre Kontaktlinsen war Gill so gut wie blind. An ihrem Gürtel, unter ihrer pinken Lederjacke, hing jeweils rechts und links eine Peitsche. Gill war eine Meisterin aller Kampfkünste, die Peitschen beinhalteten. Auch wenn sie wie eine fröhliche Barbiepuppe aussah, so konnte sie doch knallhart rüberkommen, wenn sie wollte.
Tamara war so gut wie nie im aktiven Dienst. Sie war unser Technikgenie, die sich selbst bei der NASA unbemerkt hätte einhacken können. Sie hatte sich ihre Haare feuerrot färben lassen und trug sie kurz. Sie stellte sie oft zu kleinen Stacheln nach oben. Ihre grünen Augen wurden von einer Brille eingerahmt und ich wusste, dass kein einziges Detail ihrem scharfen Verstand entging. Sie trug verwaschene Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Mach mich nicht wütend!“.
Ein Stück weiter rechts auf einem der Sofas, die eine Sitzecke bildeten, saß Robin. Sie trug ihre dunkelbraunen Locken schulterlang und ihre dunkelbraunen Augen standen ein wenig schief. Ihre Haut hatte die Farbe von dunkler Schokolade. Sie lag immer noch halb verpennt auf dem weißen Designersofa und gähnte ausgiebig. Sie trug grüne Boxershorts und ein schwarzes Top. Obwohl ich sie gerade aus dem Schlaf gerissen hatte und sie keine Zeit hatte, sich umzuziehen, hatte sie dennoch ihre beiden Babys umgeschnallt. Sie trug ihre beiden Doppelschwerter in ihrer Scheide gekreuzt auf dem Rücken. Es sah seltsam aus, wenn man im Schlafanzug Waffen trug, aber ich war ja nichts anderes gewohnt. Denn Robin hatte die schlechte Angewohnheit überall einzuschlafen.
Auf dem Ledersessel neben Robin hatte Joy es sich gemütlich gemacht. Ihre roten Haare hatte sie zu einem perfekt sitzenden Dutt zusammengefasst. Auch sie war in Kampfmontur. Ihre rosige Haut zierten unzählig viele Sommersprossen. Ihre Augen hatten die Farbe blass grün, jedoch zog sich ein goldener Kreis um die Pupille. Sie trug eine schwarze, enganliegende Leggins und ein schwarzes Bandeautop, was ihre kurvige Figur sehr gut betonte. Ihre übereinandergeschlagenen Beine endeten in flachen, schwarzen Stoffschuhen, von denen ich wusste, dass sie keinen Laut von sich geben würden, wenn Joy sich irgendwo anschleichen würde. Auch wenn man nirgendwo eine Waffe an ihr sah, so wusste ich dennoch, dass sie ihre Wurfsterne immer griffbereit hatte.
Das war mein Team. Wir alle bildeten die blaue Kaste, auch die Kriegerkaste genannt. Ella, Robin, Tamara, Gill, Joy, Daniela und ich, Cathy.
Mein eigentlicher Name ist Cathleen Dermont. Ich bin die Anführerin der geheimnisvollen Kriegerkaste, die von den anderen Nachtwesen geächtet wird. Dass ist der Dank dafür, dass man die Straßen sicher hält und für Recht und Ordnung sorgt. Aber was will man auch erwarten, wenn niemand genau weiß, wer oder was die blaue Kaste eigentlich ist. Die Leute haben Angst vor uns. Und das ist auch gut so.
Seit Jahrtausenden leben die Nachtwesen nun schon im Untergrund. Wir existieren neben den Menschen. Insgesamt gibt es fünf verschiedene Rassen von Nachtwesen. Die mächtigsten unter uns, sind bekannt als Eisblumen. Doch diese Art ist so gut wie ausgestorben. Die einzig bekannten Eisblumen, die heute noch leben sind Misaki Kano, sie lebt in Japan, und Gwendolyn Bruntain, sie lebt in London. Ich selbst bin ebenfalls eine Eisblume, doch ich halte meine Existenz geheim. Ich kann es nicht gebrauchen, dass man mich auch noch jagt. Ich will schließlich nicht vom Jäger zur Gejagten werden.
Dann gibt es noch die Gestaltwandler und die Vampire. Beide Rassen herrschen momentan, abgesehen von den beiden letzten Eisblumen. Aber sie liegen momentan im Streit. Schon seit über zwanzig Jahren führen Gestaltwandler und Vampire den sogenannten kalten Krieg gegeneinander. Sie versuchen auch andere Nachtwesen auf ihre Seite zu ziehen, doch die Geister halten sich zu ihrem Glück aus der Sache heraus. Denn Geister sind schwer umzubringen und können im Ernstfall so viel Schaden anrichten, dass die Geisterwelt risse erleidet.
Die Hexen zeigen ebenfalls kein Interesse an diesem Krieg. Denn bald wird bei ihnen eine Hochzeit stattfinden. Der Hexenfürst wird heiraten. Um ehrlich zu sein haben sie wichtigere Probleme…
Die blaue Kaste, also wir, sorgen dafür, dass das einzige Problem der Menschheit der kalte Krieg sein wird. Mehr können wir leider nicht tun. Wir halten uns aus dem politischen Schwachsinn raus. Denn trotz des Krieges gibt es Kreaturen, die schlimmer sind. Da wir Nachtwesen unsterblich sind, zumindest können wir nicht an Krankheiten oder Altersschwäche sterben, werden viele oft mit der Zeit wahnsinnig. Vampire verfallen der Blutgier, Gestaltwandler drehen durch und richten in ihrer Tiergestalt großen Schaden an, Hexen werden ganz krank und verwandeln sich in Furien und Geister verwandeln sich vom friedlichen Poltergeist in Killermaschinen, die ganze Körper übernehmen. Dafür sind mein Team und ich zuständig.
Wir sorgen dafür, dass die Wahnsinnigen, auch Abtrünnige genannt, ihren Frieden finden und dass möglichst niemand dabei verletzt wird.
Natürlich hat jede Rasse ihre eigene Kaste. Die Gestaltwandler besitzen die goldene Kaste. Angeblich ist dies so etwas wie eine polizeiliche Einrichtung, nur eben für Gestaltwandler. Die Vampire besitzen die weiße Kaste, auch Tracker-Einheit genannt. Die Hexen besitzen die schwarze Kaste. Über diese ist nicht wirklich viel bekannt. Geister jedoch haben keine Kaste, aber um ehrlich zu sein, gibt es heutzutage nur noch so wenige Geister, dass auch keine nötig wäre. Bei uns Blumen… tja, das würde sich einfach nicht lohnen…
Doch die goldene und die weiße Kaste sind nichts weiter als ein riesen Witz. In beiden gibt es sogenannte Agenten. Sie sollen angeblich ja so zivilisiert sein. Aber wie soll man bitte zivilisiert töten? Das habe ich um ehrlich zu sein nie so ganz verstanden.
Als ich jetzt so in die Runde blickte, wurde mir mal wieder klar, dass diese ganzen Vollidioten von Agenten ohne uns hoffnungslos überfordert wären. Ich stieß mich von der Wand ab und ging ein paar Schritte in den Raum. Sofort verstummte jedes Gespräch und mein Team wandte sich neugierig zu mir um. Ich hatte sie heute aus gutem Grund zusammengerufen.
„Ella, Gill, Joy, gab es was Neues?“, fragte ich beiläufig und wandte mich zu den drei, die gerade von der nächtlichen Patrouille zurück gekommen waren.
„Nein, absolut tote Hose.“, meinte Joy und Ella nickte zustimmend.
„Bei mir auch. Es ist, als hätten sich alle Abtrünnigen über Nacht in Luft aufgelöst.“, meinte Gill und spielte mit ihrem zurückgebundenen Haar.
„Das geht jetzt schon seit Wochen so. Aber ich denke nicht, dass es etwas Gutes verheißt. Ich habe so ein seltsames Gefühl… wie die Ruhe vorm Sturm.“, erklärte ich und die anderen nickten verstehend. Ich zog den elfenbeinfarbenen Umschlag aus meiner Tasche und hielt ihn in die Höhe. Neugierig und abwartend blickten die Mädels darauf.
„Was ist das?“, fragte Dani.
„Das ist eine Einladung zum jährlichen Kastenball der Nachtwesen, nächstes Wochenende.“, erklärte ich und jeder außer Gill stieß ein gequältes Stöhnen aus. Gill klatschte in die Hände und quiekte fröhlich auf.
„Müssen wir denn da hin?“, fragte Joy mitleiderregend und ich nickte nachdrücklich.
„Ihr wisst, wir haben einen Ruf zu verteidigen.“, meinte ich ernst. Denn niemand wusste, dass wir die blaue Kaste darstellten. Wir waren wie ein Schatten. Immer da und doch erst zu sehen, wenn wir schon lange vorbei gegangen waren. Nach außen hin, waren wir alle einfach ein verrückter Mädchenhaushalt. Doch da meine Zieheltern hoch angesehen und überall gerne gesehen gewesen waren, gehörte ich automatisch zu den höheren Kreisen. Meine Zieheltern wurden vor langer Zeit ermordet, deswegen musste ich das Familienerbe antreten. Mein Ziehvater war einer der führenden Leiter des Kastensystems gewesen. Doch im Nachhinein war es sogar ganz gut. Denn so hatten wir zum Ersten eine gute Tarnung und zum Zweiten genug Geld um die blaue Kaste zu finanzieren. Auch Gill gehört zu den höheren Kreisen, weshalb sie immer den neuesten Klatsch und Tratsch weiß. Es wäre schon fast beängstigend gewesen, was sie alles weiß, wenn ich nicht genau wüsste, dass sie auf meiner Seite ist.
„Aber keine Sorge. Diesmal werden wir nur zu dritt gehen. Ich will, dass ihr es als Mission anseht. Mehrere hohe Tiere der drei Kasten, sowohl die der Vampire, die der Gestaltwandler und die der Hexen, werden anwesend sein. Wenn wir es richtig anstellen, könnten wir sie bezüglich der verschwundenen Abtrünnigen etwas ausquetschen. Gill, ich nehme an du wirst eine Extraeinladung bekommen, wenn du nicht sogar schon eine hast.“, meinte ich.
Gill nickte grinsend und zog eine Karte heraus, die genauso aussah, wie die, die ich in der Hand hielt.
„Gut. Du wirst alleine dort erscheinen. Joy, Ella und ich, wir werden zusammen dort hingehen. Wie immer stellen wir uns dumm und horchen alles und jeden aus. Hat noch irgendjemand eine Frage zu dieser Mission?“, wollte ich wissen und schaute mit gehobener Augenbraue in die Runde. Als Antwort bekam ich hier und da ein Kopfschütteln.
„Der Rest kann an diesem Abend freimachen.“, sagte ich, während ich mich schon umdrehte und auf die Tür zusteuerte. Dennoch entgingen mir die freudigen Ausrufe nicht.

Kapitel 2 - Unerwartete Begegnung




Es klopfte an meiner Zimmertür.
„Ja?“, rief ich und mühte mich damit ab, meine Haare zu bändigen.
„Cathy? Bist du bald fertig? Wir warten alle schon!“, rief Gill ungeduldig und ich verdrehte genervt die Augen.
„Ja! Ich komme gleich!“, knurrte ich wütend zurück. Ich wusste, dass Gill nicht daran schuld war, dass meine Laune im Keller war, aber ich konnte das Knurren in meiner Stimme nicht unterdrücken. Ich schob es darauf, dass ich eine Eisblume war. Als ich mit meinen Haaren einigermaßen zufrieden war, sah ich mich nochmal ganz im Spiegel an.
Ich trug ein royal blaues Kleid, das ab dem Oberschenkel schräg nach unten geschnitten war und sich bei jedem Schritt hinter mir ein wenig bauschte. Es hatte einen gewagten V-Ausschnitt und wurde oben nur gewickelt, was hieß, dass es sehr locker saß. Meine Füße steckten in royal blauen Stöckelschuhen, die mir Gill geliehen hatte. Sie waren anscheinend von irgendeiner teuren Marke, aber um ehrlich zu sein achtete ich nicht auf so etwas. Ich trug keine Jacke darüber. Alles in allem betonte dieses Kleid meine Figur sehr gut und zeigte viel von meiner makellosen, blassen Haut. Ich seufzte. Wie gerne hätte ich solch goldene Haut wie Dani… Meine langen weißen Haare hatte ich zu einer eleganten Hochsteckfrisur zusammengefasst, aus der mal hier und da ein paar Strähnchen herausfielen, die mein Gesicht umrahmten und meine hohen Wangenknochen betonten. Meine vollen Lippen schimmerten in einem zarten rosa und meine Augen schauten kalt in mein eigenes Profil. Ich konnte machen, was ich wollte. Meine Augen wirkten immer eiskalt. Das lag daran, dass sie eisblau waren und es aussah, als hätte ich in der Iris kleine Eiskristalle. Geschminkt hatte ich mich nur wenig. Denn erstens hatte ich so gut wie keine Schminke und zweitens fand ich mich mit Make-up zu fremd. Ich fand es stand mir einfach nicht. Zufrieden mit meinem Äußeren schnappte ich mir meine Tasche und wollte gerade zur Tür hinaus, als ich mich daran erinnerte, dass ich meinen Bogen und die Pfeile ja schlecht mitnehmen konnte. Also drehte ich mich um und marschierte zur gegenüberliegenden Wand, an der meine beiden Tessen hingen. Es waren zwei Fächer, die speziell zum Tessenjutsu verwendet wurden. Außerdem waren es meine beiden Babys. Denn ich hatte sie extra anfertigen lassen mit einer kleinen Besonderheit. Beide Fächer besaßen an der Unterseite einen winzigen Knopf. Wenn man den drückte, kamen an der Oberseite kleine Stahlspitzen hervor. Man sollte eben nie die Waffen einer Frau unterschätzen.
Ein Tessen ließ ich in der Tasche verschwinden, den anderen nahm ich wie eine vornehme Lady in die Hand. Gut dass ich zu einer Zeit aufgewachsen bin, in der jedes anständige Mädchen lernt, mit einem Fächer umzugehen.
Ich machte mich auf den Weg in die Garage, wo Joy und Ella schon auf mich warteten. Als sie mich sahen machten sie große Augen. Es war immer etwas ungewohnt, wenn ich mich schick machte, auch für die, die mich gut kannten. Denn normalerweise versteckte ich meine Figur in weiten, bequemen Klamotten, die meine Beweglichkeit nicht einschränkten und eher unvorteilhaft aussahen. Was, wenn es nach Gill geht, eine totale Verschwendung war. Ich drehte mich gekonnt einmal um mich selbst und hob fragend eine Augenbraue.
„Kann ich so gehen, Mädels?“
Joy und Ella nickten nur sprachlos. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Dabei sahen Ella und Joy aber auch umwerfend aus! Joy hatte ein grünes Kleid angezogen, das ihr knapp über die Knie ging und oben herzförmig geschnitten war. Es war Trägerlos, dafür hatte sie aber eine goldene Kette umgelegt und trug eine kleine elfenbeinfarbene Jacke. Ihre roten Haare hatte sie wie immer zu einem Dutt zusammengefasst, aber mehrere glitzernde Blumennadeln verzierten diesmal den Knoten. Ihre Schuhe waren flach und sahen aus wie kleine Ballerinas. Ihre Hände steckten in Abendhandschuhen, die ihr bis knapp über das Handgelenk reichten.
Ellas Kleid ging bis zum Boden und war schwarz. Es wurde durch einen Träger auf der rechten Schulter an Ort und Stelle gehalten. Eine Blutrote Schleife zierte ihre Taille und ihre High-Heels hatten die gleiche Farbe. Ihre kinnlangen schwarzen Haare fielen offen und ihre Hände steckten in Abendhandschuhen, die ihr bis über den Ellbogen reichten. Eine blutrote Tragetasche rundete ihr Outfit ab.
Ich fragte mich still, ob ich vielleicht auch Abendhandschuhe hätte anziehen sollen, schüttelte aber nur den Kopf über einen solch dummen Gedanken. Das hier war eine Mission und keine Vergnügungsfahrt auf dem Ponyhof!
Joy schnappte sich den Schlüssel ihres Wagens und wir stiegen ein. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und Ella setzte sich nach hinten. Den größten Teil der Fahrt verbrachten wir schweigend.
„Denkt ihr, die verlesen nochmal die Namen, so wie letztes Jahr?“, fragte Ella zähneknirschend und Joy lachte. Ich musste ebenfalls grinsen. Ella hasste ihren vollen Namen.
„Na, hoffen wir es! Ich will doch deinen Gesichtsausdruck fotografieren! Gut dass ich mein Handy dabei habe!“, meinte Joy und grinste in den Rückspiegel. Dafür bekam sie aber auch gleich von Ella einen spielerischen Schlag an den Hinterkopf.
„Also ich finde deinen Namen gar nicht so schlimm, wie du immer tust. Ist doch schön, nach einer Berühmtheit benannt zu sein.“, meinte ich und erntete prompt einen bösen Blick von Ella.
„“Das ist keine Berühmtheit, sondern eine Märchenfigur! Hallo?! Wer nennt sein armes Kind denn bitte schön Cinderella?!“, sagte Ella empört und zeterte den Rest der Autofahrt herum und beschwerte sich über ihren Märchennamen…


Joy übergab ihren Wagenschlüssel nur ungern dem Einparkdienst, aber nach einem mahnenden Blick meinerseits rückte sie ihn raus. Die Villa, in der das ganze Theater stattfand, war ein neutrales Gebiet der Nachtwesen. Hier jemanden anzugreifen würde sich niemand wagen. Dennoch gab es natürlich immer wieder Spannungen zwischen den beiden Kasten der Vampire und der Gestaltwandler. Aber zum Glück waren Hexen eher friedlich und gingen oft dazwischen. Ansonsten hätte es wahrscheinlich noch Mord und Totschlag gegeben. Heute würden sogar die Anführer der drei Kasten zugegen sein. Irgendwie fand ich es lustig, dass auch ich eine Einladung bekommen hatte. Schließlich war ich ja die Anführerin einer weiteren Kaste. Ironie des Schicksals würde ich sagen.
Wir gingen hinein und man führte uns direkt zum Ballsaal ohne uns zu durchsuchen. Anscheinend wurden nur Männer durchsucht, wie ich feststellte. Das war wirklich dumm. Warum waren eigentlich alle männlichen Nachtwesen der Ansicht, eine Frau könnte nicht genauso für ein Massaker sorgen, wie es ein Mann könnte? Das war wirklich Dummheit. Doch Joy, Ella und ich lächelten nur höflich und taten ganz so, als wären wir ein paar unschuldige Mädchen, die nicht jede Nacht ein Outfit entsorgen mussten, weil man die Blutflecken nicht mehr heraus bekam.
Zu Ellas Glück wurden dieses Jahr keine Namen verlesen und Joy brauchte ihr Handy doch nicht. Ich sah Gill schon von Weitem. Sie stach mit ihrem neonpinken Outfit ganz schön hervor und war umringt von fünf Männern. Beinahe hätte ich die Augen verdreht. Das war ja mal wieder klar. Ich schloss mich einfach irgendeinem Gespräch an und versuchte einen auf neugierig zu machen, wenn ich manche Männer ausquetschte. Die Frauen dort brauchte ich erst gar nicht zu fragen. Die lebten alle nach dem Prinzip „Was mein Mann bei der Arbeit tut, interessiert mich nicht“. Als ich zu einer Gruppe kam, in der sich vier Männer und zwei Frauen versammelt hatten, hatte ich sogar richtiges Glück. Einer der Männer, er war gut einen Kopf größer als ich, hatte dichtes schwarzes Haar und schien nur aus Muskeln zu bestehen, prahlte damit, dass er einer der Chefleiter der goldenen Kaste war. Ich nutzte dies schamlos aus. Ich rückte ein wenig näher an ihn heran, sodass ich meine Hüfte an die seinen lehnen konnte, damit wir uns ab und zu streiften. Ich kicherte wie ein kleines Schulmädchen und fächelte mir kokett Luft zu. Ich betete, dass dieser Kerl nicht verheiratet oder zumindest, dass seine Frau dann nicht anwesend war, denn ansonsten hätte ich ein kleines Problem.
„Dass heißt, sie sind ein großer starker Mann, ja? Haben sie denn viele Abtrünnige in letzter Zeit bekämpfen müssen? Das muss doch anstrengend sein, oder nicht? Also ich könnte niemals einen so gefährlichen Job tun…“, sagte ich und spielte ganz die bewundernde kleine Hausfrau.
Der Typ, definitiv ein Gestaltwandler, lachte leise und meinte dann:“Keine Sorge meine Liebe, wir passen schon auf, dass keiner Ärger macht. Außerdem ist dieser Job ja auch nicht für Frauen gemacht. Vor allem nicht für solche Schönheiten. Man sollte sie schützen wie einen kostbaren Diamanten, Miss Dermont.“
Ich behielt tapfer mein Lächeln bei, kochte innerlich jedoch vor Wut. Was fiel diesem unterdegenerierten Arschloch eigentlich ein?! Nicht für Frauen gemacht? Dass ich nicht lache! Ohne uns Frauen würde niemand von den ach so tollen Zivilisten seinen Arsch nachts auf die Straße bewegen können! Und dann auch noch eine solch billige Anmache! Der Typ widerte mich an. Und eine Antwort auf meine Frage hatte ich immer noch nicht bekommen. Ich kicherte kindisch und tat, als würde ich peinlich berührt den Blick senken, ehe ich fortfuhr.
„Aber, aber, sie alter Schmeichler! Sie bringen mich ja völlig in Verlegenheit!“
„Aber nicht doch! Sie sollten niemals wegen ihrer Schönheit und Anmut verlegen sein, meine Liebe!“, sagte dieser Typ und ich schwöre bei Gott, wenn dieses Sackgesicht mich noch einmal >meine Liebe< nannte, dann würde ich ihm hier und jetzt eine knallen. Ich wusste leider nicht mehr seinen Namen… Ich hatte nicht aufgepasst, als er mir vorgestellt wurde, aber ich konnte ja auch nicht ahnen, dass der Kerl wichtig ist. Kokett ließ ich meinen Fächer zuschnappen und hob den Blick erneut.
„Nun, Sir, mich würde es wirklich außerordentlich interessieren, wie oft ein hart arbeitender Agent wie sie, in richtige Gefahr gerät! Stellen sie sich doch vor, sie hätten eine Frau zu Hause – wenn sie nicht sogar eine haben – wie oft muss diese arme Frau dann um ihr Leben fürchten. Haben sie in letzter Zeit oft Abtrünnige gejagt?“, fragte ich bestürzt und versuchte ihm endlich eine Antwort auf meine eigentliche Frage zu entlocken.
Der Kerl grinste dreckig und schaute mich von oben bis unten an, auf eine Weise, die nur Männer beherrschen, wobei sein Blick verdächtig lange auf meinem gewagten Ausschnitt verweilten.
„Oh nein, ich bin nicht verheiratet, meine Schöne. Ich warte noch auf die Richtige. Und sollte ich jemals eine Frau haben, so seien sie versichert, dass sie sich keine Sorgen zu machen bräuchte. Denn in letzter Zeit mussten wir immer weniger Abtrünnige jagen. Es ist, als hätten wir sie bald alle, sind das nicht wunderbare Neuigkeiten? Was machen sie eigentlich beruflich, Miss Dermont?“, antwortete er und lenkte das Gespräch schon wieder in eine andere Richtung. Ich wusste, dass ich nicht mehr von diesem Bastard erfahren würde. Ich führte noch etwas Smalltalk und horchte dann die übrigen Gäste weiter aus… 

Es war fast Mitternacht und noch immer hatte ich fast nichts Brauchbares an Informationen sammeln können. Ich hoffte wirklich, dass Joy, Ella und Gill mehr Glück hatten als ich, sonst war das eine reine Zeitverschwendung gewesen. Ich entschuldigte mich bei der kleinen Gruppe und ging zielstrebig Richtung Garten. Ich brauchte jetzt dringend etwas frische Luft. Außerdem hatte ich es satt, mir das beschissene Geplänkel zwischen den Vampiren und den Gestaltwandlern anhören zu müssen. Als ob sie der Nabel der Welt wären!
Auf der überdachten Veranda standen ein paar Leute, die rauchten und ein, zwei Pärchen, die sich wohl kein Zimmer suchen konnten. Ich ignorierte alle und stapfte die Stufen hinunter in Richtung Gartenlabyrinth. Ein kleiner Spaziergang würde mir sicher gut tun, wobei ich aufpassen musste, denn in diesen Schuhen zu laufen war ja schon ein Kunststück. Da ich dieses Labyrinth nicht kannte, musste ich wohl auf gerate Wohl hineinspazieren. Ich mochte solche Gärten. Schon etwas fröhlicher und mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen wanderte ich ziellos durch die unzähligen Gänge und fand mich nach gut zehn Minuten an einem kleinen Steinbrunnen wieder, vor dem eine kleine Bank stand. Mit einem Seufzen setzte ich mich, lehnte mich ein wenig nach hinten und schloss entspannend die Augen. Hier war es so ruhig. Vielleicht sollte ich einfach den Rest des Abends hier verbringen. Das würde mir eine Menge Kopfschmerzen ersparen.
„Darf ich mich zu ihnen setzen?“
Ich zuckte vor lauter Schreck zusammen und riss meine Augen auf. Ich hatte niemanden bemerkt und hätte mir selbst vor lauter Dummheit in den Arsch beißen können. Wenn das ein Abtrünniger gewesen wäre, dann wäre ich vermutlich schon längst tot! Okay, es war aber auch etwas weit hergeholt, dass ein Abtrünniger hier auf dem Grundstück vorbeischauen würde, aber sicher sein konnte man schließlich nie!
Der Kerl stand links von mir und deutete mit der Hand auf den Platz rechts von mir. Der Typ war groß. Nicht so groß wie das Muskelpaket von vorhin, aber doch mindestens einen halben Kopf größer als ich selbst, wobei meine Größe schon 1,81m betrug, mit High-Heels natürlich… Er hatte schwarzes Haar, das im Mondlicht einen leicht bläulichen Schimmer hatte und seine Augen waren ein katzenhaftes grün. Richtig hypnotisierend. Seine Lippen luden geradezu zum Küssen ein. Er trug ein schwarzes Hemd mit passender Anzugshose. Aber während jeder andere formell darin gewirkt hätte, sah es bei ihm eher lässig aus, als würde er so etwas tagtäglich tragen. Schuhe hatte er jedoch keine an. Er war barfuß. Das ließ dann darauf schließen, dass er ein Gestaltwandler war. Hätte ich raten müssen, hätte ich behauptet er wäre eine Großkatze. Als ich in sein Gesicht zurücksah, hatte er amüsiert eine Augenbraue nach oben gezogen und ein wissendes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Ich blickte weg und merkte, wie ich rot wurde.
„Natürlich können sie sich setzen.“, meinte ich und versuchte diese nerv tötende Röte wegzubekommen. Himmel, Herr Gott, nochmal! Ich war über hundertzwanzig Jahre alt! Ich wurde schon seit langem nicht mehr wegen einem Mann rot! Was war bloß los mit mir?
Er ging an mir vorbei und setzte sich genau neben mich. Und wenn ich sage genau, dann meine ich, dass nicht einmal ein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte. Ich räusperte mich und rückte nach ganz außen, um etwas Abstand zu gewinnen. Doch der Typ rutschte einfach ein wenig nach. Verärgert sah ich auf und blickte wieder in dieses Amüsierte Gesicht mit dem spöttischen Lächeln.
„Haben sie eigentlich schon einmal etwas von Privatsphäre gehört, Mister…?“, fragte ich empört und ballte die Hände auf meinem Schoß zu Fäusten.
„Mister Smith. Alexander Smith. Und nein, davon habe ich noch nichts gehört. Kann man das essen?“, fragte er und auf meinen verdutzten Gesichtsausdruck hin, fing er an zu lachen.
Seine Stimme schien mir über die Haut zu streicheln und sein Lachen hörte sich in meinen Ohren wie Musik an. Ich bekam eine wohlige Gänsehaut, versuchte sie jedoch wieder abzuschütteln, indem ich mir mit den Händen über die Arme fuhr.
„Nun, Privatsphäre heißt, dass man der anderen Person ein wenig Freiraum lässt. Wenn sie also bitte so freundlich wären und ein Stück von mir abrutschen würden, Mr. Smith, dann wäre ich ihnen wirklich sehr dankbar.“, antwortete ich mit scharfer Stimme und merkte selbst, wie kalt ich klang. Darin war ich wirklich gut. Kalt sein. Ich denke das hatte damit zu tun, dass ich eine Eisblume war, aber um ehrlich zu sein, war ich mir da nie ganz sicher.
„Ist ihnen etwa kalt, Misses…?“, fragte er und schien keine Anstalten zu machen von mir abzurutschen.
„Miss Dermont. Cathleen Dermont. Und nein, mir ist nicht kalt!“, antwortete ich und wollte aufstehen. Doch ehe ich auch nur auf meinen Beinen stand, packte Smith mich am Arm und ich hielt in der Bewegung inne. Es war, als würde ein Blitzschlag durch meinen ganzen Körper jagen, von der Stelle ausgehend, wo seine Hand meinen Arm umschloss. Im Gegensatz zu mir hatte er anscheinend warm. Für mich fühlte es sich an, als wäre seine Handfläche brennend heiß. Und doch war es ein angenehmes Gefühl. Mir stockte der Atem und ich drehte mich zu ihm herum. Auch er stand jetzt. Er war sogar noch größer, als ich angenommen hatte und in seinem Griff spürte ich seine unterdrückte Kraft. Es wäre ein leichtes für ihn, mir einfach den Arm zu zerquetschen wie ein vertrockneter Ast. Ich erwiderte seinen Blick und die Zeit schien still zu stehen.
Seine Pupillen zogen sich zu kleinen Schlitzen zusammen und fasziniert starrte ich in seine Augen. Ich hatte das Gefühl darin zu versinken. Nachdenklich hatte er die Stirn gerunzelt und sah auf mich herab. Als wäre ich ein Rätsel, dass er nicht lösen konnte.
„Wer bist du bloß?“, flüsterte er und zog mich näher, sodass ich jetzt in seinen Armen lag. Er beugte sich nach vorne und vergrub seine Nase an meinem Hals. Unwillkürlich legte ich meinen Kopf zur Seite und schloss genießerisch die Augen. Ich hörte, wie er tief meinen Duft einsog, so als könnte er gar nicht genug davon bekommen.
„Dein Duft bringt mich noch um den Verstand…“, murmelte er leise an meinem Hals und wäre ich ein Mensch gewesen, hätte ich es wahrscheinlich nicht gehört. Er drückte seine Lippen auf meinen rasenden Puls und meiner Kehle entwich ein leises Wimmern. Dieses Geräusch rüttelte mich wach und ich keuchte entsetzt auf, als ich merkte, was ich da eigentlich tat. Ich versuchte ihn von mir wegzuschieben, doch er war viel zu stark. Alleine hätte ich es nicht geschafft. Aber er trat freiwillig zurück und ich stolperte rückwärts von ihm weg.
„Fassen sie mich nie wieder an, sie dämlicher Idiot! Oder ich werde ihnen so in den Arsch treten, dass sie bis nach Bagdad fliegen und meinen, der Mond wäre ein Zwetschenkuchen! Haben sie mich verstanden?!“, fauchte ich ihn wütend an und schenkte ihm einen erbosten Blick, bei dem schon viele schreiend davongelaufen waren.
Smith sah mich an und blinzelte ein paar Mal ungläubig. Dann brach er in schallendes Gelächter aus, bei dem ich einen gewissen spöttischen Unterton heraushörte. Und das gefiel mir gar nicht. Ich knurrte ihn wütend an und schlug die Hände vor den Mund. Ich war entsetzt. Ich hatte schon seit Jahrzehnten damit aufgehört, Leute anzuknurren. Ich drehte mich einfach um und rannte in das Labyrinth hinein. Ich wusste nicht genau, in welche Richtung ich musste, also ging ich einfach drauf los. Ich hörte wie er mir etwas hinterherschrie, verstand aber nicht mehr genau, was es war. Wütend stapfte ich zurück zur Villa, die ich erst nach ungefähr zwanzig Minuten wieder fand und hielt kurz inne, um tief durchzuatmen. Dann machte ich mich auf den Weg in den Ballsaal, um mit meiner eigentlichen Mission fortzufahren. Ich weigerte mich, auch nur eine Sekunde lang an diesen Mistkerl von vorhin zu denken! Auch wenn es leichter gesagt als getan war. Ich fühlte immer noch seine Lippen, die sich auf meinen Puls pressten… kopfschüttelnd trat ich zu einer Gruppe, die ich noch nicht kannte…

Kapitel 3 - Gestellt, getötet... umzingelt?




Ich blickte mich im Saal um und begegnete Gills Blick. Ich hob fragend eine Augenbraue, um zu erfahren, ob sie etwas herausgefunden hatte. Sie schüttelte kurz den Kopf und widmete sich dann wieder ihrem Gesprächspartner. Es war jetzt kurz vor Zwei Uhr und noch immer nichts. Ich wanderte ziellos durch den Saal. Um halb drei trat ein Gestaltwandler mit einem Mikro auf die kleine Bühne im hinteren Ende des Saales und bat um Aufmerksamkeit. Na toll. Was kam denn jetzt noch? Neugierig beobachtete ich das Geschehen auf der Bühne. Der Kerl laberte und laberte ohne auf den Punkt zu kommen. Ich war kurz davor, auf die Bühne zu klettern und dem Kerl eine reinzuhauen, als er endlich zur Sache kam.
„… und deswegen wird die goldene Kaste in Zukunft einen neuen Anführer im Dienst haben.“
Ich horchte gespannt auf. Einen neuen Anführer? Was war mit dem Alten, Fritz Fischbacke? Hatte ich etwa gerade einen wichtigen Teil der Rede verpasst oder hat man einfach den schmutzigen Teil weggelassen? Denn von alleine ist der alte Anführer bestimmt nicht zurückgetreten. Ich kannte ihn zwar nicht persönlich, aber auf mich hatte er auf anderen Festen nicht wirklich den Eindruck gemacht, als hätte er jemals vor, seinen Posten freiwillig zu räumen.
„Der Anführer wird niemand anderes übernehmen, als der Alpha von uns Gestaltwandlern selbst. Meine Damen und Herren, begrüßen sie mit mir Alexander MacPhie! König der Gestaltwandler!“
Der Sprecher fing zusammen mit dem Publikum an zu klatschen und wies in eine Ecke der Bühne. Dort teilte sich der Vorhang und…
Der bescheuerte Mistkerl vom Gartenlabyrinth trat vor, nur dass er diesmal Schuhe trug. Mir klappte der Kiefer nach unten. Ach du heilige Maria Mutter Gottes! Wollen die mich eigentlich verarschen?! DAS war ihr Alpha?! DAS war Alexander MacPhie?! Dieser kleine durchtriebene Penner! Hat doch tatsächlich den Nerv, sich mir unter falschem Namen vorzustellen. Ich klappte meinen Mund zu und unterdrückte ein boshaftes Knurren. Ich erdolchte den Mistkerl geradezu mit meinen Blicken und als hätte er sie gespürt, drehte er den Kopf in meine Richtung und schaute mir genau in die Augen. Er lächelte dieses beschissene Lächeln, bei dem jede andere Frau als Glibberpfütze auf den Boden gesunken wäre und besaß auch noch tatsächlich die Frechheit mir zuzuzwinkern. Hallo?! Er ZWINKERTE mir zu! Das war zu viel. Ich suchte nach jemandem in der Menge, den ich kannte. Ich erblickte Joy und machte ihr mit der Hand ein Zeichen, dass wir die Mission abbrachen und rauschte aus dem Raum. Joy würde den anderen schon Bescheid geben.
Ich wartete stinksauer an unserem Wagen, nachdem ich den Einparkdienst so zur Schnecke gemacht hatte, dass der junge angefangen hatte zu heulen und mir endlich die beschissenen Schlüssel für Joys Wagen gegeben hatte, versuchte ich mich abzureagieren. Was nicht passt, wird eben passend gemacht! Als dann die anderen endlich alle kamen, hatte ich mich schon wieder so weit unter Kontrolle, dass ich Joy ohne zu knurren die Schlüssel übergeben konnte und mich auf den Beifahrersitz pflanzte.
Wie auch bei der Hinfahrt, verlief die Rückfahrt größtenteils schweigend.
Erst kurz bevor wir Zuhause ankamen, fragte Joy vorsichtig nach.
„Also… was genau war jetzt los?“, fragte sie ruhig und behielt die leere Straße im Blick.
Ich verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust und schwieg. Joy seufzte. Dann schaltete sich Ella genervt ein: „Cathy, sag uns endlich was-.“
„Ich will nicht darüber reden!“, unterbrach ich sie laut knurrend und sowohl Joy als auch Ella zuckten erschrocken zusammen. Normalerweise war ich diejenige, die nie die Nerven verlor. Doch heute konnte ich einfach nicht mehr.
Ich hatte mich nämlich nicht nur vor dem verdammten Anführer der goldenen Kaste lächerlich gemacht, nein, ich musste noch eines draufsetzen und mich vor dem Alpha der kompletten Gestaltwandlersippe blamieren! Himmel, Herr Gott nochmal! Ich HASSTE Samstage!

