Ein rothaariger, dreizehnjähriger Junge saß einst auf einer Holzbank vor einem kleinen Backsteinhaus. Es besaß alte Fenster, dessen Rahmen gelb gestrichen waren. Die Holzbank befand sich auf der rechten Seite neben der ebenfalls gelb gestrichenen Tür. Etwa einen Meter links von der Tür entfernt baumelten zwei Blumentöpfe aus selbst geformtem Ton, die an dem Dachvorsprung befestigt waren. Aus den Töpfen ragten bunt gemischte Blumen heraus, die sich in ihrer schönsten Pracht präsentierten. Schmetterlinge wurden von dem süßen Duft und den prächtigen Farben angelockt und erfreuten sich an dem köstlichen Nektar.
Die Sonne schien dem Jungen auf das Gesicht. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Augen geschlossen. In aller Seelenruhe saß er auf der alten Bank und hing seinen Gedanken nach, was seine liebste Beschäftigung war.
Der Junge war kleiner und nachdenklicher als die meisten anderen Bewohner der kleinen Stadt, in der es weder Strom noch Autos gab. Zur Fortbewegung wurden ausschließlich Pferde genutzt, wenn man es sich denn leisten konnte.
In dieser Stadt war jeder auf sein eigenes Sternzeichen stolz und die Bewohner richteten ihr gesamtes Leben danach aus. Für alle zwölf Sternzeichen gab es einen Leiter, der das jeweilige Sternzeichen seinen Anhängern nahe brachte und alle wichtigen organisatorischen Aufgaben übernahm. Ein Leiter war verantwortlich für die Planung der wöchentlichen Zusammenkunft und hielt standardgemäß eine Rede.
Jede Sternzeichengruppe besaß eine eigene Scheune, die gemütlich hergerichtet war. In diesen Scheunen fanden sämtliche Anlässe, unter anderem die wöchentlichen Zusammenkünfte, statt.
Es gab kein Gesetz, das den Anhängern eine regelmäßige Teilnahme der Versammlungen vorschrieb und dennoch fühlten sich die Mitglieder der Sternzeichengruppen dazu verpflichtet, möglichst keine Zusammenkunft zu verpassen. Oftmals gehörten sie schon wenige Monate nach ihrer Geburt zu einer Gruppe und bekamen besonders von ihren Eltern die Wichtigkeit ihrer Sternzeichen eingetrichtert. Das Geburtsdatum entschied darüber, welchem Sternzeichen sie angehörten.
Der Junge auf der Bank war der einzige der Stadt, der in keiner Gruppe aufgenommen worden war, da niemand sein Geburtsdatum kannte.
Der Arme hatte seine Eltern schon in frühen Kindertagen bei einem Brand verloren und war zu seiner Tante und deren Ehemann gekommen, die ihn adoptiert hatten. Jahre vor dem Tod seiner Eltern hatten die beiden Schwestern einen Streit gehabt und den Kontakt komplett abgebrochen. So kam es, dass seine Tante nicht von seiner Geburt und somit auch nicht von seinem Geburtsdatum erfahren hatte. Eine Geburtsurkunde gab es in dieser Gegend noch nicht.
Zudem hatte der Junge auch sonst keine Verwandten, die ihm sein Sternzeichen hätten mitteilen können, da der Rest der Familie in einem anderen Land lebte, das aufgrund einer hohen Mauer für ihn unerreichbar war.
Die Tante hatte mit ihrem Ehemann vier eigene Kinder bekommen und sie behandelten auch den rothaarigen Waisen so, als wäre er aus dem gleichen Blut.
Dennoch war der Junge unglücklich, weil er keiner Sternzeichengruppe angehörte, die sich vor vielen Jahren in jedem Ort des Landes gebildet hatten.
Er verbrachte seine Zeit sehr oft allein und musste jeden Tag die Gemeinheiten der anderen Stadtbewohner ertragen. Manche sahen ihn nur herabwürdigend an und mieden den Kontakt, andere warfen ihm gehässige Kommentare hinterher, wenn er ihren Weg streifte, einige bewarfen ihn gar mit Obst, das in Unmengen vorhanden war, aber nur wenige empfanden Mitleid mit ihm. Manchmal bekam er Honig, der sehr begehrt war, von einem der gutherzigen Menschen oder auch eine Münze.
Diese Nettigkeiten konnten den Bub aber nicht wirklich zufrieden stellen. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich sein Sternzeichen zu finden.
Da fasste der scheinbar schwache Junge einen Entschluss. Er wollte sich die Gruppen genauer ansehen, um seinem Ziel näher zu kommen. Er glaubte, dass man sein Sternzeichen auch ohne die Kenntnis des Geburtsdatums finden können müsste, da sie alle, charakteristische Merkmale besaßen, die es daher zu untersuchen galt.
Mit einem Schwung hüpfte er von der Bank und schritt energisch vorwärts.
Zur nächsten Scheune war es nicht weit. Er sah den alten Schuppen schon aus der Ferne zwischen den mächtigen Eichen hervor blitzen. Fröhlich sprang der Junge über den saftig grünen Rasen, worin sich unzählige Gänseblümchen tummelten. Die Bienen und Hummeln summten, als stimmten sie gemeinsam ein Lied an, um den Burschen bei seinem Weg zu begleiten.