Er würde dafür bezahlen! Für all das, was er und seine Familie mir angetan haben! Der Plan ist perfekt! Alles läuft genauso, wie ich es geplant hatte. Diese Idioten bemerkten es nicht einmal. Bald ist es so weit. Nur noch ein Hindernis galt es zu beseitigen. Das war alles, was mich von meinem Erfolg noch trennte. Das einzige, was mich noch aufhalten könnte… diese verfluchte blaue Kaste.
Sie mischte sich immer in Angelegenheiten ein, die sie verdammt nochmal nichts angingen! Aber diesmal wird sie mir nicht dazwischenfunken. Oh nein! Ich werde sie alle aus dem Weg räumen! Jeden einzelnen dieser jämmerlichen Krieger! Es konnte nicht sein, dass niemand auch nur ein Wort über diese Kaste wusste! Irgendjemand musste doch zu dieser Kaste Auskunft geben können! Es war eine verflixte Geisterkaste! Unsichtbar und doch existent.
Ich wusste, dass meine Chancen viel besser standen, wenn ich diese Krieger auf meiner Seite hätte, doch wie stellte man eine Verbindung zu jemandem her, der nicht gefunden werden wollte? Ganz einfach… wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet eben zum Berg gehen.
Ich kicherte und drückte den blinkenden Knopf an meinem Schreibtisch. Sofort ertönte ein kurzes statisches Knistern und dann war die Stimme meines Sekretärs deutlich zu hören.
„Ja, Herrin?“
„James, schicken sie den… Boten los…“, meinte ich und unterbrach mit einem sadistischen Lachen die Verbindung.
Diesmal hielt ich die Fäden in der Hand. Das würde ganz allein mein Triumph sein. Mit oder ohne der blauen Kaste…

Ich hatte es Joy, Ella und Gill überlassen, den anderen zu berichten, was auf der Party bekannt gegeben worden war. Ich selbst hatte mich sofort in mein Zimmer begeben und mich unter die eiskalte Dusche gestellt. Und wieder bereute ich eine Sache mehr in meinem beschissenen Leben. Als ich aus der Dusche kam, warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor halb fünf morgens. Ich wusste, dass es zu spät war, um noch auf Patrouille zu gehen. Also zog ich mir eine weit geschnittene Yoga-Hose, ein verwaschenes, altes Schlabber-T-Shirt an und machte mich mit Pfeil, Bogen und meinen Tessen auf den Weg zur Trainingshalle.
Robin und Dani befanden sich ebenfalls dort. Neugierig beobachteten sie mich, doch ich ignorierte ihre Blicke und ging ans andere Ende der Halle. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Robin mit ihren Doppelschwertern sich daran machte, eine Übungspuppe zu bearbeiten. Wenn man sie irgendwo leicht verpennt im Schlafanzug herumlungern sah, würde man nie im Leben vermuten, dass sie eine solche Schnelligkeit und Geschicklichkeit an den Tag legen konnte.
Dani hatte auf ein paar Matten gesessen und meditiert, ihr Katana vor ihr liegend und die Augen geschlossen. Doch jetzt stand sie auf, griff nach ihrer Waffe und vollführte mehrere Übungen mit dem Schwert.
Doch all das versuchte ich einfach zu ignorieren. Ich legte meine Tessen erstmal zur Seite und ließ mit Hilfe eines versteckten Schalters an der Wand eine Zielscheibe am anderen Ende erscheinen. Ich zog einen Pfeil aus meinem Köcher und legte an. Ich genoss das Gefühl des gespannten Bogens und zielte. Plötzlich fing die Zielscheibe an, sich zu bewegen. Stirnrunzelnd warf ich einen Blick zu den Schaltern und sah Robin, die sich gegen die Wand lehnte und herausfordern eine Augenbraue nach oben gezogen hatte. Ich schenkte ihr ein grimmiges Lächeln und spannte meinen Bogen noch ein Stückchen weiter. Ich schoss.
„Wieso erzählst du es uns nicht? Du kannst vielleicht allen anderen aus dem Weg gehen, aber wir wissen doch beide, dass das nicht gut gehen wird. Du weißt, ich vertraue dir. Und deswegen werde ich diese Frage auch nur einmal stellen. Ist deine Reaktion, die du auf diesem Ball gezeigt hast, irgendwie relevant für die Kaste?“, fragte sie genau in dem Moment, in dem ich den Pfeil abgegeben hatte.
Ob es für die Kaste relevant war? Mal sehen, ich hatte mich vor dem Alpha der Gestaltwandler und gleichzeitig dem neuen Anführer der goldenen Kaste lächerlich gemacht. Ich selbst war Anführerin der blauen Kaste. Wenn man das so betrachtete… hmm, ja, dann war es wohl relevant, was? Schließlich vertrat ich alle aus dieser Kaste.
Andererseits wussten die anderen Kasten nicht, dass ich überhaupt etwas mit der blauen Kaste zu tun hatte, geschweige denn, ihre Anführerin war. Schließlich gingen diese arroganten Mistkerle ja alle davon aus, dass es sich bei der blauen Kaste um richtig harte Kerle handelte. Nicht um ein Haufen von Frauen, die nach außen hin einen guten Ruf hatten. Also hatte ich rein theoretisch ja niemanden lächerlich gemacht – außer mich selbst.
Ich seufzte, atmete tief ein und wieder aus. Ich drehte mich wieder zur Zielscheibe und sah, dass ich vorhin voll ins Schwarze getroffen hatte.
„Nein. Es ist nicht wichtig für die Kaste. Und es tut mir Leid, dass ich überreagiert habe. Du kannst den anderen versichern, dass wird nicht wieder vorkommen!“, meinte ich entschlossen, schaffte es jedoch nicht, Robin in die Augen zu sehen. Ich wusste nicht, ob sie es mir abkaufte, aber ich war dankbar dafür, dass sie schwieg und nicht weiter bohrte. Ich hörte sie resigniert seufzen.
„Na gut, dann eben nicht.“, nuschelte sie und ich hörte ein unterdrücktes Gähnen, bei dem ich lächeln musste. Da war ja meine Robin wie ich sie kannte und liebte!
Sie verließ die Trainingshalle und ich widmete mich wieder meinem Training. Doch egal was ich tat, um mich abzulenken, irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich gerade die gesamte Kaste verraten hatte. Um ehrlich zu sein: Ich fühlte mich mies. Dabei hatte ich doch rein gar nichts getan, oder?

Am nächsten Abend hatte ich mich selbst zur Patrouille eingeteilt. Ich musste dringend ein wenig Zeit für mich haben. Zwar begleitete mich Robin, da wir immer in Zweierteams loszogen, doch ich wusste, dass sie ihr Wort halten und mich nicht mit Fragen löchern würde.
Die Nacht zog sich wie Kaugummi in die Länge. Aber was hatte ich erwartet? Schließlich waren schon länger keine Abtrünnigen mehr auf den Straßen. Warum sollte es also ausgerechnet heute anders sein? Gegen drei Uhr jedoch wurden Robin und ich fündig. Neben einem Fast Food Restaurant in einer kleinen, engen Gasse kreischte jemand. Dann vernahm man ein schrecklich lautes Knurren, bei dem jeder gleich wusste, dass es niemals menschlich sein konnte. Ich warf Robin einen Blick zu und sie verstand mich auch ohne Worte. Lautlos glitt sie in die Schatten, um sich von der anderen Seite der Gasse zu nähern. Ohne zu zögern rannte ich geradewegs auf das Gekreische und Knurren zu.
Als ich um die Ecke bog, erfassten meine Sinne die Lage innerhalb vom Bruchteil einer Sekunde.
Eine Frau stand von mir aus gesehen an der rechten Gebäudewand und schrie sich vor lauter Angst die Lunge aus dem Leib. Was aber auch verständlich war, denn vor ihr, zu meiner linken, lauerten vier Bestien, mit roten Augen und klaffenden Mäulern. Gestaltwandler, die dem Wahnsinn verfielen waren wirklich nicht gerade ein schöner Anblick. Ihr Fell schien verfilzt, sie hatten Schaum vor dem Mund und sie stanken schrecklich, irgendwie nach verfaulten Eiern. Ihre Zähne wirkten viel zu groß und spitz und es hatte den Anschein, als würden ihre Augen überall hinschauen, nur nicht auf den Punkt, den sie fixierten. Doch das täuschte.
Drei der vier Bestien waren einmal Wölfe gewesen. Der vierte jedoch war etwas kleiner und bei näherem Betrachten sah ich, dass es sich hier um einen Wildhund handelte. Dennoch waren alle vier größer, als normale Tiere. Die Wölfe schienen etwas abgemagert, aber ihre Größe reichte gut an zwei Meter heran, in geduckter Haltung, wohlgemerkt. Den Wildhund schätzte ich auf ca. 1,75m.
Sie alle setzten gerade zum Sprung ein und ich wusste, dass ich jetzt sofort eingreifen musste. Ohne großartig nachzudenken nahm ich meinen Bogen, den ich schon in der Hand hielt und zwei Pfeile. Ich spannte sie gleichzeitig und zielte. All dass dauerte nur zwei Sekunden und genau in dem Moment, indem die ersten beiden Wölfe auf die hysterische Frau zusprangen, schoss ich. Den vorderen Wolf, der näher zu mir stand, tötete ich mit einem direkten Treffer in sein rechtes Auge. Der zweite Pfeil traf zwar den anderen Wolf, jedoch nur in der Flanke. Er stürzte zusammen mit dem anderen zu Boden, etwa einen halben Meter vor der Frau, doch er fing schon wieder an sich mühselig aufzurappeln. Genau in diesem Moment wurde dem Mistvieh sauber der Kopf vom Rumpf getrennt. Robin stand hinter dem leblosen Körper, der wie ein Sack Zement in sich zusammen fiel und machte einen Schritt vorwärts, sodass sie nun genau zwischen den beiden übrig gebliebenen Bestien und der Frau stand. Der Mensch hatte mittlerweile aufgehört zu schreien und war heulend an der Wand hinuntergerutscht. Sie murmelte unzusammenhängende Dinge vor sich hin und hatte ihren Kopf in den Händen vergraben. Doch jetzt war nicht der Moment, um Mitleid zu haben, denn der dritte und letzte Wolf heulte vor Wut, als er verstand, dass seine Brüder gerade ins Gras gebissen hatten. Er wollte sich auf Robin stürzen, doch ich hatte schon den nächsten Pfeil gezückt und traf ihn mitten im Sprung genau in den ungeschützten Bauch. Mit einem schmerzerfüllten Heulen ging er zu Boden. Er landete genau vor Robins Füßen und die zögerte nicht lange mit ihren Doppelschwertern und machte ihm den Garaus. Der Wildhund, der wusste, dass er keine Chance hatte, wollte flüchten, doch ich ließ ihn gar nicht so weit kommen, um in die Richtung zu laufen, aus der Robin gekommen ist und die nun ungeschützt war. Ich zückte einen kleinen Dolch aus meinem Stiefel und warf ihn. Der Treffer ließ den Hund zu Boden gehen, doch ich wusste, es war nur eine Fleischwunde. Ich lief zu dem Hund und zog mit einem kräftigen Ruck das Messer aus seinem Rücken. Die Bestie versuchte herumzuwirbeln und nach mir zu schnappen, doch ich duckte mich und schnitte ihm mit einer schnellen Bewegung die Kehle durch. Als ich mich zu Robin umdrehte, sah ich, dass sie gerade dabei war, der hysterischen Frau die Erinnerung zu nehmen. Ich blickte auf die vier Leichen, die in der Gasse lagen. Sie hatten sich alle zurückverwandelt. Beim Eintreten des Todes nehmen Gestaltwandler immer ihre menschliche Form wieder an.
Robin half der Frau beim Aufstehen und drehte sich zu mir um. Die Augen des Menschen waren leer und blickten ins Nichts. Es war irgendwie unheimlich.
„Räumst du alleine auf? Ich werde sie an einen sicheren Ort bringen.“, meinte Robin und deutete auf die Menschenfrau. Ich nickte knapp und sie machte sich zusammen mit ihrem Schützling auf den Weg. Ich zog die Maske aus meiner Jackentasche heraus und streifte sie mir über.
Es war die Maske der blauen Kaste. Eigentlich sollten wir sie bei jedem Einsatz tragen, doch das hatten wir schon vor langer Zeit aufgegeben. Es war einfach nervig. Doch da die Leichen, die wir hin und wieder haben auch entsorgt werden müssen, kamen wir nicht drum herum. Denn die blaue Kaste hatte verschiedene Kontakte, die die Leichen sauber und ordentlich… verschwinden ließen. Und ohne die Masken, hätten diese Kantaktleute schon längst die Mitglieder der blauen Kaste verpfiffen. Denn es waren fast ausschließlich nur Auftragskiller und Söldner, die mit dem Verschwinden zu tun hatten. Und es war schon des Öfteren ein hohes Kopfgeld auf uns angesetzt. Die lieben Agenten lassen Grüßen.
Die Maske war komplett blau und verdeckte den kompletten Kopf. Nur zwei kleine Schlitze für die Augen waren angebracht. Jeder aus meiner Kaste hatte so eine Maske. Auch wenn niemand sie oft benutzte, war sie doch wichtig. Ich ging zu der Leiche, die vor ein paar Sekunden noch ein Wildhund gewesen war und hob sie hoch, um sie mir über die Schulter zu werfen. Etwas fiel auf den Boden, was vermutlich der Hund bei sich gehabt hatte. Es war ein schwarzes Blatt Papier. Stirnrunzelnd ging ich in die Knie, die Leiche immer noch auf der Schulter, und hob es auf. Ich drehte es um und erstarrte. Es war kein Papier, sondern ein Briefkuvert. Und vorne stand mit verschnörkelter Schrift, an wen der Inhalt gehen sollte. An die blaue Kaste.
Ich ließ den Wildhund einfach fallen und öffnete misstrauisch das Briefkuvert. Ich zog ein schwarzes, schweres Briefpapier heraus, das mit blutroten Buchstaben beschriftet war. Als ich den Inhalt gelesen hatte, konnte ich nicht anders, als ihn noch einmal zu lesen. Und dann sogar noch ein drittes Mal. Was auch immer das zu bedeuten hatte, es war verdammt nochmal nicht gut. Erst als ich von dem Brief aufschaute, meldeten sich meine Eisblumeninstinkte. Ich war so vertieft beim Lesen gewesen, dass ich sie nicht bemerkt hatte. Doch jetzt wurde mir bewusste, dass ich umzingelt war. Sie standen an beiden Enden der Gasse. Ich fluchte innerlich und stand langsam auf. Ich drehte den Kopf ein Stück in ihre Richtung und gab ihnen so zu verstehen, dass ich sie bemerkt hatte. Aus den Schatten traten mehrere Personen. Gestaltwandler. Ich war vollkommen von ihnen umzingelt. Sie hatten mich eingekreist. Eine Flucht war praktisch unmöglich.

Kapitel 4 - Post von der silbernen Kaste




Ich zählte alleine an dem einen Ende der Gasse fünf Gestaltwandler und am anderen nochmal vier. Ich konnte also weder nach rechts noch nach links flüchten. Verdammt! Warum hatte ich den Brief nicht später aufgemacht? Dann wäre so etwas nicht passiert! Und zum ersten Mal in meinem Leben war ich froh, dass ich meine Maske aufhatte. So konnte man mich wenigstens nicht identifizieren. Ich musste hier weg. Keiner von ihnen durfte erfahren, dass ich ein nach außen hin unschuldiges Mädchen war. Sonst hätten wir bald die gesamte Kaste der Gestaltwandler im Nacken. Innerlich fluchte ich, da man anhand meiner Kleidung erkennen konnte, dass ich weiblich war. Aber da wir schon seit Jahren niemals entdeckt worden waren, hatte ich auch nicht angenommen, dass ich ausgerechnet heute Männerkleidung brauchte. Das hatten wir alle schon lange aufgegeben. Doch wie es aussah, war dies ein schwerer Fehler. Wir hatten uns in Sicherheit gewogen und die Schutzmaßnahmen vernachlässigt. Und auf die Hilfe von Robin konnte ich auch nicht hoffen, da sie sich um den Menschen kümmerte.
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Meine Muskeln bereit, um auf jede noch so kleine Bewegung meiner Gegner zu reagieren. Ich hielt immer noch den Brief in der einen Hand. Doch ich wusste, diese Kerle würden mir keine Gelegenheit dazu geben, meinen Bogen vom Rücken zu nehmen und zu feuern. Sie würden sich wahrscheinlich bei der kleinsten Bewegung auf mich stürzen.
Die Gestaltwandler auf der rechten Seite kamen noch ein Stück näher und ich wandte ruckartig meinen Kopf in diese Richtung. Ich hörte wie hinter mir mehrere Waffen entsichert wurden und die, denen ich mich zugewandt hatte, zielten bereits. Ein warnendes Knurren entstieg meiner Kehle, das sich nicht menschlich anhörte und sehr leise war. Aber ich wusste, dass jeder der hier Anwesenden es hören konnte. Die Fünf, die näher gekommen waren hielten abrupt inne. Sie waren jetzt immerhin so nahe, dass ich sie einigermaßen erkennen konnte. Auch sie trugen alle Masken. Doch ihre waren nicht blau, sondern golden. Sie waren also alle von der goldenen Kaste.
Der große Typ in der Mitte trat einen Schritt vor und hielt beruhigend die Hände nach oben. Ich duckte mich ein wenig weiter nach unten und knurrte lauter. Sofort hielt der Kerl mitten in der Bewegung inne und mein Knurren verstummte wieder. Langsam, um mich nicht noch mehr zu reizen, wanderte seine Hand zu seiner Maske und er zog sie vom Kopf. Es kostete mich einiges an Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie schockiert ich war. Was zum Teufel machte ER denn hier? Verfolgte er mich?!
„Ganz ruhig. Wir wollen ihnen nichts tun, zumindest vorerst nicht.“, meinte Alexander und ich schnaubte abfällig. Sollte mich das jetzt etwa beruhigen? Also das musste er wohl noch ein bisschen üben…
„Sie gehören also zur blauen Kaste, richtig?“, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf meine Maske. Hinter ihm schnaubte ein anderer Verächtlich und meinte: „Das kann nicht sein. Die blaue Kaste hat bestimmt keine Frau in ihren Diensten! Sie muss eine Betrügerin sein. Oder es ist eine Falle von den anderen Kasten! Sie soll uns wahrscheinlich nur-.“
„Schnauze!“, knurrte der neue Anführer der Kaste und sofort verstummte der spöttische Tonfall. Alexander wandte sich wieder mir zu und sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Kalt. Unnahbar.
„Gehörst du zur blauen Kaste?“, fragte er mich ruhig. Doch ich wusste, dass er alles andere als ruhig war. Denn wer hatte schon ein solches Glück, über ein Mitglied der legenderen blauen Kaste zu stolpern. Wobei der Idiot hinter ihm nicht ganz unrecht hat. Ich könnte meine Maske abnehmen und gestehen, dass ich für Ablenkung sorgen sollte. Aber zu welchem Preis? Dass sie mich als Geisel mitnehmen würden und so lange bei sich behalten, bis ich ihnen sage, wer dafür verantwortlich war? Nein. Das Risiko meine Kaste im Stich zu lassen war dabei zu hoch. Ich musste mich hier irgendwie geschickt aus der Affäre ziehen. Klar, ich war eine Eisblume. Ich könnte jederzeit von hier weg, indem ich einfach fliege, aber dann würde ich mich selbst verraten. Schließlich wusste ja niemand, dass es noch eine Eisblume auf der Welt gab. Und meine Flügel waren eindeutig ein Beweis und ließen keinen anderen Schluss ziehen, als der, dass ich eine von ihnen war.
Ich hielt mich also ruhig und antwortete nicht auf seine Frage.
„Ich fragte, ob du ein Mitglied der blauen Kaste bist!“, knurrte er jetzt lauter und definitiv wütender. Wieso hatte ich nur das Gefühl, dass das alles andere als gut war? Ich nickte, da ich das Gefühl hatte, dass es besser war, ihn nicht noch wütender zu machen. Daraufhin zog er amüsiert eine Augenbraue nach oben.
„Ich wäre nie in meinem ganzen Leben darauf gekommen, dass eine Frau zur blauen Kaste gehört. Dafür schienen die Gerüchte, die man so hört einfach viel zu… naja, sagen wir, dass ein solcher Job eigentlich gar nicht für eine zartfühlende Frau infrage kommen sollte.“, meinte er und ich konnte nur mit viel Mühe und Not ein wütendes Knurren unterdrücken. Ich meine, was bildete dieser Idiot sich eigentlich ein?! Warum muss jeder gutaussehende Kerl entweder Schwul, ein Arsch oder Frauenfeindlich sein? Gibt es denn keinen, der mal anders ist?
„Nimm die Maske ab, Weib!“, befahl er mir und ich konnte über seinen herablassenden Ton nur grinsen. Männer. Man musste sie einfach lieben. Dachte er denn wirklich, dass ich nach seiner Pfeife tanzen würde? Ich schüttelte kurz den Kopf.
„Ich sage es dir nicht noch einmal! Nimm diese Maske ab!“, knurrte er und ich wusste, dass ich jetzt handeln musste, denn hinter und vor mir konnte ich von allen zustimmendes Geknurre hören. Warum mussten Gestaltwandler auch immer so ungeduldig sein?
Was sollte ich jetzt tun? Meinen Bogen konnte ich vergessen. Vielleicht schaffte ich es meine Tessen zu ziehen, die an zwei Gürtelschleifen um meine Taille hingen. Aber es war wahrscheinlicher, dass ich vorher von Pistolenkugeln durchlöchert wurde. Auch die Dolche, die ich dabei hatte, brachten mir nichts. Wo war ein kugelsicherer Schutzschild, wenn man ihn mal brauchte?
Meine einzige Chance waren die Nebelkugeln, die ich noch dabei hatte. Dabei handelte es sich um kleine Perlen, die einen magischen Irr-Nebel freisetzten, wenn man auf sie drauf trat. Ich konnte nur hoffen, dass diese Idioten nicht so blöd sein würden, blind zu feuern. Aber es war nun mal meine beste Option. Ich hatte solche Kugeln immer im Ärmel, seit dieser Aktion von Gill und dem Schokoladenkuchen… fragt besser nicht. Sagen wir einfach, ich war froh, dass Ella eine Halbhexe ist und solche Kugeln herstellen konnte und belassen es dabei.
Ich ließ unauffällig mehrere Nebelkugeln in meine Handflächen gleiten. Aber so, dass sie weder die Gestaltwandler vor mir, noch die hinter mir sie entdeckten. Dann hob ich meine Hände, so als ob ich meine Maske abstreifen wollte. Doch anstatt nach dem Saum meiner Gesichtsbedeckung zu greifen, warf ich in einer blitzschnellen Bewegung, die kein menschliches Auge hätte mit verfolgen können die Nebelkugeln auf den Boden und stampfte darauf.
Die Gestaltwandler, die recht gute Reflexe hatten, schossen auf mich, doch keine Kugel traf ihr Ziel. Und jetzt begann auch schon der Nebel sich explosionsartig auszubreiten. Ich wusste, dass mir nicht viel Zeit blieb. Ich lief geduckt genau in die Richtung, wo MacPhie und die anderen vier Gestaltwandler gestanden hatten und versuchte mich mit Hilfe meiner Eisblumensinne zu orientieren. Der Vorteil daran, eine Blume zu sein, war der, dass ich eine enge Bindung mit Mutter Natur hatte. Und der Boden der Gasse enthielt mehrere Risse, aus denen Unkraut und Gras hervorspross. Deswegen konnte ich genau sagen, dass einer der vier Gestaltwandler ganz rechts an der Wand stand, da er mitten auf eine kleine Pflanze getreten war. Zwei weitere befanden sich ungefähr mittig des Weges und der Vierte links, aber nicht direkt an der Wand. Ich wusste, dass einer fehlte, aber ich hatte keine Zeit herauszufinden, wo er abgeblieben war. Also nutzte ich meinen Vorsprung und wich nach links aus. Ganz an die Wand, knapp vorbei an Nummer vier. Dann rannte ich so schnell mich meine Beine trugen zum Ende der Gasse. Ich wusste, dass noch zwei Leute hinter der Abbiegung lauerten, denn an der Mauer des Gebäudes rankte sich Efeu hinauf, an dem beide Personen sich abstützten. Pflanzen – man musste sie einfach lieben. Ich zückte meine beiden Tessen und nutzte den Überraschungsmoment. Ich klappte den Tessen in der linken Hand aus und wirbelte mit einer fließenden Bewegung um die Ecke des Gebäudes. Dabei drückte ich den Knopf an der Unterseite des Fächers. Bevor der Gestaltwandler auch nur reagieren konnte, hatte ich ihm mit einem sauberen Schnitt die Kehle durchgeschnitten und sein lebloser Körper knallte dumpf auf dem Boden auf. Sein Partner zog ein langes, alt aussehendes Schwert aus einer Scheide, die er auf dem Rücken trug, und platzierte sich kampfbereit direkt vor mir. Das war genau das, was ich jetzt brauchte.
„Na dann, lass uns tanzen, honey!“, meinte ich abwertend und klappte beide Tessen zu. Mehr Aufforderung bedarf es gar nicht und „honey“ setzte zu einem gezielten Schlag an. Ich wich geschickt nach links aus, machte einen Schritt nach vorne und schlug mit meinem rechten Tessen auf seine Schläfe. Jedoch nicht fest genug. Der Typ holte nochmals aus, doch ich duckte mich unter dem Schwert hindurch auf die andere Seite. Ehe er auch nur blinzeln konnte, stand ich genau rechts neben ihm und hielt seinen Hals in einem Würgegriff mit meinem rechten Arm. Mit einem Grunzen versuchte er mit dem Schwert nach mir zu schlagen, doch ich hieb mit einem gezielten Schlag meines linken Tessen genau auf seinen Schwertarm und mein Gegner ließ automatisch seine Waffe fallen. Nun nutzte ich meinen zweiten Arm um dem Kerl sauber das Genick zu brechen.
All das dauerte nur Sekunden, doch ich wusste, dass ich keine Zeit mehr hatte. Ich musste von hier weg, ehe die Irr-Nebel ihre Wirkung verloren. Ich drehte mich ein letztes Mal um, nur um zu sehen, dass ich die ganze Zeit beobachtet worden war. Lässig an die Wand gelehnt stand Alexander MacPhie. Er betrachtete mich sowohl amüsiert als auch nachdenklich. Also wenn ich gerade zwei Mitglieder meiner Kaste verloren hätte, dann wäre ich alles andere als amüsiert gewesen. Er machte jedoch nicht den Eindruck, als würde er mir folgen wollen. Eher als erwartete er etwas von mir. Bevor ich mich umdrehte und davon rannte, zeigte ich ihm meinen Lieblingsfinger. Und ich hätte schwören können, dass ich ihn noch lachen gehört hatte. Doch ich nahm mir keine Zeit herauszufinden wieso. Ich musste mich nun um wichtigeres kümmern. Um meine Kaste zum Beispiel.
Ich hatte ungefähr schon die Hälfte des Weges zum Hauptquartier zurückgelegt, natürlich mit mehreren Umwegen, bis ich sicher war, dass mir niemand folgte, als ich es bemerkte. Ich hatte etwas Wichtiges in der Gasse verloren.
Der Brief, der an die blaue Kaste adressiert gewesen war, befand sich nicht mehr in meinem Besitz. Ich muss ihn in der Gasse fallen gelassen haben. So ein verdammter Mist aber auch!
Es war nicht tragisch, dass er weg war. Denn jede Zeile, jeder Buchstabe hatte sich bei dritten Mal, als ich ihn gelesen hatte, in mein Gedächtnis gebrannt. Aber wenn er in die Hände der Gestaltwandler fiel, DANN war es schlimm. Da der Inhalt des Briefes nur für mich, die Anführerin der blauen Kaste bestimmt war. Wenn diese dämlichen Gestaltwandler das Schlimmste bei dem Brief denken, was vermutlich der Fall sein wird, dann werden alle Mitglieder der Kriegerkaste ab sofort von der goldenen Kaste gejagt werden...
Das erste, was ich tat, als ich im Hauptquartier ankam, war eine Notversammlung anzuordnen. Es dauerte keine zwanzig Minuten und schon saßen wir alle zusammen im Besprechungszimmer. Ich hatte in der Zeit, in der die anderen auf dem Weg hierher gewesen waren, den Brief erneut auf ein Blatt Papier geschrieben. Und zwar mit dem genauen Wortlaut, wie es das Original hatte:

Die blaue Kaste hat die Wahl.
Bald wird sie sich für eine Seite entscheiden müssen.
Sie muss wählen zwischen Gold und Silber.
Wenn der nächste blaue Mond seinen Zenit erreicht,
dann wird Silber das Goldene schlagen.
Man sagt euch mystische Legenden und Kräfte nach.
Darum will ich euch die Wahl lassen.
Feiert die blaue Kaste mit Silber, so wird sie reich belohnt.
Steht sie jedoch zu Gold, so wird sie fallen. Endgültig.
Wenn sie will schließen den Pakt mit Silber,
so wird ein Blutsschwur unter dem Bild des Lebens verlangt.
Sucht den Drachen des Silbers auf.
Er wird mit euch Kontakt erhalten.

Die silberne Kaste

Während ich ihnen erklärte, was vorgefallen war, ließ ich den Zettel rund gehen. Robin, die gerade eben noch total verpennt gewesen war, obwohl sie erst mit mir auf Patrouille gegangen war, wirkte nun hellwach und man konnte sie praktisch schon denken SEHEN. Ellas angespannte Mine verfinsterte sich nur noch mehr. Gills Fröhlichkeit, die sonst durch nichts und niemanden vertrieben werden konnte, wich einem besorgten Ausdruck. Dani knurrte wütend, als sie den Inhalt erfasst hatte und ihre Augen bekamen einen goldenen Schimmer. In diesem Moment erkannte man sehr deutlich, dass sie eine Gestaltwandlerin war. Bei Joy konnte man ein kurzes Aufflackern von Schock erkennen, ehe es sich in Wut umwandelte. Tammy schlug sich geschockt die Hände vor den Mund. Denn sie alle wussten, was dieser Brief bedeutete. Dies, war eine eindeutige Kriegsansage. Die blaue Kaste wurde offiziell herausgefordert. Denn niemand war bis jetzt so bescheuert gewesen uns eine Morddrohung zu schicken.
Und wir konnten nur hoffen, dass die Gestaltwandler den Brief nicht gefunden hatten. Denn wenn sie denken, dass wir hinter der silbernen Kaste stehen, so werden sie hinter uns her sein. Dann würden wir wohl vom Jäger zum Gejagten werden…
Doch ich musste keine Abstimmung machen, um zu entscheiden, ob wir uns dieser neuen „silbernen“ Organisation anschließen würden. Jeder, der auch nur ein Funken Loyalität und Ehrgefühl im Blut hatte, würde sich lieber dem Tod persönlich stellen, als sich solch einer Kaste anzuschließen. In dieser Hinsicht waren wir uns alle einig.
„Was tun wir jetzt?“, fragte Dani immer noch mit einem leichten Knurren in der Stimme, auch wenn sie versuchte ihre Triebe wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Wir werden mit dem Drachen des Silbers in Kontakt treten und uns überlegen, was das >Bild des Lebens< sein soll. Gill, weißt du zufällig, wann die goldene Kaste das nächste Fest besucht? Wir müssen unbedingt herausbekommen, ob sie den Brief gefunden haben. Den Originalbrief.“, meinte ich und hoffte zum ersten Mal in meinem gesamten Leben, dass die Gestaltwandler ein Fest organisierten oder so etwas… Kaum zu glauben aber wahr. Ich hätte niemals gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich WILL freiwillig auf ein Fest gehen, wo diese idiotischen Agenten der anderen Kasten anwesend sind. Junge, junge… da sieht man mal wieder, wie tief ich schon gesunken war…
„Zufällig veranstalten sie sogar wirklich eine Party. Was genau hast du vor, Cathy?“, fragte Gill mich misstrauisch. Ich konnte mir ein grimmiges Lächeln nicht verkneifen.
„Nun, wir werden mit dieser beschissenen silbernen Kaste in Kontakt treten, herausfinden, wer dahinter steckt und diesen eingebildeten Schnöseln mal wieder den Arsch retten. Denn vielleicht ist es dir nicht aufgefallen, aber unsere Kaste hat gerade eine Morddrohung erhalten, sollten wir uns denn weigern, sich diesen Idioten anzuschließen. Wisst ihr, ich habe immer gedacht, die goldene Kaste wäre blöd. Aber genau dieser Brief hat mir gezeigt, dass es sogar Leute gibt, die noch bescheuerter sind. Respekt. Vor so viel Dummheit kann ich nur meinen Hut ziehen.“, sagte ich Sarkastisch und spottete über die Taktik der silbernen Kaste. Auf Dani’s Gesicht breitete sich ein kleines sadistisches Grinsen aus.
„Na dann, treten wir dieser billigen Kaste in den Arsch! Ich bevorzuge sowieso Gold anstatt Silber!“, warf sie ein und ich musste lachten.
„Okay! Gill, besorge so viele Einladungskarten, wie nur irgendwie möglich für diese Party. Wir müssen unbedingt herausfinden, ob wir jetzt auf der Abschussliste der goldenen Kaste stehen. Das wäre nämlich ganz und gar nicht gut, wir haben ja so schon genug Probleme.“, meinte ich und nach einer halben Stunde, in der man über alles nur nicht über unsere neue Mission gesprochen hatte, wurde die Versammlung wieder aufgelöst.

Kapitel 5 - Lasset die Spielchen beginnen!




Zusammen mit Joy und Dani stieg ich aus dem Wagen und wir gingen auf das riesige Gebäude zu, in dem die „Party“ stattfand. Es war natürlich keine richtige Party, eher eine Veranstaltung. Richtig spießig und meistens total altmodisch. Das war immer so, wenn die Kasten Feste veranstalteten. Diese hier wurde extra zu Ehren des neuen Anführers gehalten. Auch wenn es mir widerstrebte, musste ich doch wohl oder übel MacPhie meinen Glückwunsch aussprechen. Ich hoffte nur, dass ich an den Worten nicht ersticken würde. Nach außen hin total unbekümmert zu sein, fiel mir irgendwie immer schwerer, wenn ein gewisser Alpha mit von der Partie war. Und das gefiel mir gar nicht.
Diesmal hatte ich schweren Herzens einen anderen Tessen mitgenommen. Schließlich wollte ich nicht das Risiko eingehen, jemandem zu begegnen, der beim Vorfall in der Gasse beteiligt gewesen war. Außerdem musste der Tessen ja auch schließlich zu meinem Outfit passen.
Ich trug ein knöchellanges, weißes Kleid, das an beiden Seiten bis knapp unter die Hüfte geschlitzt war und oben trägerlos abschloss. Passend dazu trug ich ein Collier aus Silber. Meinen weißen Tessen hatte ich mir mit einem Band um das Handgelenk geschlungen. Meine langen weißen Haare trug ich elegant nach oben gesteckt. Hier und da konnte man glänzende Haarnadeln hervor lugen sehen. Diese waren aus Silber und dienten perfekt als kleinere Wurfgeschosse.
Joy hatte ein verspieltes, knielanges Kleid in zartgrün an. Ihre Haare hatte sie zu einem eleganten Knoten gedreht und mit mehreren kleinen Blumenspangen verziert. Ein goldener Armreif und eine funkelnde Kette rundeten das Outfit ab. Dani trug ein bodenlanges Kleid in zartrosa, das ihre goldene Haut sehr gut zur Geltung brachte. Ihre langen Arme steckten in ellbogenlangen Abendhandschuhen. Ihre Haare fielen größtenteils offen über ihre Schultern. Auf der linken Seite hatte sie ein kompliziertes Flechtmuster gesteckt, das ihre hohen Wangenknochen betonte. Ich wusste, dass jede von ihnen bis an die Zähne bewaffnet war. Das hier ist vielleicht neutrales Gebiet, aber dennoch verhielt sich die blaue Kaste immer und überall so, als wäre alles außer dem Hauptquartier feindliche Umgebung. Wir hatten schließlich nicht umsonst so lange existiert ohne Verluste zu machen.
Diesmal jedoch wurden auch Frauen am Eingang durchsucht. Irgendwie brachte das mein gesamtes Weltbild durcheinander. Dennoch lächelte ich höflich und ließ es artig über mich ergehen. Natürlich fanden sie nichts. Die Haarnadeln und der Fächer gingen schließlich nicht als Waffen durch. Und es war ja auch nicht meine Schuld, wenn niemand an die Schuhe dacht, oder?
Als auch Joy und Dani durchsucht worden waren, natürlich ohne, dass man jegliche Arten von Waffen fand, machten wir uns auf den Weg zum Hauptsaal. Dabei handelte es sich um eine gigantische Glaskuppel, die den Blick auf den wunderschönen, wolkenklaren Sternenhimmel freigab. Joy, Dani und ich trennten uns und drehten unsere Runden. Schließlich waren wir ja nicht zum Vergnügen hierhergekommen. Wir mussten herausfinden, ob die Gestaltwandler diesen Brief gefunden hatten. Geschickt wanderte ich von Gruppe zu Gruppe und horchte die Leute gekonnt aus. Aber es war zum Verzweifeln. Niemand hier schien auch nur die leiseste Ahnung von dem Brief zu haben.
Obwohl, es konnte auch sehr gut möglich sein, dass nur ein paar von ihnen darüber Bescheid wussten. Aber wenn dies so war, warum? Wenn der Alpha wirklich den Brief gefunden hat, sollte er seine Kaste dann nicht in Alarmbereitschaft gesetzt haben? Also irgendwie wurde ich aus denen nicht schlau. Es war zum Haare raufen. Ich wusste nicht, wie lange ich schon durch den Saal wanderte, aber irgendwann bat ein älterer Mann mit Halbglatze um Aufmerksamkeit. Er blieb am Eingang stehen und kündigte den „Ehrengast“ an. Ich versteckte mich absichtlich hinter einem riesigen Typ, dessen Schultern so breit waren, dass es schon unnatürlich aussah und spähte um ihn herum. So hatte ich einen guten Blick auf die Eingangstür, aber jemand, der von dort hereinkam, würde mich nicht entdecken.
Dann kam ER in den Saal geschlendert. Er trug eine schwarze Seidenhose und ein schwarzes Hemd. Auch diesmal wirkte das Outfit locker, obwohl es doch eigentlich total spießig hätte aussehen müssen. Seine Haare waren leicht verwuschelt und so langsam nahm ich an, dass dies bei ihm normal war. Ein leichtes Lächeln erhellte seine Züge und ich musste mich nicht umsehen um zu wissen, dass jede Frau im Saal ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Ich merkte erst, dass ich die Luft angehalten hatte, als ich sie wieder ausstieß.
MacPhie stellte sich neben den älteren Mann mit der Halbglatze und begrüßte alle formell mit ein paar Worten. Er rasselte die übliche Rede herunter, die man eigentlich auf jedem Fest hörte. Doch ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen. Seine Stimme war die reinste Melodie. Wie konnte nur jemand so gut aussehen und gleichzeitig doch zum Feind gehören? Okay, noch wusste ich ja nicht, ob er jetzt hinter der blauen Kaste her war, aber ausschließen konnte ich es auch nicht.
Als eine Frau mit einem Tablett voll Getränken an mir vorbei ging, schnappte ich mir ein Glas Champagner und nahm einen Schluck. Ich bereitete mich schon einmal seelisch darauf vor, diesem hinterhältigen Bastard meine Glückwünsche mitzuteilen. Ich nahm noch einen Schluck meines Getränks und richtete dann meine Aufmerksamkeit wieder auf die Rede.
„…freut mich. Ich weiß das sehr zu schätzen von so vielen meiner Art unterstützt zu werden.“, erzählte er gerade und ich verdrehte nur die Augen. Was für ein Schleimer. Dass der nicht auf seiner eigenen Schleimspur ausrutscht ist ja ein richtiges Kunststück.
„Ganz besonders einer Person möchte ich dafür danken, dass sie immer für mich da ist. Auch heute steht sie mir zur Seite. Bitte begrüßen sie mit mir den heutigen Ehrengast, meine Mutter, ehemalige Königin der Gestaltwandler und Gefährtin des ehemaligen Königs, Eleonora MacPhie.“, fuhr er fort und fing zusammen mit den anderen Gästen an zu klatschen, als seine Mutter den Raum betrat und ihn herzlich umarmte.
Ach Gott. Es gibt noch mehr von der Sorte. Ob die Frau wohl auch irgendwo in Labyrinthen Männern auflauert um an ihnen zu riechen?
Eines musste man ihr lassen. Sie war wunderschön. Da auch Gestaltwandler unsterblich sind, sah sie keinen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Sie hatte die Figur eines Supermodels und trug ein enges, schwarzes Kleid. Ihre Haare waren von einem dunklen karamellbraun, was darauf schließen ließ, dass Alexander MacPhie seine kühne Haarfarbe von der väterlichen Seite aus geerbt haben musste. Sie hatte vereinzelte Strähnen hochgesteckt, doch größtenteils fielen sie ihr schwer und in üppigen Wellen über den Rücken hinab. Ihr Gesicht wirkte viel zu jung für ihre Augen, in denen man Schatten von solch einer Traurigkeit sah, dass ich mich unwillkürlich fragte, was diese Frau durchgemacht haben muss, um eine solche Melancholie auszustrahlen. Denn obwohl ein Lächeln auf ihren Lippen lag, fühlte es sich an, als wäre sie von einer endlosen Traurigkeit umgeben. Ob ich wohl die einzige war, die dies bemerkte? Zumindest ließ sich niemand der anderen Gäste etwas anmerken. Jeder applaudierte höflich und lächelte zu ihr empor. Doch ich konnte nicht lächeln. Alles, was ich im Moment für diese Frau empfand war Mitleid. Niemand sollte einen solchen Kummer mit sich herumtragen. Es war ein drückendes Gefühl auf meiner Brust, das einfach nicht von mir weichen wollte. Und ich wusste, es würde erst nachlassen, wenn diese Frau, Eleonora MacPhie, den Saal verlassen würde. Selbst in ihrer Stimme schwang eine so tiefe Trauer mit, bei der es mir vor Entsetzen die Luft abschnürte. Noch nie hatte ich solch erdrückende Gefühle bei jemand anderem Wahrgenommen. Warum bemerkte das keiner außer mir?
„Ich freue mich sehr, hier zu sein. Es ist ein schöner Moment für eine Mutter, wenn sie ihren Sohn wachsen sieht. Und ich behaupte, in dem Moment, in dem er die goldene Kaste übernommen hatte, ist mein Junge noch ein Stück gewachsen.“, meinte sie und tauschte mit ihrem Sohn einen Blick, der Bände sprach. Es war sehr gut zu sehen, ja, fast schon greifbar in der Luft, dass zwischen Mutter und Sohn eine starke Verbindung bestand. Irgendwie war es tröstlich, zu wissen, dass es so etwas auf der Welt noch gab. Vertrauen. Halt. Liebe. In diesem Moment konnte ich mir Alexander gut als kleinen Jungen vorstellen, der schelmisch grinsend von einem Übel ins nächste schlitterte. Daneben seine Mutter, die amüsiert den Kopf schüttelt und alles wieder ausbadet. Das passte zu den beiden.
„Doch auch wenn es mir schwer fällt“, fuhr Eleonora mit sanfter Stimme fort, „ist die Zeit gekommen, wo ich meinen Jungen wohl oder übel ziehen lassen muss. Auch ich sehe ein, dass er jetzt Erwachsen ist. Und dennoch fehlt etwas.“ Ich nahm einen großen Schluck Champagner, während ich gebannt dieser traurigen Stimme zuhörte. „Und um dieses Etwas zu finden, werde ich einen weiteren Ball organisieren. Meine Lieben Gäste, das, was ich ihnen versuche zu sagen ist folgendes: Ich wünsche mir eine gute Gefährtin für meinen Sohn und werde nächste Wochen alle Frauen willkommen heißen, die meinen Jungen näher kennenlernen möchten. Die Einladungen wurden schon verschickt.“
Plötzlich war es totenstill im Raum. Jeder schien für einen Moment atemlos zu sein. Ich hatte gerade das Champagnerglas angesetzt, um einen Schluck zu nehmen. Doch als die Worte endlich in meinem Kopf ankamen und ich den Sinn verstand, verschluckte ich mich. Das war der Moment, indem jeder wild anfing zu reden und zu spekulieren. Ich hustete und hätte beinahe das Glas fallen lassen. Der riesige Typ, der die ganze Zeit vor mir gestanden und mir Deckung gegeben hatte, drehte sich zu mir um und schlug mir grinsend auf den Rücken. Als ich endlich wieder mit dem Husten aufhören konnte, nahm ich war, dass manche Frauen sogar angefangen hatten zu kreischen. Ich hob meinen Kopf und sah in Richtung Eingang, wo die Mutter des Alphas stand und zufrieden lächelte. Mit großen Augen ließ ich meinen Blick zu Alexander schweifen und bemerkte, dass er mich wohl gerade entdeckt hatte. In seinen Augen standen ebenfalls Überraschung und Entsetzen. Ob das jetzt daran lag, dass seine Mutter ihn in aller Öffentlichkeit verkuppeln wollte oder daran, dass ich mich hier auf der Party befand und mich gerade wenig damenhaft verschluckt hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.
Ach du Gott. Hatte ich das jetzt richtig verstanden? Die Mutter von Alexander MacPhie hat gerade öffentlich bekannt gegeben, dass sie ihren Sohn unter allen Umständen verkuppeln will? Wie in diesen billigen Fernsehshows? So nach dem Motto >Du bist zu dick, Nächste! Du bist zu mager, Nächste! Du bist mir unsympathisch, Nächste! <.
Ich stellte mein Champagnerglas auf die nächstbeste Ablage und ging mit schnellen Schritten Richtung Notausgang. Hinter der Tür lag eine schmale Seitengasse, in der fast völlige Dunkelheit herrschte. Und Stille. Ich atmete tief durch. Dann konnte ich nicht mehr. Ich lachte.
Ich glaube ich habe noch nie in meinem ganzen Leben so sehr gelacht. Ich musste mich nach ein paar Minuten sogar an der Wand der Seitengasse abstützen, um nicht auf dem Boden zu landen. Als ich mich wieder beruhigte, hatte ich schon Seitenstechen. Langsam richtete ich mich wieder auf und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht, die mir vor lauter Lachen schon die Wangen hinuntergelaufen waren.
„Fertig?“, fragte eine Stimme hinter mir trocken und ich zuckte vor Schreck zusammen. Okay, das war peinlich. Ich räusperte mich verlegen und drehte mich rum. Vor mir stand Alexander. Ich schenkte ihm mein unschuldigstes Lächeln.
„Ah! Mister MacPhie, oder bevorzugen sie Mister Smith?“, fragte ich zuckersüß und spielte darauf an, dass er sich mir unter falschem Namen vorgestellt hatte. Er schnaubte abfällig. Anscheinend war er nicht gerade bester Laune.
„Lassen sie diese Spielchen, Miss Dermont.“, antwortete er und sah mir durchdringend in die Augen. Ich konnte meinen Blick nicht von seinem lösen. Dieses katzenhafte Grün seiner Augen war über alle Maßen ablenkend…
Dennoch hob ich fragend eine Augenbraue und lächelte spöttisch.
„Zu Schade. Ich spiele schließlich gerne Spielchen. Und um ehrlich zu sein, habe ich angenommen, sie auch, Mister MacPhie.“, meinte ich und sah ihn herausfordernd an. Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, bei dem jeder Instinkt in mir danach schrie zu fliehen. Es war der Blick eines Jägers, der gerade seine Beute erblickte.
„Dann lassen sie uns spielen, Miss Dermont.“, meinte er und drehte sich um, nur um kurz darauf wieder im Gebäude zu verschwinden. Misstrauisch sah ich ihm nach. Was hatte er jetzt schon wieder vor? Nach ein paar Minuten, in denen ich nachdachte und mich seelisch darauf vorbereitete wieder in den Saal zu gehen, ging ich dann ebenfalls wieder nach drinnen. Ich sah, dass Joy und Dani zusammen in einer kleinen Gruppe standen und Gill ebenfalls hier war. Sie sollte später eintreffen als wir, deswegen hatte sie uns auch über eine Stunde Vorsprung gegeben. Gerade als ich hinzutrat, gingen zwei Frauen und ein Mann von der Gruppe weg und übrig blieben nur wir vier. Joy, Dani, Gill und ich. Bevor ich auch nur etwas sagen konnte, kam mir Dani zuvor.
„Was denkst du? Sollen wir an der Party nächste Woche teilnehmen und versuchen uns einen hübschen Alpha zu angeln?“, fragte sie grinsend und reichte mir ein Glas Champagner, dass sie einer vorbeilaufenden Kellnerin stibitzt hatte. Dankend nahm ich das Getränk entgegen.
„Auf keinen Fall!“, meinte ich und alle drei sahen mich komisch an.
„Was?!“, blaffte ich sie an und auf ihren Gesichtern zeigte sich ein breites Grinsen.
„Du magst den Alpha wohl, was?“, fragte Joy verschmitzt und die anderen nickten zustimmend. Oh nein! Die verstehen aber auch gar nichts! Ich mochte den Kerl nicht! Wenn er mir nochmal in einer Gasse begegnen sollte, dann würde es definitiv Mord und Totschlag geben!
„Nein! Ich hasse ihn! Er ist ein arroganter, selbstverliebter Idiot, der denkt, dass er sich einfach alles nehmen kann! Außerdem ist er überhaupt nicht mein Typ!“, widersprach ich und nahm einen großen Schluck Champagner. Alle drei zogen fragend die Augenbrauen nach oben.
„Und wer ist dein Typ?“, fragte Gill und lächelte die anderen beiden verschwörerisch an. Oh man! Die hatten doch nicht ernsthaft vor, mich den Rest des Abends auszufragen, oder?
Glücklicherweise blieb mir die Antwort erspart, denn vorne am Eingang bat der ältere Mann mit der Halbglatze wiederholt um Aufmerksamkeit. Neben ihm stand MacPhie und grinste. Was mich zu der Annahme brachte, dass jetzt nichts Gutes dabei herauskommen würde. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich ihn misstrauisch an. Er entdeckte mich und zwinkerte mir zu. Ich hasste das. Konnte er das nicht einfach mal lassen?
„Hat er dir gerade zugezwinkert?!“, flüsterte Gill fragend an meinem Ohr. Ich gab ein Knurren von mir, was man als Ja durchgehen lassen konnte.
MacPhie trat einen Schritt vor und wandte sich an alle.
„Wie sie sicher alle bemerkt haben, war ich auf das Arrangement meiner Mutter nicht gefasst gewesen. Um ehrlich zu sein ich war mehr als überrascht. Und zuerst will ich dir sagen, Mutter“-dabei wandte er sich zu Eleonora MacPhie-„dass ich dir dankbar dafür bin, dass du dich so für mich einsetzt. Doch um ehrlich zu sein, war es unnötig.“, meinte er und setzte einen schuldbewusste Miene auf. „Ich weiß, wenn ich dir das schon früher erzählt hätte, dann wäre es erst gar nicht zu diesem Missverständnis gekommen. Es tut mir sehr leid, Mutter, aber ich kann nicht heiraten.“
Entsetztes Schweigen erfüllte den Raum. Es schien, als würde jeder sichtlich den Atem anhalten. Er holte tief Luft um die Spannung zu halten und fuhr dann fort.
„Zumindest nicht, bevor ich die Antwort auf eine Heiratsanfrage bekomme, die ich schon einer ganz bestimmten Frau gestellt habe.“
Überall hörte man, wie Frauen entsetzt Luft holten und jeder starrte mit großen Augen gebannt zu MacPhie, als dieser ein kleines Kästchen hervorholte.
„Leider hatte ich das letzte Mal keinen Ring dabei. Aber jetzt will ich diesen Fehler nachholen. Jetzt werde ich es richtig machen.“, meinte er mit einem kleinen Lächeln. Dann sah er in meine Richtung und kam direkt auf mich zu. Oh Gott! Er kam wirklich auf mich zu! Wieso?! Das stimmt aber sowas von überhaupt nicht! Auf seinem Gesicht lag zwar ein süßes Lächeln, doch in seinen Augen lag der Spott. Ich musste meinen ganzen Willen zusammennehmen, um ihn nicht wütend anzufunkeln. Stattdessen hatte ich eine ausdruckslose Miene aufgesetzt.
Als er direkt vor mir stand, hielt ich die Luft an. Er ging auf die Knie und die Leute um uns herum hielten gebannt die Luft an. Er hielt das Kästchen nach oben und öffnete es. Darin lag ein wunderschöner Ring mit einem funkelnden Diamanten. Irgendwo quietschte eine Frau hingerissen auf und andere seufzten. Das einzige, was mich interessierte war, wie zum Teufel er auf die Schnelle diesen beschissenen Ring hatte auftreiben können?!
„Cathleen Dermont, möchtest du mich, Alexander Conlin MacPhie heiraten?“, fragte er und seine Stimme schien sich wie weicher Samt um mich zu legen. Die Leute um uns herum hielten gespannt die Luft an.
Was um Himmels Willen sollte ich jetzt tun?! Wenn ich Nein sage, würde ich schlecht dastehen, als diejenige, die den armen MacPhie in aller Öffentlichkeit in die Tonne getreten hat. Und genau das wollte dieser Bastard wahrscheinlich auch erreichen! Aber wenn ich JA sage, dann muss ich ihn HEIRATEN! Wie um Himmels Willen sollte ich das tun?! Ich hasste ihn! Ich konnte auf keinen Fall mit dem Kerl zusammenleben! So ein verdammter Mist. Die anhaltende Stille breitete sich allmählich aus und nicht nur ich begann mich unwohl zu fühlen. Ich konnte schon das Getuschel mancher Frauen hören. Sein Gesicht spiegelte die nervöse Unsicherheit eines Mannes wieder, der plötzlich Zweifel bekam. Doch seine Augen schienen mich auszulachen. Und genau das war das Ausschlaggebende. Ich würde bestimmt nicht klein beigeben. Er wollte also spielen, ja? Nun, dann würde ich nicht die Spielverderberin sein und gefälligst mitspielen.
Ich holte tief Luft und ließ meine Augen feucht glänzen, meine Unterlippe ein wenig zittern und nickte zögerlich, dann energischer.
„Ja!“, flüsterte ich gespielt überglücklich und streckte ihm meine Hand entgegen. Hinter mir hörte ich, wie Gill entsetzt kreischte und Joy verzweifelt versuchte sie zu beruhigen. Obwohl ich ihn sichtlich überrascht hatte, war seine Maske perfekt und er kam nicht aus seiner Rolle. Er nahm den Ring und steckte ihn mir an meinen Finger. Als er wieder aufstand, warf ich mich in seine Arme und tat so, als würde ich vor lauter Freude weinen.
Doch als ich ihm ins Ohr flüsterte, hätte man mit meiner Stimme Diamanten schneiden können.
„Ein schöner Schachzug, mein Lieber. Aber glaub mir, das wird dir noch leidtun…“, hauchte ich und küsste ihn überschwänglich auf die Wange. Er lachte laut und als ich in seine Augen sah, wusste ich, dass er die Herausforderung annahm.
Na dann, lasset die Spielchen beginnen!

Kapitel 6 - Eine Abstellkammer, eine Cathy, ein Alexander… und jede Menge Chaos!



Charmant lächelnd nahm ich die überschwänglichen Gratulationen der anderen Gäste zur Kenntnis. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als Gill, Joy und Dani mir gratulierten. Vor allem Gill zog einen Schmollmund. Es war ja auch verständlich, schließlich dachten sie, dass ich ihnen verschwiegen hatte, dass MacPhie mir einen Antrag gemacht hatte. Wie sollte ich ihnen nur erklären, dass dies alles nur ein riesiges Missverständnis war? Ich war mir sicher, dass MacPhie alles daran setzen würde, um diese Heirat zu verhindern. Wahrscheinlich indem er mir dafür sorgen würde, dass ich als Sündenbock nachher Schuld an unserer Trennung hätte. Ich wusste, dass ich mich gar nicht erst auf einen fairen Kampf einzustellen brauchte. Wie hieß es so schön? Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt. Und das was wir hier veranstalteten, konnte man definitiv nicht als Liebe bezeichnen!
Nach einer gewissen Zeit, die ich als angemessen betrachtete, schob ich mit einem kleinen Lächeln meinen „Verlobten“ in Richtung Tür.
„Schon so schnell wollen sie uns verlassen?“, fragte ein gutaussehender Typ mit längeren, braunen Haaren, die ihm in sanften Wellen über die Schultern fielen und grinste uns bedeutungsvoll an. Ich wollte wahrscheinlich gar nicht so genau wissen, was dieser Idiot wohl gerade dachte. Trotz des schmierigen Grinsens, setzte ich ein freches Lächeln auf.
„Nun, ich wollte einfach… ein klein wenig Zeit mit meinem Verlobten verbringen… natürlich nur zum Reden…“, meinte ich und betonte die Silben extra so, dass es sich zweideutig anhörte. Der Mann fing an zu lachen und zwinkerte mir dann zu.
„Lassen sie noch was von dem armen Kerl übrig, Lady! Wir brauchen ihn noch!“, antwortete er und verschwand in der Menge. MacPhie schnaubte nur abfällig, doch ich ließ ihm keine Zeit mich zu tadeln und zerrte ihn schon halb hinter mir her zum Ausgang.
Nach ein paar weiteren unangebrachten Bemerkungen, schleppte ich ihn zur Tür hinaus, durchquerte die Vorhalle und zerrte ihn in den nächstbesten leeren Raum. Es war eine Art Abstellkammer. An den Wänden entlang stapelten sich Regalen mit Einmachgläsern, verpacktes Essen und Dosen. Am Ende des Raumes war ein kleines Fenster, das jedoch viel zu verstaubt war um tauglich zu sein. Vor dem Fenster stand ein kleiner Tisch, auf dem sich Papiere und mehrere Plastikschüsseln stapelten. Doch meine gesamte Konzentration galt nun, sehr zu seinem Leidwesen, MacPhie.
Ich packte ihn grob am Arm und zwang ihn, mich anzusehen.
„Hast du sie eigentlich noch alle?!“, platzte ich heraus, wobei ich darauf achtete, meine Stimme nicht zu laut werden zu lassen, da wir schließlich von Gestaltwandlern umgeben waren. Und die hatten bekanntlich ein sehr gutes und feines Gehör. Doch obwohl die Worte von der Lautstärke her gedämpft klangen, war der schneidende, wütende Unterton in meiner Stimme nicht zu überhören.
„Heiraten?! Ist das dein Ernst? Weißt du eigentlich, was du gerade getan hast, du Vollidiot? Wie kommt man nur auf eine solch hirnrissige Idee? Was um Himmels Willen stimmt bei dir da oben nicht?!“, fuhr ich ihn an und fuchtelte mit den Händen vor seinem Gesicht herum.
Er schnaubte und ließ seine perfekte Maske fallen. Auch er war wütend. Seine Augen schienen von innen heraus zu leuchten. Es schien, als würden sie das winzige bisschen Licht, dass sich hier im Raum befand absorbieren und reflektieren, wie die Augen einer Katze. Einer riesigen, wütenden Raubkatze.
„Was mit MIR nicht stimmt?! Was zur Hölle stimmt mit dir nicht? Es ist schließlich deine Schuld, dass wir verlobt sind, nicht meine!“, konterte er und riss seinen Arm mühelos von mir los. Er wandte mir den Rücken zu und ging weiter in die Kammer hinein, um sich mit beiden Armen an dem kleinen Tisch abzustützen. Ich knurrte verärgert darüber, dass er sich einfach von mir abwandte und ging ebenfalls weiter in den Raum hinein, bis ich direkt hinter ihm stand.
„Meine Schuld?! Wer hat denn den Antrag vor all diesen Leuten gemacht? Ich ganz bestimmt nicht! Falls du dich erinnerst, das warst DU!“, warf ich ihm vor und tippte ihm verärgert mit dem Zeigefinger in den Rücken.
Blitzschnell hatte er sich zu mir umgedreht und fauchte mich wütend an. Seine Reiszähne waren nun ausgefahren und seine Pupillen hatten nichts Menschliches mehr an sich. Sie waren zu kleinen Schlitzen zusammengezogen wie bei einer Katze. Er hatte mich grob an meinen Handgelenken gepackt und ich hatte alle Mühe nicht vor lauter Schreck nach hinten zu taumeln. Aber mein Stolz hielt mich aufrecht. Ich wollte ihm auf gar keinen Fall zeigen, dass er mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, wenn auch nur kurz. Denn kein Raubtier zeigte einem anderen gerne seine Schwächen.
„Und falls DU dich erinnerst, du warst diejenige, die ihn angenommen hat!“, erwiderte er, wobei seine Stimme mit jedem Wort lauter wurde und ein unterschwelliges Knurren mitschwingen ließ.
Ich trat noch einen Schritt weiter auf ihn zu und starrte wütend zurück. Ich würde mir ganz bestimmt keine Angst von ihm einjagen lassen.
„Oh! Dann ist es jetzt also meine Schuld, ja?! Was hätte ich denn tun sollen?! Nein sagen? Du weißt genau, dass ich dann nicht nur unser Spiel verloren hätte!“, schnauzte ich ihn an und wurde ebenfalls lauter.
„Oh ja, richtig! Lieber den Alpha der Gestaltwandler heiraten als auch nur ein Spiel zu verlieren! Hauptsache mit dem Kopf durch die Wand!“, erwiderte er und ich knurrte ihn wütend an.
„Versuch jetzt bloß nicht mir die Schuld in die Schuhe zu schieben! Wir wissen beide, dass du einen Schritt zu weit gegangen bist, als du mich vor all diesen Leuten hast fragen müssen, ob ich dich heiraten will!“, schrie ich schon beinahe.
„Und wir wissen auch beide, dass DU einen Schritt zu weit gegangen bist, als du Ja gesagt hast! Also hör DU auf MIR die Schuld in die Schuhe zu schieben!“, konterte er und wurde nochmal etwas lauter.
Ich schrie frustriert auf.
„Hör auf mir das Wort im Mund herumzudrehen, du eingebildeter, verblödeter, arroganter-.“, weiter kam ich nicht. Denn er hatte mich mit einem kräftigen Ruck grob an den Handgelenken an sich gezogen und presste seinen Mund auf den meinen. Ich wollte ihn wegschieben. Ehrlich, ich hatte es vorgehabt! Ich hatte meine Hände schon auf seine Brust gelegt, um ihn wegzudrücken, aber anstatt dies zu tun, krallte ich mich in sein Hemd und zog ihn noch näher zu mir heran.
Seine Lippen waren warm und weich. Ich schloss meine Augen und lehnte mich an ihn. Sein Kuss wurde fordernder und er ließ meine Handgelenke los, aber nur um seine warmen, rauen Hände meine Seiten entlang nach unten wandern zu lassen und sie auf meine Hüften zu legen. Als er mit seiner Zunge um Einlass bat, verweigerte ich ihm diesen jedoch. Ich ließ meine Handflächen langsam über seine breite Brust wandern und genoss das Spiel seiner Muskeln unter dem Hemd. Neckisch biss ich ihm in die Unterlippe.
Er knurrte und packte mich fester an der Taille, nur um mich mit ihm zusammen umzudrehen, sodass ich mit der Hüfte gegen den Tisch lehnte. So war ich zwischen ihm und dem Möbelstück gefangen, nicht das ich mich beschweren wollte.
Er presste seine Lippen fast schon brutal auf meine und knabberte an meiner Unterlippe. Als ich mich ihm immer noch nicht öffnete, biss er fester zu. Das war der Moment, indem meine Barrieren endgültig zusammenfielen. Ich ließ ihn begierig ein und stöhnte, als er meinen Mund ganz in Besitz nahm.
Er ließ seine Hände bis zum Saum meines Kleides wandern und schob ihn Stück für Stück langsam nach oben, während er die Innenseite meiner Schenkel liebkoste. Er ließ sich Zeit, um mich zu ärgern. Ich knurrte ungeduldig und griff mit einer Hand in seine seidigen Haare. Ich zog ungeduldig an einzelnen Haarsträhnen, was ihm ein tiefes Knurren entlockte. Meine andere Hand ließ ich an seiner Brust nach unten gleiten, bis zum Hosenbund. Ich ließ meine Hand darunter gleiten und umfasste seine riesige, steinharte Erektion. Endlich bekam ich als Antwort ein heiseres Stöhnen von ihm.
Plötzlich traf ein greller Lichtschein auf meine geschlossenen Augenlieder und ich öffnete sie. Schloss sie jedoch gleich darauf mit einem Knurren wieder und wich soweit von Alexander zurück, dass er den Kuss unterbrechen musste.
„Oh! Entschuldigen sie, Sire! Ich wusste ja nicht, dass sie hier drinnen sind!“, quietschte eine entsetzte Frauenstimme und mir wurde schlagartig bewusst, dass ich mich gerade in einer Abstellkammer befand und von einer Küchenhilfe in Flagranti mit Alexander MacPhie erwischt wurde. Die Frau ging eilig wieder davon und schlug hastig die Tür hinter sich zu. Na toll. Das würde bestimmt ganze dreißig Sekunden dauern, ehe das ganze Personal wusste, was wir in der Abstellkammer trieben. Dann weitere Dreißig Sekunden bis jeder einzelne Gast auf der Party Bescheid wusste. Super! Einfach großartig!
Von mir selbst entsetzt, versuchte ich MacPhie von mir wegzuschubsen, doch genauso gut hätte ich versuchen können einen Berg zu verschieben. Er rührte sich nicht. Als sich meine Augen wieder einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, versuchte ich halb über den Tisch zu krabbeln, um von ihm wegzukommen, doch bevor ich auch nur wegrücken konnte, zog er mich mühelos wieder zurück und hielt mich fest. Ich knurrte verärgert, doch er ließ mich nicht los.
„Sieh mich an.“, flüsterte er, doch ich weigerte mich, meinen Blick zu heben. Stur starrte ich zu Boden. Aber selbst, wenn ich gewollt hätte, ich konnte ihn nicht ansehen. Konnte nicht in seine Augen sehen, vor lauter Angst mich selbst zu verlieren.
Seine Hände krallten sich förmlich in meine Oberarme und hätte ich nicht über schnelle Selbstheilungskräfte verfügt, dann hätte ich Angst davor gehabt, dass ich blaue Flecken behalten würde.
„Schau mir in die Augen!“, knurrte er warnend, sodass sich meine Nackenhaare aufstellten.
„Nein.“, erwiderte ich leise. Meine Stimme war nur ein Flüstern, das ein Normalsterblicher wahrscheinlich gar nicht gehört hätte.
„Sieh mich an, Cathy!“, wiederholte er wütend und ich hob den Blick. Aber nicht, weil er es von mir verlangte, sondern weil er mich zum ersten Mal mit meinem Vornamen angesprochen hatte. Seine Augen funkelten immer noch so unwirklich und katzenhaft, dass ich meinen Blick sowieso nicht mehr hätte lösen können. Aber ich musste mich gefälligst zusammenreißen! Er war schließlich daran schuld, dass ich öffentlich in einer solch bescheuerten Situation steckte! Je länger ich mir das einredete, desto mehr glaubte ich auch daran.
„Das war ein Fehler. Es hätte nicht passieren dürfen.“, meinte ich und legte so wenig Gefühle wie nur irgendwie möglich in meine Stimme. Ich wollte ihn nicht wissen lassen, wie verwirrt ich war. Wie sehr er mich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Also versteckte ich meine wahren Gefühle hinter meiner üblichen Maske.
Er sah wütend auf mich herab und fragte: „Ein Fehler? Sag mir, wenn das ein Fehler war, wieso hast du es dann nicht beendet? Warum hast du den Kuss erwidert?“
Darauf wusste ich jedoch selbst keine Antwort. Wütend presste ich meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Mit einem Ruck befreite ich mich aus seinem Griff und flüchtete zur Tür. Ich hatte die Hand schon am Türgriff, als seine Stimme hinter mir nochmal ertönte.
„Lauf nur davon. Es wird dir ja doch nichts bringen. Ich werde dich sowieso irgendwann kriegen.“
Ich warf ihm meinen überheblichsten Blick, den ich auf Lager hatte, über die Schulter zu und schnaubte abwertend.
„Vorher gehen Einhörner in die Hölle um Schlitten zu fahren!“, meinte ich und richtete meine Kleidung wieder, bevor ich die Tür öffnete und ihn alleine in der kleinen Kammer zurückließ. Draußen musste ich erst einmal kurz stehen bleiben, um meinen Augen etwas Zeit zu geben sich an das helle Licht zu gewöhnen. Im Flur schien niemand zu sein, also ging ich schnurstracks in Richtung Ausgang.
Ich schaffte es ohne Zwischenfälle zum Parkplatz. Hier waren nur vereinzelt ein paar Pärchen, die sich auf den Heimweg machten. Aber da ich zusammen mit Joy und Dani hierhergekommen war, musste ich entweder wieder zur Party zurückkehren und die beiden suchen oder ich ging zu Fuß.
Da ich auf gar keinen Fall noch einmal zurückgehen wollte, beschloss ich, dass ein nächtlicher Fußmarsch mich nicht umbringen würde… wobei ich mir hundertprozentig Blasen an den Füßen laufen würde. Also irgendwie hatte ich in letzter Zeit kein Glück auf Partys… vielleicht sollte ich mich einfach irgendwo unter einem Stein verkriechen und die nächsten Hundert Jahre oder so nicht wieder heraus kommen.
Widerwillig machte ich mich auf den Weg nach Hause. Als ich mir gestresst mit der Hand durch die Haare fuhr, bemerkte ich, dass ich immer noch diesen dämlichen Verlobungsring trug. Wütend nahm ich ihn ab und wollte ihn zu Boden werfen um danach eine kleine Tanzveranstaltung darauf zu machen, hielt jedoch im letzten Moment inne. Schließlich konnte der Ring ja nichts dafür. Und ich musste zugeben, dass er traumhaft schön war. Ich betrachtete ihn eine Weile und steckte ihn mir dann mit einem resignierten Seufzen wieder an den Finger. Ich wollte so schnell es nur irgendwie möglich war zurück ins Hauptquartier und mich die nächsten Stunden mit einer riesigen Menge von Schokolade verkriechen. War das denn wirklich schon zu viel verlangt?
Als ich endlich im Hauptquartier ankam, empfing mich Robin am Eingang. Ich hatte einen vorwurfsvollen Blick erwartet, aber sie starrte mich nur nachdenklich an. Sie lehnte lässig an der Wand und hielt die Arme verschränkt vor sich. Sie beobachtete mich wachsam, als ich hereinkam und die Haustür hinter mir schloss.
„Vor einer halben Stunde haben wir einen panischen Anruf von Gill erhalten. Ich dachte schon die Welt geht unter.“, platzte sie heraus und ich verzog mein Gesicht zu einer schuldbewussten Grimasse. Wie immer sehr direkt und ohne viel um den heißen Brei herumzureden. Als ob sie mein Unbehagen gar nicht bemerkt hatte, redete sie einfach weiter. „Aber nein, es ist sogar noch Schlimmer.“, sie machte eine theatralische Pause und wäre die Sache nicht so ernst gewesen, hätte ich wahrscheinlich die Augen verdreht. „Du bist also verlobt, ja? Willst heiraten. Weißt du, wenn es nur das wäre, würde ich mich sogar für dich freuen. Du weißt, ich gönne es dir, glücklich zu sein. Ich will auch nicht, dass du denkst, dass ich dir verbieten will zu heiraten. Aber das ist wirklich ganz und gar inakzeptabel. Der Alpha der Gestaltwandler? Sag mir, dass das nicht dein Ernst ist, Cathy!“
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Du verstehst das nicht.“, meinte ich zu ihr und rang mit den Worten. Ich wusste nicht, wie ich es ihr erklären sollte. Egal wie man es drehte und wendete, sie hatte recht. Es war völlig inakzeptabel. Ich hätte mich nicht auf dieses lächerliche Spielchen von MacPhie einlassen dürfen.
„Dann erklär es mir! Du weißt, ich habe nie an deinen Absichten gezweifelt. Und ich vertraue dir auch. Aber hier sehe ich einfach keinen Sinn. Es entspricht einfach nicht deinem Charakter unüberlegt zu handeln, Cathy. Das passt nicht zu dir.“, argumentierte sie und stieß sich von der Wand ab, um mir einen Schritt entgegen zu kommen.
Ich fuhr mir mit der Hand durch meine Haare und stieß geräuschvoll die Luft aus.
„Ich weiß und es tut mir auch leid. Denkst du nicht, dass ich es euch erzählt hätte, wenn ich es selbst gewusst hätte?“, fragte ich und versuchte mich zu rechtfertigen. Doch Robin schnaubte nur ungläubig.
„Ist die eigentlich klar, was du für ein Risiko eingehst? Mein Gott, Cathy! Er ist nicht nur Alpha der Gestaltwandler, sondern auch noch Anführer der gesamten beschissenen goldenen Kaste!“, fuhr sie mich an.
„Verdammt, Robin! Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Denkst du etwa, ich wüsste nicht, was für ein Risiko diese Verlobung ist?“, schnauzte ich zurück und hielt nur mit Mühe ein Knurren aus meiner Stimme.
„Wenn dir ernsthaft bewusst wäre, dass das ein gefährliches Unterfangen ist, dann hättest du es gar nicht erst getan! Willst du mir nun endlich erklären, was du für Hintergedanken hattest? Ich kann nämlich nicht glauben, dass du so einfältig wärest, eine Verlobung mit einem potenziellen Feind der blauen Kaste einzugehen. So blöd bist du doch nicht!“
Ich zuckte zusammen, als hätte sie mich gerade geschlagen. Doch. Anscheinend war ich wirklich so blöd. Dass sie es laut aussprach machte das Ganze irgendwie noch schlimmer.
„Es tut mir leid, ich-.“, begann ich, wurde jedoch grob von Robin unterbrochen.
„Weißt du was? Spars dir. Ich habe dir vertraut! Ich habe dich extra gefragt, ob es etwas mit uns, mit der blauen Kaste zu tun hat. Du hast mir versichert, dass es nichts zu befürchten gäbe. Und so langsam frage ich mich, ob es noch andere Situationen gibt, in denen du mich angelogen hast. Nein, nicht nur mich, sondern die gesamte Kaste!“, schrie sie mich an und ich konnte es ihr nicht einmal Vorwerfen. Bevor ich etwas zu meiner Verteidigung hätte sagen können, war sie schon aus dem Raum gestürmt. Na super. Das hatte ich ja mal wieder ganz toll hinbekommen! Wütend und frustriert über mich selbst stapfte ich zu meinem Quartier. Ich sprang schnell unter die Dusche und versuchte all meine Sorgen wegzuwaschen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es kurz vor vier Uhr morgens war. Als ich meine Schlafklamotten anzog und unter meine Bettdecke kroch, fühlte ich mich wie erschlagen. Als hätte ich mehrere Tage am Stück nicht geschlafen. Doch egal wie sehr ich mich bemühte ins Land der Träume einzutauchen, es funktionierte nicht. Immer wenn ich meine Augenlider schloss, befand ich mich wieder in dieser Abstellkammer. Zusammen mit Alexander. Es war, als könnte ich seine Berührungen immer noch auf mir spüren. Sie verfolgten mich.
Ich schnappte mir nach mehreren Minuten meinen IPod und drehte die Musik so laut, dass es mir in den Ohren wehtat und ich nichts anderes mehr hörte, außer dem Beat der einzelnen Songs. Damit waren meine Gedanken erst einmal abgestellt und ich schlief nach ein paar Minuten ein.