Nur wenige Meter weiter erkannte er das Symbol des Steinbocks, welches jemand über der Tür angebracht hatte. Die V-Form und ein daran befestigter Kreis waren aus einem Metall geschmiedet worden.
Zügig setzte der Bub seinen Weg fort und nahm Kurs auf den Kiesweg, der direkt zur Scheune führte. Natürlich gab es auch eine Verbindung mit dem Kiesweg vom Backsteinhaus, wovon er gekommen war, zum Schuppen, jedoch hätte dies einen Umweg dargestellt und zudem war er lange nicht so schön, wie die weiche und grüne Rasenfläche.
Als der Junge schließlich angekommen war, trat er zaghaft mit pochendem Herzen in den Schuppen hinein, dessen Tür weit offen stand.
Der Gruppenleiter stand der Tür bereits zugewandt, als hätte er ihn erwartet gehabt.
Er war zunächst ein wenig verblüfft, dass ausgerechnet der Waise sich in die Scheune verirrt hatte.
Der Junge nutzte die Verwirrung des alten Mannes aus und legte ihm sein Anliegen dar.
Er erzählte dem ausgebildeten Astrologen, dass er auf der Suche nach seinem Sternzeichen war und dass er glaubte, mit der Hilfe aller Gruppenleiter, es auch ohne die Kenntnis seines Geburtsdatums finden zu können.
Der Gruppenleiter war zwar etwas skeptisch gegenüber seinem Vorhaben eingestellt, wollte ihn aber dennoch unterstützen.
Er begann darüber zu sprechen, was ein Steinbock zu einem Steinbock machte und zählte die wichtigsten Eigenschaften seines Charakters auf.
So erfuhr der Junge von ihm, dass der Steinbock-Typ sehr diszipliniert sei und den Drang besäße etwas in seinem Leben zu erreichen. Dies mache ihn sehr ausdauernd und pflichtbewusst und außerdem habe er eine scharfe und kritische Beobachtungsgabe, die ihm bei wichtigen Entscheidungen von Nutzen sein könne.
Jedoch wirkten die Steinböcke auf andere sehr ruhig, schweigsam und nachdenklich, was sie auch durchaus seien, aber man solle ihren Ehrgeiz nicht unterschätzen, denn der Fleiß könne ihnen am Ende den gewünschten Erfolg bringen.
Der Jüngling bedankte sich artig nach jener Antwort bei dem Astrologen und zog weiter zur nächsten Scheune, in der die Schützen sich regelmäßig trafen.
Auch dort fand er den Gruppenleiter und sprach ebenfalls mit ihm. Er war zunächst auch etwas skeptisch, willigte aber ebenso ein, ihm zu helfen.
Der Junge brachte in Erfahrung, dass die Schützen ehrlich und großzügig seien und einen großen Bewegungsdrang besäßen. Zudem liebe der Schütze-Typ seine Freiheit und wolle nicht auf seine Unabhängigkeit verzichten.
Wie bei den anderen Gruppenleitern bedankte sich der Knabe für die Erklärungen und schritt sodann in die Scheune der Skorpione.
Gleichermaßen fragte er den Leiter und erhielt dort eine Antwort.
Es hieß, Skorpion-Menschen seien mit einer starken Willensenergie ausgestattet, Reibungsflächen gingen sie nicht aus dem Weg, ihr Denken sei gründlich und forschend, Geheimnisse würden schnell durchschaut und die Leidenschaft sei besonders stark ausgeprägt bei diesem Sternzeichen.
Dermaßen erhielt der Bursche nach und nach seine Antworten von den verschiedenen Köpfen der Sternzeichen-Gruppen:
Der Waage Typ sei harmoniebedürftig, künstlerisch begabt, nachgiebig und leichtgläubig, die Jungfrau strukturiert, distanziert, wissensdurstig und bescheiden, der Löwe würdevoll, selbstsicher, praktisch und feurig, der Krebs freundlich, hilfsbereit, rücksichtsvoll und launisch, der Zwilling gesellig, unruhig, flexibel und einfallsreich, der Stier friedlich, ausgeglichen, eifersüchtig und zäh, der Widder impulsiv, tollkühn, offen und leidenschaftlich, der Fisch empfindsam, durchsetzungsschwach, humor- und fantasievoll, und der Wassermann logisch, exzentrisch, kontaktfreudig und selbstbestimmt.
Den Jungen brummte der Kopf, so viele Informationen waren auf ihn eingeströmt. Er empfand das Bedürfnis sich an einen ruhigen Ort niederzulassen, um seine Gedanken zu sortieren.
Dafür hatte er auch schon einen geeigneten Platz im Hinterkopf. Zielstrebig steuerte er den Fischteich an, wo die Väter mit ihren Söhnen und vereinzelt auch ihren Töchtern ihr Abendbrot angelten. Es war bereits später Nachmittag und die Luft war etwas milder geworden, als unser kleiner Freund sich auf einem Stein, am Rande des Ufers, setzte.