Kapitel 7 - Männerlogik in ´ner Abstellkammer...


Jaylan war nun schon seit über hundertfünfzig Jahren mit dem Alpha der Gestaltwandler befreundet. Aber selbst er musste sich eingestehen, dass er sich seltsam verhielt. Er war zwar nicht persönlich bei dem Event dabei gewesen, doch die Nachricht, dass Alexander heiratete machte rasend schnell die Runde. Und um ehrlich zu sein, konnte Jaylan es sich nicht vorstellen, dass sein Freund sich eine Frau nahm, ohne sie ihm vorher vorgestellt zu haben. Das war untypisch für ihn.
Im Nachhinein wäre Jay doch liebend gerne auf der Party dabei gewesen. Doch er hatte sich absichtlich gedrückt, da er wusste, dass Alexanders Mutter den Plan hatte, ihn zu verkuppeln. Tja… Das war jetzt wohl unnötig geworden.
Da Jay Alexanders engster Verbündeter war, wohnte er in der Villa der königlichen Familie. Wobei er sein Zimmer so weit wie nur irgendwie möglich von seinem Alpha entfernt hatte. Denn wenn die beiden auf längeren Zeitraum beieinander waren, gab es Mord und Totschlag.
Doch als er einen panischen Anruf von einem seiner Männer bekam, dass MacPhie sich verlobt hatte, beschloss er kurzerhand doch noch zur Party zu gehen.
Er machte sich erst gar nicht die Mühe, in den Ballsaal zu stürmen und alles nach seinem Alpha abzusuchen, sondern wendete sich gleich an das Personal. Zu seiner Verwunderung zeigte eines der Dienstmädchen zur Abstellkammer. Misstrauisch näherte Jay sich der Tür, vor der er Alexanders Mutter fand.
„… wirklich enttäuscht, junger Mann! Wenn dein Vater noch am Leben wäre und DAS mitbekommen hätte, dann wäre der Deckel aber zu!“, rief sie und hämmerte wild gegen die Tür, die unter den Schlägen bedrohlich knarrte.
Innerlich über die Wortwahl von Eleonora lachend, räusperte Jay sich und zog somit ihre Aufmerksamkeit auf sich.
„Jaylan! Dem Himmel sei Dank! Rede du mit ihm! Ich weiß nicht, was ich noch machen soll!“, erwiderte sie und rang verzweifelt mit den Händen. Ernst nickte er und wartete, bis Eleonora mit einem ergebenen Seufzen den Flur hinunter verschwand.
Vorsichtig trat er näher an die Tür und klopfte dann einen ganz bestimmten Rhythmus dagegen. Sowohl er als auch Alex wussten dadurch immer, wer auf der anderen Seite stand. Er hörte ein Poltern von drinnen und dann Stille. Als er schon kurz davor war die Tür einfach einzutreten, öffnete die sich plötzlich und Jay wurde so schnell ins Innere gezogen, dass diese Bewegung für einen Normalsterblichen nicht zu sehen gewesen wäre.
Hinter ihm wurde das Schloss verriegelt und Jays Augen passten sich innerhalb von zwei bis drei Sekunden an die Dunkelheit in dieser Kammer an. Die Luft hier drinnen war stickig und es lag noch immer schwach eine sexuelle Spannung in der Luft, fast so, als könnte man nach ihr greifen.
Jay stieß belustigt einen leisen Pfiff aus, was seinem Alpha ein wütendes Knurren entlockte.
„Junge, Junge! Da kann ich nur hoffen, dass es wenigstens deine Verlobte war. Wobei ich sagen muss, dass diese Abstellkammer nicht gerade der beste Ort ist, um-.“, weiter kam Jaylan nicht, da Alexander ihm fest gegen den Hinterkopf schlug.
„Au! Alter, das tut weh!“, beschwerte er sich und rieb sich die Stelle, von der er sicher war, dass er in weniger als zwei Minuten eine Beule haben würde. Wenigstens würde sie nur höchstens zehn Minuten brauchen, um wieder zu verschwinden.
„Dann spar dir deine dummen Kommentare das nächste Mal, du Idiot!“, keifte Alex und Jay starrte ihn nur ein paar Minuten lang wortlos an.
„Was?!“, fragte der Alpha aggressiv und Jay nickte anerkennend.
„Sieht aus, als würde deine Verlobte dir Feuer unterm Hintern machen. So aufgebracht habe ich dich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen.“, meinte er bewundernd. Alex schnaubte und fing an in dem Raum auf und ab zu gehen.
„Weißt du, sie macht mich wahnsinnig! Sie ist die hübscheste Frau, die ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen habe. Ihr Haar ist von so einem strahlendem Weißblond, dass es einen blendet. Ihre Haut ist makellos, in ihren Augen könnte man ertrinken und jedes Mal wenn sie dieses verdammt süße, schelmische Lächeln zeigt, würde ich sie am liebsten in meinen Gemächern einsperren und die nächsten zwei Jahre nie wieder herauskommen! Sie ist stur ohne Ende und hat überhaupt keinen Respekt vor mir. Und hätte ich gewusst, dass sie dieses Spiel mitspielen würde, dann hätte ich ihr doch überhaupt nicht diesen Antrag gemacht!“, sprudelte es aus Alex heraus, während er sich verzweifelt mit der Hand durch die Haare fuhr. Eine Angewohnheit, die Jaylan schon ewig nicht mehr bei seinem Alpha gesehen hatte.
„Okay… also mal sehen, ob ich das jetzt richtig verstanden habe. Du findest sie total heiß, magst aber ihren Charakter nicht besonders, da sie keinen Respekt vor dir hat? Und du hast ihr nur einen Antrag gemacht, weil du dir sicher warst, dass sie sich niemals darauf einlassen würde?“, fragte Jay irritiert und Alex seufzte resigniert.
„Ja! Denkst du etwa, dass ich eine solche Nervensäge heiraten würde?“, meinte er und klang dabei ziemlich herablassend. Belustigt hob Jaylan eine Augenbraue.
„Nun, zumindest gehst du ihr ordentlich an die Wäsche.“, sagte er grinsend und handelte sich gleich noch einmal einen Schlag auf den Hinterkopf ein.
„Au! Alter, wenn du damit nicht bald aufhörst, dann schlage ich zurück! Alpha hin oder her!“, knurrte Jay mürrisch und rieb sich die schmerzende Stelle. Beide seufzten und Alex setzte sich auf den Tisch, der an der hinteren Wand stand. Jay nahm neben ihm Platz. Eine freundschaftliche, angenehme Stille breitete sich aus.
Doch irgendwann hielt Jaylan es nicht mehr aus vor lauter Neugierde.
„Wann stellst du sie mir vor?“, fragte er und sah seinen Alpha grinsend an. Der verdrehte daraufhin nur die Augen.
„Wenn du Glück hast, dann niemals. Glaub mir, die Frau macht einen fertig!“, antwortete sein Freund so ernst, das Jay lachen musste.
„Ja, lach du nur. Weißt du was, ich glaube ich werde sie dir vorstellen, dann werde ICH lachen!“, erwiderte Alex und musste beim Gedanken daran ebenfalls lachen.
„Also ich wäre bereit. Wie wäre es, wenn du sie zum Essen einlädst? So schlimm kann die Kleine ja nicht sein, oder?“, fragte er und auf dem Gesicht seines Alphas breitete sich ein solch breites Lächeln aus, wie er es schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.
„Oh doch! Ich werde wahrscheinlich nebendran sitzen und mich totlachen, wenn sie dich in die Mangel nimmt. Glaub mir, die Frau ist noch schlimmer als die, die angeblich zur blauen Kaste gehören soll.“, meinte Alex und lenkte damit Jay geschickt zu einem anderen Thema.
„Apropos blaue Kaste. Was hast du vor zu unternehmen? Denkst du, dass die Frau, der du begegnet bist wirklich zu denen gehört hat?“, fragte Jaylan interessiert und Alex triumphierte innerlich darüber, dass er es geschafft hatte, seinen Freund von seiner Verlobten abzulenken.
„Wenn ich das nur wüsste. Ich bin mir nicht sicher, aber so wie sie gekämpft und meine Leute systematisch ausgelöscht hat, kann es durchaus sein. Wobei ich eher denke, dass sie so etwas wie eine Botengängerin der blauen Kaste ist. Wieso sonst, sollte sie diese Nachricht bei sich gehabt haben? Das war ein vertraulicher Brief, der speziell an die legendäre Kaste gerichtet war und uns eindeutig den Krieg voraussagt. Wenn du mich fragst, dann ist diese Frau nur die Verbindung zu dieser silbernen Kaste.“, spekulierte Alex, während er wieder begonnen hatte auf und ab zu gehen. Nachdenklich starrte Jay auf die Tür der Abstellkammer.
„Was ist, wenn du dich irrst?“, fragte er und blickte von der Tür zu seinem Alpha.
„Wie meinst du das?“, erwiderte Alex stirnrunzelnd und verschränkte locker die Arme.
„Wenn sie nun wirklich zur blauen Kaste gehört? Wenn sie nicht nur die Botengängerin ist, sondern ein Vollwertiges Mitglied?“, antwortete Jay mit zwei Gegenfragen.
„Nun ja, wenn sie wirklich ein vollwertiges Mitglied ist, dann müssen wir uns wohl oder übel die Frage stellen, wie viele weibliche Mitglieder insgesamt der blauen Kaste angehören… Aber ob sie jetzt dazugehört oder nicht, die eigentliche Frage ist doch, wer war diese Frau? Wir müssen herausfinden, wer bzw. was sie ist. Dann können wir durch sie herausfinden, wer die anderen Mitglieder der blauen Kaste sind.“, meinte Alex und Jay nickte.
„Aber wie stellen wir das an? Alles, was wir wissen, ist, dass es eine Frau war. Aber ansonsten haben wir keinerlei Anhaltspunkte.“, warf Jaylan ein und sein Alpha seufzte resigniert.
„Wir wissen, dass diese Frau mit einem Fächer kämpfen kann.“, erwiderte Alex und Jay schnaubte ungläubig.
„Und was willst du jetzt machen? Wir versammeln alle Frauen in der Umgebung und lassen sie uns ihre Fächer zeigen? Diese Information nutzt uns doch rein gar nichts!“, antwortete er und sprang vom Tisch. Er lehnte sich dagegen und verschränkte ebenfalls die Arme locker vor der Brust.
„Hmm… Da ist was dran. Aber sie hatte Irr-Nebel bei sich. Das lässt eindeutig auf eine Hexe schließen, wenn du mich fragst.“, warf Alex ein.
„Das grenzt das Ganze ja ein!“, meinte Jaylan sarkastisch. „Dann stehen nur noch so um die Zehntausend Frauen plus minus ein paar Hundert Mischlinge auf unserer Liste!“
„Hast du vielleicht eine bessere Idee, du Klugscheißer?!“, fauchte Alex ihn an und zeigte ihm seine Reiszähne. Instinktiv senkte Jay den Kopf und entblößte seinen Hals. Er wusste, wann er sich zurückziehen musste. Denn er wollte sich ganz bestimmt nicht mit dem Alpha anlegen.
„Leider nicht, nein. Aber vielleicht müssen wir gar nicht über die Identität dieser Frau nachgrübeln. Wir müssen der blauen Kaste nur zuvorkommen. Du hast mir den Brief ja gezeigt. Da stand doch irgendetwas von einem Drachen des Silbers. Wenn wir den finden, dann haben wir sie doch praktisch in der Tasche, oder nicht?“, überlegte Jaylan laut und Alex starrte ihn verblüfft an.
„Weißt du, das ist so verrückt, dass es sogar funktionieren könnte…“, antwortete er und Jay schnaubte.
„Alter, ich bin nicht umsonst der Beta der Gestaltwandler! Schon vergessen? Ich bin der Denker und du der, der hübsch aussieht.“, sagte Jaylan grinsend und Alex drehte sich von ihm weg, damit sein Freund das belustigte Funkeln in seinen Augen nicht sah.
„Ja, ja… erspar mir deine Schlauscheißerei!“, meinte der Alpha.
„Du weißt aber schon, dass du damit nicht aus der Affäre gezogen bist, oder?“, fragte Jay und Alex starrte ihn nur fragend an. „Na, du weißt schon! Du wolltest mir doch noch deine Verlobte vorstellen!“, erwiderte er lachend. Alex schnitt eine Grimasse, als hätte Jay vorgeschlagen, dass sie beide in einem Kleid und Stöckelschuhen zu einer Ratssitzung gehen sollten.
„Wollte ich das? Ich hatte schon die stille Hoffnung gehegt, dass du das ganz vergessen hättest…“, murmelte sein Alpha undeutlich und hätte Jay nicht das Gehör einer Raubkatze, dann hätte er wahrscheinlich auch nichts davon gehört.
„Also lädst du sie zum Abendessen ein, ja? Wenn ich dir einen Tipp geben soll… Lade deine Mutter ebenfalls ein. Die arme Eleonore ist ganz außer sich vor Sorge um dich.“, antwortete Jay. Alex seufzte ergeben und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar.
„Na gut. Ich werde sie morgen Abend zum Essen einladen. Bist du jetzt zufrieden?“, fragte er und verdrehte beim enthusiastischen Nicken seines Freundes genervt die Augen. Wieder entstand eine längere Stille. Doch diesmal war es Alex, der sie durchbrach, nicht Jaylan.
„Okay, du Genie. Jetzt hilf mir mich unbemerkt hier herauszuschmuggeln!“
Jaylan fing an zu lachen. Er salutierte spöttisch vor Alex und meinte: „Dein Wunsch ist mir Befehl, oh großer, mächtiger Alpha, der in einer Abstellkammer feststeckt!“

Dieser Idiot! Alles muss man selbst erledigen! Dieser Brief hätte niemals in die Hände dieser Tiere fallen sollen! Wenn sie das Rätsel lösen ist es vorbei!
Wütend schlug ich mit der Faust auf den Schreibtisch, der unter lautem Krachen zusammenbrach. Die vier Personen vor mir zuckten ängstlich zusammen. Nur die fünfte Person weiter hinten im Raum zeigte keinerlei Regung.
„Ihr!“, zischte ich und zeigte auf die vier in schwarz verhüllten Personen direkt vor dem demolierten Schreibtisch, „Ihr werdet mir wieder diesen Brief besorgen! Und zwar so, dass es niemand mitbekommt, habt ihr verstanden?! Sollte es irgendwelche Kopien oder Ähnliches davon geben, dann vernichtet sie! Und wagt es ja nicht ohne die Nachricht wiederzukommen! Habt ihr mich verstanden?!“
„J-ja, Herrin!“, sprach einer von ihnen und der Rest nickte. Ich machte mit meiner Hand eine vage Geste in Richtung Tür und diese Idioten überschlugen sich beinahe, um so schnell wie möglich aus dem Raum zu kommen.
Zufrieden wandte ich mich der fünften Person zu.
„Balthasar, mein Lieber. Ich nehme an, du weißt, warum ich dich zu mir gerufen habe.“, begann ich und deutete zu einer kleinen Sitzecke, in der ich mich in einen der Sessel fallen ließ. Mein Gast nahm mir gegenüber Platz und nickte mir respektvoll zu.
„Ich nehme an, ihr habt einen Auftrag für mich, Herrin.“, antwortete er.
„In der Tat. Ich möchte, dass du etwas sehr Wichtiges für mich erledigst. Sag mir, was weißt du über die Legende des Drachen des Silbers?“, fragte ich und schlug kokett die Beine übereinander. Ein Flackern von Überraschung tauchte in seinen Augen auf, verschwand jedoch genauso schnell, wie es aufgetaucht war. Dann wurde seine Mine düster.
„Ich nehme an, ihr fragt nicht ohne Grund?“, antwortete er mit einer Gegenfrage.
„Und ich nehme an, du kennst die Geschichte gut. Niemand sonst würde solch ein finsteres Gesicht machen, wenn er die Legende nicht kennt. Was würdest du sagen, wenn ich Größeres mit dir vorhabe, als einen einfachen Soldaten aus dir zu machen?“, sprach ich zu ihm und ließ meine Stimme leiser klingen. Die Augen von Balthasar wurden groß.
„Ihr meint doch nicht…?“, fragte er verwundert und ich lachte schadenfroh.
„Oh doch, mein Lieber.“, erwiderte ich, zog eine Schatulle von dem kleinen Tisch rechts vor mir, öffnete sie und drehte sie so, dass mein Gast den Inhalt sehen konnte. Er wurde blass.
„Du weißt, wir können das auf zwei Arten machen, Balthasar. Ich würde ja sagen, dass mir die einfache Art lieber ist, aber das wäre gelogen. Schluckst du sie freiwillig oder darf ich nachhelfen?“, stellte ich ihn sadistisch lachend vor die Wahl.
Er griff mit zitternden Händen nach dem Inhalt der Schatulle und schluckte es hinunter. Zuerst passierte nichts. Ich nahm das Champagnerglas galant in eine Hand und nahm lächelnd einen Schluck. Irritiert sah Balthasar mich an. Plötzlich fing er an zu schreien. Er griff sich panisch an die Brust, da wo ungefähr sein Herz schlagen musste und fiel vornüber auf die Knie. Seine Schreie wurden lauter und panischer. Entzückt lachte ich, als er sich vor Schmerzen auf dem Boden windete.
Ich würde nicht zulassen, dass die goldene Kaste gewinnt. ER sollte schließlich dafür bezahlen! Ich würde meine Rache schon noch bekommen, auf die eine oder andere Art!

Kapitel 8 - Der König und die Kriegerin

Ich schlug nun schon seit über zwei Stunden Zeit in meinem Zimmer tot, nur um nicht den anderen zu begegnen. Wenn ich so darüber nachdachte, war es eigentlich ziemlich feige. Aber um ehrlich zu sein… ich wollte nicht zu ihnen. Diesen beschissenen vorwurfsvollen Blick ertragen zu müssen, von dem ich genau wusste, dass ich ihn verdiente. Man sollte mir den Preis für „die-beschissenste-Freundin“ verleihen. Den hätte ich vermutlich auch verdient. Resigniert seufzte ich und griff nach meinen Tessen, die direkt neben mir auf dem Bett lagen. Es brachte ja doch nichts. Irgendwann würde ich sowieso aus meinem Zimmer herauskommen müssen. Und ein wenig Bewegung würde mir bestimmt gut tun.
Aber war ich wirklich bereit dazu den anderen gegenüberzutreten? Tja, ich schätze, das werde ich jetzt gleich herausfinden.
Ich verließ mein Zimmer und ging – nein, ich schlich wohl eher – in Richtung Trainingsraum. Ich wusste, es war nicht gut unangenehme Sachen vor sich herzuschieben, aber ich hatte Angst.
Angst davor, dass sie mich mit demselben Blick anschauten wie Robin.
Angst davor, dass sie mich verachteten, für das, was ich getan habe.
Vor dem Trainingsraum blieb ich stehen. Ich hörte ihre Stimmen schon auf dieser Seite der Tür. Nach einem kurzen Moment des Zögerns, straffte ich meine Schultern und betrat den Raum. Abrupt verstummten alle Gespräche.
Robin, Ella, Dani und Joy waren im Raum verteilt. Sie alle hielten mitten in ihren Bewegungen inne und starrten mich an, als wäre mir soeben ein drittes Auge gewachsen. Robin mit ihren Doppelschwertern und Dani mit ihrem Katana, hatten gerade miteinander auf den Matten trainiert. Ella hatte amüsiert zugesehen, während Joy mit ihren Shuriken Wurfübungen absolvierte. Ich erwiderte der Reihe nach ihre Blicke und wartete darauf, dass sie mit ihren Vorwürfen anfingen. Doch es blieb still. Man hätte wahrscheinlich eine Stecknadel im angrenzenden Zimmer fallen hören können.
Ich wusste nicht, wie lange wir so dort standen, aber irgendwann hatte ich einfach genug. Ich zuckte frustriert mit den Schultern und ging auf die andere Seite der Halle zu, wo ebenfalls Matten auf dem Boden lagen. Gerade als ich mit meinem üblichen Tessenjutsu anfangen wollte, stellten sich mir die Nackenhaare nach oben und ich wich geduckt nach rechts aus und drehte mich in der Bewegung herum. Gerade noch rechtzeitig, ehe die Klinge eines Schwertes genau an der Stelle durch die Luft surrte, an der ich gerade eben noch gestanden hatte. Und nicht nur irgendeine Klinge, sondern die Klinge eines japanischen Langschwertes, einem Katana. Dani ging sofort kampfbereit zur Verteidigung über, während ich mich ebenfalls zum Kämpfen bereit machte.
Leicht geduckt und mit ausgebreiteten Tessen stand ich ihr gegenüber und sah ihr in die Augen. Sie hatten nicht ihre normale dunkelbraune, ja fast schon schwarze Färbung, sondern leuchteten in einem intensiven Goldton und wirkten sehr wölfisch. Dies und die Tatsache, dass sie unwissentlich ihre Krallen ausgefahren hatte, ließen mich eindeutig darauf schließen, dass sie kurz davor war, die Beherrschung zu verlieren. Sie war nicht nur wütend auf mich – sie war stinksauer.
„Du kleines Miststück! Hattest du eigentlich jemals vor, uns zu informieren?! Kümmert es dich überhaupt, was wir von dir denken?!“, knurrte sie mich an und holte zu einem Schlag von rechts aus. Ich ließ meinen rechten Tessen zuschnappen und fing den Schwerthieb ab, hatte jedoch große Mühe damit, da Gestaltwandler im Allgemeinen viel stärker waren, als Eisblumen – zumindest körperlich. Zwischen zusammengebissenen Zähnen antwortete ich ihr: „Natürlich kümmert es mich! Denkst du etwa, dass das Ganze für mich einfach ist? Aber was zur Hölle soll ich denn machen?! Ich kann Geschehenes nun mal nicht rückgängig machen und außerdem hatte ich keine Wahl!“
Dani stieß einen frustrierten Schrei aus und griff mich erneut an. Wieder und wieder. Es gelang mir zwar immer die Schläge abzuwehren, aber ich hatte keine Chance selbst anzugreifen. Dani war verdammt schnell.
„Keine Wahl?!“, kreischte sie und schlug noch fester zu. „Dann erklär mir mal, warum du keine andere Wahl hattest! Für mich sieht das Ganze nämlich so aus: Du hättest seinen Antrag auch einfach ablehnen können!“
Also langsam wurde ich ebenfalls wütend. Dachte sie etwa, ich hätte diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen?!
„Oh ja! Ich serviere einfach eiskalt den Alpha der Gestaltwandler ab, stelle ihn vor mehreren hundert Leuten bloß und warte dann auf die nächste Einladung für einen Ball. Was meinst du, wie lange hätte ich warten müssen? Ein- oder Zweitausend Jahre?“, fragte ich sarkastisch und blockte weiterhin ihre Hiebe ab. Nachdenklich zog sie die Augenbrauen zusammen.
„Es hätte bestimmt noch andere Möglichkeiten gegeben, ohne dass du dich hättest auf ihn einlassen müssen!“, behauptete sie, doch ihre aggressiven Schläge wurden merklich weniger. Ich schnaubte nur ungläubig.
„Ach ja? Dann nenn mir eine, Miss Neunmalklug!“, forderte ich und konnte endlich einen Gegenschlag ausüben, aber sie wehrte in letzter Sekunde meinen Hieb ab.
Sie schien fieberhaft zu überlegen und nach einer Möglichkeit zu suchen, die sie mir an den Kopf hätte werfen können. Doch es blieb still. Sie schwieg, da ihr selbst keine andere Möglichkeit einfiel.
„Siehst du?“, meinte ich vorwurfsvoll. „Genau das wusste ich nämlich auch. Und jetzt sag mir ehrlich ins Gesicht, dass du den Antrag einfach abgelehnt hättest! Denn wir wissen beide, dass kannst du nicht, es sei denn du lügst mich an!“, verteidigte ich energisch mein Handeln.
Dani schüttelte frustriert den Kopf und wich ein paar Schritte zurück. Der Kampf zwischen uns schien vergessen zu sein.
„Du hättest ihm eben vorher sagen sollen, dass du nicht willst, dass er dich öffentlich fragt!“, erwiderte sie trotzig und ich gab einen genervten Laut von mir.
„Woher zum Teufel hätte ich denn wissen sollen, dass dieser Idiot mir einen gottverdammten Antrag macht?! Er hatte nichts Derartiges vorher erwähnt! Außerdem kenne ich ihn ja erst seit dem Ball, auf dem verkündet wurde, dass die goldene Kaste einen neuen Anführer hat. Und bis zur Verkündung hatte ich auch nicht gewusst, dass er der beschissene Alpha der Gestaltwandler ist!“, meinte ich abwehrend.
Verwirrt sah Dani mich an. Erst jetzt bemerkte ich, dass Ella, Robin und Joy sich neugierig um uns herumgestellt hatten und aufmerksam unseren Kampf mit verfolgt hatten. Auch Tammy war hinzugekommen.
„Das heißt er hat dich damit auch überrascht? Du hattest das nicht vorher geplant?“, fragte Tammy vorsichtig nach und ich konnte nur mit viel Mühe und Not ein genervtes Schnauben unterdrücken.
„Natürlich habe ich das vorher nicht geplant! Warum sollte ich etwas so Riskantes tun? Und dann auch noch ohne euch Bescheid zu geben? Na vielen Dank auch! Für wie dämlich haltet ihr mich eigentlich?!“, fauchte ich beleidigt und ließ mit einer Bewegung meine beiden Tessen zuschnappen.
„Aber wieso hat er dir dann einen Antrag gemacht?“, fragte Dani misstrauisch und ich konnte es ihr einerseits auch nicht verübeln. Daher zuckte ich frustriert mit den Achseln.
„Diese Frage stelle ich mir schon seit Stunden. Wir hatten zwar eine kleine… Meinungsverschiedenheit, aber dass er mich dermaßen demütigen wollte! Er hatte nicht erwartet, dass ich Ja sage.“, erklärte ich ihnen und Danis Augen wurden groß.
„Das heißt er wollte sich gar nicht mit dir verloben, sondern dich nur als die böse Cathy darstellen, die den armen Alpha der Gestaltwandler abweist und in aller Öffentlichkeit demütigt?“, fragte Robin ungläubig und ich nickte nur. Endlich hatten sie es kapiert! Es herrschte kurz ein unbehagliches Schweigen.
„WARUM HAST DU DAS DENN NICHT GLEICH GESAGT?!“, riefen alle unisono und ich zuckte erschrocken zusammen.
„Hey! Versucht jetzt ja nicht, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben! Vor allem du, Robin! Ich hatte ja versucht es dir zu erklären, aber du hast mir doch überhaupt nicht zugehört!“, verteidigte ich mich empört. Robin streckte sich genüsslich, als wäre sie soeben erst aufgestanden und stieß ein herzhaftes Gähnen aus.
„Tja, da hast du wohl recht.“, meinte sie nur, um sich daraufhin einfach umzudrehen und aus dem Raum zu stolzieren. „Falls mich jemand sucht, ich liege auf meinem Sofa!“, rief sie noch über die Schulter zurück und dann war sie auch schon weg. Grinsend schüttelte ich den Kopf. Typisch Robin. Wenn man sie suchte, dann brauchte man nur im Wohnzimmer im Erdgeschoss nachzusehen. Dort stand ein uraltes, ausgeblichenes Sofa, welches Robin immer zum Schlafen benutzte.
„Tut mir Leid, dass ich dich angegriffen habe.“, sagte Dani zu mir und ich schüttelte nur ungläubig den Kopf.
„Oh bitte! Ich weiß, dass dir wirklich alles außer dieser Sache leid tut!“, meinte ich lachend. Dani liebte es, beim Kämpfen Druck abzulassen. Verlegen grinste sie mich an.
„Okay, erwischt. Das tut mir wirklich nicht leid.“, korrigierte sie sich und winkte alles mit einer einfachen Handbewegung ab. Sie drehte sich um und ging wieder zu den anderen Matten zurück.
Ich konnte mir ein belustigtes Grinsen nicht verkneifen, zuckte jedoch bei Joys Flüchen zusammen.
„Dieser ungehobelte Bastard! Wie kann er es wagen, dich so in die Ecke zu drängen?! Und das nur in dem Versuch, dich zu demütigen! So ein verdammtes Schwein! Was denkt dieses Arschgesicht eigentlich, wer er ist?!“, kreischte sie und wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, dann hätte ich sie wahrscheinlich damit aufgezogen, dass sie fluchte wie ein Müllkutscher.
„Nun ja, er hält sich für den Anführer der goldenen Kaste und den Alpha der Gestaltwandler.“, meinte ich trocken und Tammy kicherte.
„So ein Scheiß aber auch.“, meinte Robin und schob ihre Hände in die Hosentaschen. „Was machen wir jetzt?“, fragte sie.
Tja, was tat man denn in einer solchen Situation. Ich war mir ziemlich sicher, dass es hierzu keinen Ratgeber in der nächsten Buchhandlung geben würde. Also zuckte ich hilflos mit den Schultern.
„Ich nehme an, ich werde dieses Spiel mitspielen müssen, so lange, bis MacPhie einsieht, dass diese Verlobung so schnell wie möglich wieder aufgelöst werden sollte. Ansonsten kann ich nicht viel tun, oder hat eine von euch einen besseren Vorschlag?“, fragte ich in die Runde, doch niemand antwortete mir. Ich stieß resigniert einen Seufzer aus.
„Ich würde vorschlagen, wir konzentrieren uns erst einmal auf diesen komischen Brief von der silbernen Kaste und finden heraus, was diese ganzen komischen Ausdrücke und Rätsel zu bedeuten haben.“, meinte ich und erntete zustimmendes Nicken. Ich sah mich im Raum um und stellte fest, dass wir fast vollzählig waren.
„Wo ist Gill?“, fragte ich die anderen und Robin schnaubte nur verächtlich.
„Na, wo soll unsere Barbiepuppe denn sein? Sie ist mit irgendeinem Typen aus. Wie hieß er noch gleich? Rodrick? Nein, warte, das war der davor… ich glaube er hieß Gordon oder so.“, meinte sie und ich und die anderen musste lachen.
„Quatsch! Der hieß doch Gideon, oder nicht?“, warf Joy ein und Robin zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Ich winkte abwertend mit der Hand und sagte: „Ist doch völlig egal, wie der Typ heißt! Von mir aus auch Guiseppe oder Hans-Friedrich. Ruft jemand von euch Gill an? Ich würde sagen, wir treffen uns dann alle in einer halben Stunde in der Zentrale.“
Sie alle nickten mir zu und ich verließ den Raum. Ich machte mich auf den Weg zur Zentrale, um schon mal alles durchzugehen. Ich wusste, dass die anderen es mir spätestens in fünf Minuten gleichtun würden. Also mussten wir nur noch auf Gill warten.

 Als Gill endlich kam, hatten wir anderen schon alle unsere Plätze eingenommen. Normalerweise waren wir alle irgendwie im Raum verteilt, entweder ein paar auf dem uralten Sofa, manch andere in der neuen Sitzecke und Tammy meistens vor ihrem PC. Wobei das nicht ein einzelner PC war, sondern eine ganze Schaltzentrale. Es war praktisch das Herz des Hauptquartiers, weswegen dieser Raum auch von uns „die Zentrale“ getauft wurde. Doch heute hatten wir uns alle um den runden Tisch in der Mitte des Raumes versammelt. Um den Tisch standen genau sieben Stühle, für jede von uns einen. Ich saß am Kopfende und rechts neben mir hatte Robin Platz genommen und links von mir Tammy. In der Mitte des Tisches lag die von mir geschriebene Kopie von dem Brief der silbernen Kaste.
„Okay, wir hatten uns ja schon vorher darauf geeinigt, dass wir uns mit diesem Drachen des Silbers in Verbindung setzen. Hat sich irgendjemand von euch mal Gedanken darüber gemacht, was dies bedeuten könnte? Der Drache des Silbers?“, fragte ich in die Runde hinein, doch jeder schüttelte den Kopf – außer Ella. Sie schien bei der Erwähnung unsicher, als ob sie nicht wüsste, ob sie das, was sie gerade dachte laut sagen sollte.
„Ella? Was genau weißt du?“, fragte ich daher nur und erntete mehrere verwunderte Blicke. Ella hob abwehrend die Hände.
„Nein, nein. Vergiss es einfach. Es handelt sich dabei nur um ein altes Märchen, dass man kleinen Kindern erzählt.“, meinte sie. Ein Märchen? Nun, da ansonsten niemand eine Idee hatte, was es sein könnte, war das immerhin eine Spur, oder nicht?
„Was für ein Märchen denn?“, fragte ich interessiert.
„Na ja, es ist >Die Legende des silbernen Drachen<.“, antwortete sie und Tammy und Dani schnappten entsetzt nach Luft. Neugierig zog ich eine Augenbraue nach oben.
„Um was geht es in dem Märchen?“, fragte ich.
„Das weißt du nicht?“, erwiderte Dani und ich schüttelte den Kopf.
„Diese Geschichte hat mir mein Vater damals immer vorgelesen, als ich noch ein kleines Mädchen war.“, warf Tammy ein.
„Erzählt mir mal jemand, was für eine Geschichte das jetzt genau ist?“, fragte ich ungeduldig und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. Auf ihre eigene ruhige Art hin, legte Tammy ihre Hand über meine und hielt mich so davon ab weiter zu trommeln.
Ella senkte die Stimme etwas und begann uns die Geschichte zu erzählen:
„Vor sehr langer Zeit lebte ein König namens Kyrian, der über das Land der Schatten regierte und unbedingt heiraten sollte. Das Volk verlangte einen würdigen Erben. Doch der König verliebte sich in Ashaya, die Kriegerin des Lichts. Obwohl beide wussten, dass sie niemals zusammen sein konnten, verliebten sie sich ineinander und Ashaya wurde sogar schwanger. Es dauerte auch nicht lange, bis die beiden Völker Licht und Schatten herausfanden, was sich abspielte. Das Volk der Schatten war außer sich vor Zorn. König Kyrian und die Kriegerin Ashaya wollten fliehen. Ihre Liebe war stärker, als der Hass zwischen ihren beiden Völkern. Sie ließen alles hinter sich, bis auf das Vermächtnis von Kyrians Familie. Da er der letzte von königlichem Geblüt war, sah er es als seine Pflicht, die >Drachenträne<, das Wertvollste, was seine Familie jemals besessen hatte, zu schützen und mitzunehmen. Doch noch während der Flucht wurden sie vom Volk des Lichts angegriffen und Kyrian sehr schwer verletzt. Zwar konnten sie auch dieser Situation entfliehen, aber als sie dann von einer Armee der Schatten entdeckt wurden, verlor Kyrian sein Leben. Er wurde praktisch von seinem eigenen Volk ermordet.“, sie machte eine Pause, um die Spannung zu halten. Ihre Stimme glich nur noch einem Flüstern und wir hatten uns alle nach vorne gebeugt, um auch ja nichts zu verpassen. Ella wusste wirklich, wie man eine Geschichte erzählte.
„Ashaya war außer sich vor Trauer und Wut. Aber es gelang ihr, lebend davonzukommen und unterzutauchen. Sie nahm das Vermächtnis von Kyrians Familie mit, da sie es ihrem Kind als Erinnerung an den Vater schenken wollte. Was sie vorher nicht wusste, war, dass das Volk der Schatten und das Volk des Lichts hinter der Drachenträne her waren. Denn sie soll das Wertvollste sein, dass jemals im Schattenreich und im Lichtreich existiert hatte. Kurz bevor das Kind auf die Welt kam, wurde Ashaya von ihrem eigenen Volk ausfindig gemacht. Sie bettelte um das Leben ihres Kindes. Sie bat um Gnade, doch diese wurde ihrem Kind nicht gewehrt. Im Gegenteil, man stieß ihr ein Messer in den Leib und tötete das ungeborene Kind. Die Mutter sollte fühlen, wie ihr Kind noch in ihr drinnen starb. Ashaya war nach diesem Verlust außer sich. Es war, als wäre ein Teil von ihr gestorben. Sie schnappte sich die Drachenträne, da niemand von den beiden Völkern sie haben sollte, und schluckte sie hinunter. Kurz danach brachte man sie mit demselben Messer um, mit dem man ihr Kind tötete.“, erzählte Ella und legte wieder eine Kunstpause ein.
„Noch während sie starb und voller Schmerzen zu Boden ging, fing ihr Körper an zu zucken und sich zu verkrampfen. Einer der Krieger wollte ihr den Kopf abschneiden, doch soweit kam er nicht mehr. Ashaya existierte nicht mehr. An ihrer Stelle war nun eine riesiges, schuppiges Monster mit Klauen und Zähnen so scharf wie ein geschliffener Diamant und einem Atem so heiß wie die Hölle selbst – sie hatte sich in einen silbernen Drachen verwandelt. Sie tötete die Abgesandten ihres Volkes. Doch der Schmerz über den Verlust ihres Kindes forderte mehr. So begab sie sich zum Palast des Lichts und tötete die gesamte königliche Familie und alle, die sich ihr in den Weg stellten. Danach begab sie sich ins Schattenreich, um den Vater ihres ungeborenen Kindes zu rächen. Aber all das reichte ihr immer noch nicht. Denn sie wusste, dass die beiden Völker trotz alldem nichts dazugelernt hatten. Sie verstanden es nicht. Als Strafe für die Grausamkeit, die man ihr gegenüber hatte walten lassen, nahm sie den beiden Völkern alle Kinder weg. Sie und die Kinderscharr verschwanden zusammen im Meer. Und auf dem Grund des Ozeans ließ Ashaya sich in Drachengestalt nieder und fiel in tiefen Schlaf. Doch jedes Mal, wenn ein ungeborenes Kind, das von zwei sich verhassten Völkern abstammt, getötet wird, vergießt Ashaya eine einzelne Träne, die sich in der Weite des Ozeans verliert.“, beendete sie ihre Geschichte und es blieb erst einmal still.
„Wirklich, das ist eine echt tolle Geschichte, aber ich verstehe nicht ganz, was das Ganze mit dieser silbernen Kaste zu tun haben soll.“, warf ich in die Stille hinein und brach so den Geschichtenzauber. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und die anderen taten es mir gleich.
„Ich ehrlich gesagt auch nicht…“, stimmte Robin mir zu.
„Nun ja, ich sagte doch, dass es wahrscheinlich nichts damit zu tun hat.“, meinte Ella schulterzuckend. Na ja, wenigstens war ich jetzt um ein Kindermärchen reicher als zuvor, dachte ich sarkastisch.
„Also sind wir wohl wieder am Anfang. Kannst du ein wenig über silberne Drachen recherchieren, Tammy?“, fragte ich und erhielt ein Nicken von ihr.
„Nun, dann sollten wir uns vielleicht mal um >das Bild des Lebens< Gedanken machen, dass ebenfalls in dem Brief erwähnt worden ist.“, meinte ich und wollte gerade noch etwas sagen, als Gill mich unterbrach.
„Oh man! Das hab ich ja völlig vergessen! Ich muss dir noch etwas geben.“, meinte sie schelmisch grinsend und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ganz egal was dieses >etwas< auch war, es nichts Gutes bedeuten konnte. Sie zog einen schweren Umschlag aus ihrer pinken Lederjacke und reichte ihn mir. Zögernd nahm ich den Brief entgegen. Das Papier war sehr edel und die Schrift auf der Rückseite mehr als nur elegant. Es stand nur mein Name drauf sonst nichts. Ich drehte den Kuvert zur anderen Seite und erstarrte. Der Brief war mit einem Zeichen versiegelt. Und ich erkannte es sofort. Es war das Wappen der Königsfamilie der Gestaltwandler.
Dieser Brief war also von MacPhie. Irgendwie konnte ich das Gefühl nicht abschütteln, dass mir der Inhalt davon nicht gefallen wird.

Kapitel 9 - Beknackte Ratschläge, ein geheimnisvolles Bild und eine Hackerin…

„JETZT MACH ENDLICH AUF!“, sagten alle zusammen und sahen mich an. Ich zuckte schuldbewusst zusammen. Wie lange hatte ich denn den Brief angestarrt? Ich ließ der Anweisung jedoch Folge leisten und öffnete das Kuvert, zog das schwere, wertvolle Papier heraus und faltete es auf. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, sodass ich den anderen den Brief wortwörtlich vor der Nase wegzog und ihn alleine lesen konnte. Ich ignorierte dabei die Protestlaute der anderen und widmete mich ganz dem Inhalt, wobei viel war es ja nicht:

 Meine liebe Cathleen,

 
Du bist herzlichst eingeladen als Ehrengast am Dinner der Familie MacPhie teilzunehmen. Das Essen wird am nächsten Samstag um 18 Uhr stattfinden.

Alexander Conlin MacPhie

 
Als ich den Brief zweimal gelesen hatte, reichte ich ihn ohne hinzusehen einfach nach rechts weiter. Na toll! Jetzt musste ich auch noch ein Essen mit der Familie ertragen. Konnte die Situation eigentlich noch beschissener werden? Als die anderen den Brief gelesen hatten und meinen entgeisterten Gesichtsausdruck sahen, fingen sie an zu lachen. Na vielen Dank auch! Und sowas nannte man Freundinnen! Verärgert schaute ich sie an.
„Das ist nicht lustig! Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich sie und sie hörten auf zu kichern.
„Du musst dich bei dem Essen blicken lassen. Schließlich bist du der Ehrengast.“, warf Tammy nachdenklich ein.
„Da hat sie recht, Cathy.“, meinte Gill und genauso schnell, wie sie nachdenklich geworden war, genauso lange dauerte es, bis ein hinterhältiges Grinsen auf ihrem Gesicht erschien.
„Aber das heißt ja noch lange nicht, dass du weißt, wie man sich benimmt.“, fügte sie hinzu. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Ach du lieber Herr Gesangsverein. Sie meinte doch wohl nicht wirklich das, was ich dachte, dass sie meinte, oder?
„Was genau meinst du damit?“, fragte ich argwöhnisch und Joy, die die Situation wohl schon durchschaut hatte, fing plötzlich an zu kichern.
„Naja“, setzte Gill an, „er ist doch ein König, richtig? Und Könige suchen sich nur Frauen aus, die sich auch zu benehmen wissen, oder etwa nicht? Was ist jedoch, wenn du gegen alle Regeln des Anstandes verstößt?“
„Genau! Wenn du dich so unschicklich verhältst, dass der große, mächtige Alpha sich dazu gezwungen sieht, die Verlobung und die Hochzeit abzublasen!“, fügte Dani breit grinsend hinzu.
Meine Augen wurden groß und ich blickte entsetzt in die Runde.
„Oh nein! Das ist doch wohl nicht euer ernst!“, rief ich aus. Also das konnte selbst ich nicht tun. Nachher wäre ich als die unschicklichste, dämlichste und unanständigste Person der gesamten Mythenwelt bekannt. Ich meine, ich konnte ja wirklich viel verkraften, aber dies musste ich mir nun ernsthaft nicht antun.
„Auf gar keinen Fall! Ihr seid doch total verrückt!“, konterte ich und überlegte krampfhaft, wie ich MacPhie auf irgendeine andere Weise davon überzeugen konnte, dass er die Verlobung gefälligst auflösen sollte.
„Nun ja, Cathy hat da nicht ganz unrecht.“, meinte Tammy kleinlaut und alle drehten sich zu ihr um. Wenn sie etwas vorschlug war es meistens das, was am sinnvollsten war. Sie war sozusagen unser Computergenie und denkender Kopf in einem.
„Es wäre nicht besonders klug, gegen jede Regel des Anstandes zu verstoßen.“, fügte sie hinzu und ich stieß einen triumphierenden Laut aus. Gill sah mich verärgert an und fragte an Tammy gewandt: „Aber…?“
„Aber so schlecht ist dieser Vorschlag gar nicht. Denkt doch mal nach. Du könntest einfach so tun, als hättest du überhaupt nichts mit ihm gemeinsam. Vom politischen Denken, den moralischen Gründen her bis hin zu privaten Interessen – alles Verschieden. Eine solche Beziehung kann doch nur zum Scheitern verurteilt sein. Das wird selbst Mr. MacPhie einsehen müssen.“, meinte Tammy und schwieg. Doch bevor irgendjemand noch etwas sagen konnte, ergänzte sie: „Und außerdem suchen Gestaltwandler sich in der Regel nur einen Partner fürs Leben. Und das sind ihre Gefährten bzw. Gefährtinnen. Wenn er jetzt aber Cathy heiratet, dann wird diese Verbindung nur so lange gültig sein, bis er seine wahre Gefährtin trifft.“
Ich schnaubte nicht gerade damenhaft.
„Ja, aber bei MacPhies Tempo kann es noch Jahrhunderte dauern bis er endlich auf seine Gefährtin trifft. Und was soll ich in der Zeit tun? Ein Speed-Dating für Gestaltwandlerkönige organisieren, oder was?“, fragte ich etwas bissig, doch ich konnte nicht anders. Ich ignorierte dabei das seltsame Stechen in meiner Brust, als ich daran dachte, dass MacPhie tatsächlich mit einer anderen Frau zusammen sein SOLLTE. Ich hatte dieses Thema so satt – genau wie ich MacPhie satt hatte!
„Ich glaube da bin ich dann eher für deinen ersten Vorschlag. Denn wenn wir nichts gemeinsam haben, dann wird er sehr wahrscheinlich die Verlobung von selbst auflösen, oder?“, schlug ich vor und Tammy nickte. Auch die anderen gaben ihre Zustimmung, nur Gill schien zu schmollen.
„Mein Vorschlag war aber auch gut!“, meinte sie und schob die Unterlippe beleidigt vor.
Grinsend schlug ich ihr kameradschaftlich auf die Schulter.
„Ja, dein Vorschlag war auch gut – wenn man als größter Idiot der Mythenwelt dastehen will.“, meinte ich trocken und die anderen fingen an zu lachen. Gill schnaubte.
„Du bist furchtbar, weißt du das?“, fragte sie mich und ich erwiderte lachend: „Furchtbar schlau, ich weiß!“
Tammy räusperte sich. Ich hob fragend die Augenbrauen und gab ihr so zu verstehen, dass sie meine volle Aufmerksamkeit hatte.
„Nun, mit dem Drachen des Silbers hatte ich vielleicht kein Glück. Aber um auf das eigentliche Thema der Versammlung zurückzukommen… Das Bild des Lebens ist in der großen Bibliothek der Mythenwelt dokumentiert.“, sagte sie und ich gab ihr mit einem Wink meiner Hand das Zeichen fortzufahren, als sie eine Pause machte. Tammy stand auf und ging zu ihrer Schaltzentrale. Sie klickte ein paar Mal mit der Maus und tippte etwas ein, ehe sie begann, etwas vorzulesen.
„Es entstand ungefähr 2000 Jahre vor Christus, es könnte aber auch älter sein, so genau weiß man es nicht. Das Bild wurde von einer Eisblume gemalt, die im Rausch des Wahnsinns war. Angeblich beherbergt das Gemälde mystische Kräfte, die jedoch nur von einer anderen Eisblume entfesselt werden können. Wobei ich vielleicht anmerken sollte, dass hier steht, dass diese Kräfte einen hohen Preis haben. So sagt man zumindest, auch wenn niemand genau weiß, was damit gemeint ist.“
Ich zuckte nur mit den Schultern, als die anderen sich nach mir umdrehten. Ja, ich war eine Eisblume, aber das hieß noch lange nicht, dass ich immer und alles über die Dinge wusste, die andere Eisblumen anrichteten.
„Und was ist jetzt das Besondere an diesem Gemälde?“, fragte ich, da mir bewusst war, dass es definitiv nicht an den geheimnisvollen Kräften liegen konnte. Denn wenn sie nur von einer Eisblume entfesselt werden konnten, dann war es für alle Personen auf der ganzen Welt – mit Ausnahme von drei Leuten, mich eingeschlossen – total nutzlos.
„Du meinst abgesehen davon, dass es kein richtiges Gemälde ist?“, fragte Tammy besserwisserisch und ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
„Ist es nicht? Was ist es dann?“, wollte Ella wissen.
„Den Angaben nach ist es einfach nur ein Haufen Blut, das mitten in der Luft in einem seltsamen hölzernen Rahmen umherfliegt.“, antwortete Tammy und ungläubiges Schweigen folgte. Umherfliegendes Blut? In einem hölzernen Rahmen mitten in der Luft? Also das war jetzt wirklich eine der unglaubwürdigsten Sachen, die ich je in meinem ganzen Leben gehört hatte.
„Also ist dort einfach ein viereckiger Rahmen aus Holz mitten in der Luft, wo das Blut seine Kreise drin zieht, oder was?“, fragte Dani so, als wüsste sie selbst, dass es sich verrückt anhörte. Also die Ärzte in den weißen Kitteln lassen grüßen.
„Angeblich zieht das Blut dort drinnen keine Kreise, sondern fliegt in bestimmten Positionen umher, die jedoch ständig wechseln. Man sagt, wenn man lange genug auf das Bild starrt, dann zeigt das Blut einem den Grund, aus dem man am Leben ist. Deswegen wird es auch das Bild des Lebens genannt.“, ergänzte Tammy und ich versuchte mir das Ganze vorzustellen. Was für ein Schwachsinn. Das glaube ich erst, wenn ich es gesehen habe.
„Wenn dieses Bild eine solche Macht hat, warum haben wir bis jetzt noch nichts davon gehört? Warum rennt nicht jeder von der Mythenwelt zu dem Gemälde und sieht es sich an? Ich meine, es zeigt einem, warum genau man lebt.“, warf ich misstrauisch ein und Tammy ließ ein hinterhältiges Grinsen erhaschen, was man bei ihr eigentlich nur sehr selten sah.
„Naja, das liegt daran, dass das Bild in einem abgeriegelten Bereich hängt, der nur bestimmten Personen zugänglich ist. Zusätzlich wissen nur eine Hand voll Leute, dass dieses Gemälde überhaupt existiert. Die meisten Leute halten es für eine Legende.“, erwiderte Tammy und ich zog fragend die Augenbrauen nach oben.
„Wenn es so streng bewacht und geheim gehalten wird, woher weißt du dann das alles?“, fragte ich neugierig und sie antwortete: „Es war zwar eine knifflige Herausforderung, aber ich konnte mir am Ende den Zugang zum Server der internationalen Einheit für Übernatürliche und Außernatürliche – kurz IEÜA – ermöglichen.“
„Mit anderen Worten: Du hast wahrscheinlich so ziemlich gegen jedes Gesetz unserer Kreise verstoßen, um dich in ihr System zu hacken.“, schlussfolgerte Dani trocken und Tammy nickte schuldbewusst.
Ich schenkte ihr ein anerkennendes Nicken. „Sehr gut, Tammy. Wo genau befindet es sich?“, fragte ich.
„Es steht momentan in einem abgeriegelten Bereich der Mystic Arts Academy. Dort hineinzukommen wird nicht einfach werden. Die haben ein wirklich sehr gut geschütztes System.“, antwortete sie und ich schnaubte nur verächtlich.
„Oh bitte! Als gäbe es auch nur ein System auf der ganzen Welt, in das du dich nicht hinein hacken könntest!“, erwiderte ich und sie schenkte mir ein kleines Lächeln, während sie vor sich hinmurmelte: „Auch wieder wahr…“
„Also, am besten verschwenden wir keine Zeit. Wir bereiten uns darauf vor, schon übermorgen diesem Bild einen Besuch abzustatten.“, schlug ich vor, erntete jedoch nur vorwurfsvolle Blicke.
„Was?!“, fragte ich gereizt.
„Wie alle wissen ganz genau, dass du dich nur um das Essen herumdrücken willst, welches übermorgen ebenfalls stattfindet.“, antwortete Robin und die anderen nickten zustimmend. Oh. Richtig. Das Essen. Verflixt, wie konnte mir das nur entfallen?! Ich knirschte widerwillig mit den Zähnen.
„Ich meinte natürlich NACH dem Essen. Das ist doch ein perfekter Plan. Dann muss ich erstens nicht zu lange dort bleiben und zweitens brauche ich auch keine Ausrede, um zu verschwinden.“, warf ich ein.
„Da ist was dran.“, meinte Robin nachdenklich und auch Tammy nickte zustimmend. Gill hingegen schnaubte nur.
„Dann müssen wir uns aber darüber unterhalten, wann genau du die Erlaubnis hast zu verschwinden. Schließlich kenne ich doch meinen Pappenheimer! Du würdest so schnell wie nur irgendwie möglich das Essen wieder vorzeitig verlassen.“, klagte Gill und ich wollte auch gerade protestieren, als Joy plötzlich einwarf: „Da hat sie Recht!“
„Hey! Na vielen Dank für das Vertrauen!“, fauchte ich sie an, doch sie grinste nur.
„Also, ich würde sagen, dass du es wenigstens bis um 22 Uhr aushalten kannst, oder?“, meinte Gill unschuldig und ich warf ihr einen verärgerten Blick zu.
„Bis um zehn Uhr?! Bist du des Wahnsinns! Das halte ich doch gar nicht so lange aus! Das Essen beginnt um sechs! Ich brauche doch nicht vier Stunden zum Essen!“, warf ich gereizt ein und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust. Bevor Gill nochmals etwas sagen konnte – wobei ich mir sicher war, dass dies zu einem Streit zwischen ihr und mir ausarten würde – mischte Tammy sich ein.
„Ich schätze, da wirst du durch müssen, Cathy. Und wenn wirklich etwas Schlimmes passieren sollte, dann meldest du dich einfach direkt hier in der Zentrale, ich werde mir dann etwas einfallen lassen, versprochen.“, meinte sie und ich nickte dankend in ihre Richtung. Ich wusste, dass ich mich auf Tammy verlassen konnte. Sie war schon immer der sichere Fels in der Brandung für jedes Mitglied der blauen Kaste gewesen.
Ein wenig beruhigt lehnte ich mich in meinem Stuhl wieder etwas zurück und beschimpfte MacPhie in meinen Gedanken mit allen möglichen Schimpfwörtern, die ich kannte. Und das waren bei meiner Göttin nicht wenige.
„Also dann! Auf, auf!“, rief Gill fröhlich und klatschte in die Hände. Verwirrt sah ich sie an.
„Wohin denn? Hast du heute etwa noch was vor?“, fragte ich sie misstrauisch und verschränkte abwehrend die Arme vor meiner Brust. Als Dank sah sie mich mit diesem das-ist-doch-wohl-nicht-dein-Ernst-Blick an und ich zog fragend eine Augenbraue nach oben.
„Natürlich habe ich heute noch was vor! Wir BEIDE haben heute noch was vor, um genauer zu sein. Denn ich bin mir sicher, dass du kein passendes Outfit für übermorgen hast!“, meinte Gill.
Ich verzog gequält das Gesicht. Ich meine, schon alleine ein Kleid zu besorgen fand ich Schlimm genug, aber dies auch noch zusammen mit Gill zu tun war wirklich reinste Folter. Scheiße. Wenn ich daran dachte, dass wir das letzte Mal fast von der menschlichen Polizei festgenommen wurden – wohl bemerkt vier Mal! An einem Tag!- und Gill mich anschließend zu einer ihrer „Freundinnen“ geschleppt hatte, war mir fast schon zum heulen zu mute. Denn ich wusste, dass das Ganze diesmal nicht besser verlaufen würde…
„Ich werde mit ihr shoppen gehen. Ich brauche sowieso für mich selbst noch ein neues Outfit.“, warf Joy ein und ich hätte sie in diesem Moment küssen können.
„Oh, aber ich würde euch-.“, setzte Gill an, doch ich unterbrach sie hastig.
„Nein, nein, Gill! Joy hat recht. Du hast schließlich bestimmt besseres zu tun, als mir beim Shoppen zu helfen! Und so schlagen wir schließlich zwei Fliegen mit einer Klappe! Joy bekommt ihr Outfit und ich muss nicht alleine gehen! Mach dir wegen mir nur keinen Stress.“
Offensichtlich hatte ich etwas zu hastig gesprochen, denn Gill schob beleidigt die Unterlippen vor. Oje. Sie blickte stumm auf den Tisch. Schnell, Cathy! Lass dir etwas einfallen!
„Außerdem brauche ich dich für Wichtigeres. Ich will, dass du und Robin zusammen zur Mystic Arts Academy geht und die Gegend schon mal auskundschaftet. So haben wir auch schon gleich einen genauen Plan der Umgebung.“, warf ich ein und blickte flehentlich zu Tammy. Sie schien zu verstehen und nickte.
„Genau! Das ist eine hervorragende Idee! Denn der Plan, den ich auf dem Computer habe ist nicht aktuell und es könnten wesentliche Veränderungen im Laufe der letzten Jahre passiert sein.“, stützte sie meine Behauptung und ich fiel ihr in Gedanken um den Hals. Auch wenn ich wusste, dass der Plan von ihr wahrscheinlich zu hundert Prozent mit dem heutigen Bauwerk übereinstimmte.
Gill seufzte ergeben. „Na gut.“, meinte sie und nickt entschlossen.
Joy wandte sich wieder an mich.
„Wann genau fahren wir?“, fragte sie und ich zuckte mit den Schultern.
„Wann es dir Recht ist.“, antwortete ich.
„Ich würde sagen, wir machen uns sogleich auf den Weg, denn was du heute kannst besorgen, dass verschiebe nicht auf morgen!“, meinte sie grinsend und ich schnaubte nur.
„Gib mir nur eine halbe Stunde. Ich muss noch eine Zusage für MacPhies Abendessen aufsetzen und meine Handtasche packen.“, warf ich ein und Joy nickte.
Ich wandte mich wieder an alle.
„Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“, fragte ich in die Runde und erntete einstimmiges Kopfschütteln.
„Nicht das ich wüsste.“, antwortete Tammy.
„Also gut. Dann werden Joy und ich unsere Outfits besorgen, Gill und Robin die Academy besichtigen und Dani und Ella auf Patrouille gehen.“, fasste ich zusammen und beendete die Versammlung. Ich stand auf und ging zusammen mit dem Brief in der Hand zurück in mein Zimmer und machte mich daran eine Zusage zu schreiben. Dabei hatte ich wirklich meine Müh und Not höflich zu bleiben. Aber wäre es denn auch wirklich so furchtbar Schlimm gewesen, wenn ich das eine oder andere Schimpfwort mit eingebaut hätte? Naja… Dann werde ich MacPhie diese einfach ins Gesicht sagen bei der nächsten Gelegenheit.
Nachdem ich fertig war und meine Handtasche gepackt hatte, machte ich mich zusammen mit Joy auf den Weg in ihr Lieblingsgeschäft. Sie liebte es, Kleidung zu shoppen, aber um ehrlich zu sein, war ich einfach nur froh, wenn ich passende Kleidung fand und wieder nach Hause gehen konnte.
Aber ich wollte mich auch nicht beklagen. Denn alles war besser, als mit Gill zusammen shoppen zu gehen. Tja… also Augen zu und durch.