Langsam ließ er sich die gesammelten Informationen durch den Kopf gehen und verglich die verschiedenen Merkmale mit seinem Charakter, um eine Übereinstimmung zu finden. Das erwies sich als eine schwierige Aufgabe, da beinahe bei jedem Sternzeichen etwas auf ihn zutraf. Also musste er die Eigenschaften gegeneinander abwiegen. Er nahm sich einen Stock, der wie verlassen auf dem Boden lag, zeichnete die Symbole der Tierzeichen in die Erde und malte Striche für jedes mit ihm übereinstimmendes Merkmal. Am Ende zählte er diese und erhielt ein Ergebnis. Er war demnach ein Steinbock. Entschlossen stand er auf und nahm Kurs auf die Scheune der Huftiere.
Der Junge war ganz aufgeregt, als er dem Leiter mitteilte, dass er womöglich ein Steinbock sei und unterhielt sich noch lange mit dem netten Astrologen, welcher schließlich schon nach wenigen Wochen ihn als neues Mitglied aufnahm. Auch die anderen Anhänger begannen ihn allmählich als vermeintlichen Steinbock zu akzeptieren, da sie den alten Mann für sehr weise hielten und ihm ehrfürchtig gesinnt waren.
Mit den Jahren wurde der Bub sich immer sicherer, dass er die richtige Wahl getroffen hatte und fühlte sich wie ein richtiger Steinbock-Geborener.
Eines Tages jedoch ließ sich ein alter Mann mit seiner Familie in dem Dorf nieder, in dem der bereits verheiratete, selbsternannte Steinbock mit vier gesunden Kindern, weiterhin lebte. Von diesem Widder, der ein guter Freund zu Lebzeiten der früh verstorbenen Mutter gewesen war, erfuhr er sein Geburtsdatum.
Es stellte sich heraus, dass der Steinbock gar kein Steinbock war, sondern stattdessen zu den Fischen gehörte.
Das änderte aber nichts an der Einstellung des reifen Mannes. Er bedankte sich bei dem Alten und bat ihn, seine Kenntnis über sein eigentliches Tierzeichen zu verschweigen.
Einige Monate konnte der Mann das Geheimnis bewahren, doch als der vermeintliche Steinbock zum Stellvertreter des Gruppenleiters ernannt werden sollte, verbreitete der Alte die Wahrheit. Die Menschen waren schockiert und bewarfen den armen Kerl mit faulem Obst. Sie waren sehr enttäuscht, dass sein Steinbockdasein sich als Lüge herausgestellt hatte. Hatten sie doch dem inzwischen vierfachen Vater, vor vielen Jahren, ihren Glauben geschenkt, da sie große Stücke auf die Entscheidungen des Gruppenleiters hielten. Diesen wollten sie jedoch nicht dafür bestrafen, denn sie waren der festen Überzeugung, dass der falsche Steinbock ihn getäuscht und seine Gutmütigkeit ausgenutzt hatte.
Der falsche Steinbock blickte nun in unzählige wütende Gesichter. Er ließ sich, von der zähnefletschenden und keifenden Meute, jedoch nicht einschüchtern und nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte sie nach dem Grund, weshalb sie ihn mit faulem Obst und gehässigen Kommentaren bewarfen. Schließlich hatte er sich mit allen Tierzeichen befasst und von sich aus ein Sternzeichen gefunden, bei dem er sich wohl fühlte. Er betonte, dass sein Herz bei den Steinböcken war und es immer dort bliebe. Daraufhin waren die Steinböcke gerührt, ihre Gemüter beruhigten sich allmählich und es kehrte eine friedliche Stille ein. Der Leiter schloss den mutigen Mann in die Arme. Er überreichte ihm für seine Worte eine alte, wertvolle Kette, die das Stellvertreterdasein symbolisierte, in dessen Medaillon eine V-Form und ein daran befestigter Kreis eingraviert waren.
Der selbsternannte Steinbock verbrachte noch viele Jahre als Stellvertreter und nach dem Tod des weisen Steinbockleiters, nahm er seinen Platz ein.
Er wurde von seinen Anhängern sehr geschätzt, die sich nun nicht mehr alle als Steinbock-Geborene bezeichnen konnten. Dafür aber waren sie im Herzen Steinböcke und das stellte, für den inzwischen gealterten Mann, die einzige Voraussetzung dar, um in der Gruppe aufgenommen zu werden.
An diesem Schema orientierte sich auch sein Nachfolger, der sich als treuster Anhänger bewiesen hatte und ebenso mit Weisheit bestückt war, nach dessen Verscheiden. Mit den Jahren setzte sich dieses System gleichfalls bei den anderen Sternzeichen durch und die Menschen befinden sich in der Stadt, genau wie in dem ganzen Land, auch noch heute in ihren Herzensgruppen.
Texte: Lisa Marie Szymanek
Bildmaterialien: Lisa Marie Szymanek
Lektorat: Ein paar nette Mitmenschen haben sich den Text vorgenommen und einige Fehler aufgedeckt :)
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2014
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