Kapitel 10 - Mein ältester neuer Job

Zwei Tage später stand ich in meinem Zimmer vorm Spiegel und bereitete mich wieder einmal darauf vor in die Höhle des Löwen einzumarschieren. Naja… zumindest im übertragenden Sinne gemeint. Was mich irgendwie zu der Frage brachte, was für ein Tier wohl in MacPhie wohnte? Ich ging jede Wette ein, dass er eine Raubkatze war… aber welche?
„Caaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaathy!?“, kam es kindisch von meiner Zimmertüre aus.
„Giiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiillian?!“, antwortete ich im gleichen Ton und erntete dafür amüsiertes Gekicher. Die Tür wurde aufgerissen und Gill trat grinsend ein.
„Bist du endlich fertig? Wir wollen noch dein Outfit sehen, bevor du dich zum großen Event begibst.“, meinte sie übertrieben fröhlich. Lag das an mir oder war sie schon immer so nervig gewesen? Ich seufzte niedergeschlagen und gab ihr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich noch einen Moment brauchte.
Ich ging zu meinem Bett hinüber auf dem meine Handtasche lag, und warf noch mein nötiges Makeup zum Nachschminken hinein – schließlich konnte man ja nie wissen. Außerdem kamen noch meine beiden Tessen, Handcreme – einfach unersetzlich!- und meine blaue Maske zusammen mit einem lässigen Outfit, dass ich für die Mission anziehen würde hinzu. Denn in meinen jetzigen Kleidern würde das Einbrechen in eine hochgesicherte Einrichtung nicht wirklich funktionieren… naja… man könnte es eventuell versuchen, aber es würde einen bei der „Arbeit“ etwas behindern.
Ein letztes Mal betrachtete ich mich im Spiegel.
Als ich mit Joy unterwegs war, hatte sie mich gezwungen zum Friseur zu gehen, doch ich hatte mich geweigert, mehr als die Spitzen abschneiden zu lassen. Joy, die mir unbedingt einen Kurzhaarschnitt hatte verpassen wollen, schloss widerwillig einen Kompromiss mit mir. Ich sollte mir einfach nur ein Seitenpony schneiden lassen und sie würde mich nicht weiter dazu drängen, meine Haare abzuschneiden. Und hätte ich gewusst, wie nervig so ein Ding ist, dann hätte ich mich niemals auf diesen Kompromiss eingelassen!
Meine Haare hatte ich zu einem seitlich geflochtenen Zopf zusammengefasst, der mir locker über die linke Schulter fiel. Das ungewohnte Pony verlief ebenfalls nach links und verdeckte fast vollkommen mein linkes Auge. Immer wieder strich ich es mir hinters Ohr, oder versuchte es zumindest. Doch es wollte einfach nicht halten. Mit einem Seufzen gab ich auf und ließ mein Pony, Pony sein.
Das Kleid war bodenlang und in einem schlichten Silberton gehalten. Oben trägerlos und herzförmig geschnitten, enganliegend bis zu den Knien, wo es sich dann wie ein Wasserfall aus gerafftem Stoff bis zum Boden ergoss. Passend zum Kleid trug ich Abendhandschuhe, die mir bis über die Ellbogen reichten und in feiner Spitze endeten. An Schmuck trug ich nur eine zierliche, kleine Brosche in Form eines Schmetterlings. Sie bestand aus reinem Silber und zwei kleinen Saphiren, die in die Flügel eingearbeitet worden waren.
Da meine beiden Babys – meine Tessen – ebenfalls in einem schlichten Silber gehalten waren, konnte ich sie problemlos mitnehmen. Meine Schuhe sah man nicht. Vielleicht sollte ich meine Sneakers darunterziehen… dann müsste ich sie nicht extra in meine Handtasche quetschen. Ich sah kurz zur Tür um sicherzugehen, dass Gill mich nicht erwischte und zog schnell meine Sneakers an. Es war ein seltsames Gefühl unter einem solch schicken Abendkleid Turnschuhe zu tragen, aber was soll‘s? Allemal besser, als wenn ich sie auch noch in der Handtasche mitschleppen müsste.
Eilig machte ich mich auf den Weg zu den anderen. Ich fand sie in der Garage. Oh man. Warum waren sie alle hier? Hatten die kein Privatleben oder sowas?
Als ich zu ihnen aufschloss, musterten sie mich von oben bis unten und Joy stieß einen bewundernden Pfiff aus. Ich verdrehte nur genervt die Augen.
„Lasst es gut sein!“, meinte ich und stolzierte demonstrativ an ihnen vorbei. Gerade als ich mich in den Wagen sitzen wollte, erhob Ella Einwände.
„Steig gefälligst hinten ein! Ich werde dich fahren. Du kannst doch nicht in dem Kleid Auto fahren!“, meinte sie entsetzt und ich starrte sie verwirrt an. Konnte ich nicht?
„Wieso sollte ich nicht mit dem Auto fahren können?“, fragte ich sie, doch sie schüttelte nur den Kopf und schob mich nach hinten, damit sie einsteigen konnte. Mit einem Seufzen ergab ich mich und setzte mich hinten ins Auto.
„Ich nehme an, ich darf dann auch nicht auf dem Beifahrersitz Platz nehmen?“, fragte ich genervt und erntete ein dickköpfiges Nein von ihr. Die ganze Fahrt über zog sie mich damit auf, dass ich vier Stunden mit meinem neuen „Macker“ durchstehen musste. Das war nicht wirklich förderlich für meine gute Laune, doch ich verkniff mir jegliche Kommentare und ließ es stumm über mich ergehen. Als wir endlich ankamen, sprang ich praktisch schon aus dem Wagen und rief ein „bis nachher“ über die Schulter. Ella rief mir noch etwas hinterher, doch ich knallte die Autotür zu und schnitt ihr somit das Wort ab. Egal was sie hatte sagen wollen, jetzt war es sowieso unwichtig.
Das Anwesen der MacPhies lag abseits von den anderen Häusern. Eine lange Auffahrt, gesäumt von alten Eichen, führte direkt auf das Gebäude zu. Je näher ich ihm kam, desto mehr konnte ich es bewundern. Es musste riesig sein. Es sah eher wie ein Palast aus, als ein Haus. Eines Königs würdig. Es war mindestens drei Stockwerke hoch und im Stil der Renaissance gehalten, auch wenn man schon von weitem erkennen konnte, dass auch modernere Fassadeneigenschaften über die Jahre hinweg hinzugekommen waren. Doch das tat der Schönheit dieses Anwesens keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es hob nur die Einzigartigkeit dieses Ortes hervor.
Ich durchquerte ein riesiges Tor, dessen gusseisernes Gatter nur aus eleganten Linien zu bestehen schien. Fasziniert strich ich im Vorbeigehen mit den Fingerspitzen darüber. Die Strecke bis zum Anwesen zog sich in die Länge, da das Kleid mir nicht sonderlich viel Platz für größere Schritte ließ, doch so konnte ich die Landschaft, in die das Gebäude so perfekt passte, begutachten. Abgesehen von dem angelegten Vorgarten war ringsum Natur pur. Überall erstreckte sich der Wald um das Grundstück. Es wirkte wie ein kleines Stück Erde aus einem Märchenbuch und die Straße ist die einzige Verbindung zur Realität.
Ich stieg die breite Treppe zum Haupteingang hinauf, fand aber keine Klingel. Nur ein altwirkender Türklopfer war zu sehen. Ob ich klopfen sollte? Doch die Frage erübrigte sich, denn genau in diesem Moment öffnete sich die riesige Doppeltür und ein ernstdreinschauender Mann mit grauen Haaren und buschigen Augenbrauen stand vor mir. Er trug einen altmodischen Anzug und wirkte wie ein Butler aus diesen ganzen Hollywoodfilmen.
„Sie müssen Miss Dermont sein. Sie werden erwartet, bitte, folgen Sie mir.“, leierte er monoton herunter und ich hatte irgendwie das Gefühl das wir nicht die besten Freunde werden würden. Zumindest nicht in diesem Leben. Dennoch schritt ich wie befohlen hinter ihm her und wurde in die Richtung geführt, aus der viele Stimmen zu mir durchdrangen. Oh, du heilige Göttin. Ich hoffte bloß, dass es nicht zu viele Leute waren, mit denen ich das essen ertragen musste. Ich hasste vornehme Abende. Und würde mein Job es nicht immer wieder erfordern auf dem Laufenden zu bleiben, dann wäre ich wahrscheinlich schon über die Jahre hinweg zu einer Einsiedlerin verkommen.
Die Stimmen wurden immer lauter und ich dachte schon, dass ich es mit mindestens zehn Personen zu tun bekommen würde, doch je näher wir diesem Raum kamen, desto deutlicher wurde mir, dass es sich nicht um die königliche Familie handelte. Mein Verdacht wurde bestätigt, als wir an einem Raum mit offener Tür vorbeikamen, in dem mindestens acht Frauen saßen. Als ich im Flur an ihnen vorbeiging, wurde es still und sie wandten sich alle mir zu. Unbehaglich ging ich so schnell wie möglich weiter und versuchte ihre Blicke zu ignorieren. Ich atmete sogar erleichtert aus, als wir endlich um eine Ecke bogen und das Getuschel das eingesetzt hatte hinter uns ließen.
Wir kamen wieder an eine Doppeltür und der Butler ging voran in den hell erleuchteten Raum.
„Master MacPhie, Miss Dermont ist eingetroffen.“, verkündete er und trat galant zurück, um mich eintreten zu lassen. Ein letztes Mal holte ich tief Luft und bereitete mich auf das schlimmste vor.
Ich stolzierte herein und sondierte erst einmal die Lage. Ein riesiger Esstisch zog sich durch den gesamten Raum, doch es war nur in der Mitte des Tisches gedeckt. Für vier Personen. Als ich den Raum betreten habe, sind zwei davon aufgestanden. Auf der einen Seite, neben dem leeren Platz, an den ich mich wohl setzen sollte, stand ein mir unbekannter Mann. Er hatte in etwa dieselbe Statur wie MacPhie, nur dass er massiger wirkte. Seine Haut glänzte in einem angenehmen Mokkafarbton und seine schwarzen Haare mit den weißen Streifen verliehen ihm ein exotisches Aussehen, weswegen der Anzug bei ihm irgendwie seltsam wirkte. Doch das wirklich außergewöhnliche an ihm waren seine Augen, die auf mich gerichtet waren und mich ebenfalls musterten. Sie waren um die Pupille herum in einem recht blassen blau, dass nach außen hin sogar noch heller zu werden schien. Es war unheimlich aber ich konnte nicht genau sagen, wo seine Iris endete und der weiße Glaskörper des Auges anfing. Dafür hätte ich wohl näher an ihn herangehen müssen. Aber ich musste zugeben, er war faszinierend.
Ihm gegenüber saß Eleonora. Ihre üppigen Haare flossen über ihre Schultern und sie sah in ihrem Kleid wenn möglich noch schöner aus, als auf dem Ball. Auch dieses Mal strahlte sie eine tiefe Trauer aus und mir fielen wieder sofort die dunklen Ringe unter ihren Augen auf. Ihr grünes Kleid war in derselben Farbe gehalten wie ihre Augen und schien diese noch zu betonen. Es schmiegte sich perfekt an ihre Rundungen, ehe es sich an der Hüfte weitete und in einem bauschenden Rock mit zierlichen Stickereien endete. Bei jedem anderen hätte dieses Kleid wohl zu viel des Guten gehabt, aber zu ihr schien es einfach perfekt zu passen. Sie blickte mich offen mit diesen tieftraurigen Augen an, sodass ich mich automatisch wieder fragte, wer oder was für diesen unerträglichen Kummer in ihren Augen verantwortlich war.
Als ich meinen Blick zu MacPhie wandern ließ, geriet mein Herzschlag ins Schleudern. Wobei ich mir versuchte einzureden, dass es NICHT an ihm lag! Er trug einen Anzug, doch während es bei dem anderen Mann irgendwie fehl am Platz gewirkt hatte, so schien es bei ihm so zu sein, wie bei Eleonora, als ob der Anzug nur für ihn allein erfunden worden war. Zumindest saß er perfekt und betonte seine breiten Schultern. Seine Haare schienen selbst bei solch grellem Licht einen leichten Blauschimmer zu haben und einzelne Strähnen fielen ihm frech ins Gesicht. Wie gerne würde ich einmal durch seine Haare streichen, dachte ich nur um mich im nächsten Moment zur Disziplin zu ermahnen. Schließlich war er es, der für meine missliche Lage überhaupt verantwortlich war.
Doch was mir jetzt den Atem stocken ließ, war weder sein seidig glänzendes Haar, noch seine gute Figur im Anzug. Was mein Herz aus dem Takt geraten ließ war der Blick, mit dem er mich bedachte. Er musterte mich ebenfalls, so wie ich ihn und in seinen Augen lag etwas, dass mir eine Gänsehaut verursachte. Hätte ich es beschreiben müssen, hätte ich gesagt, er sieht mich an wie eine Katze ihre Beute betrachtet kurz bevor sie zuschlägt. Ich konnte meinen Blick beim besten Willen nicht von dem intensiven Grün seiner Augen lösen, nicht einmal, als sich seine Pupillen zu kleinen Schlitzen zusammenzogen, wie bei einer Katze.
Ich wusste nicht wie lange ich dort so stand, doch das amüsierte Räuspern von Eleonora holte mich aus meiner Trance und ich starrte irritiert zu Boden, wobei ich mir sicher war, dass sich meine Wangen vor Verlegenheit gerötet hatten. Man war das peinlich. Ich fühlte mich gerade wie ein Teenager der von seinen Eltern nachts in flagranti auf der Couch im Wohnzimmer überrascht wird. Ein unangenehmes Gefühl, kann ich euch sagen.
„Nun, Cathleen, ich darf dich doch so nennen, nicht wahr? Bitte setz dich doch.“, meinte Eleonora mit sanfter Stimme und zeigte mit einer einladenden Geste auf den Stuhl neben dem exotischen Mann. Ich schenkte ihr ein ehrliches Lächeln und nickte auf ihre Frage hin, während ich mich setzte. Auch die beiden Herren nahmen Platz.
„Das ist übrigens Jaylan Chrome, er ist der Beta der Gestaltwandler und somit der engste Berater meines Sohnes. Aber Alexander wird dir bestimmt schon von ihm erzählt haben, nicht wahr?“, fragte sie und ich lächelte zurückhaltend.
„Nun, um ehrlich zu sein, Alexander erzählt nicht sonderlich viel über sich und seine Mitmenschen. Ich fürchte, alles was ich weiß, habe ich mir durch harte Arbeit aus ihm herausgeholt. Aber es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mister Chrome.“, erwiderte ich und schenkte ihm ein charmantes Lächeln. Dieser Jaylan grinste nur breit und antwortete: „Bitte. Nennen sie mich Jay. So nennen mich alle meine Freunde. Und da sie die Zukünftige Frau meines besten Freundes sind, behaupte ich jetzt einfach mal, das sie praktisch schon zur Familie gehören, Cathleen.“
Eines musste man ihm lassen, er war durch und durch charmant. Ob er immer so war? Oder war es nur eine perfekte Maske wie bei einer meiner Mädels, wenn wir auf Feste gingen?
„Oh, aber ja doch! Sie gehören jetzt zur Familie!“, warf Eleonora noch hinterher und irgendwie fand ich ihre Offenheit und Herzlichkeit schrecklich… nett. Da wurde einem richtig warm ums Herz. So etwas war ich definitiv nicht gewohnt und es fühlte sich auch total komisch an. Nur MacPhie blieb still.
„Vielen Dank. Und bitte, lassen Sie doch dieses >Sie< weg. Nennen sie mich Cathy. Ich denke wir können doch ruhig >Du< zueinander sagen.“, meinte ich und sie stimmte mir freudig zu.
Während der erste Gang serviert wurde, herrschte ein unangenehmes Schweigen, doch sobald das Personal weg war und nur noch wir vier zurückblieben, ergriff Eleonora das Wort und versuchte die Stimmung zu lockern.
„Weißt du, Cathy, ich bin schon neugierig. Alexander hat nicht wirklich viel über dich erzählt. Eigentlich überhaupt nichts. Ich hoffe es macht dir nichts aus, wenn ich dich mit Fragen löchere, oder?“, fragte sie mich und ich dankte im Stillen dafür, dass ich eine solch diskrete Frau mit am Tisch sitzen hatte. Sie warnte mich praktisch im Voraus über unangenehme Fragen und ich war mir sicher, sollte ich eine von ihnen nicht beantworten können so wäre sie mir gewiss nicht böse gewesen.
„Nein, ganz und gar nicht. Frag mich nur.“, erwiderte ich mit einem kleinen Lächeln und hoffte, dass es nicht allzu viele Fragen waren. Ich hatte mir ehrlich gesagt nichts zurechtgelegt als Antworten. Ich musste also spontan lügen. Aber das ist schließlich nichts, dass ich nicht hinbekommen würde.
„Hast du Familie?“, wollte sie wissen und ich überlegte kurz, ob ich mir etwas zurecht lügen sollte, doch ich entschloss mich so dicht an der Wahrheit zu bleiben, wie es eben ging.
„Meine leiblichen Eltern kannte ich nie. Ich wurde von Zieheltern großgezogen. Als ich sechzehn Jahre alt war, wurden sie von einem Abtrünnigen ermordet.“, erzählte ich ihnen mit leiser Stimme und sah mich wieder wie ich sechzehn Jahre alt war vor Augen. Es war an einem normalen Schultag gewesen. Ich kam gerade nach Hause und hatte schrecklichen Hunger, weil ich mein Pausenbrot vergessen hatte. Ich wusste noch, dass ich im Hausflur schon ein seltsames Gefühl hatte, als ich die Schuhe von Mary – meiner Ziehmutter – unordentlich in der Ecke stehen sah. Sie ließ nie etwas unordentlich zurück. Eric – mein Ziehvater – hatte sie immer aufgezogen, dass sie dem Putzwahnsinn heimgefallen wäre. Doch ich war sechzehn und dachte mir nichts dabei. Gutgelaunt hüpfte ich in die Küche, doch was ich dort sah ließ mich entsetzt stehen bleiben… Ich schüttelte kurz den Kopf, um die Bilder in meinem Kopf zu vertreiben. Ich wollte sie nicht sehen. Alles war rot… so viel Blut…
Eleonoras Stimme holte mich wieder zurück in die Realität.
„Aber meine Liebe, das ist ja furchtbar! Hatten sie denn Geschwister?“, fragte sie mitfühlend, doch ich schüttelte verneinend den Kopf. Als ich aufsah begegnete ich MacPhies Blick. Während seine Mutter mich voller Mitgefühl betrachtete, konnte ich seinen Ausdruck nicht deuten. Aber eines wusste ich: Mitgefühl war es nicht, zumindest nicht vorherrschend. Er wusste wahrscheinlich gar nicht, wie sehr ich ihm deswegen zugetan war, wenn auch nur für diesen kurzen Moment. Denn ich hasste es, wenn mich jemand bemitleidete. Ich brauchte das nicht. Das konnte ich auch selbst für mich tun.
Doch MacPhie schien eher über etwas nachzudenken, als mich zu bemitleiden.
„Was ist mit dir? Hast du Geschwister, Alexander?“, fragte ich zuckersüß, um ihn aus seiner Grübelei zu holen. Herausfordernd zog er eine Augenbraue nach oben.
„Vielleicht.“, meinte er und zuckte mit den Achseln. Noch im gleichen Moment schnaubte Eleonora ungläubig.
„Alexander!“, rügte sie ihn, wie nur eine Mutter es bei ihren Kindern konnte, „Nein, Cathy, er hat keine Geschwister. Aber unser Jaylan hier, er ist wie ein Bruder für ihn, nicht wahr, Alexander?“
MacPhie zuckte nur mürrisch mit den Schultern. Wäre die Situation nicht so grotesk, dann hätte ich wahrscheinlich gelacht. Der große Alexander MacPhie ließ sich von einer kleineren Frau rügen! Ich konnte einfach nicht anders, ich musste Eleonora einfach lieben.
Irgendwie gefiel es mir nicht, dass MacPhie so schweigsam war. Ich mochte es einfach schon vom Grundsatz her nicht, dass man mir die kalte Schulter zeigte. Das lag ganz bestimmt nicht daran, dass ER es zufälligerweise war, der es tat. Naja… vielleicht ein wenig, aber sollte man zu seiner Verlobten nicht netter sein?
„Sag mir, Cathy, arbeitest du? Ich interessiere mich ja unheimlich für diese ganzen neumodischen Berufe, die es heutzutage gibt, mit all diesen komischen Techniken an diesen Computern.“, gestand Eleonora und ich hätte fast gegrinst. Es war als hätte mich meine Göttin erhört. Das war meine Chance MacPhie eins auszuwischen. Auf meine Antwort musste er schließlich antworten… ich wappnete mich innerlich gegen das, was jetzt kommen würde, denn mein Image würde jetzt ganz schön leiden…
Ich schenkte Eleonora ein breites, schelmisches Grinsen. Und schon in diesem Moment kniff MacPhie misstrauisch die Augen zusammen. Oh ja… ich sagte ihm ja, dass er diesen Antrag bereuen würde.
„Tut mir Leid, Eleonora, aber mein Beruf ist ziemlich alt. Wahrscheinlich der Älteste von allen. Ich arbeite in einem kleinen Bordell nicht weit von hier.“, meinte ich lässig und wenn ich das in einer Sitzung vor meinen Mädels in diesem Ton gesagt hätte, dann würde wahrscheinlich sogar Robin mir das glauben. Ich sollte wirklich Schauspielerin werden.
Eleonoras Gesichtszüge entgleisten, Jaylan, der gerade etwas am Trinken war, spuckte den Inhalt des Glases gleich wieder über den ganzen Tisch und hustete was das Zeug hielt. MacPhie hingegen starrte mich zuerst ungläubig an, dann jedoch sprühten seine Augen vor Zorn. Seine Pupillen zogen sich zusammen und seine Reiszähne stachen hervor. Oh ja. Er war definitiv kurz davor komplett auszurasten. Ich korrigierte meine Meinung. Irgendwie fand ich solche Festessen doch ganz lustig.

Kapitel 11 - Kommen wir zur Sache...

Nach einem entsetzten Schweigen hatte Eleonora sich wieder gefasst.
„Das war ein Scherz, oder nicht?“, fragte sie unsicher und mein Grinsen wurde noch breiter.
„Aber nein, Eleonora. Was denkst du denn, wie Alexander und ich uns kennengelernt haben?“, fragte ich zuckersüß und tat ganz auf unschuldiges kleines Mädchen. Während sie entsetzt ihren Sohn anstarrte, bekam Jaylan einen Lachanfall.
Als ich MacPhies Blick erwiderte, stellten sich mir die Nackenhaare hoch. Oh ja. Er war definitiv sauer auf mich. Seine Augen blitzten praktisch funken und ich wusste, dass er wahrscheinlich gerade daran dachte mich einfach irgendwo in einer dunklen Gasse abzustechen. Verdenken konnte man es dem armen Kerl ja nicht. Was mich irgendwie zu der Frage brachte, wie lange er es noch aushielt, ohne auf mich loszugehen.
„Ich dachte mein Sohn hätte sie auf einem der Bälle kennengelernt!“, quiekte Eleonora schockiert und ich tat ebenfalls als wäre ich betroffen.
„Was? Soll das etwa heißen, er hat ihnen etwas Falsches erzählt? Also wirklich, Alexander!“, wandte ich mich an ihn, „wie kannst du nur? Wenn ich für dich strippe bin ich dir gut genug, aber vor deiner Familie verleugnest du mich? Also das ist ja wohl die Höhe!“, warf ich ihm gespielt vor und gestikulierte wild mit den Händen – so wie man eben ein erfolgreiches Theater darstellte.
Plötzlich bewegte er sich so schnell, dass ich es als Mensch niemals wahrgenommen hätte. Er stand ruckartig von seinem Stuhl auf und knallte wütend seine Handflächen auf den Tisch. Der Stuhl kam mit lautem Gepolter auf dem Boden auf, doch das interessierte mich im Moment herzlich wenig. MacPhie knurrte mich an und ich konnte deutlich seine Reißzähne sehen, die er vor lauter Wut ausgefahren hatte.
Ich hätte ihn gern noch ein wenig mehr geärgert und einen abwertenden Kommentar darüber losgelassen, dass er sich nicht beherrschen konnte, aber dafür hatte ich keine Zeit. Blitzschnell packte er mein Handgelenk und zerrte mich hinter sich her in Richtung Flur, aus dem ich gekommen war. Ich hatte gerade noch Zeit nach meiner Handtasche zu greifen, ehe er mich fortzog.
„Entschuldigt uns kurz. Wir müssen da was klären…“, meinte er knurrend über seine Schulter hinweg als Erklärung zu seiner Mutter und Jaylan.
Ich musste zugeben das ganze Geknurre klang bei ihm richtig sexy. Oh man. Was zur Hölle dachte ich da eigentlich? Ich sollte mich wirklich dringend mal wieder flachlegen lassen… aber nicht von MacPhie!
Er schleppte mich eine breite Treppe nach oben. Oder naja… er versuchte es zumindest, denn ich konnte nicht richtig mit ihm Schritt halten, da mein Kleid mir nicht gerade viel Spielraum ließ.
„Hey! Könntest du vielleicht etwas Rücksicht nehmen? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, mein Kleid ist sehr eng geschnitten. Mir fällt es etwas schwer mit deinen riesigen Schritten mitzuhalten!“, schnauzte ich ihn an und er kam abrupt zum Stehen, sodass ich gegen seinen Rücken knallte.
Er dreht sich um, packte mich und warf mich einfach über seine Schulter – wie ein Sack Kartoffeln.
„Hey! Spinnst du?! Lass mich sofort runter, du Neandertaler!“, quiekte ich eine Oktave höher als normalerweise. Doch er ignorierte mich und ging einfach weiter. Ich trommelte wütend mit den Fäusten auf seinen Rücken ein, doch er schien es überhaupt nicht zu bemerken. Selbst als ich mit meiner Tasche auf ihn eindrosch, ignorierte er mich. Das einzig Positive an der Sache war, dass ich einen erstklassigen Blick auf seinen Knackarsch hatte.
Scheiße! Ich musste mich zusammenreißen! Nachher würde ich ihm wahrscheinlich noch am Hintern rumgrapschen. Wie peinlich wäre das denn?!
Wir kamen in einem großen Raum an, von dem ich ausging, dass es sich um sein Schlafgemach handeln musste. Im Vergleich zum Rest der Villa war dieses Zimmer eher schlicht gehalten und wirkte fast… leer. Hier hingen weder wertvolle Gemälde noch irgendwelche anderen teuren Accessoires wie im Rest des Gebäudes. Die Wand war in einem schlichten, kalten Blau gehalten. Der Boden bestand aus weißem Laminat und die paar Möbel, die hier standen, waren aus hellem Holz. In der Wand gegenüber der Tür waren drei riesige Fenster, die von der Decke bis zum Boden reichten. Sie gaben den Blick auf die gerade untergehende Sonne frei, weshalb das Zimmer auch in einem angenehmen Orangeton erstrahlte.
Abgesehen von der Tür, durch die wir gerade gekommen waren, gab es noch zwei weitere – eine links und eine rechts. Doch beide waren geschlossen.
Neben der linken Tür stand eine kleine Kommode mit einem Spiegel darüber. Rechts befand sich ein kleines Sofa mit Beistelltischchen. Doch was die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog, war das Bett in der Mitte des Raumes vor der Fensterfront. Es war rund und schien vor lauter Kissen überzuquellen – FLAUSCHIGE Kissen. Die Bettdecke war in Weiß gehalten, aber die Kissen waren alle bunt. In den verschiedensten Farben und Mustern. Und das Bett schien mindestens einen Durchmesser von vier Metern zu haben. Kurzum: es war ein flauschiges Paradies.
Ich wusste nicht wie lange ich das Bett verträumt anstarrte, doch als MacPhie sich hinter mir räusperte, fuhr ich ertappt zusammen und drehte mich zu ihm um. Ich hoffte, dass ich nicht rot wurde.
Mit einer schnellen Bewegung warf er die Tür hinter sich zu, sodass ich bei dem lauten Knall erschrocken zusammenfuhr. Oh man! Er war definitiv stocksauer!
„Hast du sie eigentlich noch alle?!“, fuhr er mich knurrend an und kam drohend einen Schritt näher. Ich hatte mein rechtes Bein schon instinktiv nach hinten geschoben, um einen Schritt zurückzuweichen, ehe ich mich zusammenriss und trotzig stehen blieb. Um Himmels Willen! Wollte ich etwa wirklich gerade einen Schritt zurücktreten?! ICH? Scheiße, ich brauchte dringend mal Urlaub.
„Bordell?! Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?!“, setzte er hinzu und so langsam wurde auch ich wütend. Wenn das so weiterging, dann würde ICH bald die Beherrschung verlieren, er sollte sich also nicht so anstellen. Es war nie gut, wenn eine Eisblume die Beherrschung verlor.
„Was Ich mir dabei gedacht habe?! Hallo!? WER hat denn mit dieser beschissenen Verlobung angefangen? Wenn DU mich nicht zum Familienessen eingeladen hättest, dann wäre ich ja auch niemals in Versuchung geraten das Ganze zu erzählen, du Vollidiot! Also schieb es diesmal ja nicht auf mich!“, konterte ich, warf meine Tasche auf den Boden, damit ich die Hände frei hatte und wurde mit jedem Wort lauter. Denn jetzt mal ehrlich, war es nicht vorauszusehen gewesen, dass ich diesen Abend als Chance betrachten würde, einen Schlag unter die Gürtellinie zu setzen? Da hätte er ruhig mal mitdenken können. Meine Hände hatte ich an der Seite zu Fäusten geballt, damit ich MacPhie keine reinhaute, denn bei meiner Göttin, ich war kurz davor.
Ein gefährliches und leises Knurren erfüllte den Raum. Aus seinen Augen sprach das Raubtier, sie hatten nichts Menschliches mehr an sich. Das Licht der untergehenden Sonne ließ deutlich seine verlängerten Reißzähne aufblitzen. Auch seine Hände hingen an den Seiten zu Fäusten geballt herunter und seine Arme waren angespannt. So als verspürte er genau denselben Drang mich zu erwürgen, wie ich ihn. Nun, verübeln konnte man es ihm wohl nicht, oder?
„Wie bitte? Willst du mich eigentlich komplett verarschen?!“, schrie er plötzlich und ich zuckte zusammen, während ich doch noch einen Schritt nach hinten zurückwich. Doch er schloss die zwischen uns entstandene Lücke sofort wieder, indem er selbst wieder einen Schritt nach vorne ging.
„Dieser Bordellscheiß, den du vorhin unten abgezogen hast, hat doch überhaupt nichts mit der Verlobung zu tun! Und das Familienessen hab ich mir bestimmt nicht ausgesucht!“, schrie er mich an und rang verzweifelt mit den Händen.
„Oh bitte! Tu doch nicht so! Wir wussten beide, dass ich bestimmt nicht klein beigeben würde und jede Chance für den nächsten Spielzug nutzen würde! Und als deine Mutter mich so nett nach meiner Berufung gefragt hat, kam mir diese Gelegenheit gerade recht.“, antwortete ich und versuchte durch eine etwas leisere und ruhigere Stimme die Zimmerlautstärke zu erreichen. Schließlich konnte man ja nie wissen, wie gut das Gehör der restlichen Familienmitglieder war. Das letzte was ich jetzt gebrauchen konnte, war, dass sie herausfanden, dass das Ganze nur eine Farce war. Ein ausgedachtes Spiel, das zu einem Kräftemessen zwischen MacPhie und mir geführt hatte. Zumindest im Übertragenen Sinne.
„Das hier ist kein Spiel mehr, Cathleen.“, flüsterte er ernsthaft und ich zog provokativ eine Augenbraue nach oben.
„Ach nein?“, gab ich leise zurück und starrte in seine grünen Augen, die von innen heraus zu leuchten schienen, so wie bei einer Katze. Ich wusste nicht, wie lange wir uns so in die Augen sahen, geschweige denn, wer von uns sich als erstes bewegt hatte, doch als ich wieder blinzelte, war er plötzlich direkt vor mir. Nur wenige Millimeter trennten seinen Oberkörper noch von meinem. Als diese Information mein Gehirn erreichte, schrie der vernünftige Teil in mir, dass ich gefälligst auf Abstand gehen sollte. Doch ein anderer Teil wollte, dass er mir sogar noch näher kam. Und wie es schien, war das der Mächtigere, denn ich blieb wie angewurzelt stehen und bewegte mich nicht vom Fleck.
Mit einem Knurren packte er mich an der Taille und zog mich an sich. Seine Lippen trafen auf meine und ich stieß ein überraschtes Keuchen aus. Es war, als würde sich mein Gehirn in die Sommerferien verabschieden und die Vernunft gleich im Handgepäck mitnehmen. Meine Arme legten sich wie von selbst um seinen Nacken und zogen ihn noch enger an mich. Seine Zunge schien jeden Winkel meines Mundes zu erkunden und seine Hände fuhren rastlos an meinen Seiten entlang. Selbst durch den Stoff des Kleides spürte ich die Wärme, die er ausstrahlte.
In einem kurzen Moment der Klarheit versuchte ich nachzudenken. Das hier sollte definitiv nicht passieren. Wir mochten uns nicht einmal. Ich dürfte das hier gar nicht gut finden. Und dennoch tat ich es. Ich mochte die Art, wie er mir die Kleider praktisch schon vom Leib riss. Ich mochte es, wie er knurrte, wenn ich ihn berührte. Und ich mochte es, wie er seine Hand besitzergreifend in meinen Nacken legte.
Aber durfte ich deswegen all das hier zulassen?
Schon im nächsten Moment war ich überhaupt nicht mehr in der Lage dazu, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen, denn ich lag auf dem Rücken in dem runden Bett zwischen bunten, flauschigen Kissen und starrte direkt in zwei glühend grüne Augen, die das Licht der untergehenden Sonne reflektierten. MacPhie kauerte wie eine Raubkatze über mir und betrachtete mich. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, dass ich komplett nackt unter ihm lag. Doch bevor ich auch nur die Gelegenheit dazu hatte, um verlegen zu sein, eroberte sein Mund den meinen und seine Hände schienen überall gleichzeitig zu sein.
Ach, was soll’s… Wieso sollte ich das Ganze eigentlich nicht genießen? Schließlich waren wir doch nur dabei Sex zu haben, nicht wahr? Nicht mehr und nicht weniger.
Er arbeitete sich mit kleinen Küssen immer weiter nach unten und drückte meine Beine weit auseinander. Dann fing er an zu lecken. Oh Gott und wie. In diesem Moment war ich so weit, dass ich nicht mehr an all die anderen Gestaltwandlerohren in diesem Haus dachte. Ich schrie vor Lust und scherte mich nicht im Geringsten darum, wer es hörte. Er leckte so gründlich wie eine Katze und wenn ich auch nicht ganz bei mir war, so hätte ich schwören können, dass er geschnurrt hatte.
„Bitte“, flehte ich atemlos und versuchte ihn nach oben zu ziehen.
„Was denn, Kätzchen?“, fragte er mit einem katzenhaften Grinsen. Ich knurrte nur und er lachte. Aber er tat was ich verlangte und kam nach oben. Er küsste mich wieder und drang gleichzeitig mit einem Stoß in mich ein. Ich stöhnte auf, denn es fühlte sich so gut an. Das Knurren, das er ausstieß, drang wellenartig durch meinen ganzen Körper und steigerte die Lust nur noch.
Langsam und genussvoll stieß er immer wieder zu, doch ich wand mich wimmernd unter ihm – es reichte nicht. Ich wollte mehr.
„Härter“, knurrte ich und ließ meine Hände über seinen gesamten Körper wandern. Und Junge, Junge… was für einen Körper er hatte. Es gab kein Gramm Fett an ihm und alles schien aus Muskeln zu bestehen. Aber dennoch schien er eher athletisch gebaut zu sein, nicht ein einfacher Muskelprotz. Wie eine Katze – geschmeidig, stark und anmutig.
Mit einem sexy Knurren stieß er härter zu und änderte seinen Rhythmus, sodass er schneller wurde. Ich stöhnte und schlang die Beine um seine Hüften, um mich seinem neuen Rhythmus anzupassen. Ich war so kurz davor. Alexander ließ seinen Mund seitlich an meinem Hals hinuntergleiten und knabberte sanft an der empfindlichen Stelle, wo mein Hals in die Schulter überging.
„Meins.“, knurrte er und biss zu.
„Alexander!“, schrie ich und kam heftig. Für einen kurzen Moment wurde es sogar schwarz um mich herum, aber hinter meinen Augenliedern leuchteten Blitze auf. Ich spürte, wie auch Alexander kam und er meinen Namen stöhnte.
Alexander rollte sich herum und zog mich an sich. Keuchend lag ich neben ihm und lauschte seinem langsam ruhiger werdenden Herzschlag. Für einen kurzen Moment, da verspürte ich so etwas wie Frieden. Genau in diesem Moment, war ich weder Anführerin einer geheimen Kaste, noch spielte ich gefährliche Spielchen mit dem Feind. Nein.
In diesem Moment war ich einfach nur Cathy.
Als er mir einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe drückte, überkam mich kurz so etwas wie Trauer. Denn ich wusste, was er getan hatte. Die Stelle oberhalb meiner Schulter brannte ein wenig, wie um das Ganze noch einmal deutlich hervorzuheben. Alexander hatte mich gerade eben als seine Gefährtin markiert. Verzweifelt schloss ich die Augen und vergrub mein Gesicht an seiner Brust.
Scheiße. Wieso eigentlich immer ich?!
Ich wusste, dass Gestaltwandler nur bei ihrer wahren Gefährtin dazu in der Lage waren ihnen ihr Zeichen aufzudrücken. Denn in diesem Fall ist es das Tier in ihnen, dass die Kontrolle verliert und dieses bindet sich nur einmal in ihrem Leben. Dabei ist es völlig egal, ob es sich bei dem Tier um eine Raubkatze, einen Wolf oder etwas anderes handelte. Gestaltwandler paarten sich nur mit einer einzigen Gefährtin, und zwar die, die das Tier in ihnen auserwählt.
Und Alexanders Tier – wobei ich immer noch behaupte es ist eine Raubkatze, auch wenn ich mir nicht sicher bin, welche – hatte ausgerechnet MICH ausgewählt. Das machte die ganze Situation etwas komplizierter.
Ich konnte schließlich unmöglich mit dem König der Gestaltwandler zusammen sein, wenn ich die Anführerin der blauen Kaste war, oder? Das könnte früher oder später zu ernsthaften Problemen führen.
Außerdem war ich eine Eisblume. Ich könnte Alexander niemals nahe genug an mich heranlassen, ohne dass er es herausfinden würde. Und das durfte auf keinen Fall geschehen. Niemand außer meinen Mädels wusste es und das sollte auch besser so bleiben, wenn ich das Machtgefüge der Welt beibehalten wollte.
„Worüber denkst du so angestrengt nach, Kätzchen?“, flüsterte Alexander mir fragend ins Ohr und schnupperte dann an meinem Hals. Instinktiv legte ich den Kopf weiter nach hinten, damit er besser herankam. Er schnurrte und fing damit an sanft an meinem Hals zu knabbern.
„Weißt du, eigentlich sollte ich dich hassen und nicht mit dir schlafen.“, meinte ich und ließ eine Hand in sein dunkles Haar wandern. Es war so weich und doch widerspenstig. Er hielt mitten in der Bewegung inne und drehte mein Gesicht so, dass ich ihm in die Augen schauen musste. Er blickte mir eindringlich in die Augen und legte zärtlich eine Hand an meine Wange.
„Hasst du mich denn?“, fragte er in einem nicht zu deutenden Ton und ich dachte darüber nach. Doch eigentlich kannte ich die Antwort schon längst, wenn ich ehrlich war.
„Nein.“, flüsterte ich, „meine Göttin steh mir bei, aber ich hasse dich nicht. Aber das sollte ich eigentlich tun.“
„Wieso?“, wollte er wissen.
„Weil du mein Feind bist.“, erwiderte ich und sein Blick wurde nachdenklich.
„Aber ich bin doch nicht dein Feind. Vampire sind natürliche Feinde meines Volkes. Genauso wie Abtrünnige. Aber du? Du bist bestimmt nicht mein Feind, Cathy.“, meinte er und strich mir liebevoll mit dem Daumen über die Lippen.
Ich seufzte resigniert. Wenn er nur wüsste, dachte ich mir. Schließlich machte er doch gerade jagt auf meine Kaste…
Ich setzte mich abrupt auf und kramte neben dem Bett auf dem Boden nach meiner Handtasche. Als ich sie fand, wühlte ich hektisch darin herum und fand nach langem Suchen mein Handy und sah nach, wie viel Uhr es war.
22:24 Uhr.
Scheiße!!! Um 23 Uhr sollte ich doch Robin, Gill und Dani vor der Mystic Arts Academy treffen. Das war von hier aus gut eine halbe Stunde! Fluchend warf ich die Tasche zurück auf den Boden und sammelte meine Klamotten ein.
„Alles in Ordnung?“, fragte Alexander verwirrt und ich schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
„Es tut mir wirklich furchtbar leid, aber ich muss gehen… äh… kann ich vielleicht kurz dein Badezimmer benutzen?“, fragte ich hastig und er deutete auf die Tür an der rechten Seite. Hastig flüchtete ich hinein und verschloss die Tür hinter mir. Ich wusste, dass ich so oder so zu spät kommen würde, also nahm ich mir noch die Zeit, um kurz unter die Dusche zu springen – eine ziemlich große Dusche, wie ich bemerken musste. Danach zog ich mir schnell wieder meine Kleider über, wobei ich mir nicht die Zeit dazu nahm, um meine Haare wieder zu richten.
Ich sollte den anderen gleich eine Nachricht schicken, dass ich mich ein kleines bisschen verspäten würde… Eilig verließ ich das Badezimmer wieder und stieß direkt vor der Tür mit Alexander zusammen. Erschrocken taumelte ich einen Schritt zurück und sah ihn an, um ihn zu fragen, ob er sie noch alle beisammen hatte, dass er mich so erschreckte. Doch sein Gesichtsausdruck ließ mich inne halten. Seine Augen funkelten vor Zorn und seine Reißzähne blitzten im Mondlicht, welches durch die Fenster fiel. Doch als er sprach, klang seine Stimme ruhig – viel zu ruhig.
„Kannst du mir erklären, was das hier zu bedeuten hat?“, fragte er mich und hielt mit der rechten Hand eine Maske nach oben. Aber nicht nur irgendeine Maske… sondern meine blaue Maske, die das Markenzeichen meiner Kaste war.
Scheiße. JETZT hatte ich ein Problem.

Kapitel 12 – Schlechte Manieren im Gerichtssaal

Nachdenklich starrte ich an die gegenüberliegende Wand und sah einer Maus dabei zu, wie sie das Essenstablett plünderte, das ich ihr zugeschoben hatte. Hunger hatte ich sowieso keinen, da konnte ich das Essen auch an die arme Maus weitergeben, die mich so flehentlich angeschaut hatte. Die Wand bestand aus grob gehauenem Stein und wies schon mehrere tiefe Risse auf. Genauso wie die in meinem Rücken. Dennoch konnte ich die Magie spüren, die in den Mauern um mich herum eingelassen war. Ich saß in einer Zelle der goldenen Kaste und starrte nun schon seit gefühlten zehn Stunden vor mich hin. Meine Hände waren mit einfachen Handschellen gefesselt, aber um meinen rechten Fuß befand sich eine magische Kette, die in der Wand hinter mir verankert war.
Also diesmal hatte ich echt Mist gebaut. Ohne Hilfe würde selbst ich nicht hier herauskommen. Wegen der Magie in den Wänden, war ich jedoch komplett von der Außenwelt isoliert. Selbst die Eisenstangen zu meiner Rechten summten vor magischer Energie und ich wusste, dass es sinnlos sein würde, sie aufbrechen zu wollen. Ich musste eine andere Möglichkeit finden. Aber egal, wie oft ich meine jetzige Situation auch drehte und wendete… ich sah keinen Weg hier raus.
Und so langsam machte sich ein Panikgefühl in mir breit. Wir Eisblumen mochten keine engen Räume, geschweige denn Gefängnisse. Wie hingen sehr an unserer Freiheit. Je länger man eine Eisblume ihrer Freiheit beraubte, desto wahnsinniger wurde sie. Und eine wahnsinnige Eisblume war unberechenbar. Sie tötete und spielte mit ihren Opfern, bis sie selbst getötet wurde. Genau das war das Schlimme an einer Eisblume.
Wir waren in der Lage unsere Opfer so lange am Leben zu erhalten, wie wir wollten, ohne dass sie das Bewusstsein verloren. Zumindest eine wahnsinnige Eisblume.
Ich selbst war zum Beispiel nicht dazu in der Lage, denn irgendwann trifft einen das Echo der Schmerzen und ich bin dazu gezwungen zu töten oder mich zurückzuziehen. Was ein Grund dafür war, dass ich mir eine Karriere als Foltermeisterin wohl abschminken konnte, dachte ich sarkastisch.
Also langsam aber sicher gelangte meine Stimmung an den Nullpunkt. Meine Handgelenke taten mir weh, weil ich versucht hatte die Handschellen loszuwerden und so lange mit der Haut dagegen gescheuert war, bis sie bluteten. Ich wusste, ich hatte meine Kaste enttäuscht und ich saß in einer beschissenen Zelle der goldenen Kaste fest. Und je länger ich auf die Wände starrte, desto kleiner wurde der Raum und ich musste mühsam gegen eine Panikattacke ankämpfen. Mein Kopf fing an zu schmerzen. Plötzlich war ich unendlich wütend auf Alexander.
Wie lange wollte er mich denn noch hier unten versauern lassen?! Ich wusste, dass er früher oder später jemanden schicken würde, der mich zum Gerichtssaal der Gestaltwandler führen würde. Ich würde vom hohen Rat und dem König – welch Ironie – selbst befragt und anschließend bestraft, vielleicht – wahrscheinlich trifft es eher – sogar hingerichtet werden.
Das einzig Positive an der Sache war, dass Gestaltwandler nicht über Eisblumen richten durften. Nur andere Eisblumen konnten und durften das. So war es schon immer gewesen. Aber ich würde mich wohl outen müssen… oder ich ließ mich hinrichten. Meine einzige Angst bei Lösung Nummer eins war, dass die Eisblumen Interesse an der blauen Kaste hatten. Dann hätte ich ein ernstes Problem. Denn gegen die letzten drei Eisblumen zusammen hätte ich keine Chance. Ich wusste, dass ich ihrer Folter nicht standhalten würde.
Aber dennoch gab es eine große Wahrscheinlichkeit, dass es die drei überhaupt nicht kümmerte, ob es die blaue Kaste nun gab oder nicht. Das war bei meiner Rasse oft so. Uns scherte eigentlich nicht, was politisch um uns herum vorging, es sei denn, wir selbst wurden bedroht.
Ist die Wand gerade noch etwas näher auf mich zugekommen?! Wo ist die Maus hin? Na toll, jetzt hat sie mich auch noch alleine gelassen…
 Plötzlich vernahm ich Schritte und ein Klirren von mehreren Schlüsseln. Kurz darauf kamen drei Wachposten mit goldener Maske auf meine Zelle zu und ich seufzte kurz. Ob vor Erleichterung, weil ich wusste, dass ich nun endlich hier herauskommen würde oder ob vor Resignation, weil ich mich wahrscheinlich outen musste, wusste ich nicht. Es war ein Laut irgendwo dazwischen, schätzte ich.
Ich starrte wieder auf den Boden und schloss die Augen um mich kurz zu sammeln. Okay, niemand hat je behauptet, dass es einfach sein würde der blauen Kaste anzugehören, geschweige denn ihre Anführerin zu sein. Außerdem hatte ich doch schon viel Schlimmeres überstanden, oder nicht? Dann hat mich eben mein Liebhaber in eine kleine Zelle gesperrt und den Haien - in diesem Fall wohl eher den Gestaltwandlern - zum Fraß vorgeworfen, na und? Es gab schließlich Schlimmeres, oder? Auf die Schnelle fiel mir zwar gerade kein Beispiel ein, aber ich war mir sicher, dass ich etwas finden würde, wenn ich angestrengt darüber nachdachte.
Quietschend öffnete sich die Zellentür und ich hob ruckartig meinen Kopf – anscheinend zu schnell, denn die beiden Wachen rechts und links richteten sofort zwei Schwerter auf mich. Amüsiert hob ich eine Augenbraue und rasselte zur Verdeutlichung mit meinem neuen Fußkettchen und hielt meine gefesselten Arme ein Stück weiter nach oben.
„Das reicht! Dennis, Akil, nehmt eure Waffen wieder herunter! Diese Handschellen sind magieverstärkt. Diese Frau stellt keine Bedrohung dar.“, meinte der Typ in der Mitte und ich grinste innerlich. Ich versuchte so unschuldig wie möglich auszusehen. Die beiden Wachen nahmen zögernd ihre Waffen wieder herunter und traten einen Schritt zurück, sodass der Mittlere - der Anführer anscheinend – auf mich zugehen und mir due Fußfessel mit einem Schlüssel entfernen konnte. Nachdrücklich, wenn auch nicht grob, zog er mich am Ellbogen auf die Füße und stieß mich aus der Zelle.
Sofort fühlte ich mich, als könnte ich seit Jahren zum ersten Mal wieder frei atmen. Die Wände, welche vorher immer näher auf mich zugekommen waren, rutschten wieder an ihren alten Platz und mein Sichtfeld erweiterte sich, wenn ich auch nur geringere Besserung hatte. Denn jetzt befand ich mich auf einem schmalen Flur, den ich bis zum anderen Ende durchging, ohne dass einer der Wächter mich darum hätte bitten müssen. Dennoch hörte ich ihre Schritte dicht hinter mir. Darauf zu achten fiel mir nicht schwer. Als Anführerin der blauen Kaste musste ich ständig auf der Hut sein, darum war es für mich normal auf eventuelle Gegner zu achten.
Ich stieg eine Treppe nach oben und gelangte wiederum in einen weiteren Flur, wobei dieser hier breiter und mit Teppich auf dem Boden ausgelegt war. Aber auch hier gab es keine Fenster. Da ich nicht wusste, wohin – denn bei meiner Einkerkerung hatte man mir die Augen verbunden – blieb ich stehen. Wie aufs Stichwort überholte der Anführer mich und ging voran. Ohne auf den Schubs zu achten, den einer der Wächter hinter mir meinem Rücken versetzte, folgte ich ihm. Denn im Gegensatz zu den anderen beiden schien er gelassener und ruhiger zu sein. Dass er definitiv mehr Grips hatte als die anderen beiden musste ich wohl nicht erwähnen, oder?
Vor einer großen, reich verzierten Doppeltür hielten wir an und – warteten. Der Anführer stand genau vor mir und die beiden anderen Wächter hatten sich jeweils rechts und links hinter mir postiert. Ich wusste nicht, wie lange ich so zwischen diesen Knalltüten stand, aber gerade in dem Moment, als ich nachfragen wollte, auf was verdammt nochmal wir denn warten, nahm der Anführer die Schultern noch mehr zurück und stieß die Tür auf.
Helles Licht traf auf meine Augen, die ich kurz schließen musste, da ich immer noch dieses gedämpfte Fackellicht aus der Zelle und dem Flur gewohnt war. Einer der Wächter hinter mir schubste mich erneut und diesmal konnte ich mir ein kurzes, aggressives Knurren nicht verkneifen. Aber ich fing mich schnell wieder und folgte gehorsam dem Anführer weiter in den riesigen Saal hinein.
Es war ein Gerichtssaal, wenn auch größer, als ich es von Gills öfteren „Fast-Verhaftungen“ her kannte. Der Boden war aus dunklem Holz und die Wände karmesinrot gehalten. In der Mitte stand eine kleine Sitzbank mit Tisch, an den ich geführt wurde. Mir gegenüber saßen in einem Halbkreis sechs unbekannte Leute, aber ich wusste, sie waren allesamt Gestaltwandler. Der siebte Platz, der sich genau in der Mitte und somit auch genau vor mir befand, war leer.
Zu meiner rechten befanden sich noch zwei Stühle mit Einzelbänken davor und zu meiner linken ebenfalls. Hinter mir waren mehrere Sitzbänke für Publikum um die Tür aus der ich hereinkam verteilt. Sie waren voll besetzt mit Gestaltwandlern, aber ich kannte keinen einzigen von ihnen. Ich setzte mich nach Anweisung eines Mannes mir gegenüber brav hin und wartete – jedoch nicht lange.
Die Tür hinter mir öffnete sich erneut und alle Anwesenden erhoben sich respektvoll – ich mich nicht. Wer auch immer als mein Richter fungieren würde sollte doch gleich schon einen passenden Eindruck von mir erhalten.
Ein Mann mit dunkelbraunen, schulterlangen Locken betrat in einer feinen Richterrobe den Saal. In seiner rechten hielt er irgendwelchen Papierkram, mit der linken Hand lockerte er zuerst seinen Kragen, ehe er mit selbstsicheren Schritten zu dem leeren Platz mir gegenüberschritt. Dann betrat Eleonora den Raum. Sie trug ein elegantes, enganliegendes, schwarzes Kleid, das ihr bis knapp unter die Knie reichte. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Knoten nach hinten gedreht, was ihre feinen Gesichtszüge hervorragend betonte. Aber da war auch wieder diese Traurigkeit. Es dauerte ein paar Atemzüge bis ich sie so weit abschütteln konnte, dass ich mich auf die Person hinter ihr konzentrieren konnte.
Es war Alexander. Er trug einen Anzug in schwarz-weiß, was bei jedem anderen wohl total lächerlich ausgesehen hätte, doch bei ihm kam es eher… lässig rüber. Doch der Blick, den er mir zuwarf war alles andere als freundlich. Ich konnte die Verachtung sehen, die er empfand. Ohne Zweifel schien er unser Spielchen zu bereuen.
Ich drehte den Kopf nach vorne, damit er den Schmerz in meinem Gesicht nicht sehen konnte. Ich merkte sehr wohl, dass meine Gesichtszüge zu entgleisen drohten. Scheiße. Dieser Blick von ihm tat mir weh. Konnte ein Herz deswegen überhaupt schmerzen? Ich unterdrückte den Drang mit meiner Hand über meine Brust zu reiben, genau an der Stelle, an der es wehtat. Ich registrierte, dass Eleonora sich zu meiner linken auf einen der Stühle niederließ und neben ihr ein freundlich wirkender, junger Mann, der anscheinend als Wachposten fungierte. Sollte ich mich jetzt geehrt fühlen, weil sie dachten, ich könnte es in einem gesicherten Raum schaffen, die königliche Familie anzugreifen? Oder sollte ich mich gekränkt fühlen, weil ich zuvor noch mit ihnen zu Abend gegessen hatte?
Aus den Augenwinkeln konnte ich noch eine Person wahrnehmen, die den Raum betrat und die Doppeltüren hinter sich schloss. Als ich den Kopf drehte, sah ich Jaylan, wobei ich Alexanders Blick auswich. Dieser hatte sich neben mir in der Mitte des Raumes postiert. Ich konnte seine Blicke praktisch auf mir fühlen. Doch ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, was die anderen im Raum taten. Jaylan ging zu den Sitzbänken zu meiner rechten, allerdings ohne Wachschutz.
Als der Mann mir gegenüber – ich schloss einfach mal aus seinem Verhalten, dass er der Richter war – mit einem kleinen Hammer auf den Tisch schlug verstummte jedes noch so kleine Geräusch im Saal und alle wandten sich ihm zu.
„Wir alle haben uns heute zusammengefunden, um über einen Fall absoluter Priorität zu sprechen. Die Angeklagte, Cathleen Dermont, soll als Mitglied der sogenannten blauen Kaste mehrere Angehörige der goldenen Kaste, unsere Brüder, ermordet haben. Hinzu kommt Morddrohung gegen die königliche Familie und alle Gestaltwandler durch Zusammenarbeit einer weiteren illegalen Kaste, der sogenannten silbernen Kaste. Und zum Schluss auch noch Täuschung der königlichen Familie, indem sie sich durch eine Verlobung dort einschleichen konnte.“, eröffnete der Richter sehr direkt die Runde und ich war kurz davor zu lachen. ICH hatte mich also bei der königlichen Familie eingeschlichen?! Wer hatte mir denn einen beschissenen Antrag in aller Öffentlichkeit gemacht?
„Miss Dermont, sie haben hier eine allerletzte Chance, ihre Verweigerung zur Aussage ihrer Person zu revidieren. Also frage ich sie noch einmal: Ist Cathleen Dermont ihr richtiger Name? Wie alt sind sie? Zu welcher Rasse gehören sie? Sie dürften das Prozedere doch schon kennen, nicht wahr?“, wandte er sich an mich und ich triumphierte innerlich.
Denn diese Idioten konnten sich dumm und dämlich suchen, aber es gab so gut wie keine Einträge über mich in irgendeiner Datenbank. Dafür hatte Tammy gesorgt. Und das nicht nur bei mir, sondern auch bei allen anderen Mitgliedern meiner Kaste. Nur die höheren Gesellschaftskreise, die meine Eltern schon kannten, wussten, dass ich überhaupt existierte und ihnen waren auch die Einladungen zu irgendwelchen festlichen Aktivitäten zu verdanken.
Ich verschränkte die Arme gelassen vor meiner Brust und setzte ein spöttisches Lächeln auf.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht ganz, was genau sie von mir wollen, Herr Richter. In manchen dieser Punkte, derentwegen sie mich angeklagt und in einer kleinen, schäbigen Zelle haben sitzen lassen, welche unter gar keinen Umständen als gerechtfertigt gelten kann, bin ich völlig unschuldig.“, warf ich ein, ohne auf seine Aufforderung mich vorzustellen näher einzugehen. Sollte er doch gleich schon einmal wissen, woran er war. Denn ich würde mich definitiv noch öfters wegen den mangelnden Hygienestandarts meiner Zelle beschweren. Denn laut dem Gesetz der Nachtwesen durfte man einen von uns zwar einsperren, aber nur wie es per Rasse erlaubt war. Und da sie nicht wussten, wie man mich einzuordnen hatte, fand ich es eine Unverschämtheit, mich einfach in diese abscheuliche, enge und dreckige Zelle zu schmeißen. Ohne mich, Leute!
Schlimm genug, dass ich meine Kleidung hatte wechseln müssen. Nicht dass ich es furchtbar fand, mehr Bewegungsfreiheit für meine Beine zu haben, die ehrlicherweise in dem silbernen Kleid nicht vorhanden gewesen war, aber mal Ernsthaft! Ich hatte ein schwarz-weiß-gestreiftes T-Shirt an, welches mir ungefähr drei Nummern zu groß war und ständig damit drohte mir von den Schultern zu rutschen. Die Hose war nicht viel besser, aber sie hatte Gummizug, sodass sie wenigstens auf meinen Hüften halbwegs hielt. Außerdem stanken diese Klamotten fürchterlich nach nassem Hund… ich wollte überhaupt nicht darüber nachdenken, wer diese Klamotten vor mir getragen hatte oder ob sie die überhaupt gewaschen hatten. Kurzum: Es war einfach abartig!
Neben mir vernahm ich ein Knurren bei dem es mir kalt den Rücken hinunter lief. Alexander hatte sogar schon die Zähne gefletscht und wollte anscheinend gerade etwas bissiges Erwidern, als der Richter scharf dazwischen ging: „Mister MacPhie! Bei allem Respekt, aber sie sind noch nicht an der Reihe. Vielleicht sollten sie lieber neben Mister Chrome Platz nehmen.“
Zähneknirschend ging Alexander zu Jaylan hinüber und setzte sich neben ihn. Ich konnte mir ein kleines triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, worauf er wieder seine Reißzähne aufblitzen ließ. Also wirklich… war er vorher auch schon so reizbar gewesen?
„Heißt das, sie wollen uns keine weiteren Aussagen zu ihrer Person geben, Miss Dermont?“, fragte der Richter ruhig und sah mich gleichzeitig streng an. Ich erwiderte seinen Blick kühl und nickte zustimmend.
„Nun denn. Dann werden wir wohl fortfahren. Fangen wir damit an, den Tathergang in der Nacht der Ermordung durchzugehen…“, begann der Richter und jedes einzelne meiner „Vergehen“ wurde genauestens analysiert und plötzlich tauchten sogar Beweise auf. Personen, die mich gesehen haben wollten, wie ich heimlich in der Residenz der königlichen Familie herumschlich, wie ich aus dem Hinterhalt irgendwelche Mitglieder der goldenen Kaste tötete – wobei ich mir ziemlich sicher war, dass das auf das Konto von Robin oder Ella ging, nicht auf meins! – und Andeutungen, die meine Schuld eingestehen und die ich in Anwesenheit von irgendwelchen mir fremden Leuten auf Partys gegeben haben soll. Mein einziger Gedanke: ERNSTHAFT?!
Es war so absurd, dass ich beinahe lachen musste. Einzig Alexanders Blick, welcher sich mit jedem Beweis verdüsterte, hielt mich davon ab. Jedes Mal, wenn der Richter sich an mich wandte und antworten verlangte, zuckte ich entweder mit den Schultern oder schenkte ihm einfach ein amüsiertes Lächeln. Sowohl Alexander, als auch alle anderen Anwesenden Personen schien das gehörig auf die Nerven zu gehen. Auch ein Kommentar über mangelnde Hygienestandarts in den Zellen ließ ich hin und wieder fallen, aber mich verteidigen? Nein, eher nicht. Wo bliebe denn da der Spaß? Ich musste schon zugeben, diese Gestaltwandler waren ganz schön kreativ in Sachen Beweise finden.
„Ich frage sie zum allerletzten Mal, Miss Dermont, haben sie irgendetwas diesen Anschuldigungen entgegenzusetzen?“, wandte sich der Richter zum gefühlten hundertsten Mal an mich. Aber ich wusste, jetzt würde er die Sitzung gleich beenden, denn wir saßen schließlich schon ewig in diesem stickigen Raum und alle Verdächtigen wurden verhört. Da ich weder etwas antwortete, noch zu reagieren schien, stieß der Richter einen ungeduldigen Seufzer aus und erhob sich, um die Versammlung zu beenden und sich mit den anderen zu beraten.
„Sie meinen zu diesen netten Anschuldigungen dieser miesen Heuchler, die mir ihr eigenes Verbrechen anhängen wollen, Herr Richter?“, fragte ich spöttisch und der Mann sah mich überrascht mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Nein, zum Weihnachtsfensterschmuck von Britney Spears.“, antwortete dieser genervt und ich musste lachen. Auch er konnte ein Grinsen nur schwer verbergen, aber ich hatte es schon in seinen Augen funkeln gesehen. Also schenkte ich ihm ein breites Grinsen.
„Ich mag sie. Sie haben einen guten Humor.“, sagte ich und der Richter schnaubte.
„Gut dass wir das jetzt geklärt hätten, jetzt werde ich die Nacht bestimmt besser einschlafen können. Haben sie jetzt also noch etwas Relevantes zu ihrem Fall zu sagen, oder nicht, Miss Dermont?“, erwiderte er und ich lehnte mich wieder in meinem Stuhl zurück. Mit einer kurzen Kopfbewegung machte ich ihm deutlich, dass er sich wieder setzen konnte, was er auch tat.
„Also erstens: Ich habe mich nicht mit irgendeiner silbernen Kaste verbündet… wer oder was auch immer diese sein soll. Zweitens: Ich habe mich nicht im Königshause eingeschlichen. Im Gegenteil: Ich hatte eigentlich nicht einmal vor, mich mit MacPhie abzugeben. Aber ich erspare ihnen jetzt jegliche Erklärung, denn das würde zu lange dauern und verstehen würden sie es auch nicht. Aber ich bin sicher, dass ihr Alpha ihnen das gerne bestätigen wird. Drittens: Ja, ich habe Leute der goldenen Kaste umgebracht. Und zwar nicht nur ein paar, sondern im Verlaufe der letzten paar Jahrzehnte sehr viele, aber ich kann ihnen sagen, dass ich weder den Gefährten der Frau mit dem roten Pullover dort hinten um die Ecke gebracht habe, noch den Mann der armen rothaarigen Frau dort drüben. Den Rest will ich gar nicht abstreiten. Was mich zu Punkt vier bringt: Ja, ich bin Mitglied der blauen Kaste. Fünftens: Ich will meine Verweigerung zur Aussage meiner Person revidieren… Mein Name ist Cathleen Dermont, ich wurde vor ungefähr 121 Jahren geboren und von Adoptiveltern großgezogen. Geburtsort ist mir leider unbekannt, euer Ehren. Oh, und bevor ich es vergesse… ich gehöre der Rasse der Eisblumen an. Haben sie noch irgendwelche Fragen, Herr Richter, oder darf ich nun gehen? Wissen sie, diese Klamotten sind das allerletzte und riechen nach Hund. Ich würde mich wirklich gerne zu Hause umziehen. Außerdem drücken mir diese Handschellen das Blut ab.“, ratterte ich monoton meine Verteidigung herunter und gähnte zum Schluss.
Die entsetzte Stille um mich herum war mein Triumph. Ich konnte sehen, wie sich die Rädchen im Kopf des Richters drehten und er zum selben Schluss kam wie ich: Die Gestaltwandler waren überhaupt nicht in der Lage über mich zu richten, denn Eisblumen überstiegen ihre Grenzen. Und dass ich eine solche war, ließ mehr als einen der Anwesenden vor Angst erschauern. Zu Recht. Das einzige, dass sie tun konnten, war einen Brief an eine andere Eisblume zu schicken und zu hoffen, dass es eine von ihnen genug interessieren würde, um über mich zu richten – was wie schon erwähnt nicht unbedingt der Fall sein musste.
Spöttisch grinsend wandte ich mich Alexander zu. Dieser sah mich an, als sähe er mich zum ersten Mal. Als wäre ich das Monster unter seinem Bett. Es tat weh, aber ich ließ mir dennoch nichts anmerken und erwiderte seinen Blick kalt.
„Beweisen sie es.“, flüsterte der Richter andächtig und sah mich immer noch mit seinen weit aufgerissenen Augen an.

Kapitel 13 - Stille Wahrheiten, die schwer wiegen

Beweisen? Gut, das konnte ich ja nachvollziehen, aber musste ich das denn wirklich tun? Wenn ich meine Kräfte einsetze, dann wird automatisch ein Echo erzeugt, dass andere Eisblumen wahrnehmen konnten. Aber andererseits… warum sich noch die Mühe machen und hinterm Berg zurückhalten, wenn meine Tarnung unter den Gestaltwandlern ja sowieso schon aufgeflogen war? Ich war mir sicher, dass diese Neuigkeit sehr schnell die Runde unter den Übernatürlichen machen würde und früher oder später – in diesem Fall wohl eher früher, denn es kam nicht oft vor, dass eine unentdeckte Eisblume auf der Bildfläche auftauchte – die Nachricht auch die anderen Eisblumen erreichen würde. Ich hatte also so gesehen keinen Grund, es dem Richter nicht zu beweisen.
Seufzend stand ich auf, wobei der Stuhl auf dem ich saß ein hohes Kreischen erzeugte. Immer noch herrschte eine andächtige Stille, in der mir mein Herzschlag ungewöhnlich laut vorkam. Ich wusste, wie ich es ihnen am ehesten beweisen konnte. Denn etwas hatten Eisblumen, was keine andere Spezies aufwies: Ihre Flügel.
Aber zuerst wollte ich unbedingt diese Handschellen loswerden. Mit einem zielgerichteten, kurzen und konzentrierten Gedanken ließ ich magisches Eis um meine unbequemen Armbänder entstehen. Es dauerte nur fünf Sekunden ehe das verzauberte Metall unter dem Druck nachgab und die Handschellen vielen klimpernd zu Boden. Doch bevor jemand um mich herum darauf hätte reagieren können, kam ich zum eigentlichen Beweis. Ich schloss meine Augen um mich zu sammeln und ließ meine Flügel aus meinem Rücken wachsen. Ja, ihr habt richtig gehört – aus meinem Rücken. Jede Eisblume hatte von Geburt an ihre besonderen Flügel. Sie waren so etwas wie ein Erkennungsmerkmal, denn jedes Paar war einzigartig. Sie schnitten durch den Stoff des T-Shirts wie ein Fleischermesser durch warme Butter.
Bevor auch nur einer von ihnen hätte blinzeln können, hatte ich meine Kräfte aktiviert und meine Flügel ausgefahren. Ich wusste, dass meine Haare in diesem Zustand blaue Strähnchen aufwiesen und sich lebhafte Glyphen um meinen rechten Arm wanden, die durch das eklige T-Shirt jedoch teilweise verdeckt wurden. Hierbei handelte es sich ebenfalls um ein typisches Erkennungsmal von Eisblumen. Denn bei Zwillingen waren die Flügel zwar gleich, aber dieses Tattoo wies Unterschiede auf. So war eine Verwechslung ausgeschlossen. Nicht, dass es in den letzten paar hundert Jahren jemals Zwillinge unter Eisblumen gegeben hätte, aber vor mehreren Jahrtausenden…. Wer weiß?
Aber das war es nicht, was plötzlich jedem im Raum den Atem verschlug. Nein. Das waren meine Flügel.
Weit auseinandergestreckt, wie ein Schmetterling, hielt ich sie, damit sie auch jeder gut sehen konnte. Am Ansatz, also dort, wo sie aus meinem Rücken herausstachen, besaßen sie die Farbe von dunklem Blau, das nach außen hin immer heller wurde. Bis zum Rand, hier verblassten sie zu strahlendem Weiß und endeten in einem durchsichtigen, zerfledderten Ende, das die wilde Schönheit zusätzlich noch betonte. Diese hauchzarten Flügel wurden durch dasselbe Muster wie auf meinem Arm durchzogen. Auch hier sorgten die leuchtenden, strahlendblauen Glyphen für exotische Einzigartigkeit. Denn bei uns Eisblumen gab es jedes Muster nur einmal. Niemand anderes außer mir würde es jemals tragen.
Immer noch herrschte Schweigen im Saal, aber diesmal konnte ich die Angst der Anwesenden fast schon in der Luft greifen. Entsetzen machte sie alle starr wie Salzsäulen. Ja, wir Eisblumen waren gefährlich, aber musste denn immer jeder gleich davon ausgehen, dass wir anderen wehtun wollten? Diese Angst rührte von denjenigen unserer Spezies, die dem Wahnsinn anheimgefallen waren. Sie hatten auf diesem Planeten schon so viel Schaden hinterlassen, dass die Welt es niemals vergessen hatte. Zumindest nicht die Welt der Unsterblichen.
„Wenn sie erlauben, Herr Richter, so werde ich mich nun wieder auf den Weg machen. Ich habe meine Zeit hier schon lange genug verschwendet.“, meinte ich kühl und drehte mich zur Tür, um aus dem Raum zu stolzieren.
Niemand hielt mich auf. Im Gegenteil. Die Wachen, die vorher bedrohlich vor den Türen gestanden hatten, wichen panisch ein paar Schritte zurück, so als könnten sie nicht schnell genug von mir wegkommen. Also echt jetzt. Selbst meine Mädels hatten vor siebzig Jahren nicht so viel Angst vor mir gehabt, als ich ihnen gestanden habe, dass ich eine Eisblume bin. Wobei Gill total panisch geschrien hat: „Schnell! Rennt um euer Leben! Luzifer ist unter uns!“ Und danach kreischte sie wie eine Feuerwehrsirene und rannte mehrfach im Kreis… Das war dann der Moment, in dem ich mich kopfschüttelnd weggedreht hatte, um mir den Rest ihrer Blamage zu ersparen.
Ich öffnete im Flur einfach eines der Fenster, wobei ich es aufbrechen musste, da sie eigentlich versiegelt waren. Aber hey, sie haben mich immerhin in eine kleine, enge Zelle gesperrt und in unförmige, viel zu große Kleidung gezwängt, die nach nassem Hund roch! Da fühlte ich mich durchaus dazu berechtigt ein klein wenig zu randalieren.
Ich sprang durch das Fenster und flatterte mit meinen Flügeln, um mich ohne Landung direkt in den Himmel zu befördern. Ich wusste, dass diese Idioten mir verdattert hinterher starrten. Ich konnte ihre Blicke praktisch auf mir spüren. Aber ich drehte mich nicht um oder wurde langsamer. Ich flog einfach weiter, so als würde ich das jeden Tag tun.
Nach mehreren Kilometern entspannten sich endlich meine Muskeln und ich ließ mich von einer Windböe weiter nach oben gleiten. Ich war schon so lange nicht mehr geflogen. Lächelnd genoss ich den Wind im Gesicht und die kühle Brise der Nacht auf meiner Haut, während ich mich auf den Weg zum Hauptquartier machte.
Was die anderen wohl getan hatten, als ich nicht aufgetaucht war? Ich hoffte nur für sie, dass sie sich nicht wieder in Schwierigkeiten gebracht hatten. Denn darin waren sie alle sehr begabt. Wie man sieht, ich ja eigentlich auch… Wie ging noch gleich der Spruch mit dem Glashaus und den Steinen? Resigniert seufzte ich und konzentrierte mich darauf, was ich nun als nächstes tun sollte. Um die anderen Eisblumen nicht respektlos zu behandeln, musste ich mich ihnen innerhalb der nächsten drei Monate vorstellen, ansonsten würden sie mit ziemlicher Sicherheit vor meiner Tür stehen. Allein wegen den uralten Traditionen meines Volkes hatte ich das Glück, dass es als unhöflich galt, einer „neuen“ Eisblume zu früh einen Besuch abzustatten. Und für sie war ich doch schließlich neu, nicht wahr?
Ich flog gerade über einen riesigen Park, der unter Naturschutz stand, als ich ihn bemerkte. Ein verschwommener, schwarzer Fleck, der hin und wieder zwischen den Bäumen hervor blitzte. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte ich mehr zu erkennen und flog unauffällig etwas tiefer. Menschen würden hier um diese Uhrzeit wahrscheinlich sowieso nicht zu finden sein… und wenn, dann redeten sie sich sowieso immer nur das ein, was sie sich einreden wollten. Und dazu gehörte sicherlich nicht ein feenartiges Wesen, das über ihre Köpfe flog.
Gute fünfzig Meter tiefer konnte ich erkennen, dass es ein Panther war. Irritiert runzelte ich die Stirn. Verfolgte mich diese Raubkatze etwa? War das ein Gestaltwandler? Prüfend wechselte ich meinen Kurs und flog scharf nach rechts weiter, nur um zu registrieren, dass auch der Panther in diese Richtung lief. Wütend und mit zusammengekniffenen Augen wandte ich mich scharf nach links und beobachtete das Raubtier. Auch diesmal folgte es mir. Also definitiv ein Gestaltwandler. Mist. Ich konnte doch nicht mit einem von denen auf den Fersen im Hauptquartier auflaufen.
Genervt ließ ich mich in einen schnellen und steilen Sinkflug fallen, sodass der Panther entweder weiterrennen oder stehen bleiben musste. Meine letzten Zweifel bezüglich eines Gestaltwandlers wurden zur Seite gefegt, als ich auf einem dicken Ast eines Baumes landete und die Raubkatze mich abwartend und geduldig vom Boden her anschaute. Kaum hatte ich meine Flügel nach unten zusammengezogen, setzte der Panther sich in aller Ruhe hin und starrte mich einfach an. Und plötzlich wusste ich, wen ich vor mir hatte. Diese Augen würde ich überall erkennen.
Seufzend ließ ich mich mit einem geschmeidigen Sprung zu Boden fallen und landete lautlos auf meinen Fußballen. Es war seltsam. Nun stand ich weniger als zehn Meter von einer riesigen Raubkatze – wobei ich anmerken sollte, dass er ein gutes Stück größer war, als eine Raubkatze aus der freien Wildbahn – entfernt, aber ich hatte keine Angst. Im Gegenteil. Ich fühlte mich sicher. Das war, um es einfach auszudrücken, verwirrend.
„Wieso verfolgst du mich?“, fragte ich leise und brach dadurch die Stille, die sich um uns herum ausgebreitet hatte. Alle Tiere waren verstummt in der Anwesenheit des anmutigen Panthers. Vermutlich aber auch meinetwegen. Tiere spürten es instinktiv, dass jemand stärkeres ihr Gebiet betreten hatte.
Der Panther erhob sich und plötzlich war ein mehrfaches, lautes Knacken zu hören. Die Gestalt der Raubkatze schien sich zu verformen, Knochen brachen, verschoben sich neu und es sah aus, als würde sich etwas unter der Haut des Tieres bewegen. Das Gesicht wurde flacher, aus Tatzen wurden Hände, aus seidigem Fell nackte Haut. Das alles passierte innerhalb von ein paar Sekunden und aus lauter Angst etwas von diesem faszinierenden Wandel zu verpassen, wagte ich es nicht einmal zu blinzeln. Es war furchterregend und doch gleichzeitig wunderschön.
Und kurz darauf stand mir auch schon Alexander gegenüber und kam mit großen Schritten näher. Er war nackt und ich konnte nicht anders als meinen Blick über ihn wandern zu lassen. Er war einfach atemberaubend. Dicht vor mir blieb er stehen und ich konnte gerade noch ein verzücktes Seufzen unterdrücken, als ich sah, wie sein bestes Stück unter meinem musternden Blick hart wurde. Er knurrte und ertappt ließ ich meinen Blick wieder nach oben wandern, wobei sich Hitze in meinen Wangen sammelte. Mist. Wahrscheinlich wurde ich mal wieder rot. Also langsam aber sicher wurde das schädigend für meinen Ruf als knallharte Anführerin und Eisblume.
Er war mir so nahe, dass seine nackten Füße fast die meinen berührten. Ich blickte in seine Augen und schreckte innerlich zurück, als ich mehrere Emotionen in ihnen ablesen konnte. Wut. Verlangen. Verzweiflung und… ich konnte es nicht richtig deuten, vielleicht… besitzgier? Ich wusste es nicht, aber alles an ihm schrie „Gefahr“. Dennoch wich ich nicht zurück. Ich wusste, dass er mir nie wehtun würde. Allein die Bisswunde an meinem Hals bewies das. Und plötzlich fühlte ich wieder diese Trauer. Ich war seine Gefährtin, konnte dieser Ehre jedoch niemals gerecht werden. Konnte diesen Platz niemals einnehmen. Nicht solange wir Feinde waren.
„Was willst du?“, fragte ich leise und mit müder Stimme. Sein Blick wurde gequält und plötzlich sah er seiner Mutter ähnlicher als je zuvor.
„Wieso?“, antwortete er mit einer Gegenfrage, wobei seine Stimme ebenfalls leise war. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich glaubte zu hören, dass dieses eine Wort… gebrochen klang. Als kostete es ihn all seine Überwindung es auszusprechen. Unwillkürlich hatte ich den Drang ihn zu berühren. Ich wollte ihn trösten. Doch ich wusste, dass es dumm von mir wäre, dies zu tun. Denn wir hatten sowieso keine gemeinsame Zukunft. Wieso also sollte ich ihm Hoffnungen machen? Scheiße! Es war ja schon ein Fehler gewesen mit ihm zu schlafen. Das hätte nicht passieren dürfen. Dennoch brachte ich es nicht über mich diesen Umstand zu bedauern – im Gegenteil. Irgendein verborgener Teil in meinem Herzen würde diese Erinnerung liebevoll aufbewahren, auch wenn ich das natürlich niemals zugeben würde.
„Wieso was?“, entgegnete ich verwirrt, da ich ihm nicht ganz folgen konnte. Ich meine, was genau erwartete er jetzt von mir zu hören? Wieso ich Mitglied der blauen Kaste war? Wieso ich ihn nicht eingeweiht hatte? Wieso die Banane krumm war? Also er musste schon etwas genauer werden, wenn er auf eine Antwort meinerseits hoffte.
„Wieso dieses ganze Spiel? Was hattest du davon? Hat es dir Spaß gemacht mich an der Nase herumzuführen? Sag mir, Cathy, hast du überhaupt etwas gefühlt, als wir zusammen waren? Hat es dir eigentlich irgendetwas bedeutet, als ich dich zu der Meinen gemacht habe? Verdammt!“, brach es aus ihm heraus und seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Ich konnte seine Wut spüren und auch seine Verzweiflung. Mit einem frustrierten Knurren senkte er den Blick zum Boden und fuhr sich durch seine sowieso schon verwuschelten Haare, die im Mondlicht leicht bläulich schimmerten. Ich unterdrückte den Drang ihn zu berühren, indem ich meine Hände zu Fäusten ballte.
„Sag mir, hättest du mich auch so begehrt, wenn du genau gewusst hättest, dass ich ein Mitglied der blauen Kaste bin? Denkst du, ich hätte das Entsetzten in deinem Gesicht, als ich verkündet habe, ich sei eine Eisblume nicht bemerkt? Und was interessiert es dich überhaupt noch, ob ich für dich etwas fühle? Verstehst du das denn nicht? Wir gehören einfach nicht zusammen. Wir haben keine gemeinsame Zukunft, Alexander!“, antwortete ich und hoffte dabei inständig, dass sich meine Stimme nicht so verzweifelt anhörte, wie ich mich fühlte.
Scheiße… ich sollte einfach gehen, anstatt hier mein Herz auszuschütten. Es war auch so schon schwer genug mir klarzumachen, dass eine Beziehung zwischen uns nicht funktionieren würde. Frustriert wandte ich mich von ihm ab und fuhr mir mit den Händen übers Gesicht. Ich konnte ihm einfach nicht in die Augen sehen. Ich wusste nur zu gut, wie schnell man sich in ihnen verlieren konnte. Mit einem Knurren packte er mein Handgelenk und zog mich mit einem Ruck grob zurück, sodass ich praktisch gegen seine breite Brust stolperte.
„Sieh mir ins Gesicht!“, meinte er leise, aber bestimmt und ohne nachzudenken gehorchte ich. In seinen Augen spiegelte sich deutlich die Raubkatze wider und seine Eckzähne ragten bedrohlich ein Stück aus seinem Mund. Der Panther schien sehr dicht unter der Oberfläche zu sein. Ehe ich wusste, was ich tat, streckte ich meine Hand aus und legte sie ihm an seine Wange. Als mir bewusst wurde, dass ich gerade versuchte ihm mit meiner Berührung Trost zu spenden, wollte ich sie schon erschrocken zurückziehen. Doch Alexander war schneller und fing meine Hand mit der seinen ein, nur um sie wieder gegen seine Wange zu legen und sein Gesicht daran zu schmiegen.
„Denkst du wirklich, ich würde dich einfach so gehen lassen? Himmel, Cathy, es ist mir egal, ob du eine Eisblume bist. Von mir aus könntest du eine Hexe, ja sogar eine Vampirin sein und es wäre mir immer noch scheißegal! Ja, ich war entsetzt, als du es im Gerichtssaal verkündet hast, aber nur, weil du es mir nicht erzählt hattest. Es tut weh, zu wissen, dass du mir nicht genug vertraut hast, um es mir vorher zu sagen.“, erklärte er und legte seinen anderen Arm um meine Taille, nur um mich noch dichter an sich zu ziehen.
Völlig perplex sah ich ihn an. Es war ihm egal? Ich könnte auch eine Vampirin sein? War ihm eigentlich bewusst, was er gerade gesagt hatte? Vampire und Gestaltwandler hassten sich. Das spürte ich sogar manchmal bei Streitigkeiten zwischen meinen Mädels, da Gill und Robin sehr oft mit Dani aneinandergerieten. Außerdem hatte Robin mir schon mal anvertraut, dass Gestaltwandler für Vampire stinken würden. Deshalb fand ich es etwas seltsam von ihm, dass er mich ausgerechnet mit einem Vampir verglich. Meinte er damit etwa, dass er mich auch so begehrt hätte, wenn ich stinken würde? Also das war echt schräg und unwillkürlich musste ich lachen. Allerdings war es keines von diesen unbeschwerten oder amüsierten Lachen, sondern eher ein verbittertes.
„Wie überaus schmeichelhaft von dir.“, erwiderte ich trocken und sah ihm unverwandt in die Augen. Ich konnte es nicht verhindern, aber ich wusste, dass mein Gesicht wieder seine ursprüngliche Maskenform annahm und meine Augen kalt wurden. Ohne, dass ich es wollte, wechselte mein Gesichtsausdruck in den Abwehrmodus. „Dennoch wissen wir beide, dass das nicht unser einziges Problem ist, MacPhie. Du bist der Anführer der verdammten, goldenen Kaste. Das allein ist schon ein Grund, warum das zwischen uns niemals funktionieren kann. Scheiße, ich weiß ja nicht einmal, warum ich dich nicht einfach umbringe. Verstehst du das? Wir sind Feinde.“, meinte ich mit eiskalter Stimme und riss mich von ihm los, um wenigstens mit ein, zwei Schritten etwas Abstand zwischen uns herzustellen. Mit einem Knurren verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen und er betrachtete mich, als wäre ich seine Beute. So als würde er sich jeden Moment auf mich stürzen. Obwohl ich instinktiv davonlaufen wollte, verweigerte ich meinen Füßen diesen Befehl und blieb trotzig vor ihm stehen.
„Ich werfe es dir nicht vor, dass du in der blauen Kaste Mitglied warst. Steig einfach aus und die Sache ist nicht weiter von Belang für uns. Ich verspreche dir, dass niemand von meinem Volk dich je damit belästigen wird. Aber ich werde bestimmt nicht zulassen, dass du mich verlässt, Cathy. Du gehörst zu mir. An meine Seite. Verstehst du DAS?“, antwortete er scharf und ließ mich keinen Augenblick lang aus den Augen. Es war hypnotisierend und deswegen dauerte es auch ein paar Sekunden bis seine Worte wirklich zu mir durchdrangen.
Frustriert stieß ich ein Fauchen aus und blickte zur Seite. War das sein Ernst? Mit einem Schlag wurde mir wieder klar, dass er zwar wusste, dass ich ein Mitglied der blauen Kaste war, aber nicht, dass ich auch gleichzeitig als Anführerin fungierte. Aber selbst, wenn ich das nicht gewesen wäre, so war sein Vorschlag doch sehr abwegig. Eigentlich sogar schon beleidigend. Was dachte er eigentlich von mir? Das ich gleich bei der ersten Gelegenheit meine Kaste verraten würde? Dass ich ihnen den Rücken kehren würde? Also man konnte ja wirklich viel über mich sagen, aber niemand konnte mit gutem Gewissen behaupten, dass ich nicht loyal wäre. Ich stand zu meiner Kaste. Ich würde mich bestimmt nicht in eine entweder-oder-Situation drängen lassen, in der ich mich entweder für ihn oder meine Kaste entscheiden musste. Denn ich wusste, egal, wie die Antwort auch ausfallen würde, sie würde wehtun.
Traurig sah ich ihm in die Augen. Ich wollte, dass er es verstand. So wie es aussah, musste ich es ihm wohl erzählen.
„Ich kann nicht, Alexander. Denkst du etwa, ich könnte meiner Kaste einfach den Rücken kehren? Denkst du wirklich, ich hätte so wenig Ehrgefühl?“, fragte ich ihn leise und war nicht in der Lage den bittenden Unterton in meiner Stimme herauszuhalten. Er zuckte zurück, so als hätte ich ihn geschlagen. Ich wollte ihm zwar nicht wehtun, aber er hatte ein Recht auf die Wahrheit.
„Könntest du deine Kaste im Stich lassen?“, setzte ich hinterher und er sah mich einfach nur an. Die Stille, die sich zwischen uns ausbreitete, war viel zu laut. Es war… drückend. Ein unnötiges Gewicht, das nicht verschwinden wollte.
„Das ist etwas völlig anderes! Ich bin der Anführer der Kaste, Cathy. Ich trage die Verantwortung für die gesamte goldene Kaste.“, erwiderte er ruppig und trat wieder einen Schritt auf mich zu. Mit einem traurigen Lächeln sah ich zu ihm auf.
„Ist es das?“, flüsterte ich und zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir, dass ich keine Anführerin der blauen Kaste wäre.
„Wie meinst du das?“, fragte er mich verwirrt und runzelte die Stirn. Ich wusste, dass ich es ihm wenigstens erklären musste, also platzte ich heraus: „Was, wenn ich dir erzählen würde, dass auch ich eine wichtigere Rolle habe, als ein einfaches Mitglied zu sein? Denn das bin ich, Alexander. Ich bin die Anführerin der gesamten blauen Kaste.“
Anhaltende, erdrückende Stille.

Kapitel 14 - Und die Zeit läuft

 

Die Tasse glitt mir vor Schreck aus den Fingern und zerbrach mit einem lauten Klirren in kleine Scherben. Mein Unterbewusstsein nahm zwar zur Kenntnis, dass James sich sofort daran machte, die Scherben zu beseitigen, doch momentan war dies nicht von Bedeutung. Es war auch unwichtig, dass die wichtigsten Vertreter der londoner Nachtwesen mich über den Tisch hinweg anstarrten und sich völlige Stille im Saal ausbreitete. Denn das fremdartige Echo kam so völlig unerwartet.
Ich konnte spüren wie sich meine Glyphe als Antwort auf die neue Macht zu regen begann und schlussfolgerte aus dem entsetzten Keuchen der Anwesenden Personen, dass sie grell leuchtete. Nur mit Mühe konnte ich meine Flügel zurückhalten und atmete scharf ein, als die erste Welle des Echos verebbte. Sie war stark. Sehr stark.
Ich erhob mich und stammelte verwirrt eine höfliche Entschuldigung, um aus dem Saal zu flüchten. Ich schaffte es gerade noch bis in meine Gemächer, als die zweite Welle des Echos mich mit voller Wucht traf. Eine neue Eisblume war aufgetaucht. Scheiße! Das veränderte alles! Ich hörte auf, mich gegen die Wirkung des Echos zu wehren und ließ meine Transformation zu. Meine Glyphen weiteten sich zu ihrer vollen Größe aus und strahlten in einem intensiven Pink. Meine Honigblonden Locken wurden mit pinken Strähnchen durchsetzt und meine Flügel fuhren aus meinem Rücken aus. Die zweite Welle des Echos ebbte langsam ab und ich atmete noch einmal tief durch, um mich gegen die letzte zu wappnen. Denn normalerweise gab es drei Echowellen. Jede Eisblume, außer der, die sie aussandte, empfing sie gerade. Das hieß, dass Misaki Kano, die andere Eisblume aus Japan, ebenfalls vom Echo getroffen wurde.
Bei der dritten Welle ging ich in die Knie. Verdammt, war diese Eisblume stark! Zwar konnte ich selbst durch das Echo spüren, dass ein Großteil ihrer Macht inaktiv, aber dennoch präsent war. Wahrscheinlich wusste die Neue überhaupt nicht, wozu sie fähig war. Auf jeden Fall war dies das stärkste Echo, das ich seit Jahrtausenden je wahrgenommen hatte. In meinem Kopf drehte es sich und vor meinen Augen verschwamm alles. Erst, als die Welle vorüber war, konnte ich wieder einigermaßen klar sehen. Überaus bemerkenswert.
Allerdings war dies ein Faktor, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Scheiße! Diese Schlampe könnte meine ganzen Pläne zu Nichte machen! Warum ausgerechnet jetzt? Gerade, wo ich meiner Rache so nahe war? Um ja keinen Fehler zu machen, musste ich die Situation neu überdenken.
Vorsichtig stand ich auf und trat nachdenklich ans Fenster. Es war an der Zeit weitere Fäden zu spinnen. Misaki Kano war sowieso unwichtig. Mit ihr wurde ich fertig. Der Plan konnte auch ohne Änderung ausgeführt werden, was dieses japanische Miststück betraf. Allerdings hatte es immer noch keine versuchte Kontaktaufnahme der blauen Kaste gegeben. Und jetzt musste auch noch ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt eine weitere Eisblume ins Spiel kommen. Aber wieso das Ganze nicht zuerst einmal versuchen zu unseren Gunsten zu wenden? Ein grimmiges Lächeln ließ meine Mundwinkel nach oben wandern. Eigentlich ja gar keine schlechte Idee.
„James!“, rief ich und wartete bis der Vampir eingetroffen war.
„Sie wünschen, Herrin?“, fragte er ausdruckslos. Lächelnd drehte ich mich um.
„Geh und setzte ein Schreiben auf. Ich will einer… neuen Freundin ein paar liebe Grüße von mir schicken.“
„Jawohl, Herrin. Ich werde sofort den Schreiber beantragen.“ Mit diesen Worten entfernte James sich wieder und ich drehte mich erneut zum Fenster um. Die Wolken am Himmel waren grau und es sah aus, als würde es jeden Moment zu regnen anfangen. Mehrere meiner vorherigen Gäste machten sich unten im Hof zum Aufbruch bereit, um so schnell wie möglich von hier wieder wegzukommen. Sie alle konnten es spüren. Das Dunkle, das sich in diesem Haus eingenistet hatte. Und doch, ahnte niemand, dass ICH das Dunkle war.
Sadistisch lachend legte ich meine Handfläche gegen die Fensterscheibe. Sofort breitete sich eine feste Eisschicht darüber aus und ließ das Glas zerspringen.
„Komm nur, kleine Eisblume. Ich warte…“

 
Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und breitete meine Flügel wieder aus. Langsam aber sicher begann ich dieses unheilvolle Schweigen zu hassen, das mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen schien. Ich durfte nicht länger in seiner Nähe bleiben. Er brachte mich einfach jedes Mal aus den Konzept. Und gerade hatte ich mich daran erinnert, warum es so wichtig war, dass genau das nicht passierte. Denn ich, Cathy, war die Anführerin der blauen Kaste UND dazu auch noch eine Eisblume, welche sich gerade in aller Öffentlichkeit geoutet hatte. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, tauchte auch noch irgendeine fremde, neue, silberne Kaste auf, die anscheinend Ärger verursachen wollte. Wieso musste aber auch alles so kompliziert sein?
„Warte.“
Leise, geflüsterte Worte. Automatisch stockte ich in der Bewegung. Aber ich konnte mich nicht umdrehen. Ich wusste, dass ich ihm gerade wehgetan hatte. Ich meine, welcher Gestaltwandler bekam auch von seiner eigenen Gefährtin eine Abfuhr? Und noch dazu eine solch unsensible? Um ehrlich zu sein, kam ich mir gerade wie das größte Miststück auf diesem Planeten vor. Oder wie ein Elefant im Porzellanladen.
„DU bist die Anführerin der blauen Kaste?!“, fragte er ungläubig und ich zuckte erschrocken zusammen, weil seine Stimme immer lauter wurde. Außerdem fand ich seinen Tonfall etwas beleidigend. War es denn so schwer sich vorzustellen, dass ich die Anführerin einer streng geheimen Organisation war, die wahnsinnig gewordene Nachtwesen um die Ecke brachte? Wütend und ohne eine Antwort zu geben, flog ich los und ließ ihn einfach stehen, wobei ich diesmal darauf achtete, hoch genug zu fliegen, um hinter den Wolken zu verschwinden, sodass er gar keine Möglichkeit hatte, mich zu verfolgen.
So eine verdammte Scheiße! Wieso konnte nicht einmal in meinem Leben alles so laufen, wie ich wollte, dass es lief? Ergab das gerade irgendeinen Sinn? Wahrscheinlich nicht. Da ich mir nicht sicher war, ob ER mir wirklich nicht folgen würde, beschloss ich einen Umweg in Kauf zu nehmen, machte mich anschließend jedoch auf direktem Wege in Richtung Hauptquartier auf.
Dort angekommen stürmte ich in die Hauptzentrale, als wäre eine Horde wildgewordener Abtrünniger hinter mir her. Ich machte mir auch nicht die Mühe erneut einen Versiegelungszauber über mich zu legen, um meine Flügel zu verbergen. Jetzt, da ich mich der ganzen Welt geoutet hatte, war dies nicht mehr notwendig. Schon viel zu lange, nämlich die letzten 100 Jahre, hatte ich meine Identität hinter einem mächtigen Zauber verbergen müssen, den meine Ziehmutter mir damals auferlegt hatte. Gewisse Fähigkeiten, die nicht zu viel Aufsehen erregen, hatte ich zwar weiterhin verwenden können, aber ab einem gewissen Energielevel würde der Zauber brechen. Das war etwas, dass Mary – meine Ziehmutter – mir schon sehr früh beigebracht hatte. In gewisser Weise fühlte ich mich ihr gegenüber schuldig, weil ich mich geoutet hatte. Verärgert über mich selbst schob ich diese Gefühle und Gedanken beiseite. Dafür war jetzt einfach keine Zeit! Ich würde mich später damit befassen müssen, genau wie mit meinen Gefühlen Alexander gegenüber.
Tammy drehte sich erschrocken zum Eingang um, als ich hereingestürmt kam. Sie gaffte mich an, als wäre ich ein Alien direkt vom Mars. Ihre Augen huschten immer wieder von meiner grauenhaften, stinkenden, viel zu großen Kleidung, über die Glyphen auf meinem Arm und den blauen Strähnen in meinem Haar, bis hin zu meinen Flügeln, die sich glitzernd hinter meinem Rücken über die Schultern hinweg erhoben. Ohne Frage – ich musste einen einmaligen Anblick bieten.
„Ich schwöre! Ich hatte einen triftigen Grund, warum ich gestern nicht zur Academy kommen konnte!“, warf ich direkt zu meiner Verteidigung ein und fuchtelte zur Unterstützung meiner Sachlage mit den Armen herum. Ich verspürte nervende Gewissensbisse, weil ich nicht zu ihnen kommen konnte und übertrieb wohl etwas mit meiner Ausrede, aber es half Tammy sich wieder zu fassen und erfüllte somit seinen Zweck.
„Ich denke, ich sehe deinen Grund sehr deutlich…“, meinte sie immer noch ungläubig und deutete mit einem Kopfnicken auf meine Flügel.
„Was? Nein!“, warf ich ein, überlegte kurz und meinte dann: „Doch, ja, auch, aber das war sogar eher zweitrangig, wenn man es genau nimmt.“
Was laberte ich mir hier gerade für eine Scheiße zusammen? Verdammter Mist! Ich hatte wirklich besseres zu tun! Ich schüttelte den Kopf und sah Tammy erneut an, nur um demonstrativ auf den leeren Raum zu deuten, in dem wir uns befanden.
„Wo sind die anderen?“, fragte ich.
„Nun ja… nachdem du nicht wie vereinbart erschienen bist, haben wir uns Sorgen um dich gemacht. Ich meine, nicht, dass wir dir nicht zutrauen würden auf dich selbst aufzupassen, aber…“, stotterte sie und ich unterbrach sie durch eine abwehrende Handbewegung.
„Jaja, ich weiß, ich hab in letzter Zeit ganz schön Mist gebaut. Keine Sorge, ich bin euch nicht böse, sondern dankbar. Auch wenn ich vielleicht die Anführerin bin, heißt das schließlich noch lange nicht, dass ich unbesiegbar und unverbesserlich wäre. Aber wir haben wenig Zeit, deshalb… wie schnell können die anderen alle hier sein?“
„Schwer zu sagen… in einer dreiviertel Stunde vielleicht?“
„Was?! Das dauert viel zu lange!“, stöhnte ich verzweifelt auf und fuhr mir hitzig mit der Hand durch die Haare. Erstens, sollten meine Mädels nicht von irgendjemand anderem erfahren, was ich mal wieder für eine Scheiße angerichtet hatte. Zweitens musste ich sie warnen, dass jeder, der vorher auf Festen mit mir in Verbindung gebracht worden war, nun umso vorsichtiger sein musste. Schließlich würden uns schon bald viele ungewollte Verfolger auf der Spur sein, jetzt wo es offiziell war, dass die blaue Kaste existierte. Drittens mussten wir das weitere Vorgehen, sowohl im Bezug zur goldenen, als auch zur silbernen Kaste planen. Immer unter der Berücksichtigung, dass ich in nächster Zeit für ein paar Wochen ausfallen würde, da ich mich mit anderen Eisblumen herumschlagen musste, die wohl mittlerweile mein Echo empfangen haben mussten.
„Na schön, kann man wohl nicht ändern. Ruf sie alle zusammen. Ich werde mich jetzt erst einmal duschen und dann verbrenne ich diese ekelhafte, dreckige Kleidung, die nach Hund stinkt!“, meinte ich und verließ ohne eine Antwort abzuwarten den Raum.

 
Eine halbe Stunde später schlenderte ich erneut in die Hauptzentrale. Meine Haare waren noch feucht und steckten in einem unordentlichen Dutt. Meine Kleiderauswahl war durch die Tatsache, dass ich meine Flügel berücksichtigen musste, etwas eingeschränkt. Daher trug ich ein altes, verwaschenes, schwarzes Top, das im Nacken zusammengebunden wurde und meine Flügel am Rücken nicht einengte. Darunter eine dunkle Jeans und Sneakers. Um ehrlich zu sein, war ich einfach nur froh meine eigene und vor allem frische, nicht stinkende Kleidung zu tragen.
Ich hatte beschlossen meine Flügel frei zu zeigen. Da ich mich ja sowieso schon öffentlich gezeigt hatte, wollte ich mich nicht mehr länger verstecken. Es war Zeit mein wahres Ich zu präsentieren. Während ich unter dem Wasserstrahl der Dusche gestanden hatte, hatte ich mir selbst über mehrere Dinge Klarheit verschafft.
Erstens, ich würde mich nie wieder hinter Tarnzaubern verstecken, wenn es denn möglich war. Zweitens, ich würde ab sofort die blaue Kaste in der Öffentlichkeit vertreten. Auch wenn das bedeutete, dass ich mich mit den anderen Kastenanführern auseinandersetzen musste. Drittens, ich würde dennoch weiterhin dafür sorgen, dass meine Mädels anonym blieben und niemand von ihnen mit mir in Verbindung gebracht wurde. Viertens, wir würden noch heute Nacht dem „Bild des Lebens“ in der Academy einen Besuch abstatten, um mehr über die silberne Kaste herauszufinden. Fünftens, ich würde Alexander MacPhie endgültig aus meinem sowieso schon viel zu komplizierten Leben streichen. Was natürlich leichter gesagt als getan war, aber versuchen kann man das Ganze ja mal, oder? Auch wenn sich dieser Punkt rein theoretisch mit zweitens ausschloss, da MacPhie der Anführer der goldenen Kaste war.
Wieso musste aber auch immer alles so kompliziert sein?
Tammy saß vor ihren Monitoren und hackte wild auf die Tastatur ein, wobei ihre rot lackierten Fingernägel so schnell dabei waren, dass man sie fast nicht mit den Augen verfolgen konnte. Von den anderen war immer noch keine Spur zu sehen. Frustriert ließ ich mich auf dem Sofa nieder, auf dem normalerweise Robin immer schlief.
In diesem Moment nahm Tammy mich endlich wahr und wedelte mit einer Hand, damit ich zu ihr komme. Also wuchtete ich mich mit einem genervten Seufzen wieder von der Couch hoch und tat was sie wollte. Sie deutete auf die Schlagzeile der heutigen Zeitung. Mit hochgezogenen Augenbrauen und von Neugier getrieben nahm ich den Zeitungsbericht und las ihn mir durch. Es ging um ein astrologisches Phänomen, welches sich gestern Nacht ereignete. Angeblich habe sich der Mond wortwörtlich blau verfärbt. Um Verwechslungen mit dem im Volksmund gebrauchten Begriff des „Blue Moon“ zu vermeiden, erklärten verschiedene Astrologen, dass der Mond sich dabei normalerweise nicht verfärbte, sondern lediglich zweimal in einem Monat ein Vollmond zu verzeichnen wäre. Deshalb wäre die Verfärbung gestern Nacht als ein „Wunder“ anzusehen.
Aha. Interessant. Aber was, bei meiner Göttin, soll mir das jetzt sagen? Irritiert sah ich Tammy an, die mich nur mit diesem „Das-musst-du-doch-wissen“-Blick bedachte. Aber ich wurde nicht schlau daraus. Warum sollte ein blauer Mond wichtig sein?
Mit einem ungläubigen Seufzen kramte Tammy in einem Papierstapel zu ihrer linken herum und legte schließlich einen Zettel neben die Zeitung. Es war der Brief der silbernen Kaste, den ich nochmals aufgeschrieben hatte. Sie deutete auf eine Textpassage und ich las laut vor:
„Wenn der nächste blaue Mond seinen Zenit erreicht,
dann wird Silber das Goldene schlagen.“
Jetzt verstand ich es. Naja, teilweise zumindest. „Der blaue Mond war also gestern Nacht? Aber ich habe nichts von einem Anschlag auf die goldene Kaste mitbekommen.“, meinte ich stirnrunzelnd und versuchte daraus schlau zu werden.
„Das liegt daran, dass es auch keinen gegeben hat.“, antwortete Tammy und schob ihre Brille zurecht. Mein äußerst origineller und hilfreicher Kommentar lautete: „Hä?“ In Gedanken war ich eigentlich ganz woanders… um genau zu sein in einem riesigen Bett mit superflauschigen Kissen und einem sexy Gestaltwandler…
Jemand schnippte ungeduldig mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. „Erde an Cathy! Hörst du Tammy überhaupt zu?“
Blinzelnd kam ich wieder im hier und jetzt an und verfluchte mich selbst. Wieso drifteten meine Gedanken immer wieder zu MacPhie ab? Das war mir eben schon unter der Dusche passiert. So ein Mist!
„Oha, sie wird doch tatsächlich rot! Tausend Dollar für deine Gedanken, Süße!“, meinte Robin schelmisch grinsend und nahm endlich ihre Hand vor meinem Gesicht weg. Hinter ihr kamen gerade Ella, Gill, Dani und Joy durch die Tür spaziert und hielten bei meinem Anblick abrupt in ihrer .Bewegung inne. Was mich wieder daran erinnerte, dass ich mich mehr zusammenreißen sollte, da ich schließlich nun in der Öffentlichkeit für die Kaste einstehen musste.
„Tut mir Leid, Tammy, ich war mit meinen Gedanken kurz woanders. Könntest du das wiederholen?“, gestand ich schuldbewusst und versuchte den Kommentar von Robin zu übergehen. Jetzt, da alle hier waren, konnten wir auch direkt zum Thema kommen und das beinhaltete definitiv keinen Alexander! Also Konzentration, Cathy!
Mit einem belustigten Schnauben ließ Robin das Thema auch tatsächlich fallen, aber ich bezweifelte, dass sie es vergessen würde. Ich hatte gerade nur eine Gnadenfrist erhalten. Aber das war okay. Früher oder später würden sie mich sowieso ausfragen.
„Ich sagte, dass die Experten davon ausgehen, dass der Mond sich noch intensiver verfärbt heute Nacht.“, wiederholte Tammy. Langsam dämmerte es mir.
„Das heißt, es gab noch keinen Zenit, nicht wahr?“, fragte ich und bekam zur Bestätigung ein Nicken.
„Wenn ich mit meinen Vermutungen richtig liege, dann wird der Zenit morgen erst erreicht. Das bedeutet heute ist die letzte Nacht, bevor diese mysteriöse silberne Kaste das Attentat verüben will.“, fuhr Tammy fort und in meinem Kopf ratterte es. Hieß das etwa, dass diese silberne Kaste schon etwas geplant hatte, was uns mit einbezog? Schließlich hieß es in dem Brief, dass wir mit der goldenen Kaste untergehen würden, wenn wir keinen Kontakt aufnehmen würden, oder? Aber hieß das auch, dass sie wussten, wo wir uns aufhielten? Nein, das konnte eigentlich nicht sein. Niemand wusste das. Das bedeutete, dass sie wohl versuchen würden uns eine Falle zu stellen, wenn wir nicht schnellstens handeln würden. Die Kontaktaufnahme musste noch heute Nacht stattfinden.
Entschlossen blickte ich die anderen an.
„Ihr wisst, was das bedeutet, nicht wahr?“, fragte ich sie und jede von ihnen nickte mir zu. „Tammy, ich will, dass du dich ins Sicherheitssystem der Mystic Arts Academy einhackst und alles durch die angebrachten Kameras überwachst während du mit uns in Kontakt stehst.“
„Wird erledigt, gib mir ein paar Minuten.“, erwiderte sie und sogleich flogen ihre Finger nur so über ihre Tastatur.
„Dani und Ella, ihr werdet das Gebäude von draußen überwachen. Sorgt dafür, dass sich niemand einmischt, nicht einmal die anderen Kasten. Ist das klar?“
„Klar wie Kloßbrühe!“, antwortete Ella und Dani nickte zustimmend.
„Sehr gut und der Rest wird mit mir zusammen ins Gebäude gehen. Wir werden uns dieses sogenannte ‚Bild des Lebens‘ mal genauer anschauen und wenn dieser Abgesandte dieser mysteriösen silbernen Kaste wirklich auftauchen sollte, dann werden wir uns mit ihm verbünden, sodass dieser uns wiederum zur silbernen Kaste und deren Anführer bringt. Das ist die schnellste Möglichkeit diese Angelegenheit zu klären.“, erläuterte ich den anderen meinen Plan, der zugegebenermaßen nicht gerade ein Glanzleistung war, jedoch in jeder Hinsicht völlig ausreichend – hoffte ich zumindest.
Wir alle bereiteten uns vor. Ich packte sowohl meine beiden Tessen, als auch Pfeil und Bogen ein. Ich würde mich dieses Mal von nichts und niemandem abbringen lassen in dieser Arts Academy aufzukreuzen. Diesmal nicht. Schließlich war ich Cathy, die Anführerin der sagenumwobenen blauen Kaste und eine der seltenen und gefürchteten Eisblumen!
Also, dann mal los! Schließlich mussten wir uns beeilen.
Die Zeit läuft…

Impressum

Texte: Die Rechte des Inhalts und des Textes liegen bei der Autorin.
Bildmaterialien: Das Bildmaterial stammt von google
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch all denen, die Kopfkino genauso sehr lieben wie ich und meiner Zwillingsschwester Jasmin, der ich das Lesen mit meinen verrückten Ideen und fantasievollen Geschichten Stück für Stück näherbringen will... Ein besonderer Dank geht jedoch an Samantha, die sich meiner Geschichten immer ohne zu Murren annimmt und an Franziska, weil mich keiner so inspiriert wie meine Seelenschwester. Tausendmal Danke, Schnuckis! ♥

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